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ОглавлениеAnthroposophische Meditation: Die denkende Individualität als Ausgangspunkt
Im März 2015 fand in Stuttgart eine von der Agentur ‹Von Mensch zu Mensch› organisierte Tagung zum Thema «Meditation in Ost und West – Buddhismus und Anthroposophie im Gespräch» statt. Das war die erste große Meditationstagung, der sich in den Folgejahren weitere anschließen sollten. Die buddhistische Meditation wurde von dem Religionswissenschaftler und Zen-Lehrer Michael von Brück vertreten, mein anschließende Beitrag zur anthroposophischen Meditation ist hier wiedergegeben.
Die denkende Individualität als Ausgangspunkt für einen meditativen Weg – das dürfte für die meisten Menschen, die mit östlicher Meditation vertraut sind, eine Provokation sein. Geht es doch dort zumeist darum, wie wir auch eben von Michael von Brück gehört haben,1 der Welt ohne fertige Gedanken zu begegnen und sich weder mit dem eigenen Körper noch mit Erinnerungen, Wünschen oder Urteilen zu identifizieren, also das Denken und die Individualität gerade nicht als Ausgangspunkt einer inneren und meditativen Entwicklung zu setzen. Meine Aufgabe ist es, den anthroposophischen Ansatz der Meditation so darzustellen, dass der Unterschied zu östlichen Ansätzen deutlich wird. Und da scheinen mir Denken und Individualität bzw. das Ich die Besonderheiten anthroposophischer Meditation am prägnantesten zu bezeichnen – auch wenn wir sehen werden, dass diese Begriffe ihren Schwerpunkt gegenüber dem gewöhnlichen Gebrauch ein wenig verlagern.
Inhalt, Vollzug und Sinn
Beginnen wir mit einer «einfachen Tatsache», auf die Steiner hinweist und
«die nur in ihrer umfassenden Bedeutung gewürdigt werden muß. Es ist diejenige, daß es im ganzen Umfange der Sprache einen einzigen Namen gibt, der seiner Wesenheit nach sich von allen andern Namen unterscheidet. Dies ist eben der Name ‹Ich›. Jeden andern Namen kann dem Dinge oder Wesen, denen er zukommt, jeder Mensch geben. Das ‹Ich› als Bezeichnung für ein Wesen hat nur dann einen Sinn, wenn dieses Wesen sich diese Bezeichnung selbst beilegt. Niemals kann von außen an eines Menschen Ohr der Name ‹Ich› als seine Bezeichnung dringen; nur das Wesen selbst kann ihn auf sich anwenden. ‹Ich bin ein Ich nur für mich; für jeden andern bin ich ein Du; und jeder andere ist für mich ein Du.› Diese Tatsache ist der äußere Ausdruck einer tief bedeutsamen Wahrheit. Das eigentliche Wesen des ‹Ich› ist von allem Äußeren unabhängig; deshalb kann ihm sein Name auch von keinem Äußeren zugerufen werden.»2
Versuchen wir einmal, diese «einfache Tatsache» nicht nur als Information aufzunehmen, sondern sie zu realisieren.3 Wir können versuchen, diesen Moment des Ich-Sagens zu verlängern, zu verstärken und zu halten. Wir bemerken sofort, welche Kraft es braucht, nicht unmittelbar in irgendwelche Identifikationen – ich bin die und die, ich bin so und so, ich habe dies oder das – zurückzufallen. Die Kraft, die es braucht, um sich im Ich-Sagen zu halten, müssen wir erst trainieren, wie einen ungeübten Muskel. Dann bemerkt man, dass diese Kraft, die zu sich selbst Ich sagt, Bestand haben kann – freilich nur, so lange ich sie betätige – und dass sie so lange eine gänzlich von allen Identifikationen befreite Existenz hat. Es ist keine subjektive, persönliche Kraft, vielmehr geht sie jeder Identifikation voraus. Sie ist ihrer inneren Natur nach überpersönlich und in der Lage, Identifikation einzugehen. In der Regel finden wir sie als bereits identifizierte Kraft, als Ego in uns vor. Ihrem Wesen nach aber ist sie unabhängig von all diesen Identifikationen. Und doch hat sie eine eigene Existenz.
