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7. KAPITEL

WU I GIË / Ausführungen über die fünf Stufen der Menschen

Dieses Kapitel bringt eine Reihe von fiktiven Gesprächen zwischen Kung und dem Herzog Ai von Lu. Dies war der regierende Herzog während der letzten Lebensjahre Kungs, und es ist von ihm berichtet, daß er eine hohe Meinung von Kung hatte. Es liegt kein Grund vor zu zweifeln, daß er tatsächlich mit dem alternden Kung Gespräche über Politik und Moral geführt hat. Ausgestaltungen solcher Gespräche sind dann in der späten Dschou-Zeit und in der Han-Zeit ein beliebtes Mittel geworden, gewisse Gedankengänge der konfuzianischen Schule mit Emphase zur Darstellung zu bringen.

Parallelen zum 1. Abschnitt finden sich im Kapitel Ai Gung des Sündsï und im Kapitel Ai Gung Wen Wu I des Da Dai Li Gi. Er ist übersetzt im Buch der Sitte S. 191–194. Die Charakteristika der fünf Stufen finden sich zum Teil ähnlich im 1. und 4. Kapitel des Han Schï Wai Dschuan. Der zweite Abschnitt ist in demselben Kapitel des Sündsï enthalten, wo er vom vorigen durch die Frage des Herzogs nach der Krone des Schun (Gia Yü 10, 1) getrennt ist. Eine zweite Parallele findet sich im Sin Sü des Liu Hiang, Dsa Schï, Kap. 4. Der 3. Abschnitt ist im Sündsï wieder durch ein anderes Gespräch unterbrochen; er ist auch, mit leichten Abweichungen, im Han Schï Wai Dschuan, Kap. 4, und im Schuo Yüan, Kap. Dsun Hiën, enthalten. Der 4. Abschnitt hat eine Parallele im Kap. Dschï Wu des Schuo Yüan, der 5. im Kap. Gün Dau und der 6. im Kap. Ging Schen desselben Werks. Parallelen zum 7. Abschnitt finden sich im Kap. Dsa Yen des Schuo Yüan und im Han Schï Wai Dschuan, Kap. 1. Eine ähnliche Stelle findet sich auch im Kap. Fu Yen des Wendsï, wo sie dem Laotse in den Mund gelegt ist.

2. Wie ein Fürst das Leben kennenlernt

Der Herzog sprach: »Das ist schön; ohne Eure Weisheit, Meister, hätte ich solche Worte nie vernommen. Allein ich bin geboren im Inneren des Schlosses und bin herangewachsen in den Armen der Wärterinnen. Ich habe Trauer, Sorgen, Mühe, Furcht und Gefahren nie kennengelernt. Ich fürchte, ich bin nicht imstande, die Lehren von den fünf Stufen zu verwirklichen; was kann ich tun?«

Meister Kung erwiderte: »Wenn Ihr also redet, so wißt Ihr es ja schon; ich wüßte auch nichts Weiteres.«

Der Herzog sprach: »Ohne Euch, mein Meister, bin ich nicht imstande, mein Herz zu entfalten. Sagt es mir, mein Meister.«

Meister Kung sprach: »Wenn Ihr, o Fürst, in den Ahnentempel Euch begebt, rechts die Stufen zur Halle emporsteigt, wenn Ihr nach oben blickt auf die Kapitelle und Streben der Säulen, nach unten blickt auf Tisch und Kissen und daran denkt, wie die Geräte alle noch da sind wie einst und doch die Menschen nicht mehr zu sehen sind, die sie gebraucht; wenn Ihr so der Trauer denkt, so werdet Ihr erfahren, was Trauer ist.

Wenn Ihr beim ersten Tagesgrauen Euch erhebt und Gewänder und Krone anlegt, wenn Ihr bei Tagesanbruch Audienz haltet und all die Gefahren und Schwierigkeiten überdenkt, wie auch das kleinste Versehen im Einzelnen der Anfang werden kann von Verwirrung und Untergang; wenn Ihr also an die Sorgen denkt, so wißt Ihr, was Sorgen sind.

Wenn Ihr vom Sonnenaufgang an Euch mit der Regierung beschäftigt, bis die Sonne sich zum Untergang neigt, wenn der Fürsten Söhne und Enkel kommen und gehen als Eure Gäste, wenn Ihr alle Sitten der Höflichkeit, die Verbeugungen, das Vortrittlassen unter sorgfältiger Beachtung der Würde, die der Rang erfordert, vollzieht; wenn Ihr so der Mühe denkt, so wißt Ihr auch, was Mühe ist.

