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EIN WALD VON BAJONETTEN
ОглавлениеUnter einem dämmrigen Januarhimmel zog ein Konvoi aus Pferdeschlitten über die leuchtende, schneebedeckte Ebene. Die Prozession endete an einem Schlagbaum, ein Feldwebel inspizierte die Pässe der Reisenden, und ein grauhaariger alter Soldat, zusammengekrümmt unter einem mit Wachstuch überzogenem Dreispitz, das Gewehr schwer von der Schulter hängend, öffnete die Schranke: Es war die russische Grenze zu Preußen. Erneut knirschten die Schlitten über den Schnee. Als er den Kopf wandte, hörte der die Gruppe anführende Alexander Herzen, wie ihm ein Kosak – in der Hand die Zügel eines Reitpferdes, dessen zottiges Fell mit lauter Eiszapfen bedeckt war – eine gute Reise wünschte.1 Herzen ahnte damals nicht, dass er Russland nie wiedersehen sollte. Es war Januar 1847, und in Begleitung seiner Frau Natalie, ihrer drei Kinder, seiner Mutter und zweier Kindermädchen sollte er sich auf eine Reise durch Europa begeben. Obwohl ein Angehöriger des niederen russischen Adels, war er auch ein Sozialist, der den erdrückenden Lebensumständen unter Zar Nikolaus I. entfloh und darauf brannte, mehr über »den Westen« zu erfahren, um Vergleiche mit Russland ziehen zu können und – eine vergebliche Hoffnung – mit den Früchten seiner Erkundungen heimzukehren.2
I
Die Herzens traten die Reise durch ein Europa an, das am Rande einer unsicheren Zukunft stand. Politisch gesehen wurde es von konservativen Kräften dominiert. Von den fünf Großmächten – Österreich, Preußen, Russland, Frankreich und Großbritannien – besaßen nur die beiden Letzteren Parlamente, die die königlichen Befugnisse beschränken sollten, trotzdem waren sie weit von der Demokratie entfernt. In Großbritannien hatte sich, allerdings unter Blutvergießen und politischem Widerstand, seit Generationen ein parlamentarisches System herausgebildet. 1832 war es zu einer ersten großen Modernisierung dieses Systems gekommen, wodurch männliche Stadtbewohner mit einem gewissen Besitzstand das Wahlrecht erhielten, während die Städte – viele von ihnen waren bisher noch nicht oder nur unzureichend in Westminster vertreten – die Möglichkeit erhielten, Abgeordnete ins Parlament zu wählen. Dies war keine Demokratie, da in England und Wales nur einer von fünf erwachsenen Männern (Frauen waren selbstverständlich ausgeschlossen) und in Schottland einer von acht Männern an die Wahlurne treten durften und die Zusammensetzung des Parlaments, das aus Gentry1* und landbesitzendem Hochadel bestand, faktisch unangetastet blieb.
1814 hatte sich Frankreich zu einer konstitutionellen Monarchie entwickelt, nachdem Napoleon in sein vornehmes Exil auf Elba abgeschoben worden war. Ab 1815 schließlich wurde der gestürzte Kaiser auf dem fernen Eiland Sankt Helena bis zu seinem Tod 1821 unter strengen Bedingungen verwahrt. Nun erstand die Herrschaft der Bourbonen neu, zunächst unter Ludwig XVIII., dem jüngeren Bruder des guillotinierten Königs Ludwig XVI., und nach dessen Tod im Jahr 1824 unter dem ultrakonservativen Karl X. In der französischen Verfassung, der Charte constitutionelle von 1814, war ein Parlament vorgesehen, dessen Abgeordnetenkammer von den 110 000 reichsten Steuerzahlern gewählt wurde. 1830 führte Karls königliche Kompromisslosigkeit angesichts wiederholter Wahlsiege der Liberalen zum endgültigen Sturz der Bourbonen. Angeblich hatte er einmal erklärt, er sei lieber ein Holzklotz, als dass er wie der britische Monarch regieren wolle. Insofern kam es einer Ironie des Schicksals gleich, dass seine Höflinge auf dem Weg ins Exil (Karl sollte im Edinburgher Holyrood Palast leben) bei einem Zwischenstopp einen Tisch kürzen mussten, damit das gesamte königliche Gefolge in dem kleinen Speiseraum untergebracht werden konnte. In Paris wurde die Charte von dem neuen Regime unter König Louis-Philippe, Spross aus dem rivalisierenden Haus Orléans, beibehalten. – Das war die »Julimonarchie«, benannt nach dem Monat, in dem die Revolution stattgefunden hatte. Sie wurde leicht modifiziert, so dass die Wählerschaft auf 170 000 der reichsten französischen Männer anwuchs, was gerade einmalº,5 Prozent der französischen Bevölkerung und einem Sechstel derjenigen entsprach, die nach 1832 in Großbritannien in den Genuss des Wahlrechts kamen.3
Die übrigen drei großen europäischen Mächte waren absolute Monarchien, und von diesen wiederum war Österreich in vielerlei Hinsicht maßgeblich verantwortlich für die konservative europäische Ordnung. »Österreich«, das war das habsburgische Kaiserreich, eine vielsprachige Ansammlung von Territorien, die insgesamt nicht weniger als elf verschiedene Nationalitäten bargen: Deutsche, Ungarn, Rumänen, Italiener und die slawischen Völker – Tschechen, Slowaken, Polen, Ukrainer (damals bekannt als Ruthenen), Slowenen, Serben und Kroaten. Zusammengehalten wurde dieser wahre Turm von Babel durch die Dynastie der Habsburger, die von ihrer Reichshauptstadt Wien aus regierte. Die dominante Gestalt der österreichischen Politik zwischen dem Ende der napoleonischen Kriege 1815 und dem Jahr 1848 war zugleich einer der ganz Großen des 19. Jahrhunderts: Klemens von Metternich. Dieser altgediente österreichische Diplomat war seit 1809 Außenminister der habsburgischen Monarchie und seit 1821 auch Staatskanzler. Er war intelligent, arrogant, unnahbar und, wie ein britischer Diplomat es einmal nannte, »ganz unerträglich frei und leichtsinnig mit den Frauen«.4 Aus Österreich kam er nicht. Er wurde 1773 in Koblenz geboren, das damals vom geistlichen Kurfürstentum Trier, einem der vielen Staaten des Rheinlandes, regiert wurde. Wie die anderen kleinen deutschen Fürstentümer ruhte Kur-Trier unter dem schützenden Mantel des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. An dessen Spitze stand der Kaiser, der von den Kurfürsten gewählt wurde und lange Zeit fast ausnahmslos aus dem Hause Habsburg stammte, das über Jahrhunderte die mächtigste und somit geeignetste Dynastie zur Verteidigung des Deutschen Reichs darstellte. Im Herbst 1794 hatten die französischen Revolutionstruppen das Rheinland besetzt, und mit dem Triumph der in Blau gehüllten Horden kam die republikanische Vergeltung über den ansässigen Adel. Die Metternich’schen Besitztümer wurden konfisziert, und Klemens floh nach Wien, wo er von einer kaiserlichen Pension sowie den Einkünften aus dem letzten ihm verbliebenen Besitz in Böhmen lebte. Als er 1801 die Stelle des österreichischen Gesandten in Sachsen annahm, begann sein unaufhaltsamer Aufstieg auf der Karriereleiter des diplomatischen Dienstes Österreichs. Mit Napoleons Sturmlauf durch Mitteleuropa – bei dem er 1806 das tausend Jahre alte Heilige Römische Reich auslöschte – entwickelte Metternich die Vorstellung, der Vielvölkerstaat der Habsburger, zusammengehalten von einer starken kaiserlichen Regierung in Wien, könne die neuen »Grundlagen eines europäischen Systems«5 schaffen.
Der gesetzgebende Bauch. Die Revolution von 1848 hatte die Charte constitutionelle von 1814 nur minimal verändert. Honoré Daumiers Satire auf das parlamentarische Leben spiegelt die Enttäuschung der Republikaner wider. (akg-images)
Der Architekt der konservativen Ordnung: Klemens Lothar Fürst von Metternich kurz vor seinem Tod im Jahr 1859. (akg-images)
Metternichs Hintergrund und seine unmittelbare Erfahrung weckten in ihm die Überzeugung, dass die habsburgische Monarchie nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa von zentraler Bedeutung sei. Er glaubte, dass ein starker Staat in Mitteleuropa einerseits die kleineren deutschen Staaten zu schützen und andererseits eine führende Rolle bei der Erhaltung der sozialen und politischen Stabilität des gesamten Kontinents zu spielen vermochte. Sollte dagegen die habsburgische Monarchie scheitern, würde der Vielvölkerstaat im Herzen Europas zerfallen und dort, wo einst Ordnung herrschte, würden innere Unruhen, revolutionäre Auseinandersetzungen und ein Schreckensregime herrschen – Konsequenzen, denen zu entgehen kein europäischer Staat hoffen könne. Metternich war der führende Architekt der gesamten konservativen Ordnung. Als sein bedeutendster Erfolg kann wohl die diplomatische Funktion gelten, die er auf dem Wiener Kongress von 1815 einnahm. Diese große internationale Konferenz versuchte nach dem langen Leiden und den Metzeleien der napoleonischen Kriege erneut ein politisches System in Europa zu etablieren. Eines, das nicht nur darauf abzielte, den internationalen Frieden zu wahren, sondern die doppelte Gefahr von Liberalismus und Nationalismus in eisernen Schranken zu halten. Metternichs Diplomatenkollegen teilten seine Auffassung. Das Erbe Napoleon Bonapartes und das Blutbad jener Kriege, die heute seinen Namen tragen (und die relativ gesehen ebenso vielen Europäern das Leben kosteten wie der Erste Weltkrieg), lasteten schwer auf den politischen Entscheidungsträgern. Nicht anders verhielt es sich mit dem grauenhaften Schatten der Guillotine. Für die Konservativen Europas waren Liberalismus und Nationalismus gleichbedeutend mit Revolution – und die wiederum konnte nur der düstere Vorbote von Zerstörung und Tod sein. Ganz egal ob sie in Gestalt von Revolutionstruppen kam, die quer über den Kontinent ausschwärmten und kein Leben, keine Religion, keinen Besitz respektierten, oder in Form eines blutigen Bürgerkrieges, der von sensenschwingenden Bauern oder den verzweifelten, besitzlosen Massen aus den Städten gegen die Herrschaft geführt wurde. Die Vertreter der politischen Ordnung der nachnapoleonischen Zeit, die sich der möglichen Folgen des Scheiterns nur allzu bewusst waren, versuchten deshalb angesichts der existenziellen Bedrohung der staatlichen Ordnung, ihre Muskeln spielen zu lassen.
Dem Hauptorganisator dieser Ordnung schien nur die absolute Monarchie eine Monarchie zu sein, die diesen Namen verdiente. Aus Angst, Alexander I. von Russland würde mit der haarsträubenden Idee, eine Verfassung einzuführen, liebäugeln, richtete Metternich 1820 sein »Politisches Glaubensbekenntnis« an den Zaren. Monarchen, so argumentierte er, müssten »außerhalb der Atmosphäre der Leidenschaften stehen, die die Gesellschaft aufhetzen«:
» … gerade in Zeiten der Krise sind sie grundsätzlich dazu aufgefordert … sich als das zu zeigen, was sie sind: Väter, die all die Autorität besitzen, die Familienoberhäuptern zusteht; um so zu beweisen, dass sie in finsteren Zeiten verstehen, gerecht, weise und allein dadurch stark zu sein und ihr Volk, das zu regieren ihre Pflicht ist, nicht dem Spiel von Aufrührern sowie Irrtümern und deren Folgen, die unwiderruflich in die Zerstörung führen, überlassen.«6
Zu den »Aufrührern«, die die »Gesellschaft« bedrohen würden, zählten Liberale und Nationalisten, die nach Verfassungen, nationaler Unabhängigkeit und politischer Einheit riefen. Die Souveräne sollten diesen Forderungen nicht nachgeben, ja noch nicht einmal versuchen, schnelle Zugeständnisse zu machen, um eine Revolution zu verhindern: »Respekt für alles Lebendige; Freiheit für alle Regierungen, über das Wohlergehen ihres eigenen Volkes zu wachen; eine Allianz aller Regierungen gegen die Aufrührer in sämtlichen Ländern; Misstrauen gegenüber Worten, die ihres Sinnes entleert [der Ruf nach »Verfassungen«] und zu Parolen der Aufrührer geworden sind«. Uneingeschränkte Herrschaft hieß für Metternich nicht Despotismus, ein Regieren unter den wechselnden Launen eines einzigen Mannes, im Gegenteil, Monarchen hätten mittels eines Rahmenwerks aus Gesetzen und rechtlich verankerten Institutionen zu regieren: »Das Erste und Wichtigste … ist die Unverrückbarkeit der Gesetze, ihr ununterbrochenes Funktionieren und ihre Unveränderlichkeit. Mögen Regierungen so regieren, mögen sie die elementaren Grundlagen ihrer Körperschaften, alten wie neuen, bewahren; da es immer gefährlich ist, an ihnen zu rütteln, kann es jetzt, in der allgemeinen Unruhe dieser Tage, nicht nützlich sein.«7
Die Herrschaft der Habsburger war im Grunde nicht sonderlich restriktiv – zumindest nicht im Vergleich zu heutigen Diktaturen. Ihre Bürokratie war zumeist leistungsfähig und nicht korrupt. Zudem (und trotz seines Rates an den Zaren) nutzte Metternich seinen beträchtlichen diplomatischen Einfluss, um weniger aufgeklärte absolute Regenten, deren Unnachgiebigkeit einen gewaltsamen Widerstand heraufzubeschwören drohte, zu sanften Reformen zu bewegen. So versprach er 1821 König Ferdinand I. von Neapel militärische Unterstützung gegen seine aufrührerischen Untertanen, vorausgesetzt er mache einige kleinere Zugeständnisse. Trotz all ihres Redens von der Herrschaft des Gesetzes und den Segnungen der Monarchie fürchteten Metternich und andere Konservative, dass die Unversehrtheit des Reichs gefährdet sei, sollten unter den verschiedenen Völkern der habsburgischen Monarchie konstitutionelle oder revolutionäre Bewegungen aufkommen. In der Theorie wurde das Reich zusammengehalten von der Loyalität der Untertanen gegenüber dem Herrscherhaus, den öffentlichen Institutionen der Monarchie (einschließlich Regierung und kaiserlichem Heer), und – auch wenn es religiöse Minderheiten wie Juden und Protestanten gab – dem Katholizismus der meisten österreichischen Untertanen. 1815 wiesen wohl nur die Deutschen, die Ungarn, die Polen und die Italiener ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein auf. Insbesondere die ersten drei dominierten zudem politisch wie sozial die übrigen nationalen Gruppierungen. In Ungarn herrschte der magyarische Adel über die Bauernschaft, die im Norden aus Slowaken, im Osten aus siebenbürgischen Rumänen und im Süden aus Serben oder Kroaten bestand. In Galizien neigten die polnischen Grundherren dazu, die ukrainischen Bauern wie Lasttiere zu knechten. Und die Tschechen mit ihrem hohen Bildungsstand und dem (1848) fortschrittlichsten Industriewesen des Habsburgerreichs fingen an, die deutsche Vormachtstellung in Böhmen infrage zu stellen. Eines der gärenden Ärgernisse unter den Nichtdeutschen war die – nicht zuletzt durch ihre Konzentration in Wien hervorgerufene – Zusammensetzung des Staatsapparats aus deutschen Beamten, deren Sprache normalerweise das offizielle Medium in den Bereichen Justiz, Bildung und Verwaltung war. Ein starkes Bewusstsein für nationale Identität gab es vor allem in der adeligen Oberschicht und der städtischen Bürgerschaft, deren Angehörige am meisten darüber enttäuscht waren, dass sie in der Bürokratie, der Justiz und im höheren Bildungswesen keine Möglichkeiten hatten, wenn sie nicht Deutsch sprachen. Bisher war dies noch nicht bis zu der Masse der Bauern durchgedrungen, von denen viele den Kaiser als ihren Beschützer vor der Ausbeutung durch die Grundherren ansahen. Doch die Tatsache, dass die sozialen Unterschiede mit der ethnischen Herkunft korrelierten, sollte die häufig blutigen Konflikte zwischen den Nationalitäten Mitteleuropas verschärfen.