Aber eine solche Erfahrung braucht doch einige Übung. Denn wir müssen unser Bewusstsein aufrecht erhalten können, während es im Vollzug bleibt und sich nicht auf einen Inhalt fixieren kann. Unser gewöhnliches Bewusstsein ist vollständig inhaltlich fixiert, es bildet die Welt ab, urteilt, konzeptionalisiert und läuft in habitualisierten Bahnen ab – der dahinterstehende Vollzug bleibt in der Regel völlig unbeobachtet. Um den Weg vom Inhalt zum Vollzug zu finden, hat Steiner einige Übungen gegeben, die den Vollzug stärken, indem man sich auf einen ganz einfachen Inhalt richtet. Dafür möge man, so schlägt Steiner vor, für einige Minuten «seine Gedanken an einen alltäglichen Gegenstand (z.B. eine Stecknadel, einen Bleistift usw.) wenden und während dieser Zeit alle Gedanken ausschließen, welche nicht mit diesem Gegenstande zusammenhängen».4 Es kann auch ein Dreieck sein oder eine einfache Form, die sich verändert5 – wichtig ist, dass es sich um einen Inhalt handelt, den man selber völlig überschaut und der deshalb inhaltlich eigentlich nicht anspruchsvoll ist. Gerade deshalb braucht es Kraft, um ihn im Bewusstsein zu halten, und daran tritt der sonst immer unbeobachtet bleibende Vollzug in Aktion und ins Bewusstsein.
Was wir da tun, wenn wir uns für einige Minuten konzentriert mit einem Bleistift oder einem Dreieck beschäftigen, ist immer noch Denken – aber ein normalerweise im Hintergrund bleibender Aspekt:
«Da werden Sie allmählich gewahr werden, daß Denken heißt: geradeso innerlich etwas tun, wie etwas äußerlich tun heißt, seine Hand gebrauchen, seinen Arm gebrauchen. Wenn Sie Ihren Arm gebrauchen, das spüren Sie. Nun müssen Sie spüren lernen, was es heißt: die Gedankenkräfte gebrauchen.»6
Wir üben in solchen ersten Schritten, unser Denken nicht nach unserer Organisation, unseren Gewohnheiten und unseren Vorlieben einzusetzen, sondern es innerlich zu ergreifen, in dem wir es an einem Thema, einem Zusammenhang entlang führen, ganz unabhängig von uns selbst, von unserem Ego. Das Denken bildet dann Unterschiede und Zusammenhänge und verbindet sie zu sinnvollen Ganzheiten. Sonst könnten wir keinen Bleistift von einem Füller unterscheiden und sie beide als Schreibgeräte erkennen.
Indem wir uns also denkend an einem einfachen Sinnzusammenhang betätigen, erüben wir eine innere Aktivität, die so selbstbewusst ist wie der Moment des Ich-Sagens. So löst sich das Ich von seinen Identifikationen, aber nicht, indem es jeden Inhalt loslässt, sondern indem es sich mit innerer Aktivität auf einen überpersönlichen Sinnzusammenhang richtet.
Und in dieser Aktivität erfährt das Ich sich gleichermaßen Sinn-erfahrend und Sinn-stiftend. Das Ich ist «wie ein Tropfen aus dem Meere der alles durchdringenden Geistigkeit»7, schreibt Steiner. Hier könnten wir uns vielleicht sogar mit dem Buddhismus treffen. Aber für Steiner ist das Meer der alldurchdringenden Geistigkeit nicht leer, sondern – hier steht er wohl dem Hinduismus näher – innerlich sinnvoll, es besteht sozusagen ganz aus Sinn.