Wenn Ihr in tiefe Gedanken versunken zu den vier Toren Eurer Hauptstadt hinausgeht und besorgt in die Ferne blickt und die Trümmer vergangener Reiche seht – und es sind sicher eine ganze Anzahl da –; wenn Ihr also der Furcht gedenkt, so wißt Ihr, was Furcht ist.

Nun gleicht der Fürst dem Schiff, das Volk gleicht dem Wasser. Das Wasser ist es, das das Schiff trägt, das Wasser ist es auch, das das Schiff zum Kentern bringt. Wenn Ihr so der Gefahr denkt, so wißt Ihr, was Gefahr ist.

Wenn Ihr diese fünf Stücke versteht und daneben noch ein wenig die fünf Stufen im Sinn behaltet, welche Fehler könntet Ihr da bei Eurer Regierung noch machen?«

3. Wahl der Leute

Herzog Ai fragte den Meister Kung und sprach: »Darf ich nach der Art fragen, wie man die rechten Leute auswählt?« Meister Kung erwiderte: »Jeder soll mit dem Amt betraut werden, dem er gewachsen ist. Man nehme keinen, der schnell mit dem Wort bei der Hand ist, man nehme keinen, der anderen das Wort abschneidet, man nehme keinen, der viele Worte macht.

Die schnell mit dem Wort bei der Hand sind, sind habgierig, die Wortabschneider sind frech, die Schwätzer sind falsch. So muß man bei einem Bogen erst darauf sehen, daß er ausgeglichen ist, und dann erst auf seine Kraft. Ein Pferd muß gezähmt sein, ehe man sich seiner Schnelligkeit bedienen kann. Bei einem Beamten ist vor allem wichtig die Zuverlässigkeit, dann erst sehe man auf Wissen und Fähigkeit. Wer nicht zuverlässig ist und viele Fähigkeiten hat, der gleicht einem reißenden Wolf, dem man sich nicht nahen soll.«

4. Wie Kriege überflüssig werden

Herzog Ai fragte den Meister Kung und sprach: »Ich möchte imstande sein, mein Land, obwohl gering, zu verteidigen, und wenn es groß ist, andere anzugreifen. Worauf kommt es dabei an?«

Meister Kung erwiderte: »Wenn der Fürst und sein Hof der Sitte entsprechen, wenn Oben und Unten in Eintracht leben, dann ist alles Volk auf Erden Euer Volk; wen braucht Ihr dann noch anzugreifen? Wenn Ihr diesem Grundsatz aber entgegenhandelt, dann empört sich das Volk, als ginge es nach Hause, alle sind Eure Feinde: Auf wen wollt Ihr Euch da noch stützen zur Verteidigung?«

Der Herzog sprach: »Trefflich!« Daraufhin hob er die Jagd- und Fischverbote auf und schaffte die Zölle und Marktabgaben ab, um dem Volke Güte zu zeigen.

5. Das Brettspiel und der Edle

Herzog Ai fragte den Meister Kung und sprach: »Es heißt, der Edle halte sich dem Brettspiel fern; ist das wahr?«

Meister Kung sprach: »Ja.«

Der Herzog sprach: »Warum?«

Der Meister erwiderte: »Weil es zwei Arten zu ziehen gestattet.«1

Der Herzog sprach: »Warum soll man deshalb nicht das Brettspiel spielen, weil es zwei Arten von Zügen hat?«

Der Meister sprach: »Weil man dabei gleichzeitig auch den schlechten Weg wählen darf.«

Der Herzog erschrak. Nach einer Weile fragte er wieder: »So gründlich haßt also der Edle den schlechten Weg?«

Meister Kung sprach: »Wenn der Edle den schlechten Weg nicht gründlich haßte, so würde er auch den guten Weg nicht von Grund auf lieben. Wenn er aber den guten Weg nicht von Grund auf liebte, so würde das Volk seinem Fürsten auch nicht von Grund auf zugetan sein. Im Buch der Lieder heißt es:

Wenn ich meinen Herrn nicht sehe,

Ist mein Herz von Trauer schwer.

Wenn ich ihn sehen kann,

Wenn ich ihn treffen kann,

Dann wird mein Herz still2.