Die Verstimmung der Ungarn angesichts der vermeintlichen deutschen Vorherrschaft und den anmaßenden habsburgischen Machthabern war für das Reich potenziell sehr gefährlich. Denn anders als die übrigen Nationalitäten besaßen sie ein verfassungsrechtliches Organ: einen Landtag bzw. ein Parlament, in das die Magnaten, der Klerus und die Bürger der freien königlichen Städte Abgeordnete entsandten. Folglich bestand die »ungarische Nation« – womit in zeitgemäßer Begrifflichkeit diejenigen gemeint sind, die im Parlament vertreten waren – nur aus einem kleinen Teil der Gesamtbevölkerung. Der Rest wurde juristisch als das misera plebs contribuens bezeichnet – als die armen steuerzahlenden Plebejer (Latein war zum Verdruss der patriotischen Ungarn noch immer die offizielle Sprache der ungarischen Politik und Verwaltung). Im Vergleich mit dem vorrevolutionären Frankreich, für das nur ein Prozent geschätzt wurde, machten die Magnaten mit etwa fünf Prozent einen recht ansehnlichen Teil der ungarischen Bevölkerung aus. Manche von ihnen waren allerdings so arm, dass sie als »Sandalen tragende Adelige« bezeichnet wurden, weil sie sich angeblich keine Stiefel leisten konnten. Da sich diese Männer nur durch ihre Privilegien und Titel von der übrigen, schwer arbeitenden Masse abhoben, wehrten sie sich oft am stärksten gegen jegliche Reform, die ihren Status gefährdete. Obwohl der habsburgische Kaiser, der auch den Titel eines Königs von Ungarn innehatte, den Landtag nach Belieben einberufen und auflösen konnte (Kaiser Franz weigerte sich zwischen 1812 und 1825 beleidigt, das lästige Parlament zu versammeln), war es schwer, Steuern zu erheben, ohne den Landtag einzubeziehen. Deshalb musste er 1825, 1832–36, 1839/40, 1843/44 und – auf äußerst dramatische Weise – 1847/48 einberufen werden. Doch auch wenn das Parlament nicht tagte, vertiefte der ungarische Adel seine Opposition zur habsburgischen Monarchie in den fünfundfünfzig Verwaltungsbezirken (Komitaten). Dort wählte und bezahlte er die kommunalen Beamten, dort beanspruchte er in den jährlichen Zusammenkünften immer wieder das Recht, die kaiserliche Gesetzgebung zu missachten.8
1815 gerieten die Italiener der Lombardei und Venetiens unter die Herrschaft der Habsburger. Auch sie besaßen ein institutionelles Ventil und zwar in Form von Versammlungen, die sich aus Vertretern der ansässigen Landbesitzer und der Städte rekrutierten, sowie der vereinigten »Zentralkongregation«, in der die Delegationen beider Provinzen zusammenkamen. Diese Versammlungen hatten das Recht zu entscheiden, wie Gesetze umgesetzt wurden, die von der Regierung – vertreten durch den in Mailand residierenden Vizekönig – verabschiedet worden waren, konnten selbst aber keine Gesetze erlassen. Die Habsburger mussten vorsichtig agieren, denn Norditalien gehörte zu den Kronjuwelen: Die fruchtbaren, wasserreichen Ebenen der Lombardei waren ein bunter Teppich aus Weizen, gepflegten Weinstöcken und Maulbeerbäumen, an denen Seidenraupen ihre kostbaren Fäden spannen. Die Hauptstadt des Herzogtums und – zur Verärgerung der stolzen Venezier – der beiden vereinten Provinzen war Mailand, kulturell eine der dynamischsten Städte Europas, was es dem, im Vergleich zum übrigen habsburgischen Imperium, milderen Zensor zu verdanken hatte. Lombardo-Venetien zählte ein Sechstel der Bevölkerung der Monarchie, brachte aber fast ein Drittel des Steuereinkommens auf – eine Tatsache, die den italienischen Patrioten nicht entging. Die Österreicher bemühten sich sehr um eine gute und gerechte Regierung in Norditalien, dennoch nahmen die unvermeidlichen Spannungen zu. Gebildete Lombarden und Venezier murrten, weil die Österreicher etwa 36 000 Regierungsposten besetzten und damit die Italiener um den Genuss ihres gerechten Anteils an staatlicher Patronage brachten.9
Außerhalb Ungarns und Lombardo-Venetiens existierten im habsburgischen Imperium keine repräsentativen Organe, die diesen Namen verdient hätten. Seit 1835 war der als geistig zurückgeblieben geltende Ferdinand I. Kaiser (in einem berühmt gewordenen Ausbruch schrie er seine Höflinge an: »Ich bin der Kaiser und will Knödel!«). Seine Untertanen, die ihn liebevoll »Gütinand der Fertige« nannten, waren ihm sehr zugetan, doch das notwendige Übel des Regierens wurde einem Rat (bzw. einer Staatskonferenz) überlassen, in dem Metternich das Sagen hatte. Dessen politische Vision erlaubte keinerlei rechtmäßige Opposition, und die Verweigerung einer verfassungsrechtlichen Regierung brachte fast unweigerlich Repressalien mit sich. So gab es eine Geheimpolizei, die aus Büros in der Wiener Herrengasse heraus agierte. Doch sie bestand aus nur wenigen Beamten – etwa fünfundzwanzig, darunter fünf Zensoren –, weshalb man sich in der Hauptstadt des Kaiserreichs auf die reguläre Polizei stützte (die darüber hinaus eine Fülle anderer Aufgaben zu erfüllen hatte). In der Provinz hatten kleine Einheiten sowohl die Aufgaben der regulären wie der Geheimpolizei zu leisten. Besonders intensiv war die Kontrolle nicht, aber es muss auch gesagt werden, dass etwa die Arbeit von Setzern, Verlegern und Autoren mittels einer Fülle kleinlicher und lästiger Vorschriften behindert wurde.10 Da nur eine von vier Büchergattungen uneingeschränkt erlaubt war, förderte dies ein Klima, in dem eine Publikation als verboten galt, wenn sie nicht ausdrücklich genehmigt wurde.11
Besonders heftig war die Unterdrückung in Russland, dem zweiten bedeutenden absolutistischen Regime in Europa. Dachte Metternich Österreich die Rolle des mitteleuropäischen Polizisten zu, so verstand sich Zar Nikolaus I. als Gendarm des gesamten Kontinents. Das russische Reich befand sich seit dem Tod Alexanders I. 1825 in seinem eisernen despotischen Griff. Nikolaus hatte mit der »Dritten Abteilung« die berüchtigte Geheimpolizei ins Leben gerufen, eine Organisation mit nur wenigen Beamten, die aber mithilfe der Gendarmerie und einer größeren Anzahl von Informanten arbeitete, die wiederum bis zu fünftausend Denunziationen im Jahr tätigten. Allein schon die Existenz von Polizeispitzeln schuf eine Atmosphäre, in der man einer mutigen Seele bedurfte, wollte man offen Widerspruch ausdrücken. Die Legende besagt, dass es in einem Büro im Sankt Petersburger Hauptquartier der Dritten Abteilung eine Falltür gab: Wenn in einer scheinbar harmlosen Unterhaltung eine völlig unschuldige Person sich auch nur im Geringsten verdächtig machte, wurde daraufhin ein Hebel betätigt und das Opfer in ein darunterliegendes Verlies geworfen, wo es unaussprechlicher Gräuel ausgesetzt war.
So der Mythos, doch schon die reale Unterdrückung war schlimm genug für jene, die es wagten, ihre Gedanken zu laut zu äußern. 1836 traf den liberalen Intellektuellen Peter Tschaadajev, der Russland für seine Rückständigkeit anprangerte, ein Schicksal, das später sowjetische Dissidenten des 20. Jahrhunderts mit ihm teilen sollten: Die Regierung erklärte ihn für unzurechnungsfähig und wies ihn in eine Anstalt ein.12 Selbst (oder angesichts seines Jähzorns vielleicht ganz besonders) der große Dichter Puschkin musste auf der Hut sein; er wurde toleriert, weil der Zar seine Werke mochte, aber auch ihm wurde gelegentlich auf die Finger geklopft. Intellektuelle und Autoren zeigten ihre Manuskripte aus Vorsicht zuerst Freunden, bevor sie sie ihrem Verleger gaben. Das zaristische Regime befürchtete nicht nur Widerspruch russischer Intellektueller, es hatte – weit stärker gerechtfertigt – Angst vor einem möglichen Aufstand der Bauern. Zwanzig Millionen von ihnen waren Leibeigene, die sich in der Vergangenheit schon mit erschreckender Rachlust erhoben hatten, zuletzt unter dem abtrünnigen Donkosaken Jemeljan Pugatschow in den frühen 1770er-Jahren. Darüber hinaus gab es Befürchtungen vor einer Opposition der unterdrückten Nationalitäten im Reich, allen voran der Polen, die ihre Unterjochung nur zwischen Anfällen von Aufsässigkeit ertrugen.
Die dritte große absolute Monarchie in Europa, Preußen, wurde seit 1840 von König Friedrich Wilhelm IV. regiert, der nach seiner Thronbesteigung schnell die Hoffnung der Liberalen auf die Einführung einer Verfassung zunichtemachte. Sein Vater Friedrich Wilhelm III. hatte seinen erwartungsvollen Untertanen des Öfteren versprochen, die absolute Herrschaft abzuschaffen, doch das war während der napoleonischen Kriege, als er den Patriotismus seiner loyalen Preußen gegen die verhassten Franzosen wecken wollte. Eine Generation später erklärte Friedrich Wilhelm IV. einem enttäuschten liberalen Regierungsbeamten: »Ich fühle mich ganz und gar von Gottes Gnaden«, eine Verfassung, »ein Stück Papier«, würde die gesamte Idee des Königtums zu »einer Fiktion, einem abstrakten Begriff« werden lassen, stattdessen sei »ein väterliches Regiment […] deutscher Fürsten Art«.13 Zwar gab es in Preußen Provinziallandtage, aber die Zusammensetzung dieser Vertretungsorgane begünstigte vor allem Aristokratie und Großgrundbesitzer. Zudem war es ihnen nicht gestattet, untereinander Kontakt aufzunehmen, um schon die Idee, sich in einem nationalen Parlament zu vereinen, im Keim zu ersticken. Insbesondere den Liberalen, von denen viele jüngeren Jahrgangs waren, stieß dies bitter auf. Die Rheinprovinz mit ihrer fortschrittlichen Wirtschaft und vergleichsweise guten Erfahrung mit der napoleonischen Herrschaft war 1815 an Preußen abgetreten worden, um Deutschland gegen Frankreich zu stärken. Dadurch wurde Preußen zu einem Königreich der zwei Hälften – dem Osten, dominiert vom Adel mit seinen großen Gütern und Bauern, die bis 1807 Leibeigene waren, und dem Westen mit seiner leistungsfähigen Industrie und seinem aufstrebenden Bürgertum. Dort hatte man 1815 angesichts der drohenden preußischen Annexion des Rheinlandes die Nase ob dieser Einheirat in eine arme Verwandtschaft gerümpft, womit der agrarisch geprägte und vom Adel beherrschte Osten gemeint war – so überrascht es wohl nicht, dass die liberale Führungsschicht der preußischen Revolution von 1848 dem Rheinland entstammte. Neben seinem hervorragenden Heer war es vor allem sein industrieller und landwirtschaftlicher Reichtum, der Preußen zu einer der größten Mächte nicht nur Deutschlands, sondern Europas machte.
Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen. Gemälde von Franz Krüger um 1845. (akg-images)
Mit der Wiener Friedensordnung von 1815 waren Mittel- und Osteuropa unter die Oberhoheit dieser drei absoluten Monarchien gezwungen worden. Seit 1795 war das alte Königreich Polen (mit Ausnahme des napoleonischen Intermezzos eines Herzogtums Warschau, das 1807 errichtet wurde) von den Landkarten getilgt und zwischen Russland, Preußen und Österreich aufgeteilt – auf dem Friedenskongress wurde dies bestätigt. Die drei »östlichen Monarchien« bemühten sich in der Folge, den polnischen Nationalismus unter ihrem vereinigten Gewicht zu ersticken.