Das Ich hat teil an diesem umfassenden Sinn, gehört ihm selbst an. In dieser Perspektive kann der Tropfen des Ich nun das Meer möglicher Sinnstiftungen, das Steiner «Geistige Welt» nennt, zu erforschen beginnen. Und hier fängt die anthroposophische Meditation eigentlich erst an. Sie richtet sich auf das Einleben des Tropfens in das Meer. Sie richtet sich darauf, die Vereinzelung des Egos zu überwinden und das befreite Ich in der Welt des Sinnes zu beheimaten.8
Meditation
So gründet anthroposophische Meditation auf dem denkenden Ich, das sich meditierend in die Welt des Sinnes einzuüben und einzuleben vermag. Anthroposophische Meditation hat immer diesen Sinnbezug. Es geht aber nicht darum, Sinn zu konzeptionalisieren und theoretisieren, sondern Sinn gleichsam von innen zu erfahren, als innerste Natur der Welt und des Ich.
Es gibt gar nicht so viele Meditationen, die Steiner für die Öffentlichkeit bestimmt hat.9 Die wichtigsten, ausführlich und methodisch beschriebenen Anleitungen finden sich in der sogenannten Rosenkreuz-Meditation, in einer Meditation über die Prozesse des Sprießens und Welkens in der Natur oder in einer Meditation, die sich auch inhaltlich ganz in der Qualität des Denkens hält und die in der Formel «Ich empfinde mich denkend eins mit dem Strom des Weltgeschehens» zusammengefasst wird.10 Im Grunde aber ist alles meditationsfähig, jeder Stein und jeder Baum, jede Frage und jedes Problem. Die Kunst ist, das Thema einer Meditation so in den Mittelpunkt des Bewusstseins zu rücken, dass Thema und meditierendes Ich konvergieren, zusammenfließen, in der Meditation ineinander übergehen. Auch hier also: das Gegenteil von Loslassen! Stattdessen aktives Ergreifen und bewusstes Versenken in einen Inhalt, um ihn von innen, seiner innersten Wesenheit nach, zu erfahren. Andernfalls steht man vor einem vielleicht interessanten Zusammenhang, der aber äußerlich bleibt, in den man nicht eindringen kann. Es geht aber gerade darum, sich ganz aus der inneren gereinigten Ich-Kraft heraus dem Meditationsinhalt quasi von innen zuzuwenden.
Um die entsprechenden inneren Handgriffe zu erüben, sind die von Steiner methodisch angeleiteten Meditationen außerordentlich fruchtbar. Man durchläuft dabei einen Prozess von der zunächst vor allem denkenden Aktivierung des Inhaltes über ein immer mehr auch das Fühlen einbeziehendes Ein- und Zulassen – wobei das Fühlen einen ähnlichen Reinigungsprozess durchläuft wie zuvor das Denken – bis hin zu einem willentlichen, existentiellen Ineinander-Aufgehen, einer Einheitserfahrung, die sich in der Sinn-Erfahrung auftut. Steiner beschreibt diese Schritte als verschiedene Bewusstseinsstufen, die er Imagination, Inspiration und Intuition nennt. Durch diese Stufen hindurch tritt die innere Aktivität zunehmend in den Hintergrund zugunsten einer offenen Empfänglichkeit.11
In der Praxis haben für viele Anthroposophen solche Meditationen die größte Bedeutung, die nicht ein Symbol, einen Naturvorgang oder einen Gedanken zum Thema haben, sondern einen zumeist mehrzeiligen, sehr sorgfältig gestalteten und oft als Mantram bezeichneten Spruch.12 An einem Beispiel möchte ich zeigen, wie ein solcher Spruch so gebaut sein kann, dass er nicht nur über etwas spricht, also einen Inhalt präsentiert, sondern ihn in seiner ganzen Gestalt vergegenwärtigt und tut, also vollzieht, wovon er spricht:
«Ecce homo
In dem Herzen webet Fühlen,
In dem Haupte leuchtet Denken,
In den Gliedern kraftet Wollen.
