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2. Spieltag – Das Mikrofon

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Noch einhundert Meter. Dass Triumph und Demütigung so nah beieinanderliegen konnten. Noch vor zwei Minuten hatte er in der Jubeltraube gelegen, geherzt und gedrückt von seinen dreckigen, schweißnassen Mitspielern. Jetzt der Gang nach Canossa. Er sah die gierig glänzenden Augen der Reporter, ihre gesichtslosen Kameramänner dahinter, die ihre massiven Geräte wie Geschütze schwenkten. Er würde vorbeigehen. Kontaktsperre, oder so. Kein Kommentar. Danke, heute nicht.

Dieser Absturz von ganz oben. Genial hatte er das Spiel in seine Hand genommen, geleitet, geführt, wie ein Dirigent, nur noch schöner, noch geschickter, denn kein Dirigent spielt gegen ein anderes Orchester. Er war der Bernstein des Rasens. Rattle. Karajan. Der perfekte Sechser. Und heute hatte er seinem Können die Krone aufgesetzt, indem er zwei Tore gemacht hatte. Nur reden, das konnte er nicht. Wenn sich die Kamera auf ihn richtete, dann stockte ihm der Atem, dann leerte sich sein Sprachzentrum in ähnlicher Geschwindigkeit wie das Stadion jetzt nach dem Spiel. Er konnte nicht reden, hatte es nie gekonnt und war mittlerweile nicht nur zu einem genialen Mittelfeldregisseur geworden, sondern auch zu einem meisterhaften Vermeider von Interviews. Aber heute? Es sah schlecht aus. Sie glotzten schon zu ihm herüber. Er schluckte und fasste einen tollkühnen Entschluss.

Nein, er würde einfach hingehen und sich den Fragen stellen. Wie die anderen. Ein paar Plattitüden, der Mannschaft danken und so weiter. Wir haben das Spiel von Anfang an beherrscht, mein Anteil war auch nicht größer als der der anderen. Was war daran so schwer? Lächeln. An die Tore denken. Den Geruch des Rasens wahrnehmen. Lächeln.

Noch fünfzig Meter. Das Rudel mit den dicken Mikrofonen fixierte ihn bereits. Sie schwenkten ihre Oberkörper in seine Richtung. Sie schauten. Gierig, mit sabbernden Lefzen.

Seine Familie hatte einen Hund gehabt, damals, einen kleinen Terrier, der hatte beim Essen immer treudoof vor ihnen gesessen, ganz still, mit seinem herzerweichenden Blick. Dummes Tier, hatte der Vater gesagt, aber Benni fand ihn nicht dumm. Er brauchte nicht zu reden. Man wusste immer, was er wollte. Benni war mit ihm oft in den Wald gegangen. Der Schwanz hatte gewedelt, wenn das Stöckchen wurfbereit in seiner Hand lag. Es war einfach gewesen. Er lachte. Ja, er würde sich da hinstellen, treudoof gucken und treudoof mit dem Schwanz wedeln. Irgendwelche Fragen? Danke, tschüss.

Oder er würde einfach über die Tore reden. Wie der Ball in den Sechzehner fliegt und rausgehauen wird und er, Benni, genau da steht, in zentraler Position im Rückraum und alle drehen sich zu ihm um und schauen ihn an. Und hier auf dem Grün ist er der König, hier ist er allmächtig. Und wie die Zeit stehen bleibt und er sieht, dass sich vor ihm eine Lücke auftut. Er kann sich den Ball noch einmal zurechtlegen, ein kleiner Stoß mit dem Außenrist, fast eine zärtliche Berührung und dann zimmert er das Ding direkt in den Winkel. Höhenluft. Triumph. Das könnte er erzählen.

Noch zehn Meter und der Schweiß rinnt ihm über die Stirn. Der Trainer der gegnerischen Mannschaft wird vom Mann mit dem Mikro weggeschickt wie ein abgenutztes Spielzeug.

„Herr Bernstein, Herr Bernstein.“ Ich bin der Meisterdirigent. Ich habe keine Angst. Und so werden seine Schritte langsamer, obwohl er eigentlich immer noch entschlossen ist, einfach weiter zu gehen. Es ist fast, als würde er fremdbestimmt, als könne die geifernde Erwartung des Reporters, der ihm nun mit dem Arm zu sich zieht, seine Motorik beeinflussen.

„Benni Bernstein.“

Er hatte das Gras verlassen, sein Fundament, und stand nun auf dem Gummiboden des Innenbereichs.

„Sie haben dieses Spiel mit ihren zwei Toren in die entscheidende Richtung gelenkt, waren der überragende Spieler. Wie fühlen Sie sich?“

Er schaute den Mann, der in zittriger Erwartung vor ihm stand, in die Augen. Der Reporter schien tatsächlich erregt zu sein, aufgewühlt und Bennis Klumpen im Magen wuchs weiter an.

Wie gerne wäre er so wie dieser Mann, der mit dem bedrohlichen Mi­krofon vor ihm stand. Jemand, der einfach reden kann, ohne sich darüber Gedanken zu machen, was er sagt und wie er klingt. Jemand, der nicht stottert, stammelt oder – noch schlimmer – kein Wort herausbekommt. Es schien absurd angesichts ihrer extrem unterschiedlichen Gehaltsklassen. Aber Bernstein wäre gerne einfach nur ein Reporter gewesen, jemand, der im Hintergrund steht, geduldig wartet und dann wie ein Großwild­jäger das Tier anvisiert und mit einem einzigen Schuss erlegt. Vielleicht war er, Bernstein, zwar der König der Savanne, ein Löwe, wild und gefährlich, aber dafür immer im Fadenkreuz des Zielfernrohrs.