Ebenso entschlossen waren sie, Deutschlands Nationalismus in Pandoras Büchse verborgen zu halten. Österreich teilte sich mit Preußen die Vormachtstellung in Deutschland, das jetzt – nach der Zerschlagung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und einer drastischen territorialen Neuordnung unter Napoleon – in neununddreißig Staaten (darunter Österreich und Preußen) geteilt und in einem Staatenverbund, dem Deutschen Bund, locker vereint war. Dessen repräsentatives Organ, die Bundesversammlung, trat in Frankfurt zusammen. Es war jedoch kein Parlament mit gewählten Volksvertretern, sondern ein Kongress von Diplomaten, die von den einzelnen Staaten entsandt wurden – eine Art »Vereinte Nationen« Deutschlands. Sinn und Zweck des Deutschen Bundes war nicht etwa die Ermutigung Deutschlands zu einer engeren Einheit, ganz im Gegenteil: Er sollte die konservative Ordnung bewahren und für die friedliche Lösung von Konflikten zwischen den Staaten sorgen, um den kleineren »Mittelstaaten« das beruhigende Gefühl zu geben, vor der Herrschsucht Preußens und Österreichs geschützt zu sein. Darüber hinaus war er ermächtigt, die verschiedenen deutschen Regierungen zum Entsenden von Soldaten aufzufordern, um Deutschland vor einem Einmarsch fremder Truppen, aber auch gegen inländische revolutionäre Bedrohungen zu verteidigen. 1819 erließ er die repressiven Karlsbader Beschlüsse gegen die radikalen und liberalen Bewegungen in Deutschland und vor allem gegen die national gesinnten studentischen Organisationen, die Burschenschaften. Diese Maßnahmen wurden 1830 als Reaktion auf eine Welle revolutionärer Bewegungen und Proteste, die über Europa hinwegrollte, wiederbelebt. Hinter den Erlassen stand Metternich, der misstrauisch mitansah, wie der Konstitutionalismus unmittelbar nach den napoleonischen Kriegen anfing, in Deutschland Wurzeln zu schlagen. In den süddeutschen Staaten Baden, Württemberg, Bayern, Nassau und Hessen-Darmstadt waren Verfassungen erlassen worden. Ein Vorgang, der allerdings mit der Schaffung des Deutschen Bundes in Einklang stand, erklärte doch die Bundesakte, dass alle deutschen Staaten »eine landständische Verfassung« erhalten sollten. Dabei handelte es sich allerdings um eine bewusst mehrdeutige Formulierung, da damit entweder eine moderne parlamentarische Monarchie gemeint sein konnte (so interpretierten es die süddeutschen Staaten) oder eine eher konservative Form von traditionellen »Landtagen«, in denen die Adeligen, der Klerus und die vermögenden Bürger der Städte gesondert vertreten waren, was im Grunde die Dominanz der konservativen Interessen in den Landtagen garantierte. Metternich hatte seinen Einfluss auf König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und anschließend auf den Deutschen Bund geltend gemacht, um erstens dafür zu sorgen, dass Preußen sich nicht in den Verfassungstanz einreihte, und zweitens, dass die »Wiener Schlussakte«, die Verfassung des Deutschen Bundes, von 1820 den Begriff »Verfassung« in Metternichs Sinn interpretierte, was eher auf Landtage als auf Parlamente hinauslief – und selbst dann noch wurden ihre Rechte zugunsten des »monarchischen Prinzips« eingeschränkt, so dass das Staatsoberhaupt immer in den Genuss der größten Machtfülle kam.14
Die stärkste gegenrevolutionäre und antiliberale Strategie verfolgte Metternich aber in Italien. Bekanntlich verhöhnte er die Forderungen der italienischen Nationalisten nach staatlicher Einheit mit der Bemerkung, Italien, das in zehn Königreiche, Herzogtümer und Kleinstaaten zersplittert war, sei nichts weiter als »ein geografischer Begriff«.15 Österreichs Rolle war seiner Meinung nach, es in diesem Zustand zu halten. Der Wiener Kongress hatte aufgrund der Annexion der Lombardei und Venetiens im Norden nicht nur für eine starke unmittelbare Präsenz Österreichs in Italien gesorgt, er hatte die italienischen Angelegenheiten auch dahin gehend geregelt, dass Österreich auf der gesamten Halbinsel die tonangebende Macht war. Nach den Erfahrungen der langen napoleonischen Besetzung sollte, so die anfängliche Absicht, der französische Einfluss abgewehrt werden. Doch schon bald entwickelte sich dieses Vorhaben zu einer Unterdrückung des italienischen Liberalismus und Nationalismus. Die Toskana wurde von einem Großherzog der Habsburger regiert, in den Herzogtümern Parma und Modena standen ebenfalls Verwandte des Kaisers an der Spitze. Zusätzlich zu den dynastischen Banden erhielten die Österreicher das Recht, die im Kirchenstaat gelegene Festung von Ferrara besetzt zu halten. Der bourbonische König der »beiden Sizilien« (Süditalien und die gleichnamige Insel, die seit 1816 ihres eigenständigen Parlaments beraubt und direkt von Neapel aus regiert wurde) unterzeichnete einen Allianzvertrag und ein Militärabkommen mit Österreich, das das Königreich straff an die habsburgische Politik band. Nur das nordwestliche Königreich Sardinien (das die Insel gleichen Namens und auf dem Festland Piemont und Genua umfasste) blieb völlig unabhängig: Militärisch war es der mächtigste italienische Staat und bildete einen kräftigen Puffer zwischen Frankreich und den Österreichern in der Lombardei. Dennoch reichte Österreichs Macht in Italien aus, um 1820/21 militärisch gegen liberale Erhebungen in Neapel und sogar in Piemont vorzugehen. In der Folge stellte es neunzig führende lombardische Liberale vor Gericht (obwohl sie mit den Aufständen wenig zu tun hatten) und verurteilte vierzig von ihnen dazu, in der finsteren böhmischen Festung Spielberg zu vermodern. Unter ihnen befand sich Silvio Pellico, der nach seiner Freilassung Le mie prigioni (Meine Gefängnisse) verfasste, Zeugnis sowohl der österreichischen Unterdrückung wie auch der Kraft des Glaubens in der Not. Das Buch wurde zum Bestseller und hatte Anteil an der »schwarzen Legende« von Österreichs Tyrannei in Italien. Als Metternich 1831/32 Truppen in den Süden schickte, die die Aufstände in Modena, Parma und im Kirchenstaat (wo die Österreicher die Dreistigkeit besaßen, bis 1838 an Bologna festzuhalten) niederschlagen sollten, bekräftigte er nur das düstere Bild germanischer Zwangsherrschaft.
Die österreichische Macht- und Einflusssphäre breitete sich von Deutschland bis in den italienischen Stiefelabsatz und nach Osteuropa aus. Es handelte sich, wie Graf Anton von Kolowrat-Liebsteinsky abfällig sagte, um einen »Wald von Bajonetten«. Kolowrat war kein Liberaler, aber er war Metternichs großer Gegenspieler in der Staatskonferenz. Er stimmte dem Kanzler zu, dass »man Konservatismus anzustreben hat und alles tun muß, dahin zu gelangen. Aber über die Mittel sind wir entschieden anderer Meinung. Ihre Mittel sind ein Wald von Bajonetten und ein starres Festhalten an den Dingen, wie sie sind. Dadurch spielen wir, meiner Meinung nach, den Revolutionären in die Hände.«16 Metternichs rigide Form des Konservatismus, stellte er besorgt fest, würde einzig und allein einen solchen Druck erzeugen, dass »ihre Mittel […] zu unserem Untergang« führen. Der britische Staatsmann Lord Palmerston kritisierte freiheraus Österreichs »repressive und erstickende Politik«, weil sie »ebenso sicher zur Explosion führen [wird] wie ein zugesperrtes Druckventil bei einem hermetisch verschlossenen Dampfkessel«.17 Auch Kolowrat war tief beunruhigt über die finanziellen Kosten, die der Erhalt von Österreichs Machtstellung in Europa auf dem bisherigen Niveau verursachte: Zwischen 1815 und 1848 entfielen etwa 40 Prozent des Regierungsetats auf das Heer, und allein die Zinsen für die Staatsschulden verschlangen weitere 30 Prozent. Eine der größten Schwächen des Metternich’schen »Systems« sollte, wie sich 1848 herausstellte, darin bestehen, dass nur wenig Geld in den Truhen verblieben war, um mit dem schlimmsten wirtschaftlichen Abschwung des 19. Jahrhunderts fertig zu werden. Und so konnte kaum etwas getan werden, um die Not der Menschen zu lindern.
II
Die politischen Restriktionen, die Europa aufoktroyiert waren, mussten unweigerlich zum Widerstand führen. So wie Metternich und seinesgleichen das Gewicht der jüngsten Geschichte bei ihren politischen Erwägungen zu spüren bekamen, stellte sich ebendiese Geschichte auch als Inspirationsquelle für ihre Gegner heraus. Die Französische Revolution von 1789 und ihr napoleonisches Nachspiel hatten die Konservativen in Angst versetzt. Gleichzeitig konnte die Erinnerung daran – um im Stil der damaligen Romantik zu reden – das Blut der Liberalen, Radikalen und Patrioten in Wallung bringen, die sich in der erstickenden Atmosphäre des Metternich’schen Europa eingeengt fühlten. Die erste Nachkriegsgeneration europäischer Liberaler hatte sich persönlich in den Kämpfen der revolutionären Ära engagiert. Mit dem 1815 erzielten Sieg der Allianz hatten sie entweder verloren, weil sie Napoleons Herrschaft – und seine oft genug leeren Versprechungen von Freiheit – unterstützt oder weil sie als Gegner der Franzosen vergeblich gehofft hatten, aus den Ruinen der alten europäischen Ordnung würde ein neues, ein konstitutionelles System erstehen.
1820/21 kam es zu erfolglosen revolutionären Erhebungen in Italien, die in Neapel von liberalen Armeeoffizieren (unter ihnen Guglielmo Pepe, vormals napoleonischer Offizier, der 1848 eine zentrale Rolle spielen sollte) getragen wurden, sowie Mitgliedern der Carbonari, eines revolutionären Geheimbundes, der die Zerschlagung der österreichischen Vormachtstellung sowie die Errichtung einer liberalen Ordnung in Italien anstrebte. Das französische Pendant, die Charbonnerie, erstarkte nicht zuletzt dank des brodelnden Unmuts ehemaliger Staatsdiener des napoleonischen Imperiums, die während der royalistischen Reaktion – dem gewaltsamen »Weißen Terror« von 1815, so genannt, um ihn von dem »Roten« Terror der Jakobiner 1793/94 zu unterscheiden – entlassen worden waren. Zu denen, die sich dem im Untergrund agierenden Widerstand anschlossen, gehörte der noch minderjährige Louis-Auguste Blanqui, dessen Familie schwere Zeiten erlebt hatte, nachdem sein Vater, unter Napoleon Präfekt der Alpes-Maritimes, mit der im Friedensvertrag von 1815 festgelegten Rückgabe des Gebiets (besser bekannt als Nizza) an Piemont entlassen worden war. Es war der Anfang eines Lebens voller revolutionärer Aktivitäten, die bis zu Blanquis Tod 1881 anhalten sollten. In Spanien sehnten sich die Spanier nach der Verfassung von 1812, geschaffen in Cádiz von einem Parlament, das nur unweit von den feindlichen Kanonen der belagernden französischen Armee tagte. Doch als König Ferdinand VII. 1814 im Triumph zurückkehrte, fegte er die Verfassung vom Tisch und schickte viele der Liberalen ins Exil. 1820 dann kam ihre Rache, sie rissen die Macht an sich und zwangen Ferdinand drei Jahre lang, als konstitutioneller Monarch zu regieren, bis sie im Gegenzug von französischen Truppen überwältigt wurden (den »100 000 Söhnen des heiligen Ludwig«), die Ludwig XVIII. über die Pyrenäen geschickt hatte, um die absolute Monarchie seines bourbonischen Gefährten wiederherzustellen.
Selbst das autokratische Russland konnte sich dem explosiven Erbe der napoleonischen Ära nicht ganz entziehen. Russische Armeeoffiziere, die während des Kriegs durch Europa marschiert waren, um letztlich Paris zu besetzen, hatten ihre französischen, deutschen und britischen Kollegen kennengelernt. Im Verlauf der gepflegten und gebildeten Unterhaltungen mit diesen Offiziersgenossen hatten sie angefangen, sich über die Rückständigkeit ihres eigenen Landes Gedanken zu machen, während sie zugleich die westlichen Ideen von konstitutioneller Regierung und Bürgerrechten in sich aufsogen. Die keimende Saat trug ihre bittere Frucht in der ersten russischen Revolution, dem Dekabristenaufstand (auch Dezembristenaufstand genannt) des Jahres 1825. In jenem Monat, dem die Erhebung ihren Namen verdankt, nutzten liberale Armeeoffiziere die Verwirrung, die der plötzliche Tod des Zaren Alexander I. ausgelöst hatte, und erhoben die Fahne der Rebellion gegen seinen Nachfolger Nikolaus I. Der Aufstand wurde zuerst in Sankt Petersburg, danach in der Ukraine mühelos von loyalen Truppen niedergeschlagen, doch ebendiese Erfahrung im Augenblick seiner Thronbesteigung lenkte den neuen Zaren für den Rest seiner Regentschaft auf einen reaktionären Kurs – wobei gelegentlich die Hoffnung auf eine Reformierung der Leibeigenschaft aufglimmte.
Einige Jahre später dann kam es zur größten Revolutionswelle. 1830 wurde der Bourbone Karl X. während eines dreitägigen Aufstands in den Straßen von Paris gestürzt und durch den liberaler gesinnten Louis-Philippe ersetzt. Dem folgte eine Revolution in Belgien auf dem Fuß, wo Liberale die (1815 aufoktroyierte) Herrschaft der (nördlichen) Niederlande zu Fall brachten, um endlich einen unabhängigen Staat mit einer konstitutionellen Monarchie zu schaffen. In Deutschland regte das französische Beispiel liberale Gegner der althergebrachten Ordnung dazu an, von ihren Regenten Verfassungen zu verlangen – oder zu erzwingen –, so dass Hannover, Sachsen und noch ein paar andere Länder sich der noch immer kleinen Gruppe deutscher Staaten anschlossen, die Vertretungsorgane ihr Eigen nannten. Die Opposition drang auf mehr und entfesselte eine Protestbewegung, die 1832 ihren Höhepunkt in der größten Massenversammlung fand, die es in Deutschland vor 1848 gab: dem Hambacher Fest. Hier wurden politische Reformen und die Einheit Deutschlands eingefordert, und diese Demonstration demokratischen Muskelspiels sollte Metternich zur Verschärfung der Karlsbader Beschlüsse veranlassen.