Webendes Leuchten,
Kraftendes Weben,
Leuchtendes Kraften:
Das ist – der Mensch.»13
Der Spruch hat sieben Zeilen, von denen die ersten drei und die zweiten drei jeweils parallel gebaut sind. Die ersten drei Zeilen beginnen jeweils mit einer Ortsangabe, die sich auf die menschliche Gestalt bezieht: Herz, Haupt, Glieder. Es sind Substantive, die einerseits uns selbst meinen, die aber auch gegenständlich und in bestimmter Weise gestaltet vorgestellt werden können. Die Zeilen enden mit substantivierten Verben: Fühlen, Denken und Wollen, zu denen wir nun nur noch einen inneren Zugang haben, die uns aber doch bekannt und sogar vertraut sind. Auch der Bezug vom Fühlen zum Herz, vom Denken zum Kopf und vom Wollen zu den Gliedern ist nachvollziehbar. Das dritte Element der ersten drei Zeilen sind die Verben: weben, leuchten, kraften. Sie weisen auf die Aktivität, die hinter den Seelentätigkeiten steht, die ihrerseits in der menschlichen Gestalt manifest werden. Diese Aktivitäten sind uns normalerweise gerade wegen ihres Vollzugscharakters ganz unbewusst.
Die zweiten drei Zeilen halten sich dann ganz in diesen Vollzügen und verweben jeweils zwei dieser Vollzüge miteinander: als Adjektiv und substantiviertes Verb. Und die letzte Zeile fasst dieses ganze Geschehen in einem einfachen Satz zusammen, der allerdings durch seine lateinische Form «Ecce homo» eine weitreichende Bedeutung bekommen hat: denn so hat Pontius Pilatus von Jesus Christus gesprochen.14
Ein solcher Spruch wird vom Objekt des Nachdenkens zur Meditation, indem wir zunächst innerlich ergreifen, wovon er spricht. Hierbei ist immer noch das Denken beteiligt: nicht aber, um über den Inhalt nachzudenken, sondern um ihn wach im Bewusstsein zu halten und zugleich aufmerksam zu sein auf die Qualität der inneren Kraft, die sich dabei entwickelt. Das ist vielleicht die größte Klippe der anthroposophischen Meditation: den Übergang zu finden vom Nachdenken zum innerlich wach beobachtenden Mittvollzug. Können wir also in der Zeile «In dem Haupte leuchtet Denken» das runde Haupt in seiner abgeschlossenen Gestalt vor uns sehen und dabei die nur innerlich zu erfahrende Qualität des Denkens im Blick haben, die sich in der Form des Hauptes einen Ausdruck schafft, ihrer inneren Natur nach aber Licht ist? Und können wir dann weiter diesen Zusammenhang einlassen in unser Fühlen, nicht nur wissend und vollziehend, sondern spürend und erlebend? Können wir schließlich das Bewusstsein aufrechterhalten, wenn wir uns diesem Zusammenhang völlig ausliefern und ihn wie von innen nicht nur erfahren, sondern sind? Wenn zwischen uns und dem ursprünglich ganz äußerlichen Inhalt kein Unterschied mehr besteht?
Das muss und kann geübt werden. Immer gesättigter wird dann die innere Erfahrung, immer triftiger, immer realer wird der in einem solchen Spruch eingeschlossene Sinn.
Diesseits-Spiritualität
Aber wird in einer solchen Meditation nicht einfach ein bestimmter Sinn vorgegeben? Die Frage ist berechtigt, und man kann sie eigentlich an alle von Steiner gegebenen Meditationen stellen. Und doch verfehlt sie das Wesen dessen, was hier mit «Sinn» oder von Steiner mit «Geistige Welt» gemeint ist. Der meditative Umgang mit einem solchen Spruch oder auch schon die Erfahrung, die man mit anhaltendem Bedenken eines Bleistiftes machen kann, führt nämlich zu der Einsicht, dass Sinn nicht fertig vorliegt, weder in Form von Begriffen noch in Form von Wesen, wie auch immer man diese bestimmen mag. Und die Welt liefert uns ihren Sinn schon gar nicht als fertigen mit. Wäre das der Fall, gäbe es keine Fragen und keine neuen Ideen. Sinn ist vielmehr ein Kontinuum, ein Möglichkeitsraum, der elastisch Sinnstiftungen ermöglicht, die sich im Laufe der Zeit, durch die Kulturen und durch Individuen wandeln können.