So sehr liebt das Buch der Lieder den guten Weg.«

Der Herzog sprach: »Wundervoll! Der Edle hilft dem anderen zum Guten, er hilft ihm nicht zum Schlechten. Wenn Ihr, mein Meister, nicht zu mir gesprochen, so hätte ich nie etwas darüber erfahren.«

6. Jeder ist seines Glückes Schmied

Herzog Ai fragte den Meister Kung und sprach: »Eines Reiches Bestehen und Untergang, Glück und Unglück haben doch sicher ihre himmlische Bestimmung und rühren nicht nur von Menschen her.«

Meister Kung erwiderte: »Bestehen und Untergang, Glück und Unglück kommen alle nur durch eigene Schuld. Zeichen am Himmel und Vorbedeutungen auf der Erde können nichts hinzufügen.«

Der Herzog sprach: »Gut, mein Meister, habt Ihr geredet, aber wie soll das zugehen?«

Meister Kung sprach: »Vor alters zur Zeit des Herrschers Sin aus dem Hause Yin3, da brütete ein Sperling einen großen Vogel aus auf der Ecke der Stadtmauer. Die Zeichendeuter sprachen: ›Wenn Kleines Großes erzeugt, so wird das Reich sicher blühen und des Herrschers Name berühmt werden.‹ Darauf verließ sich der Herrscher Sin auf die Kraft dieses Sperlings. Er kümmerte sich nicht um die Regierung des Landes und war hart und grausam über alle Maßen, und vor den Leuten seines Hofes gab es keine Rettung. Da brachen Räuber von außen ein, und die Herrschaft des Hauses Yin fand dadurch ihr Ende. So hat er selbst der Zeit des Himmels entgegengewirkt und das zugedachte Glück in Unglück verwandelt.

Wiederum zur Zeit seines Vorfahren, des Königs Tai Mou aus dem Hause Yin, war der rechte Weg verlassen, und die Gesetze ruhten, so daß schließlich Vorzeichen auftraten, Maulbeere und Korn aus einer Wurzel im Schloßhof wuchsen und nach sieben Tagen schon eine Spanne im Umfang hatten. Der Zeichendeuter sprach: ›Maulbeere und Korn sind Gewächse der Wildnis; sie pflegen nicht aus einer Wurzel im Schloßhof zu wachsen. Sollte das auf den Untergang des Reiches deuten?‹ Tai Mou erschrak, er wendete sich und ordnete seinen Wandel. Er gedachte der Regierung der früheren Könige und brachte den Weg zur Pflege des Volkes wieder ans Licht. Und nach drei Jahren war es soweit, daß ferne Länder seine Gerechtigkeit rühmten, und Gesandte, die mehrere Dolmetscher brauchten4, kamen aus sechzehn Reichen. Das ist ein Beispiel, wie einer durch eigenes Tun der Zeit des Himmels entgegenwirkte und drohendes Unheil in Glück verwandelte.

So sind Zeichen am Himmel und Vorbedeutungen auf der Erde dazu da, die Herrscher zu warnen. Träume und Wunder sind dazu da, um die Beamten zu warnen. Zeichen und Vorbedeutungen sind nicht stärker als eine gute Regierung, Gesichter und Träume sind nicht stärker als ein guter Wandel. Wer das zu erkennen vermag, der wird die höchste Stufe der Ordnung erreichen. Nur ein weiser Fürst kann das erreichen.«

Der Herzog sprach: »Wenn ich nicht so töricht wäre, hätte ich auch diese Lehre des Edlen nicht vernommen.«

7. Wie man alt wird

Herzog Ai fragte den Meister Kung und sprach: »Erreicht der Weise ein hohes Alter? Erreicht der Gütige ein hohes Alter?«

Meister Kung erwiderte: »Ja. Dem Menschen drohen drei Todesarten, die ihm nicht vom Schicksal bestimmt sind, sondern die er sich selber zuzieht. Die beim Schlaf und beim Ruhen nicht die rechte Zeit beobachten, die beim Essen und Trinken nicht mäßig sind, die in Muße oder Anstrengung die Grenzen überschreiten, die tötet alle die Krankheit. Die in niedrigem Stande weilend ihren Fürsten belästigen, die unersättlich sind in Lüsten und Begierden und ihren Wünschen kein Ziel setzen, die tötet alle die Strafe. Die, selbst in der Minderheit, sich gegen die Mehrheit auflehnen, die, selbst schwach, die Starken beleidigen, die im Zorn vernunftwidrig handeln und ihre Kräfte nicht abschätzen, die töten alle die Waffen. Diese drei Todesarten sind nicht Schicksal, sondern der Mensch zieht sie sich selbst zu. Ein weiser Ritter und gütiger Mann, der in seinem Leben sich zu beschränken weiß, der in Tun und Lassen sich an die Pflicht hält, der in Freude und Zorn die rechte Zeit trifft und seine Natur nicht schädigt: Ist es nicht ganz in der Ordnung, daß er langes Leben erlangt?«

Gia Yü

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