Am dramatischsten verlief der Widerstand gegen die konservative Ordnung in Polen, wo im November 1830 der patriotischen polnischen Aristokratie der Geduldsfaden riss, als der Zar in Antwort auf die Revolutionen in Westeuropa die Mobilmachung des polnischen Heeres anordnete. Der Novemberaufstand dauerte zehn Monate und wurde – nach blutigen und erbitterten Kämpfen – von einem 120 000 Mann starken russischen Heer unter dem Oberbefehl von General Iwan Paskewitsch (der 1849 dabei helfen sollte, eine weitere Revolution zu unterdrücken) niedergeschlagen. In dem darauffolgenden Vergeltungsakt wurde die horrende Anzahl von 8000 Polen in Ketten nach Sibirien abgeführt. Auch in Italien gab es Revolten, doch diese wurden, meistens von österreichischen Truppen, unterdrückt. Die Revolutionen der 1830er-Jahre waren nirgends so ausgedehnt wie die von 1848; doch wurde durch sie der Metternich’sche Griff um die konservative europäische Ordnung gelockert. Als der österreichische Staatskanzler die ersten Nachrichten von der Revolution in Frankreich vernahm, brach er an seinem Schreibtisch zusammen und stöhnte: »Die Arbeit meines ganzen Lebens ist zerstört.«18 Seine Verzweiflung war übertrieben, denn das zögerliche Vorgehen der Julimonarchie, die sich sehr schnell auf einen konservativen Kurs einpendelte, trug viel dazu bei, seine schlimmsten Befürchtungen abzumildern. Doch noch ein anderer Riss in dem konservativen Gebäude bereitete ihm Sorgen: die griechische Unabhängigkeit. Nach einem brutalen Krieg voller Gräueltaten, der achteinhalb Jahre, von 1821 bis 1829, dauerte, erlangten die Griechen ihre Freiheit von der türkischen Vorherrschaft. Dennoch löste dies keine Krise in Metternichs internationalem System aus, da der endgültige griechische Sieg zuerst durch das militärische Eingreifen Russlands, Großbritanniens und Frankreichs, und schließlich im Londoner Protokoll von 1830 auch durch die diplomatische Anerkennung der Großmächte gesichert wurde. Das neue Königreich Griechenland wurde somit rasch unter den Schutzmantel der nachnapoleonischen Ordnung geholt.
Revolution war für Metternich im Grunde eine französische Krankheit. Gegen Ende des Jahres 1822 hatte er dem Zaren geschrieben: »Nationalität, politische Grenzen all das ist für die [revolutionären] Sektierer verschwunden. Zweifellos sitzt das Leitungskomitee der Radikalen aus ganz Europa heute in Paris.«19 Einmal mehr überschätzte Metternich den Fall, aber er illustriert auch den Gemeinplatz, dass wenn jemand paranoid ist, es nicht heißt, dass er sich alles einbildet, es also durchaus Verfolger geben kann. In den 1830er-Jahren bildeten sich neue im Untergrund agierende revolutionäre Netzwerke, die sehr effektiv und flexibel waren. Angetrieben wurden sie von einer Generation von Intellektuellen, Romantikern und Patrioten, die zu jung waren, um sich wirklich an die Französische Revolution zu erinnern, sich aber dem ruhmreichen Andenken ihres Freiheitsversprechens mit Leib und Seele hingaben. Für den französischen Historiker Jules Michelet, der 1798 geboren wurde und 1847 das Vorwort zu seiner monumentalen Geschichte der Französischen Revolution schrieb, wurde dieser große Augenblick der Geschichte vom ganzen Volk getragen – einer schicksalhaften Macht, die nicht aufzuhalten und deren Bestimmung es sei, die Heilsbotschaft von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit über die ganze Erde zu verbreiten.20 Dem berauschenden Beispiel von 1789 folgend, glaubten Visionäre, Revolution sei das Mittel, eine freiere, gerechtere Welt zu schaffen, und so widmeten sie ihr ganzes Leben dem Zweck, diesen glorreichen Tag heraufzubeschwören.
Es überrascht daher nicht, dass diese Epoche den »Berufsrevolutionär« hervorbrachte, der unermüdlich Pläne zum Umsturz der konservativen Ordnung schmiedete. Bei der Revolution von 1789 wurden die Menschen unerwartet – nicht selten aus einem düsteren, eintönigen Leben in der Provinz heraus – in den Strudel geschleudert, der Europa mehr als zwei Dekaden lang erschütterte. Während sie sich zufällig und oft recht widerwillig zu Revolutionären wandelten, versuchte die neue Generation bewusst und aktiv, eine Revolution zu provozieren. Führend war der geistreiche, doch etwas weltfremd-idealistische Giuseppe Mazzini. Geboren 1805 in Genua und ab 1829 Mitglied der Carbonari, widmete er sein Leben nicht nur der Vertreibung der Österreicher aus Italien, sondern auch der Einigung des Landes in einer demokratischen Republik. Obwohl dieser italienische Patriot weit davon entfernt war, der Revolution von 1789 uneingeschränkte Bewunderung zu zollen, war er der Ansicht, dass die Franzosen die Rechte des Einzelnen verkündet und zugleich bewiesen hatten, dass große Revolutionen allen Widrigkeiten zum Trotz sogar an ganz unerwarteten Orten stattfinden konnten. Selbst fehlgeschlagene Aufstände, so Mazzini, hätten ihren Sinn, da »Ideen schnell reifen, wenn sie mit dem Blut von Märtyrern genährt werden« – und sie würden selbst dann gären, wenn die Aufständischen von Kanonen und Musketen niedergemäht werden.21 Die heutigen Revolutionäre, schrieb er 1839, »sind weniger für die Generation tätig, die um sie herum lebt, als für die zukünftige Generation; der Sieg der Ideen, die sie in die Welt werfen, kommt langsam, aber sicher und entschieden«.22 Mazzini war überzeugt, dass die nächste große Revolution allen unterdrückten Völkern in Europa die wahre Freiheit bringen würde. In seiner Vision teilte er den Italienern die führende Rolle zu – dieses Volk sei, sobald es sich von seinen österreichischen und fürstlichen Gebietern befreit hätte, prädestiniert, seine gewaltigen, aber bisher ungenutzten Energien und Ressourcen zum Wohle des gesamten Kontinents zu entfesseln: »In Italien muss der europäische Knoten gelöst werden. Italien gebührt das hohe Amt der Befreiung. Italien wird seine zivilisatorische Mission erfüllen«23. Mazzini träumte von einem Europa der Nationalitäten, die alle gleichermaßen frei waren und ihren eigenen Charakter aufwiesen. Allerdings benutzte er ab Mitte der 1830er-Jahre den Begriff »Nationalismus« als missbrauchten Begriff und erklärte, dass Kämpfe gegen fremde Unterdrücker für die nationale Freiheit zwar notwendig seien, doch der Patriotismus dürfte nie »der Brüderschaft der Völker« im Weg stehen, »die unser vorrangiges Ziel ist«.24
Mazzinis Ideen hatten großen Einfluss auf seine Landsleute. Seine Untergrundorganisation »Junges Italien«, die 1831 nach dem Scheitern der Carbonari-Bewegung während seines Exils in Marseille gegründet worden war, hatte wahrscheinlich (nach Metternichs Einschätzung 1846) in Italien selbst nicht mehr als tausend aktive Mitglieder, doch viele weitere Tausend boten moralische Unterstützung und lasen deren verbotene Schriften. Auch unter den italienischen Exilanten, darunter etwa fünftausend Abonnenten seiner Zeitschrift in Montevideo und Buenos Aires, genoss Mazzini uneingeschränkt Rückhalt. Einer von ihnen war ein Berufsrevolutionär, der 1833 aus Piemont ins Exil geflohen war und sich jetzt in Brasilien und Uruguay an Aufständen beteiligte: Giuseppe Garibaldi. Seine Heldentaten machten ihn in ganz Italien berühmt.
Mazzini erwies sich als wahrhaft inspirierende Figur für Revolutionäre aller Nationalitäten. Alexander Herzen traf ihn bei verschiedenen Anlässen (in diesem Fall 1849):
»Mazzini stand auf, sah mir mit seinem durchdringenden Blick offen ins Angesicht und streckte mir freundschaftlich beide Hände entgegen. Selbst in Italien findet man selten einen solchen bei allem Ernst und aller Strenge doch feinen und schönen Kopf von antiker Prägung. Zuweilen nahm sein Gesicht einen harten und finsteren Ausdruck an, aber es wurde sofort wieder weich und heiter. Eine ununterbrochene konzentrierte Gedankentätigkeit belebte seine wehmütigen Augen. Aus ihnen, sowie aus der gefalteten Stirn sprach ein Abgrund von Starrsinn und Hartnäckigkeit. Diese Züge trugen den Abdruck langjähriger schwerer Sorgen, schlafloser Nächte, furchtbarer Stürme, mächtiger Leidenschaften, oder richtiger, einer starken Leidenschaft; es lag etwas Phantastisches, ich möchte sagen etwas Asketisches in diesem Gesicht.«25
Mazzini sah sich durch seine Anziehungskraft als Theoretiker und Bote der Revolution in der Lage, Revolutionäre aller Länder in einer paneuropäischen Bewegung zu vereinen. Während seines Exils in Bern sammelte er 1834 eine kleine Gruppe von politischen Flüchtlingen aus Polen, Deutschland und Italien um sich, um eine Organisation mit dem Namen »Junges Europa« zu gründen, deren Ziel die Befreiung der unterdrückten Nationen und letztlich – auf dem Weg der Überzeugung – eine friedliche Beilegung der Konflikte unter den europäischen Nationen war. Diese herrliche Vision erwies sich traurigerweise als nicht umsetzbar, aber das »Junge Italien« und das »Junge Europa« regten eine Vielzahl von Nachahmungen in anderen Ländern an: Es gab ein »Junges« Irland, Polen und Deutschland sowie eine »Junge Schweiz«, und später sollte sich die Welt mit einem »Jungen Argentinien« und einer »Jungen Ukraine« rühmen. Insofern war Metternich nicht ganz verrückt, wenn er angesichts der Existenz eines revolutionären Netzwerks schlaflose Nächte hatte, es war nur so, dass dieses seine Befehle nicht aus Paris erhielt. Dagegen traf er ins Schwarze, wenn er den Italiener als gefährlichsten Mann Europas brandmarkte – und gewiss stimmen ihm so mancher besorgte Herrscher aus vollem Herzen zu. 1834 wurden Mazzini, Garibaldi und andere Mitglieder des »Jungen Italien« von einem piemontesischen Militärtribunal in Abwesenheit zum Tode verurteilt, während der Papst seine Polizei anwies, ein wachsames Auge auf die »ungeheuren Pläne dieses außergewöhnlichen Mannes« zu haben.26 Selbst in den belgischen und holländischen Regierungen brach manchen der Angstschweiß aus, als sie erfuhren, dass Mazzinis Propaganda in den Niederlanden die Runde machte, dennoch hatten sie als parlamentarisch regierte Staaten seinen Einfluss weit weniger zu fürchten. Bis zum Krisenjahr 1847 war Mazzini für die Mächtigen ein solches Schreckgespenst geworden, dass man ihn gleichzeitig auf Malta, in der Schweiz, in Deutschland und Italien gesehen haben will.27 Dennoch: Als er sich mit den ungeahnten Möglichkeiten von 1848 konfrontiert sah, erwies sich der große Visionär als durchaus in der Lage, sie mit politischem Pragmatismus beim Schopf zu packen.
Die Revolutionäre waren nicht nur romantische Träumer, sie waren auch bereit, mit der Arbeit an der schönen neuen Welt große persönliche Risiken einzugehen. Viele von ihnen opferten zudem Behaglichkeit und finanzielle Sicherheit: so war Mazzini vollständig auf das Geld seiner Eltern angewiesen (die in der Hoffnung zahlten, dass er – eines Tages – eine »ordentliche« Stelle erhalten würde). In den gut zehn Jahren vor 1848, während seines Londoner Exils, lebte er genügsam; so irritierte er seine englischen Freunde und Gönner, weil er die Kosten für eine Droschke scheute und bespritzt mit dem Schlamm der schmutzigen Stadtstraßen bei gesellschaftlichen Anlässen erschien. Herzen ging es da besser, da er von seinem väterlichen Erbe lebte, doch sein Freund, der Anarchist Michail Bakunin, ein weiterer Abkömmling aus russischem Adel, hatte die Brücken zu seiner wohlhabenden Familie abgebrochen und die lästige Angewohnheit angenommen, seine neuen Bekannten um Kredit zu bitten. Wurde er in Südamerika nicht für seine Militärdienste entlohnt, verdiente sich Garibaldi, der von Nizzaer Seefahrern abstammte (Nizza gehörte damals zu Piemont), seinen Lebensunterhalt abwechselnd als Seemann, Rinderhändler in der argentinischen Pampa oder als Schiffsmakler.28
Diese Revolutionäre schufen nicht etwa die Bedingungen für die Revolution von 1848, auch waren sie nicht für die impulsgebenden ersten Ausbrüche der Gewalt in jenem Jahr verantwortlich – diese entstanden aus einem Zusammentreffen weiterer Faktoren. Aber sie waren bereit zu handeln, als der Augenblick gekommen war, und, noch wichtiger, sie konnten auf die Unterstützung von Organisationen bauen, die genügend Aktivisten mobilisieren konnten, als die Zeit für Aufstände reif war. Der organisierte revolutionäre Widerstand gegen das konservative System hätte nicht gedeihen können, wäre er nur das Werk von ein paar tausend fanatischen Einzelkämpfern gewesen, er wurzelte in der Enttäuschung einer breiteren Zivilgesellschaft. Die große Mehrheit der Europäer hatte nicht die Absicht, zu aktiven Revolutionären zu werden – in Wirklichkeit fürchteten sie die Gewalt und soziale Entwurzelung, die ein Aufstand mit sich bringen würde –, trotzdem trafen die Klagen und Ziele der Aktivisten bei der eher passiven Bevölkerung auf ein wohlwollendes Echo. Auf diese Weise geriet das reißerische Bild einer blutrünstigen revolutionären Bewegung, das die Konservativen zeichneten, um ihre Repressalien zu rechtfertigen, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Eine Gesetzgebung, ausgerichtet auf die eigentlichen Revolutionäre, hätten die meisten Menschen vielleicht akzeptiert, aber häufig griff sie – wie bei den Karlsbader Beschlüssen in Deutschland – auf breiterer Basis an: gegen Presse, Pädagogik, Interessenvertretungen der Arbeiter und kulturelle Vereinigungen. In vielen Ländern enttäuschten Zensur, politische oder kirchliche Einflussnahmen in Sachen Erziehung, Beschränkungen bei der Versammlungsfreiheit und der Bildung von Vereinen sowie der freien Meinungsäußerung viele gebildete, meinungsfreudige und ehrgeizige Leute, die das aufrichtige Bedürfnis empfanden, sich konstruktiv an Staat und Gesellschaft zu beteiligen. Hinzu kam, dass gesellschaftliche Gruppierungen wie Fabrikanten, Handwerker, Akademiker – etwa Juristen und Professoren – sowie rangniedrigere Beamte der Meinung waren, dass sie einerseits Funktionen innehatten, die dem Staat nützlich waren, dieser andererseits aber nicht darauf eingestellt war, ihre Interessen zu schützen oder zu fördern, weshalb sie das Gefühl hatten, kein Regierungssystem – egal ob konstitutionell oder absolut – würde ihre Anliegen vertreten. Infolgedessen hatten breite Teile der Bevölkerung zumindest für die Argumente der Revolutionäre Verständnis und teilten deren Ziele, obwohl sie die Aussicht auf Revolution und soziale Unruhen verschreckte.