Dass wir so oft den Eindruck haben, wir würden den Sinn von etwas mit unseren gewöhnlichen fünf Sinnen einfach aufnehmen, liegt vor allem daran, dass wir die Basis der alltäglichen Sinnstiftungen bereits im Kindesalter anlegen und habitualisiert haben. Jedes Rätsel aber zeigt uns, dass Sinnstiftung immer Eigenleistung ist, und jeder Streit zeigt uns, dass Sinn ganz unterschiedlich und doch berechtigt beigelegt werden kann.
Es gehört zu den Grunddispositionen des Menschen, dass die Welt ihm den Sinn nicht mitgibt. Der Weltenlauf hält beim Menschen für einen Augenblick an und hält seinen Sinn zurück, damit der Mensch selbst zum Sinnsucher und Sinnstifter werden kann. Das begründet seine Freiheit und seine Würde.15
Diese anthropologische Grundkonstante des Menschen nimmt die Anthroposophie in sich auf. Zwar mag sie zunächst so aussehen, als wollte sie die Menschheit mit Sinnangeboten versorgen, die denen der Religionen nicht nachstehen. Aber diese Sinnangebote sind nicht dazu da, um einfach und als äußerliche übernommen zu werden, sondern sie sind Vollzüge in Sinnstiftung, deren übender Mitvollzug zu eigener Sinnstiftung befähigt.
Insofern und in der Terminologie, die Gernot Böhme eingeführt hat, handelt es sich bei der Anthroposophie nicht um eine aufsteigende Spiritualität, die sich von der Welt abwendet, sondern um eine absteigende Spiritualität, die sich der Welt zuwendet:16 um eine radikale Diesseits-Spiritualität. Sie reflektiert, dass aus dem Menschen im Laufe der Evolution ein autonomes Wesen geworden ist. Denn «der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen»17 – bis dahin, dass er den Menschen hervorgebracht hat und in ihm zu Bewusstsein und Selbstbewusstsein kommt. Den Sinn, den die Welt hat, erhält sie heute nur noch dadurch, dass wir ihn ihr geben und sie entsprechend gestalten. Auf dieser Diesseitigkeit beruht auch die Praxiswirksamkeit der Anthroposophie in Pädagogik, Medizin oder Landwirtschaft.
Für diese Diesseits-Spiritualität braucht es eine denkende, fühlende und wollende Individualität. Denn nur das Individuum kann Sinn stiften. Ohne Sinn bleibt die Welt leer und das Leben in und mit ihr ziellos. Ohne Sinn verrät der Mensch sein innerstes sinnstiftendes Wesen. Diesseits-Spiritualität ist nur mit einer denkenden, sinnstiftenden Individualität zu haben.
Einheitserfahrungen im Konkreten
Wie sieht das nun konkret aus? Was geschieht durch eine solche Meditation wie die oben vorgestellte?
Steiner hat verschiedene Stufen unterschieden, in denen sich die innere Erfahrung entfaltet. Anknüpfend an die Traditionen, die er in seiner Umgebung vorfand, hat er die in der Meditation zu machenden Erfahrungen zunächst als Hellsichtigkeit beschrieben; später hat er die Bewusstseinsform, die in der Lage ist, die Grenze zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden, etwas philosophischer «schauendes Bewusstsein» genannt. Dabei verwandelt sich die Qualität der Verbindung von Ich und Welt, sie wird inniger und liebevoller, ja, sie kann sogar als heilend erlebt werden, sowohl im Hinblick auf den Inhalt der Meditation wie auch auf den Meditierenden selbst. Und mit diesem Eindringen in die tieferen Schichten der Wirklichkeit geht ein Zuwachs an Freiheit, an Ideen und an Initiative einher, woraus in innerer Stimmigkeit fruchtbares Tun erwachsen kann.