Die Hand des Reporters zuckte, der Zeigefinger der rechten Hand, für die Kamera nicht sichtbar, bewegte sich hin und her, als wolle er ihm etwas sagen, als wäre dieser nun selber nervös. Wie hieß der Mann noch einmal? Bernstein kannte ihn. Er war, wie die meisten Fußballreporter, der Typ, der Begeisterung ausstrahlt, auch wenn auf dem Platz nur ein mittelmäßiger Kick stattfindet. Weinkrug. Das war es. Hatte schon einiges hinter sich, wie man hörte. Bernstein sah ihn an und konnte sich gut vorstellen, dass die beständige Euphorievermittlung an einem zehren musste. Er hatte als Schüler mal einen Jungen aus der Oberstufe bewundert, der immer gut drauf war und dazu noch immer freundlich. Irgendwann war er nicht mehr an der Schule und dann hieß es, dass er gekokst hätte.

Warum riss Weinkrug die Augenbrauen hoch? Und dann fiel es Benni ein: Die Frage. Er hatte die Frage vergessen.

„Was?“

„Wie fühlt man sich, wenn man der Matchwinner ist. Sie haben ja ein überragendes Spiel abgeliefert.“

Er schluckte. Dabei hatte er noch geübt. Er wusste, was sie hören wollten. Sein Manager hatte ihm die wichtigsten Dinge eingebläut, die Parameter der oberflächlichen Spielanalyse:

1 Ich identifiziere mich mit dem Verein.

2 Es war auch Glück im Spiel.

3 Die ganze Mannschaft hat zum Sieg beigetragen.

4 Die Mannschaft hat unglaublich gekämpft.

5 Wir haben den Sieg wohl etwas mehr gewollt.

6 Der Trainer hat die Mannschaft sehr gut eingestellt.

7 Die eigene Leistung war dabei nur ein kleiner Teil.

8 Die Wechselgerüchte sind aus der Luft gegriffen (was gleichbedeutend damit ist, dass es überhaupt Wechselgerüchte gibt, was wiederum den Preis hochtreibt).

9 Der Gegner hat es uns nicht leicht gemacht.

10 Die Mitspieler haben für den Sieg geackert.

11 Die Saison ist noch lang.

12 Der Erfolg ist der gesamten Mannschaft zuzuschreiben.

Aber welche Antwort passte jetzt? Und was war überhaupt die Frage gewesen? Nicht stottern, dachte er. Noch war alles gut. Noch war nichts verloren.

„Das ist ein Superverein hier. Ich fühle mich wohl in dieser Stadt.“

Er starrte Weinkrug an. Dieser starrte zurück.

„Äh gut. Ja. Also, wie ist das denn für Sie, wenn Sie so eine wunderbare Leistung abliefern? Schon einmal an Brasilien gedacht?“

„Wegen Urlaub?“

Weinkrug lachte laut los. Es war ein ekliges, überhebliches Lachen.

„Sie haben also noch nichts von Jogi gehört?“

Es dauerte eine Weile. Dann verstand er. Weinkrug sprach von der WM.

„An den Wechselgerüchten ist nichts dran.“

Bernstein merkte, dass ihm die Sache aus den Händen glitt, genau wie er befürchtet hatte. Das Wort „Weltmeisterschaft“ verwirrte seine Sinne zusätzlich. Er musste etwas sagen, er musste Demut ausdrücken, was absurd war, da er sich klein wie ein Wurm fühlte. Aber selbst Weinkrug wusste wohl nicht mehr, wie er mit der Situation umgehen sollte. Er lächelte, aber ihm schien keine Frage mehr einzufallen. Benni wollte weg. Er musste das Thema wechseln.

„Das war ein gutes Spiel, aber nicht nur von mir. Der Gegner war auch gut. Und mein Trainer ist auch gut. Und der Schiedsrichter ist auch gut. Ich muss jetzt gehen, muss duschen. Ich schwitze ganz schön. Aber das kann man ja wahrscheinlich auch sehen. Daher hätte ich es ja auch gar nicht sagen müssen. Ist ja auch klar, nach so einem Spiel. Dauert 90 Minuten. Aber eigentlich länger. In der ersten Halbzeit hat der Schiedsrichter ja auch etwas nachspielen lassen, ich glaube es waren so ungefähr drei Minuten. Und jetzt, am Ende der zweiten Halbzeit waren es vier Minuten. Also, das ist jetzt keine Kritik am Schiedsrichter. Der hat seine Sache gut gemacht. Aber das habe ich ja auch schon gesagt. Was gibt es noch? Ach so, Glück haben wir auch noch gehabt. Und die Mitspieler haben auch gut mitgespielt. Und ich muss duschen gehen. Ja, das muss ich. Danke.“

Er hatte versucht, sein eigenes Spiegelbild in den Augen Weinkrugs zu entdecken, der ihm wie gelähmt gegenübergestanden hatte. Benni hatte es geschafft, hatte sich gesehen. Und dann hatte er einfach geredet. Die Worte waren wie an einer langen Kette aufgereiht aus seinem Mund gekommen. War doch gar nicht so schlecht, dachte er noch, als er den verdatterten Reporter hinter sich gelassen hatte. Ich habe geredet. Sollen die doch kommen mit ihren blöden Mikros. Sollen die doch bloß kommen.

Die dunkle Seite des Balles

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