Dieser Unzufriedenheit weiter Kreise mit der bestehenden Ordnung lag eine zunehmend sich ausprägende öffentliche Meinung zugrunde. Seit dem 18. Jahrhundert kamen neue Vorstellungen von einer »Bürgergesellschaft« auf, die der Idee Vorschub leisteten, dass es einen kulturellen und sozialen Raum gebe – oder geben sollte –, der vom Staat unabhängig war und in dem sich einzelne Bürger bei allen Themen, von der Kunst bis zur Politik, in Gesprächen und Debatten einbringen und Kritik üben konnten. Die Bürgergesellschaft sollte der autonome Schiedsrichter in Sachen Kunstgeschmack und die gesetzmäßige Quelle für politische Meinungsbildung und politisches Urteilen sein. Dies setzte natürlich die Existenz eines gebildeten, kultivierten und politisch bewussten Bevölkerungsteils voraus, der diese Interessen auch vertreten konnte. Im 19. Jahrhundert gab es diesen tatsächlich überall in Europa, auch wenn er in Reichweite und Größe differierte. Unter den Großmächten war er wohl in Großbritannien und Frankreich, wo die Zensur milder (oder zu umgehen) und die Alphabetisierung höher war, am größten. 1848 konnten in Frankreich immerhin 60 Prozent der Bevölkerung lesen (knapp gefolgt vom Habsburger Kaiserreich, das sich ganzer 55 Prozent rühmte), während Russland bei nur 5 Prozent lag. In Preußen, wo es eine gut eingeführte Tradition staatlicher Schulbildung gab, konnten beeindruckende 80 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben.29
Die öffentliche Meinung drückte sich nicht nur in Druckerzeugnissen aus, sondern auch in Gesellschaften und Klubs, die ihre Mitglieder aus dem fortschrittlichen Bürgertum und Adel rekrutierten. Diese verhüllten ihre politischen Absichten oftmals mit harmloseren Aktivitäten, darunter wissenschaftliche Entdeckungen (besonders gern in Italien), Turnen (beliebt bei den immer gesunden Deutschen), Musik und Schießübungen (wobei Letzteres selbstverständlich für die Revolution zu gebrauchen war). »Das öffentliche Leben«, schrieb ein Beobachter, »tobte und wütete im Theater und im Konzertsaal, da es keinen anderen Ort hatte, um zu toben und zu wüten.«30 Alexander Herzen, der in Russland seit Langem an die Atmosphäre von Unterdrückung gewöhnt war, empfand sogar diese beschränkte Freiheit als erholsam. Kurz nach seiner Ankunft in Preußen besuchte er ein schmuddliges Theater und kehrte ganz erregt davon zurück, erregt nicht etwa wegen des Stücks, sondern »durch das Publikum, das zum größten Teil aus Arbeitern und jungen Leuten bestand. In den Zwischenpausen sprach alles laut und frei durcheinander.« Die Karikaturen vom Zaren, die in einer Buchhandlung angeboten wurden, begeisterten ihn derart, dass er »einen ganzen Vorrat davon« kaufte.31 Von 1839 an versammelte der jährlich stattfindende Kongress der italienischen Gelehrten Hunderte der gebildetsten Häupter aus dem ganzen Land, um die neuesten Entwicklungen in Technik, Medizin und Naturwissenschaften zu diskutieren. In dem ausgesprochen spannungsgeladenen Jahr 1847 fand er im Dogenpalast von Venedig statt. So oft wie nur möglich fiel der Name von Papst Pius IX., selbst Diskussionen über Landwirtschaft boten Gelegenheit, gegen die Österreicher loszuwettern, da die Norditaliener traditionell die österreichischen Soldaten als »Kartoffeln« bezeichneten.32 Als die Regierungen zu regeln versuchten, was und wie die Menschen lesen oder diskutieren durften oder nicht, konnte auch der Umstand, dass es Wege gab, diese staatlichen Restriktionen zu umgehen, den Unmut nicht beschwichtigen. Deutsche Liberale spotteten gern, auf dem für die Konservativen typischen Schild stehe: »Es ist gestattet, dieses Feld zu betreten«, was soviel hieß wie: Den Leuten war nichts erlaubt, was nicht ausdrücklich genehmigt wurde. Mit anderen Worten: Zwischen dem konservativen Staat und der Bürgergesellschaft tat sich eine Kluft auf.
In den absoluten Monarchien war das vielleicht keine Überraschung, aber es traf auch auf das liberale Frankreich zu, weil die Julimonarchie die Erwartungen eines großen Teils der Bevölkerung nicht erfüllte. König Louis-Philippe I. konnte solide liberale Referenzen vorweisen: Als »Général Égalité«, wie er kurzzeitig genannt wurde, hatte er an den ersten Feldzügen des Koalitionskrieges von 1792 teilgenommen, bevor er Ende des Jahres – als Ludwig XVI. vor Gericht gestellt und schließlich zum Tode verurteilt – nach Belgien floh. Nachdem er 1830 dazu überredet worden war (allen voran durch seine starke und ihm sehr verbundene Schwester Adélaïde),33 den Thron zu besteigen, hielt Louis-Philippe zunächst an seinen liberalen Überzeugungen fest. Bei seiner Ankunft in Paris umarmte er auf dem Balkon des Hôtel de Ville, dem Sitz der Pariser Stadtverwaltung, symbolisch den betagten Lafayette, den Helden sowohl der Amerikanischen wie der Französischen Revolution. Eine Anbindung der Julimonarchie an das revolutionäre Erbe Frankreichs erfolgte zudem auch über die Wiedereinführung der Trikolore: Nie wieder sollte das weiße Banner der Bourbonen als Nationalflagge im Wind flattern. Es gab keine prächtige Krönung, nur eine einfache Zeremonie, in der der neue »Bürgerkönig«, gekleidet in die Uniform der Nationalgarde, den Eid auf die Charte von 1814 leistete. Diese jedoch enthielt ein paar Änderungen, so etwa die leichte Ausweitung des Wahlrechts, die Aufhebung der königlichen Notstandsgesetze sowie die Tilgung von Formulierungen in der Präambel, die sich auf die von Gott gegebene Legitimation der Monarchie bezogen.
Diese moderaten liberalen Reformen konnten jedoch die Kleinhandwerker, die 1830 am meisten an den Barrikaden gekämpft hatten, nicht zufriedenstellen. In ihren Augen war Louis-Philippes Dynastie, das Haus Orléans, nicht besser als die der Bourbonen, die gerade eben abgesetzt worden war. Während des Aufstands waren über das Knallen der Musketen hinweg die beiden Rufe »Lang lebe Napoleon!« – womit der kränkelnde Sohn des Kaisers, Napoleon II., gemeint war, der in Wien im goldenen Käfig seiner faktischen Gefangenschaft saß – und »Lang lebe die Republik!« zu hören. Mit Louis-Philippes Inthronisation erhielten die Kleinhandwerker sehr wenig als Entschädigung dafür, dass sie ihr Blut vergossen hatten, denn das neue System wollte die – ihrer Meinung nach – Extreme von Demokratie (was Erinnerungen an den kreischenden Pariser Pöbel der Revolution von 1789 weckte) und Absolutismus der Bourbonen vermeiden. Unter der Bevölkerung hatte sich das starke Gefühl breitgemacht, »ihre« Revolution sei ihr von selbstgefälligen reichen Landbesitzern, Industriellen und Finanziers »geraubt« (escamotée) worden. Es gab aber auch noch andere Untergruppierungen in der französischen Gesellschaft, die über ihren Ausschluss aus dem politischen Leben aufgebracht waren, zu ihnen zählten Berufstätige aus dem Bürgertum, Beamte, kleinere Grundbesitzer und Unternehmer, deren Väter und Großväter das Rückgrat der 1789er-Revolution gebildet hatten. Deren Opposition fand entweder Ausdruck im Republikanismus mit seinem wehmütigen Zurückschauen auf die demokratischen Tage der Ersten Republik der 1790er-Jahre oder im Bonapartismus mit seinem Wunsch, die Dynastie wieder einzusetzen, die ein Stück weit das Erbe der Revolution bewahrte und zugleich an die glorreichen Tage erinnerte, als Napoleon Europa im Sturm genommen hatte. Diese nationalistische Vision eines Frankreich, das die freiheitlichen Prinzipien von 1789 an die Welt weitergeben könnte, besaß eine breit gestreute Anziehungskraft. Die Gegner der Julimonarchie erduldeten die Demütigungen der Friedensverträge von 1815, die Frankreich (nach zwanzig Jahren Krieg) in die Grenzen von 1792 zurückverwiesen, nur widerwillig.
Doch die Julimonarchie versuchte im Großen und Ganzen Abenteuer außerhalb ihrer Grenzen zu vermeiden; ja sie bemühte sich sehr darum, unheroisch und gemäßigt zu erscheinen. Zurückzuführen war dies auf den verständlichen Wunsch, im Ausland Frieden und zu Hause Stabilität zu haben, damit sich Frankreich erholen konnte. Die Regierung unternahm deshalb kaum etwas, um die Friedensordnung von 1815 rückgängig zu machen, doch stattdessen konnte sie das Land zum größten Wirtschaftswachstum seiner Geschichte anspornen. In den späten 1830er-Jahren wurde das Straßennetz verbessert und ausgebaut; 1842 startete die Regierung den Bau eines Eisenbahnnetzes und ließ etwa 1500 Kilometer Gleise verlegen, was wiederum neue Anforderungen an Schwerindustrien wie Kohle, Eisen, Stahl sowie den Maschinenbau stellte, die nun ihrerseits expandieren konnten. Manche Wirtschaftshistoriker sehen deshalb die 1840er-Jahre als die Periode des Take-off der französischen Industrialisierung.34 Karl Marx beschrieb die Julimonarchie vernichtend »als eine Aktienkompanie zur Exploitation des französischen Nationalreichtums«. Tatsächlich repräsentierte Louis-Philippes in persona die phlegmatische »bourgeoise« Art des Regimes. Normalerweise erschien er in bürgerlicher und nicht in königlicher Aufmachung in der Öffentlichkeit: mit einem einfachen Anzug, einem schwarzen Gehrock, in der Hand das Symbol bürgerlicher Ehrbarkeit schlechthin – einem Schirm. Genau das entsprach dem Bild der Sicherheit, das die Monarchie der Welt demonstrieren wollte; die Republikaner allerdings beeindruckte es nicht, sie schäumten vor Wut über die wenig unternehmenslustige Außenpolitik auf der einen und den Widerstand gegen eine breitere politische Teilhabe auf der anderen Seite. Republikanische Revolten 1832 in Paris und zwei Jahre später in Paris und Lyon wurden niedergeschlagen. Der Pariser Aufstand vom April 1834 – der Victor Hugo Inspiration für den Aufstand in Les misérables (Die Elenden) war – endete mit einem Massaker auf der Rue Transnonain, wo wütende Nationalgardisten einen Wohnblock von revolutionären Heckenschützen säuberten und dabei Zimmer für Zimmer wahllos zwölf Zivilisten abschlachteten, die dort Schutz gesucht hatten.
Die Tötung von Zivilpersonen hinterließ einen unauslöschlichen Makel auf der Julimonarchie, doch die Regierung konnte auf die Unterstützung der wohlhabenden Wählerschaft zählen, die panische Angst vor einer weiteren Revolution hatte. Folglich fühlte sie sich stark genug, um republikanische Zeitungen zu belangen und Einschränkungen gegenüber politischen Gruppierungen und Arbeitervereinen zu verhängen. Zu den verbotenen Organisationen gehörte die paramilitärische »Société des Droits de l’Homme et du Citoyen«, die 1832 gegründet wurde und sich aus Arbeitern rekrutierte. Sie war in kleine revolutionäre Zellen, die sogenannten sections, aufgeteilt – ein Begriff, der an die alten Pariser Distrikte erinnerte, die Brutstätten für den allgemeinen Kampfgeist der 1789er-Revolution. Dies hier war keine Organisation, die sich mit friedlichem Überreden abgab, vielmehr bemühte sie sich, ihre aus dem Handwerk kommenden Mitglieder zu drillen und zu disziplinieren, um sie auf eine Revolte zur Errichtung einer demokratischen Republik vorzubereiten. Sie plante den Pariser Aufstand von 1834, und entsprechend hatte sie bei dessen Niederschlagung zu leiden: Nicht weniger als 1156 Festnahmen tätigte die Polizei während des ersten Gegenschlags, wobei 736 Gefangene innerhalb von fünf Monaten wieder freikamen.35 Die Republikaner reagierten mit einem Mehr an Gewalt, darunter 1835 ein entsetzliches Attentat auf den König, bei dem aus einem als »Höllenmaschine« titulierten, aus fünfundzwanzig Läufen bestehenden Gewehr rund 14 Menschen getötet wurden – nicht aber Louis-Philippe, der mit einem Bluterguss davonkam. Es war einer von insgesamt acht Anschlägen auf das Leben des Königs – eine Häufung, die die satirische Zeitschrift Charivari einmal zu dem Bonmot veranlasste, der König und seine Familie seien von einem Ausflug zurückgekommen, »ohne irgendwie ermordet worden zu sein«.36
Die Jahre 1834 und 1835 stellten den Beginn eines Teufelskreises aus Gewalt und Unterdrückung dar, in dessen Verlauf die Republikaner zunehmend verbittert auf die Regierung reagierten, während die Monarchie ihre ursprünglichen liberalen Prinzipien aufgab und noch repressiver wurde. Mit den Septembergesetzen von 1835 wurden Pressebeschränkungen eingeführt: Zeitungen konnten strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie ein anderes Regierungssystem propagierten oder den König beleidigten – was allerdings den dreisten Karikaturisten Honoré Daumier (der für seine Karikaturen bestraft wurde) nicht davon abhielt, Louis-Philippes Gesichtszüge samt Hängebacken in Birnenform zu zeichnen. Zudem wurde das Strafrecht geändert, um politische Verfahren zu erleichtern.37 Die liberale Monarchie hatte, obwohl der König selbst Bedenken hegte, einige der Prinzipien aufgegeben, die sie gerade von den Bourbonen unterschieden hatten. Diese Umwandlung scheint in der Parole verdichtet, die zugunsten der Septembergesetze ausgegeben wurde: »Die Legalität wird uns umbringen.«38
Gleichzeitig spalteten Gewalt und Repressionen die republikanische Opposition in das Lager der Gemäßigten, das mit legalen Methoden das Regime zu politischen Reformen bewegen wollte (diese Richtung nannte sich nach ihrer Zeitung Le National), und das der Radikalen, das die Monarchie durch eine Revolution zerstören wollte. Am äußersten Rand dieser militanten Richtung gründeten Louis-Auguste Blanqui und sein Freund Armand Barbès die aufständische »Société des Saisons«, Gesellschaft der Jahreszeiten, die ihren Namen aus ihrer Struktur ableitete. Um die Identität ihrer Mitglieder vor den neugierigen Augen der Polizei geheim zu halten, bestanden ihre Zellen aus sieben Revolutionären, jede war nach einem Wochentag benannt. Vier Wochen wurden zu einem Monat gebündelt, und drei Monate wurden zur größten Einheit von allen zusammengefasst – einer Jahreszeit. In dem Katechismus, den die Mitglieder unterschreiben mussten, wurde die Gesellschaft als vom »Wundbrand« befallen beschrieben, was »heroische Heilmittel« rechtfertige, »um einen gesunden Zustand zu erreichen«. Mit diesen war nicht nur eine Revolution, sondern auch eine Zeit »revolutionärer Kraft« gemeint – was so viel heißt wie: eine Form autoritärer Herrschaft bis die »Menschen« für eine Demokratie bereit und die alten Herrschaftseliten ausgelöscht seien. Es handelte sich um einen frühen, unheimlichen Vorläufer von Karl Marx’ und Friedrich Engels’ »Diktatur des Proletariats«. In der Tat begann Blanqui daraufhin zu insistieren, dass mit der Garantie auf das »Recht zu leben« für alle Bürger eine gewisse Umverteilung des Vermögens verbunden sei.39 Die »Saisons« stand innerhalb der republikanischen Bewegung extrem links und zeichnete im Mai 1839 verantwortlich für einen erfolglosen Aufstand, in dem Barbès eine blutende Kopfverletzung davontrug. Trotz des Fehlschlags – und der darauffolgenden Verhaftung – war Blanqui weiterhin davon überzeugt, dass Revolutionen aus einem Willensakt heraus entstehen können: Ein Aufstand allein würde ausreichen, um die Ausrottung der alten Ordnung einzuleiten und die Welt neu zu erschaffen. Doch der Rest der republikanischen Linken war sich da nicht so sicher: 1843 wurde La Réforme, die Zeitung des linken Flügels, ins Leben gerufen – mit dem Geld Alexandre Ledru-Rollins im Rücken, der reich genug war, um in die Deputiertenkammer gewählt zu werden, dessen Sympathien aber der Linken gehörten. Die Herausgeber und Beiträger der Zeitung sahen sich selbst als »Generalstab« der kommenden Revolution, doch ihre eigentliche Waffe war die Überzeugungsarbeit durch Propaganda. La Réforme trat nicht nur für Demokratie ein (wie die National), sondern für eine Sozialreform. 1845 prangerte sie das an, was sie »Kommunismus« nannte (während Blanqui und seine Gefolgsleute das Blatt als »aristokratisch« kritisierten), spielte aber eindeutig mit sozialistischem Gedankengut.