Allgemeiner kann man vielleicht sagen, es entsteht so etwas wie ein Organ für Sinn, ein Sinn für Sinn im Konkreten. Eine Fähigkeit zu Einheitserfahrungen mit dem Leben, nicht ein für alle Mal, sondern immer wieder neu. Der Spruch als Sinngebilde bildet in mir einen Sinn aus, das Wesen des Menschseins in seiner besonderen Ausprägung an diesem konkreten Menschen auch tatsächlich wahrzunehmen. Welche Geste hat das Haupt, das in seiner Abgeschlossenheit den Kosmos in seiner Kreisgestalt nachbildet? Welche Geste haben die Glieder, die ausgestreckt in ihrer Linienhaftigkeit potentiell ins Unendliche reichen? Wie werden diese beiden polaren Kräfte im Herzen miteinander verwoben? Und wie prägt sich die Dreiheit ganz konkret aus, in welchem Verhältnis stehen die drei Elemente zueinander? Es ist kein Nachdenken, sondern ein inneres Tasten im Umgang mit diesen Fragen, ein bewusstes Spüren und Erleben in und mit der inneren Tätigkeit.
So wird Sinn nicht zu einer Jenseits-Kategorie oder zu etwas willkürlich zur Welt Hinzugefügtem, sondern zum aufgeschlossenen Tor, das mich im Hier und Jetzt erleben lässt, worum und wohin es geht. Sinn wird zur Brücke, über die Ich und Welt sich miteinander verbinden und – vielleicht am wichtigsten – aneinander verwandeln. Und hierin liegt auch die Kulturwirksamkeit der Anthroposophie begründet. Erfahrungen, die man mit einem Spruch wie dem oben zitierten machen kann, gehören beispielsweise zu den Grundlagen der Waldorfpädagogik.
Es wäre interessant, die Haltung gegenüber anderen Menschen, die durch das Umgehen mit einem solchen Spruch entsteht, mit der achtsamen Haltung des Buddhisten zu vergleichen. Der Spruch soll ja nicht zu einem Konzept werden, mit dem ich mein Gegenüber belege. Auch der anthroposophisch Meditierende wird versuchen, sein Gegenüber so umfassend wie vorurteilslos wahrzunehmen. Er macht dabei aber die Erfahrung, dass die Wahrnehmung eines anderen Menschen sich vertieft und sinnvoll sich auszusprechen beginnt. Womöglich befähigt der Umgang mit einem solchen Spruch, die Erfahrungen mit anderen Menschen näher an das wahre Wesen des Menschen heranzurücken?
Und das Ego?
Und was geschieht derweil mit dem Ego? Wenn ich Steiner recht verstehe, ging es ihm auch gegenüber dem Ego weniger darum, es loszulassen, als es der Sphäre des von allen Identifikationen gereinigten Ich näherzubringen. Denn hinter jedem Schatten steht ein Licht, hinter jedem Egoismus eine selbstlose Fähigkeit. Im Ego drückt sich aus, wie sich der Tropfen aus dem Meer des Sinnes in dieser konkreten Person bisher manifestiert hat. Es bringt die eingegangenen Verbindungen und Identifikationen zum Ausdruck. Nur sind diese zunächst eben nicht bewusst, sondern wirken mit Eigendynamik und damit egoistisch.
Die Öffnung des Schattens zum Licht hin hat aber die Auflösung der Identifikation des eigentlichen Ich mit dem Ego zur Voraussetzung. Steiner gibt dazu eine elementare Übung: man möge abends noch einmal auf den Tag zurückschauen, dabei aber die Ereignisse rückwärts durchgehen.18 Warum? Erinnere ich vorwärts, ist sofort die Dynamik des Erlebten wieder da, ein unbedachtes Wort macht wieder wütend, eine Verletzung schmerzt erneut. Das ist beim Rückwärts-Erinnern nicht der Fall. Ich nehme die Emotion zwar wahr, werde aber nicht wieder in sie hineingezogen.
Das klingt sehr ähnlich wie die Prozesse, die Michael von Brück im Hinblick auf die Befreiung vom Leiden beschrieben hat. Für die Diesseits-Spiritualität der Anthroposophie ist es mit dem Loslassen und der Befreiung von den Anhaftungen noch nicht getan. Denn hier geht es ja gerade darum, sich mit der Welt ganz konkret zu verbinden, und das ist das genaue Gegenteil einer unwillkürlichen Anhaftung: Ich suche aktiv und frei eine neue Verbindung. Die Freiheit von den Anhaftungen soll zur Freiheit für eine Aufgabe werden.