In Italien, Deutschland und dem habsburgischen Kaiserreich ging der Liberalismus mit Nationalismus einher. Die Vorstellung von einer italienischen Vereinigung hatte sich unter der Auswirkung der Französischen Revolution von 1789 und der Erfahrung der napoleonischen Herrschaft entwickelt, unter der zuvor getrennte Staaten nun gemeinsam verwaltet wurden. Doch gab es nun zwei Strömungen: die der Gemäßigten, die das Überleben der Regenten innerhalb einer italienischen Konföderation garantieren wollte, und die der Republikaner wie Giuseppe Mazzini, die einen vereinten demokratischen Staat anstrebte. Andere wiederum, die an ihrer Heimatstadt oder -region hingen, konnten sich eine republikanische Revolution in ihrem eigenen Staat vorstellen, der, wie sie hofften, mit allen übrigen Staaten – egal ob Monarchien oder Republiken – in einer lockeren Föderation verbunden wäre. Zu den Befürwortern dieser Lösung gehörte der Mailänder Lehrer und Intellektuelle Carlo Cattaneo. Der führende Intellektuelle hinter der gemäßigten monarchistischen Vision war wohl Vincenzo Gioberti, der 1843 ein einflussreiches Buch mit dem Titel Del primato morale e civile degli italiani (»Über die moralische und zivile Vorherrschaft der Italiener«) veröffentlichte, von dem bis 1848 nicht weniger als 80 000 Exemplare verkauft wurden, was es für die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts zum Bestseller machte. Allein schon der Titel musste unweigerlich ein Volk ansprechen, das sich auf die eine oder andere Art unter fremder Oberherrschaft duckte. Gioberti hatte als Modell für das Risorgimento – Italiens »Wiedergeburt« – nicht die Französische Revolution vor Augen, denn der französische Einfluss in Gestalt Napoleon Bonapartes hatte Italiens nationale Entwicklung unterbrochen, nicht befördert. Die Franzosen seien nicht das große Volk, für das viele sie hielten, denn (so argumentiert Gioberti vernichtend) »Frankreich ist nicht erfinderisch, nicht einmal auf der Ebene des Irrtums«. Italiens Vorherrschaft basiere nicht auf bedeutenden Ideen nationaler Einheit, sondern auf dem Papsttum, da Religion durch ihre Wesensart alles Menschliche beherrsche. Deshalb schlug Gioberti einen Bund der italienischen Staaten unter der politischen und moralischen Führung Roms vor: Dies würde Italien, der »kosmopolitischsten aller Nationen«, den ihr von Rechts wegen zustehenden Platz in der Welt verschaffen.40
Die unitarische republikanische Vision wurde natürlich von Mazzini in Worte gekleidet, und zwar in der Erklärung der Ziele des »Jungen Italien«:
»Die Giovine Italia ist republikanisch und für die Einheit. Republikanisch – weil, der Theorie nach, alle Männer einer Nation, nach dem Gesetz Gottes und die Menschen berufen sind, frei, gleich und verbrüdert zu sein; und die republikanische Staatsform die einzige ist, welche diese Zukunft sichert, − weil die Herrschaft hauptsächlich in der Nation ruht, dem einzigen fortschreitenden und beständigen Dolmetscher des höchsten sittlichen Gesetzes […] Die Giovine Italia ist für die Einheit – weil, ohne Einheit, es keine wahre Nation – ohne Einheit keine Kraft giebt, und Italien, umgeben von geeinigten, mächtigen und eifersüchtigen Nationen, bedarf vor allem der Stärke.«41
Doch auch der deutsche Nationalismus war in einen liberalen und einen radikalen Flügel gespalten, was sich 1832 auf dem Hambacher Fest deutlich zeigte. Dort verkündeten republikanische Redner unter wehenden schwarz-rot-goldenen Fahnen das Ziel einer vereinten demokratischen deutschen Republik. Die Liberalen entsetzte diese Vorstellung, denn wie ihre italienischen Pendants wollten sie die bestehenden deutschen Staaten zur Garantie von Verfassungen und zum Zusammenschluss in einem deutschen Bundesstaat überreden, was wiederum die individuellen und politischen Rechte gewährleisten sollte. Diese Vision wurde teilweise von dem aufrichtigen Glauben getragen, dass dies der beste Weg sei, Freiheit und Einheit miteinander in Einklang zu bringen, oder wie ein badischer Liberaler es mit einem Zungenbrecher formulierte: »Ich will die Einheit nicht anders als mit Freiheit, und will lieber Freiheit ohne Einheit als Einheit ohne Freiheit«.42 Nach Meinung der Liberalen würde die radikale Version einer geeinten Republik zu einer derart unsicheren Zukunft führen, dass konstitutionelle und individuelle Freiheiten auf dem Spiel stünden. Manche wollten deshalb einfach die von Preußen unterstützte Zollunion, den Zollverein (den es seit 1833 gab und der Österreich ausschloss), so entwickeln, dass er mehr sei als bloß ein gemeinsamer deutscher Markt. Die Kluft zwischen den Radikalen und Liberalen sollte sich sowohl in der italienischen als auch in der deutschen nationalistischen Bewegung als größte Schwäche erweisen.
Im multiethnischen Habsburgerreich hatte Metternich ursprünglich die regionalen Eliten dazu angeregt, sich ins literarische Leben einzubringen, die Sprache ihres Volkes zu erforschen und ihre eigene Geschichte zu untersuchen, schien ihm dies doch eine harmlose Ablenkung von politischen Aktivitäten zu sein.43 Es stellte sich heraus, dass er mit dem Feuer spielte, denn genau dieses kulturelle Leben führte unter den Ungarn, Tschechen, Kroaten, Serben, Rumänen und anderen zur Entwicklung eines eigenen Nationalgefühls. Früher oder später sollte diesem Gefühl politischer Ausdruck verliehen werden und dadurch 1848 die Grundfesten des habsburgischen Reiches in Gefahr geraten. Schon vor der Katastrophe begann Metternich das zu verstehen. Besonders heftig fiel er deshalb über die ungarischen Liberalen her. Der aus dem Adel stammende Rechtsanwalt Lajos Kossuth, von 1832 bis 1836 Abgeordneter des ungarischen Landtags, hatte das Manuskript seiner »Berichte aus dem Landtag« herumgehen lassen, in dem er seine Gründe für radikale Reformen der ungarischen Gesellschaft im Besonderen wie der habsburgischen Monarchie im Allgemeinen darlegte. 1837 wurde er gefangen genommen und für drei Jahre inhaftiert. Davon unbeeindruckt veröffentlichte er ab 1841 seine eigene Zeitung, die Pesti Hírlap (Pester Zeitung), und entwickelte sich zu einem der temperamentvollen Wortführer der ungarischen Revolution. Um ein Gegengewicht zur ungarischen Opposition zu schaffen, ließ Metternich 1835 dem kroatischen Intellektuellen Ljudevit Gaj Unterstützung bei der Veröffentlichung seiner Zeitschrift Danica horvazka (Kroatischer Morgenstern) zukommen, die sich für die »illyrische Idee« oder ein vereintes Königreich der Südslawen (Serben, Kroaten und Slowenen) einsetzte. Doch 1842 war auch der südslawische Nationalismus schon zu einer Belastung Metternichs geworden, so dass er es sich anders überlegte und Gaj nicht weiter förderte.
Liberalismus und Radikalismus mögen in jedem Land auf ein paar Tausend Intellektuelle, auf abtrünnige Angehörige des Adels und des Bürgertums beschränkt gewesen sein, doch der Widerstand gegen die Restauration wurde durch eines der drängendsten Probleme der Zeit verbreitet: die »soziale Frage«, womit das Problem der Armut und sozialen Verwerfungen gemeint ist, das die damaligen wirtschaftlichen Umwälzungen mit sich brachten. Die Massenarmut rührte größtenteils von dem anhaltenden Bevölkerungswachstum her, das Mitte des 18. Jahrhunderts begonnen und seitdem unvermindert angehalten hatte. Letzten Endes sollte das Wirtschaftswachstum, stimuliert durch den industriellen Kapitalismus, die Bedrängnis mildern, indem ein breites Spektrum an Berufen geschaffen und der Lebensstandard gehoben wurde. Doch fast überall in Europa kamen diese Vorteile erst nach 1850, im Wesentlichen sogar erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zum Tragen. Die Jahrzehnte vor 1848 erlebten den Beginn der Industrialisierung (definiert als Einsatz komplexer Technologien in Herstellungsprozessen, vor allem in Fabriken, was dauerhaftes Wirtschaftswachstum zur Folge hat). Die europäische Landschaft, durch die Alexander Herzen 1847 mit seiner Familie reiste, steckte noch in den Anfängen eines Wandels, der sich erst Jahrzehnte später beschleunigen sollte: Fabriken am Rand der Städte stießen Rauchwolken in den Himmel, die sich mit dem vertrauteren Rauch aus den Kaminen der bald schon überfüllten Arbeiterwohnhäuser mischten. Telegrafie war gerade im Entstehen, und Eisenbahnschienen mit Lokomotiven, die mit einer Geschwindigkeit fuhren, die den meisten bis dahin als undenkbar erschien, breiteten sich wie ein Spinnennetz immer weiter über Europa aus.
Der Boom der Schwerindustrie, die den Eisenbahnbau und die Mechanisierung der Webereien (die im Westen die erste Phase der Industrialisierung durchliefen) beförderte, war besonders in bestimmten Gebieten ausgeprägt: namentlich in Großbritannien, in Belgien, in Teilen von Nord- und Südostfrankreich, einigen Gegenden Deutschlands (vor allem im Rheinland und in Schlesien) sowie in tschechischen Enklaven des habsburgischen Kaiserreichs und um Wien. Kleinhandwerker, die früher als eine Art Kleinunternehmer existieren konnten, mussten feststellen, dass ihre Fähigkeiten und ihre Unabhängigkeit nicht nur durch die Einführung von Maschinen bedroht wurden, sondern auch durch neue Organisationsformen, in denen un- oder angelernte Arbeiter – darunter Frauen – die gleichen Produkte in größerer Zahl und zu niedrigeren Kosten herstellten, wenn auch, wie die angeschlagenen Handwerker argumentierten, in schlechterer Qualität. Die Verzweiflung trieb manche zum Aufstand. So erhoben sich im Juni 1844 die schlesischen Handweber, die im Konkurrenzkampf mit der britischen Textilindustrie und den zuvor errichteten polnischen Fabriken untergingen, gegen die Händler, die Profit aus dieser Situation schlugen, indem sie die Abnahmepreise für die handgewebten Waren so weit senkten, dass rund drei Viertel der 40 000 Weber nicht genug Geld verdiente, um ihre Familien zu ernähren. Fabriken und Lager wurden geplündert, verletzt wurde dabei niemand, bis das preußische Heer einschritt, um die Weber niederzuzwingen, und zehn von ihnen tötete.44 Kleinhandwerker, die sich mit der Aussicht konfrontiert sahen, gegen das Fabriksystem zu unterliegen, fanden jedoch wenig, was ihnen ein Leben im Dienst der Maschine schmackhaft gemacht hätte. Der Arbeitstag, der vormals sanfteren Rhythmen gefolgt war, wurde nun rücksichtslos von der Uhr diktiert. Die Einführung der Gasbeleuchtung mochte ein Segen im häuslichen Umfeld sein, für die europäischen Arbeiter bedeutete es aber, dass sie regulär vierzehn oder fünfzehn Stunden am Tag an der Maschine zubrachten, gab es doch keinen Grund mehr, Feierabend zu machen, wenn das Tageslicht schwand.45
Die Not der schlesischen Weber, 1844: Ein Fabrikbesitzer lehnt die Waren der Weber ab. Gemälde von Carl Wilhelm Hübner 1844. (akg-images)
Die Industrialisierung war indessen nicht so verbreitet, um ein Besitzbürgertum zu schaffen, das sein Vermögen hauptsächlich dem Großunternehmertum verdankte. Eine solche Bourgeoisie existierte natürlich, doch der europäische Mittelstand war eine bunt gemischte und alles andere als sozial einheitliche Bevölkerungsgruppe. Viele waren Grundbesitzer, die oft protzig den Lebensstil der Aristokratie imitierten. In Frankreich verschmolzen die reichsten Land besitzenden Bourgeois mit den älteren Adelsgeschlechtern und bildeten eine 15 000 Mann starke Kaste der superreichen notables, die das politische Leben unter der Julimonarchie dominierten. In Preußen gehörten über 40 Prozent des Grundeigentums Nichtadeligen. Unterhalb dieser großbürgerlichen Landbesitzer gab es eine Fülle von weniger vermögenden Eigentümern, Akademikern, Beamten und Geschäftsleuten sowie ein Kleinbürgertum aus Händlern und Handwerksmeistern. Größtes Problem für das Bürgertum war, dass viele eine sehr gute Bildung genossen hatten, aber nicht genug Stellen in akademischen Berufen und im öffentlichen Dienst vorhanden waren, um allen die Erwerbstätigkeit zu ermöglichen; das Bürgertum erfuhr somit den Druck, der von der Bevölkerungszahl ausging, in Form eines »Überschusses an gebildeten Männern«. Ein französischer Satiriker drückte es folgendermaßen aus: Es müsse eine Bevölkerungsexplosion gegeben haben, denn »es gab zwanzig Mal mehr Anwälte, als es Prozesse zu verlieren gab; mehr Maler, als es Bildnisse zu malen gab; mehr Soldaten, als es Siege zu erringen gab, und mehr Ärzte, als es Patienten zu töten gab«.46
Um einen Begriff aus der Soziologie zu verwenden: Der Zusammenbruch der Restauration, der konservativen Ordnung im Jahr 1848 war eine Krise der »Modernisierung« und zwar im Sinne einer Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft, diese aber waren noch nicht so weit umgewandelt, um den extremen Druck, der aus dem Bevölkerungswachstum resultierte, abzufedern und vor allem um auf die Verzweiflung der Kleinhandwerker und Kleinbauern einzugehen. In manchen ländlichen Gegenden Europas drohte die Übervölkerung zu einer Krise malthusianischen Ausmaßes2* zu führen, denn dort lebte ein großer Teil der Menschen am Rande der Existenz und war im Falle von Missernten besonders anfällig für Hungersnöte. Da sich Unternehmer aus einem ständig anwachsenden Reservoir an Arbeitern aus ländlichen Gegenden bedienen konnten, die verzweifelt nach Arbeit suchten, mussten landlose Arbeiter erleben, wie ihre Löhne nach unten gedrückt wurden. Das Wachstum der Landbevölkerung führte etwa in Preußen dazu, dass zwischen den napoleonischen Kriegen und 1848 die Zahl der Landarbeiter ohne eigenen Grund und Boden im Vergleich zur Gesamtbevölkerung fast doppelt so schnell anstieg. Selbst Bauern, die ein bisschen Land besaßen, hatten zu kämpfen, um ihren Lebensunterhalt zu erringen: Das Aufteilen ihrer Felder unter den Kindern brachte es mit sich, dass ihr Besitz immer weiter zerstückelt und damit immer unrentabler wurde, und zwar solange, bis ihnen nichts anderes übrigblieb, als die Parzellen an einen reichen Landbesitzer zu veräußern. Es gab Schätzungen, wonach 100 000 preußische Landbesitzer auf diese Weise verschwanden und sich den Massen grundbesitzloser Landarbeiter anschlossen.47 Auch das ländliche Frankreich kannte diesen Druck. Dort konnten um 1820 die landwirtschaftlichen Kapazitäten nicht länger mit dem Bevölkerungswachstum mithalten und die französischen Familien ernähren; Nahrungsmittelimporte wurden notwendig und Arbeiter und Bauern dadurch besonders den Auswirkungen von Preiserhöhungen ausgesetzt.
Hinzu kam das Problem der geknechteten Bauernschaft in Mittel- und Osteuropa. Diese bestand entweder aus Leibeigenen (wie im russischen Reich und im österreichisch regierten Galizien) oder war verpflichtet, den Grundherren hohe Abgaben zu zahlen und gleichzeitig Frondienste (robot) auf ihrem Land zu leisten (so in Böhmen und Ungarn). Neben dem robot waren tschechische Kleinbauern auch mit der Zahlung von Geld und Naturalien belastet – dazu kamen die Steuern, die die Bauern dem Staat, und der Zehnte, den sie der Kirche geben mussten. Außerdem hatten Bauern unterwürfig zu sein: Bis 1848 mussten sie Staatsdiener mit »Euer Hochwohlgeboren« anreden, auch konnten Grundherren Bauern nach Belieben mit der Faust schlagen, wobei das Schlagen mit dem Stock der formellen Zustimmung der zuständigen Behörden bedurfte.48 Außerhalb des russischen Kaiserreichs mussten von allen Bauern Europas wohl die Ukrainer Galiziens die schlimmsten Bedingungen ertragen. Im Durchschnitt verbrachten sie mehr als ein Drittel des Jahres mit der Ableistung der robot auf den Besitzungen ihrer (überwiegend polnischen) Grundherren, doch sie mussten auch für die Regierung arbeiten, indem sie Straßen reparierten und ihre Zugtiere als Transportmittel einsetzten. Die Leibeigenschaft (denn um eine solche handelte es sich) wurde mit Gewalt erzwungen: Seit 1793 war es den Grundherren nicht mehr erlaubt, ihre Leibeigenen mit Prügeln zu schlagen. Doch das Verbot wurde fast immer ignoriert, sodass es mehrfach ausgesprochen werden musste, das letzte Mal 1841. Ein polnischer Demokrat, der mit ansehen musste, wie seine adeligen Landsleute ihre ukrainischen Untergebenen behandelten, schrieb entsetzt: »In den Augen des Magnaten war der Bauer kein Mensch, sondern ein Ochse, dessen Bestimmung es war, für seine Behaglichkeit zu arbeiten, und der notwendigerweise wie ein Tier angeschirrt und mit der Peitsche geschlagen werden musste.«49
Im Vergleich zu den Bauern waren Arbeiter sehr viel besser dran, doch auch sie hatten Anlass zur Sorge. Das Wachstum der Industrie war unbeständig und nicht vorhersehbar. Es kam zu Boom-Bust-Zyklen, in denen das Angebot die Nachfrage überstieg, was zu einem Einbruch der Preise und des Handels und infolgedessen zu Arbeitslosigkeit und Verzweiflung führte. Eine dieser Krisen trat vor den Revolutionen von 1830 auf, die schlimmste von ihnen schlug in den Jahren vor 1848 zu. Selbst außerhalb dieser Krisenzeiten waren die Bedingungen, unter denen die ärmsten Leute vegetierten, für die Beobachter schockierend. Ländliche Armut hieß für viele Bauern hungern – möglicherweise bis hin zum Tod – oder ihr Heil in den Städten und in der Auswanderung nach Nordamerika zu suchen (etwa 75 000 verließen Deutschland in der Krise des Jahres 1847)50. Keines von beidem war leicht: Während in den Fabriken im Vergleich zu dem, was Landarbeiter zusammenscharren konnten, bessere Löhne angeboten wurden, waren auch die Lebenshaltungskosten höher. Eine Schätzung geht davon aus, dass Essen und Trinken 60 bis 70 Prozent des Einkommens verschlangen, was wenig für Miete und Kleidung übrigließ.51 Tatsächlich ergaben Studien, die in den 1840er-Jahren von besorgten Philanthropen aus dem Bürgertum durchgeführt worden waren, dass deutschen Arbeitern nicht einmal halb so viel dessen zur Verfügung stand, was nötig war, um ein annehmbares Leben zu führen. Manche merkten an, dass diese im Wesentlichen von Kartoffeln und Schnaps lebten, was einem Lebensstandard entsprach, der unter dem von Gefängnisinsassen lag – eine Beobachtung, die sich auch in entsprechenden Studien in Prag widerspiegelte. Deutsche Arbeiter trugen sommers wie winters dieselben Kleider – ohne zusätzliche Schichten gegen die beißende Kälte.
Die Städte und Metropolen wimmelten von Bitterarmen, die in vollkommen überfüllte Mietskasernen gestopft waren. Der Bau von erschwinglichen Unterkünften, die Bereitstellung von sanitären Anlagen und die Auslieferung von sauberem Wasser hielten nicht Schritt mit dem Zustrom der armen Landbevölkerung. Man schaute fassungslos auf halbnackte Kinder, die in dreckigen engen Straßen spielten und von denen knapp die Hälfte nicht den fünften Geburtstag erlebten, während die, die durchkamen, im Schnitt eine Lebenserwartung von vierzig Jahren hatten.52 1832 beschrieb ein Bericht über die nordfranzösische Industriestadt Lille das Elend, in dem die ärmsten Arbeiter lebten: »In ihre finsteren Keller, in ihre Zimmer … kommt nie frische Luft, sie ist verpestet; die Wände sind mit Müll zugepflastert … Wenn es ein Bett gibt, dann besteht es aus ein paar schmuddligen, schmierigen Brettern; feuchtem, verfaultem Stroh … Die Möbel sind schief, wurmstichig, mit Schmutz bedeckt.«53 Einem Bewohner der Elendsviertel in den überfüllten Pariser Distrikten standen im Durchschnitt etwa sieben Quadratmeter Wohnraum in einer der dunklen, dreckigen und feuchten Mietskasernen des Stadtzentrums zur Verfügung. »Nirgends sonst«, wurde in einer Zeitung erklärt, »ist der Raum beschränkter, die Überfüllung größer, die Luft ungesünder, das Wohnen gefährlicher und die Einwohnerschaft heruntergekommener.«54 Das war vor der Umgestaltung der Innenstadt durch Baron Haussmann unter Napoleon III., Präfekt des Départements de la Seine und ab den 1850er-Jahren zuständig für die Beseitigung der Elendsviertel und den Bau der luftigen, eleganten Boulevards, für die die französische Hauptstadt bis heute berühmt ist. Erbärmliche Unterkünfte, verseuchtes Wasser und eine offene Kanalisation, die in der Mitte enger Straßen entlanglief, boten die unhygienischen Bedingungen, auf denen 1832 zum ersten Mal in Westeuropa eine schreckliche neue Krankheit aufkeimte: die Cholera. Diese erbärmlichen Zustände brachten Moralisten und Reformer zu der Überzeugung, dass Städte Brutstätten für Laster und Verbrechen seien. In Berlin, das 1848 400 000 Einwohner zählte, gab es nicht weniger als 6000 Bedürftige, die vom Staat Hilfe erhielten, 4000 Bettler, 10 000 Prostituierte, 10 000 »Vagabunden« ohne festen Wohnsitz und den Schätzungen nach weitere 10 000, die sich kriminell betätigten. Insgesamt gab es in der preußischen Hauptstadt doppelt so viele, die am Rande der Existenz lebten, wie normale Bürger.55 Da Armut von Liberalen wie Konservativen nicht als Symptom wirtschaftlicher Umstände, sondern als Ausdruck von Faulheit, Verdorbenheit und sogar Dummheit angesehen wurde, existierte weder der Wohlfahrtsstaat noch ein soziales Versorgungsnetz. In Zeiten schwerer Krisen gab es durch öffentliche Notstandsarbeiten eine gewisse Entlastung, ansonsten mussten die Bedürftigen auf Arbeitshäuser mit ihren harten Bedingungen oder Almosen setzen, die beide eher auf kirchlicher als auf staatlicher Ebene organisiert wurden, womit sie von der Zahlungsbereitschaft der Gemeinden abhängig waren. Schließlich konnten die Bedürftigen noch bei privaten Wohltätigkeitsorganisationen betteln gehen.
Angesichts dieser Zustände setzten sich Intellektuelle gedanklich mit diesem Elend auseinander und entwickelten eine Vielzahl von Ideen, die in ihrer Summe als »Sozialismus« bekannt wurden. Dieser Begriff, der zum ersten Mal im Jahr 1832 von dem französischen Radikalen Pierre Leroux verwendet wurde, ergab sich aus der Prioritätensetzung seiner Anhänger, die eher die Lösung der »sozialen Frage« als politische Reformen in den Vordergrund stellten. Manche »utopische« Sozialisten, so zum Beispiel Étienne Cabet und Charles Fourier, entwickelten Vorstellungen von einem idealen Gemeinwesen, in dem es keine Vermögensunterschiede mehr geben sollte. Doch es gab auch andere »wissenschaftliche« Sozialisten, etwa Karl Marx und Henri de Saint-Simon, die versuchten, die Gesellschaft in ihrem Istzustand zu analysieren und eine realistische Zukunftsvision anzubieten. Die Armut – und die Tatsache, dass es Leute gab, die sie für politische Zwecke nutzen wollten – beunruhigte alle jene, die durch eine soziale Revolution etwas zu verlieren hatten. In den 1840er-Jahren warnte ein britischer Beobachter eindringlich vor den Massen in Hamburg, deren »Mangel an Wohlbefinden die krankhafte Lust an der Zerstörung befördert, die … sich gegen die Besitztümer der Bessergestellten richtet«.56 Ängste unter den Begüterten wurden durch handfeste Beweise in Form einiger heftiger Gewaltausbrüche innerhalb der Arbeiterklasse untermauert. 1844, im Jahr des schlesischen Weberaufstandes, erhoben sich die Prager Kattundrucker. Die Obrigkeit verlor vier Tage lang die Kontrolle über die Stadt, bis Truppen unter General Alfred Windischgrätz erfolgreich intervenierten – ein Akt, der den General in Verruf brachte und von den Tschechen noch nach Jahren nicht vergessen war.