Aber der Übergang von der unwillkürlichen Anhaftung zur frei ergriffenen Aufgabe ist heikel. Allzu leicht leben sich doch immer wieder nur die alten Anhaftungen in den angeblich neu ergriffenen Aufgaben aus. Wir leben andauernd auf dem schmalen Spalt zwischen Anhaftung und frei ergriffener Aufgabe. In der Rückschau-Übung übt sich das Ich darin, sich von den alten Anhaftungen unabhängig zu machen, indem es sie rückwärts anschaut. Dadurch behält es sie im Blick und löst doch gleichzeitig die Identifikation. Es gibt sie frei, um sich in einem neuen, lichtvolleren Zusammenhang neu zu konstituieren.
Gegenseitige Bereicherung
Das anthroposophische Konzept von Meditation ist komplex, gerade durch seine Sinnorientierung. Je besser ich die östlichen Methoden der Meditation kennenlerne, desto mehr scheint es mir, dass sie für den anthroposophisch Meditierenden eine gute Voraussetzung, ja vielleicht sogar eine Bedingung für gelingendes Meditieren sind. Die buddhistische Achtsamkeit verkörpert das Stadium zwischen vorgegebenen Sinnkonzepten und neuem sinnstiftenden Zugreifen, dem sich dann die anthroposophische Meditation zuwendet. Es erscheint mir sinnvoll, sich auf dieser Schwelle zwischen der gewordenen Welt und der strömenden Sinnhaftigkeit der geistigen Welt halten zu können: alte Anhaftungen und Sinnkonzepte abstreifend, ohne gleich wieder eine neue Verbindung eingehen zu müssen. Denn greife ich zu schnell zum Sinn, etwa weil ich das Zwischenstadium nicht aushalte, ist damit nur wieder eine neue, verfeinerte Form des Egoismus gegeben. Sich halten zu können auf der Schwelle zwischen Anhaftung und neuer Sinnstiftung scheint mir eine gute Voraussetzung für sinnstiftende anthroposophische Meditation zu sein.
1 Siehe Michael von Brück: Zen – Geschichte und Praxis, München 2007.
2 Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriß (GA 13), Dornach 1989, S. 66.
3 Dies wurde als kleine angeleitete Meditation auf das Wort «Ich bin» während des Vortrages auch durchgeführt.
4 Diese Übung ist als «Erste Nebenübung» bekannt und im Anhang wiedergegeben.
5 Die Übungen mit dem sogenannten «versatilen Dreieck» oder der «Rot-Grün-Vertauschung» sind ebenfalls im Anhang wiedergegeben.
6 Vortrag vom 20. April 1923, S. 94 in Rudolf Steiner: Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie? (GA 84), Dornach 1986.
7 Die Geheimwissenschaft im Umriß (GA 13), S. 70.
8 Siehe dazu ausführlich das Kapitel ‹Alles in der Welt ist bewusst› in diesem Buch, S. 183ff.
9 An diese halten wir uns hier, denn nur sie sind unabhängig von einer Lehrerpersönlichkeit, die Steiner ja auch war. Alle persönlich gegebenen Meditationen haben einen menschlichen Zusammenhang, der heute kaum noch zu rekonstruieren ist.
10 Diese drei Meditationen sind im Anhang enthalten.
11 Diese beiden Vorgänge sind in der Meditationswissenschaft vielfach als «focused attention» und «open monitoring» beschrieben worden.
12 Zum Beispiel der Zyklus von 52 Sprüchen, die den Wochen des Jahres zugeordnet sind und den Naturlauf der Erde mit dem seelischen Rhythmus zwischen Wahrnehmung und Denken in Verbindung bringen, in Rudolf Steiner: Wahrspruchworte (GA 40), Dornach 2005, S. 19ff.
13 Ebd., S. 140.
14 Joh 19,5.
15 Siehe hierzu Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit (GA 4).
16 Vgl. Gernot Böhme: Bewusstseinsformen, München 2014, S. 197ff. Böhme hatte den Eröffnungsvortrag auf der Tagung gehalten.
17 Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (GA 2), Dornach 2003, S. 125.
18 Auch diese Übung findet sich im Anhang.