Doch die Arbeiter wurden zu solch extremen Mitteln getrieben, weil Mitte der 1840er-Jahre entsetzliche wirtschaftliche Not herrschte. Ein zyklischer Konjunkturrückgang bei gleichzeitigen Missernten führte dazu, dass diese düstere Epoche als »die hungrigen Vierziger« in die Erinnerung einging. Zum wirklichen Ernstfall entwickelte sich die Krise, die fast bis zum Ende des Jahrzehnts unvermindert anhielt, jedoch im Jahr 1845. Auslöser für die große Tragödie war zum einen der Ausfall der Getreide- und zum anderen der Ausfall der Kartoffelernte, Kartoffeln aber waren die Hauptnahrungsquelle. Die Pflanzen wurden von einem Pilz, bekannt als »Kartoffelfäule«, befallen, der die Knollen in fauligen Brei verwandelte. Die Krankheit ereilte fast ganz Europa, angefangen von Polen bis nach Irland, das am schlimmsten betroffen war: Dort entfesselte die Fäule die sogenannte Große Hungersnot, bei der bis zu 1,5 Millionen Menschen starben. In Deutschland kam es zu einer Welle von Hungeraufständen und Hungermärschen,57 während in Frankreich der Brotpreis – Brot war das wichtigste Grundnahrungsmittel des größten Teils der Bevölkerung – um fast 50 Prozent in die Höhe schoss, was zu wütenden Szenen in den Bäckereien sowie Hungerrevolten führte. Die Menschen mussten nun noch mehr ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben, und zugleich führte die einbrechende Nachfrage nach Industriegütern zu einem gefährlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit in industrieller Fertigung und im Handwerk. In den nordfranzösischen Textilstädten erreichte die Zahl der Erwerbslosen katastrophale Ausmaße: In Roubaix wurden etwa 8000 der 13 000 Arbeiter auf die Straße gesetzt; in Rouen ertrugen die Menschen Lohnkürzungen von 30 Prozent, um das Desaster der Arbeitslosigkeit abzuwehren.58 In Österreich wurden 1847 allein in Wien 10 000 Arbeiter entlassen, was in Zeiten, in denen die Nahrungsmittelpreise Rekordhöhen erreichten und es keine staatliche Hilfe für die Armen gab, verheerend war. Um das Ganze noch zu verschlimmern, kam es in vielen Städten des Reiches auch noch zum Ausbruch von Typhus.59 Im Januar 1847 schrieb ein preußischer Gesandter, der das tiefgehende und weitverbreitete Elend untersuchte: »Ist das alte Jahr mit Teuerung geschieden, so hat das neue mit Hunger begonnen. Geistige und körperliche Armut durchziehen in fürchterlichen Gestalten Europa – die eine ohne Gott, die andere ohne Brot. Wehe, wenn sie sich die Hände reichen!«60 Die Möglichkeit, dass sich Gegner der bestehenden Herrschaftsordnung die wirtschaftliche Misere zunutze machen könnten, war nicht nur ein konservatives Hirngespinst. Die allgemeine Wut konzentrierte sich, was nicht unnatürlich war, gegen die überkommene Ordnung – und die Liberalen zögerten nicht, daraus Kapital zu schlagen. Die wirtschaftliche Verzweiflung, die immer schon bedrohlich unter der zerbrechlichen Oberfläche der sozialen Ordnung gebrodelt hatte, erreichte nun ein Ausmaß, auf dessen Eindämmung die politischen Strukturen des alten Regimes kaum eingerichtet waren. Die ersten Monate des Jahres 1848 sollten zu einem kurzen, aber entscheidenden Zeitraum werden, in dem das Elend der Massen mit den lange schwärenden Enttäuschungen, Ängsten und Erwartungen der liberalen Opposition im Angesicht der Restauration verschmolz. Metternichs Europa, das 1815 triumphiert zu haben schien und seitdem so viele Stürme überstanden hatte, wirkte plötzlich ausgesprochen verletzlich – ein gefundenes Fressen für die Liberalen. Das Zusammentreffen einer akuten gesellschaftlichen Krise mit dem Gefühl, dass jetzt eine politische Wende möglich sei, veranlasste sogar die gemäßigten Opponenten der alten Ordnung dazu, auf Reformen, wenn auch nicht auf eine Revolution, zu drängen.
In Frankreich war die Feindseligkeit gegenüber der Julimonarchie von der republikanischen Bewegung in einen Propaganda-Feldzug für eine parlamentarische Reform mit der Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht für Männer umgewandelt worden. Seit 1840 beherrschte François Guizot die politische Landschaft Frankreichs, dessen Ministerressorts zu unterschiedlichen Zeiten Bildung sowie innere und äußere Angelegenheiten umfasst hatten, der aber 1848 im Grunde Premierminister war. Der Historiker gab sich bürgerlich, war Protestant, redegewandt, intelligent und ziemlich überheblich: Als er mit den Forderungen nach einer Ausdehnung des Wahlrechts konfrontiert wurde, reagierte er mit dem bekannten Ausspruch: »Enrichissez-vous« – »Werdet reich« – um die Voraussetzungen für das Wahlrecht zu erfüllen. Ein Hinweis darauf, in welchem Ausmaß die bürgerliche Gesellschaft vom formalpolitischen Leben ausgeschlossen war, kann in der Tatsache gesehen werden, dass in Paris auf jeden Mann, der wahlberechtigt war, zehn Männer kamen, die eine Zeitung abonniert hatten. In anderen Worten: Sehr viele Menschen hatten eine politische Meinung, konnten aber nicht direkt am parlamentarischen System teilhaben. Guizots Uneinsichtigkeit trug deshalb viel dazu bei, die Julimonarchie der öffentlichen Meinung zu entfremden. 1847 drangen die Regierungsgegner – sowohl Republikaner als auch Mitglieder der »dynastischen Opposition« (womit jene gemeint sind, die die Monarchie nicht stürzen, sondern den Platz der derzeitigen Minister einnehmen wollten) – auf ihre Forderungen. Sie umgingen ein offizielles Verbot politischer Zusammenkünfte, indem sie landesweit eine Reihe von Banketten organisierten. Auf diesen oft großen Zusammenkünften richteten die Redner ihre Appelle nach Reformen an die Feiernden. In Großbritannien hätte eine solche Aktivität sicher harmlos gewirkt, in Frankreich dagegen, wo es zwischen Regierung und öffentlicher Meinung eine Kluft gab, war sie brisant.61 Unter den gesuchteren Rednern war auch der Historiker und Schriftsteller Alphonse de Lamartine, dessen Histoire des Girondins (Geschichte der Girondisten), eine Schilderung der 1789er-Revolution, die 1847 veröffentlicht wurde, den Zeitgeist traf und zum Bestseller avancierte. Im Juli jenes Jahres wandte sich Lamartine auf einem brechend vollen und regennassen Bankett in Mâcon an die Leute, die zugleich seine Wählerschaft bildeten (er war ihr Vertreter in der Deputiertenkammer). Mit Bezug auf die große Revolution von 1789 erklärte er: »Es wird stürzen, dieses Königtum, seid dessen sicher … Und nachdem ihr die Revolution der Freiheit und die Gegenrevolution des Ruhmes hattet, werdet ihr die Revolution des öffentlichen Bewusstseins und die Revolution der Missachtung erleben.«62 Damit drückte Lamartine aus, was viele Menschen über die Julimonarchie und das Schicksal, das sie verdiente, dachten.
Anderswo in Europa bekam die liberale Opposition die Stärke der Restauration zu spüren – manchmal mit tragischen Folgen. In der habsburgischen Provinz Galizien versuchten 1846 polnische Adelige die patriotische Revolte gegen die österreichische Herrschaft auf ein höheres Niveau zu heben. Obwohl sie dafür ihren Leibeigenen die Befreiung versprachen, hörten die meist ukrainischen Bauern nicht auf sie, töteten und verstümmelten stattdessen rund 1200 polnische Adelige – Männer, Frauen und Kinder ohne Unterschied – und plünderten oder brandschatzten um die 4000 Herrensitze. Die Loyalität der Leibeigenen gehörte weiterhin dem Kaiser, der, wie es hieß, seine von Gott gegebene Autorität dazu benutzt habe, die Zehn Gebote auszusetzen, damit die Bauern ungestraft ihre verhassten Grundherren umbringen konnten.63 Ergebnis dieses gescheiterten polnischen Aufstands war die Annektierung der letzten Bastion polnischer Unabhängigkeit: der freien Stadt Krakau, die das Epizentrum der Revolte gewesen war.
Günstiger für die europäischen Liberalen endete 1847 in der Schweiz ein Bürgerkrieg zwischen den liberalen und den konservativen Kantonen. Letztere hatten sich zum sogenannten Sonderbund zusammengeschlossen, den Metternich mit österreichischem Geld und österreichischen Waffen unterstützt hatte, doch Erstere gingen siegreich aus dem Kampf hervor. In Italien wurde die patriotische Begeisterung entfacht, als 1846 ein »liberaler« Papst, Pius IX., gewählt wurde. Von »Pio Nono« wusste man, dass er Giobertis beliebte Bücher gelesen hatte, und als er in Rom die Macht übernahm, lockerte er sofort die Zensur, befreite alle politischen Gefangenen und versprach, die Möglichkeit von politischen Reformen zu prüfen. In den Augen der italienischen Nationalisten war er eine Galionsfigur, die alle Fäden italienischer Meinung zusammenführen, die geistige Führung der Kampagne zur Befreiung Italiens von der österreichischen Herrschaft übernehmen und dem Land zu einer gewissen politischen Einheit verhelfen konnte. Metternich reagierte 1847 mit der Wiederbewaffnung der österreichischen Festung in Ferrara, was aber Pius die Chance gab, durch heftigen Protest seine liberalen und patriotischen Überzeugungen zu demonstrieren; sein Stern unter den italienischen Liberalen stieg nur noch höher. In Norditalien engagierte sich die Opposition zunächst im »rechtmäßigen Kampf«, der lotta legale, indem sie über die Provinzversammlungen versuchte, Reformen von den Habsburgern zu erwirken. Allerdings sollte Metternichs Kompromisslosigkeit die italienischen Patrioten zwingen, sich zwischen dem Abbruch dieses Kampfes und einem revolutionären Kurs zu entscheiden. In der Lombardei wurde die Opposition vom Adel getragen, der einerseits enttäuscht war über den Mangel an Möglichkeiten, am Hof des Vizekönigs und in der Mailänder Bürokratie zu Rang und Stellung zu gelangen, der aber andererseits das Rückgrat der liberalen Bewegung bildete, die sich in den Städten zu verschiedenen Gesellschaften formiert hatte. Führend war hier der »Jockey Club«, die Nachahmung eines britischen Klubs, der zugleich eine ernsthafte politische und kulturelle Zielsetzung verfolgte.
An anderer Stelle des Habsburgerreiches, in Ungarn, brachten die Wahlen zum Landtag 1847 ein Parlament zurück, in dem radikale Liberale wie Kossuth saßen und bereit waren, über Bauernbefreiung und die Steuerprivilegien der Adeligen zu debattieren. In Österreich berief eine Monarchie, die knapp bei Kasse war, für den März 1848 die niederösterreichischen Landstände ein. Das wiederum ließ die Liberalen hoffen, die die Augsburger Allgemeine Zeitung, eine der wenigen ausländischen Zeitungen, eingehend auf Nachrichten aus der Welt durchstöberten und sich unter anderem im »Wiener Juridisch-Politischen Leseverein« trafen. In Deutschland, wo der Nationalismus 1840 durch antifranzösische Kriegsangst (ausgelöst durch ein in der Julimonarchie seltenes Säbelrasseln der Franzosen) den Siedepunkt erreicht hatte, war die Mitgliedschaft in liberalen Vereinigungen drastisch angestiegen: Allein die »Turnvereine« von 1847 zählten 85 000 Mitglieder in 250 Abteilungen, während Chöre sich 100 000 Anhängern rühmen konnten, die zwischen 1845 und 1847 alljährlich bei nationalen Sängerfesten zusammenkamen. In Staaten mit einer Verfassung, etwa Baden, Württemberg und Bayern, begannen die Liberalen ihr parlamentarisches Muskelspiel; die dramatischsten Auswirkungen allerdings sollte ihr Wiedererstarken in Preußen zeitigen. König Friedrich Wilhelm IV. benötigte Geld für eines seiner Lieblingsprojekte, den Bau der Eisenbahn, doch ein Gesetz von 1820 legte fest, dass die Monarchie, wollte sie neue Staatsschulden machen, die »Reichsstände« befragen musste. Deshalb trat 1847 der Vereinigte Landtag, gewählt aus Mitgliedern der Provinziallandtage, zusammen. Diese Versammlung wurde zur Plattform, von der aus die preußischen Liberalen auf eine Reform der Verfassung dringen konnten. Im Juni wurde der Landtag vom verärgerten König wieder aufgelöst, doch das öffentliche Interesse war jetzt geweckt, und das Problem der preußischen Landtage und einer konstitutionellen Reform wurde in den Kaffeehäusern und Salons des ganzen Landes zum Thema hitziger und erwartungsvoller Diskussionen. Im September rief der radikale Flügel der Opposition auf Betreiben des mitteilsamen und wortgewandten Friedrich Hecker und des abtrünnigen Adeligen (und Vegetariers) Gustav von Struve weitere Demokraten in Offenburg zusammen, das zum Großherzogtum Baden gehörte. Vor der Forderung einer vereinigten deutschen Republik schreckte man zurück, verlangte aber unter anderem eine Aufhebung der repressiven Beschlüsse, die vom deutschen Bundestag verabschiedet worden waren, dazu die Abschaffung der Zensur und eine gewählte Vertretung für ein bundesstaatlich organisiertes Deutschland. Die gemäßigten Liberalen – unter ihnen der unerschütterliche Heinrich von Gagern – antworteten im darauffolgenden Monat mit einer Tagung im hessischen Heppenheim. Sie sprachen sich für die Umwandlung der bereits existierenden Zollunion, des Deutschen Zollvereins, in eine politische Körperschaft aus, in der das Volk durch gewählte Repräsentanten ein Mitspracherecht erhalten sollte, was später zu einer umfassenderen deutschen Einheit führen sollte.
Angesichts des Drucks auf die bestehende Ordnung – und der Breschen, die nun in ihre Befestigungsanlagen geschlagen wurden – erwartete fast jeder, dass eine große revolutionäre Krise über Europa hinwegfegen würde. Bald würde sich eine »Revolution« erheben, »die den ganzen Globus zu umfangen drohe«, wie ein Priester 1847 auf der Beerdigung des großen irischen Reformers Daniel O’Connell in Rom erklärte.64 Das war für manchen eine Quelle großer Hoffnung, darunter für Alexander Herzen, der später über einen »Traum« schrieb, den er bei seiner Ankunft in Paris 1847 noch geträumt, der sich aber als eine Illusion herausgestellt habe, zersplittert wie Glas:
» … die Ereignisse, die sich in meiner Nähe abspielten, rissen mich mit sich fort. … der Wirbel, der alles empor trug, trieb auch mich mit sich fort. Ganz Europa nahm sein Bett und wandelte in einem Anfall von Somnambulismus, den wir für ein Erwachen nahmen … Wie? sollte dies alles nur ein Rausch oder ein Fiebertraum gewesen sein? Wer weiß, – aber ich beneide die Menschen nicht, die sich diesem herrlichen Traum nicht hingaben.«65