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5. Spieltag – Nemesis

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Der Ball lief durch die gegnerischen Reihen wie ein heißes Messer durch Butter. Diese Passgenauigkeit war atemberaubend und vollkommen atypisch für die Mannschaft. Es war schon fast Tiki-Taka, was die Ruhrpottjungs da spielten. Heller auf Duzman, Duzman auf Berg, Berg auf Sahaler und Tor. 3:0 nach 24 Minuten. Er schaute auf die Stadionanzeige und las dreimal denselben Torschützen hinter den Toren: Sahaler. Er sprang auf, noch gerade rechtzeitig, jubelnd und die Fäuste nach oben reckend. Ein kurzes aber heftiges „Ja“ entfuhr seinen Lippen. Alle sahen, dass er sich mitfreute. Dann setzte er sich wieder und versank in eine trübe Schockstarre, die er in all den Jahren mit einem steifen Lächeln zu garnieren gelernt hatte. Toll, wieder Anschluss nach oben, sagte das eingefrorene Grinsen. Ich freue mich für die anderen, sagte das Grinsen. Wir sind alle ein Team. Die Mannschaft ist alles, was zählt. Auch die Ersatzspieler sind wichtig. Er spuckte aus.

Sahaler war sein Fluch, seine Nemesis. Er verfolgte ihn, hatte seine Krallen tief in die Karriere von Holtzer geschlagen. Es war geradezu absurd, wie die Handlung eines antiken Dramas. Seitdem Holtzer Bundesliga spielte, war er dem Wahnsinn einer Verfolgung durch Sahaler ausgesetzt gewesen. In Bochum, in Frankfurt und nun hier. Immer wieder hatten die Trainer und die sportliche Leitung ihm das Gleiche erzählt: dass sie fest mit ihm planten und er als erster Stürmer gesetzt wäre. Irgendwann hatten sie aber jedes Mal noch einen „Backup“ geholt, falls Holtzer sich mal verletzen sollte, man konnte ja nie wissen. Dass er in 7 Jahren Bundesliga noch nicht die kleinste Verletzung hatte und noch nicht einmal aufgrund einer Grippe ausgefallen war, interessierte wohl niemanden. In Bochum war er noch relativ gelassen gewesen. Er war gesetzt. Er spielte. Irgendwann im Frühjahr wurde er einmal in der 80. ausgewechselt. Sahaler machte ein Tor. Machte nichts, er hatte ja vorher selber eins gemacht. Dann wurde er in der 75. ausgewechselt. Sahaler machte ein Tor, diesmal hatte Holtzer vorher keins gemacht.

Sahaler hatte ihn damals Stück für Stück verdrängt. Erst hatte er nur gebrochen Deutsch gesprochen, hatte sein Spind direkt an der Tür der Kabine. Dann fing er an besser und besser zu werden, machte Scherze und Witzchen mit den anderen. Doofe Scherze. Schlechte Witze. Er kam mit auf die Touren durch die Promidiskos. Lachte, bandelte mit Frauen an. Sein schwarzer Dreitagebart, seine blitzenden Zähne, die schwarzen Augen, das zog bei den Frauen. Er gab die Drinks aus, kam mit Getränken und Frauen an den Tisch und die anderen jubelten ihm zu. Ein Teamplayer hieß es unisono.

Holtzer war genervt gegangen, hatte seinen Berater kontaktiert. Es hatte viele Interessenten gegeben, schließlich war er auf dem Weg in die Nationalmannschaft gewesen.

Frankfurt war sein großer Durchbruch, 12 Tore in der Hinrunde. Die anderen Stürmer waren Flaschen. Er war der Held. Jogi hatte ihn eingeladen zu einem Testspiel. Dann verletzten sich gleich drei Sturmpartner. Sahaler kam. Holtzer sah, wie sich die eigene Geschichte wiederholte. Er beobachtete den anderen genau. Konnte es sein, dass der Franzose wieder so tat, als könne er kein Deutsch? Er sprach gebrochen am Anfang und belegte wieder den Platz hinten am Ende der Bank. Wenn die anderen ihn unwillig fragten, ob er mit auf die Tour kommen wollte, lehnte er höflich ab. Dafür trainierte er, drehte Extrarunden und machte zusätzliches Elfmetertraining. Er lächelte den Trainer an, mit seinem Dreitagebart und seinen weißen Zähnen. Wurde eingewechselt, früher und früher. Holtzer wurde unsicherer. Dann traf er die einfachen Dinger nicht mehr, versemmelte drei Elfer hintereinander, sein letzter ging so hoch in die Wolken, dass kein Mitspieler kam, um ihn zu trösten. Keine Nationalmannschaft mehr, man munkelte von einem Formtief, aber er war immer noch in der Bundesliga untergekommen, wenn auch weniger ambitioniert.

Hier nun schien sich das Blatt zu wenden. Er hatte seine Ernährung umgestellt und einen Psychologen konsultiert. „Sahaler ist nicht dein Problem“, hatte dieser gesagt. „Die Frage ist: Glaubst du an dich selbst?“ Daran hatten sie gearbeitet. Er hatte Sonderschichten eingelegt, noch bevor der andere transferiert worden war. Hatte Elfmetersondertraining absolviert. Er hatte noch nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als tatsächlich das Unmögliche passierte und der Franzose zum ersten Mal im Mannschaftstraining auftauchte. Holtzer hatte ihn freundlich angesehen und ihn wie einen alten Kameraden empfangen. In der Kabine wies er ihn ein und zeigte ihm, wie man die Duschen einstellen musste, damit man sich nicht verbrühte und nicht im Eiswasser stand. Er hatte ihn auf die Touren mitgenommen und hatte allen anderen Getränke ausgegeben. Hatte gelacht. War gesetzt. Dann kam der eine Dienstag. Die Mannschaft hatte verloren und der Trainer war zum Alltag übergegangen nach den Sonderschichten am Sonntag und Montag. Das Training war um 16.00 Uhr beendet worden. Sahaler blieb, hielt den Ball mit seinem rechten Fuß in der Luft und schoss ihn dann mit zur Schau gestellter Leichtigkeit ins leere Tor. Holtzer blickte zum Kabinengang, der mit erbarmungsloser Verführungskraft lockte. Doch dann nahm er sich ebenfalls einen Ball, warf ihn in die Luft, köpfte ihn nach vorne und zimmerte ihn aus dreißig Metern in dasselbe Tor, knapp an Sahalers Kopf vorbei. Der Kampf war eröffnet. Sahaler drehte sich erschrocken um und für einen Moment glaubte Holtzer, einen Funken Angst in dessen Augen zu erkennen, dann war der Moment vorbei und Sahaler grinste diabolisch. Sie sprachen kein Wort. Holtzer hätte ihm gerne viele Dinge an den Kopf geworfen, aber er wollte sich nicht die Blöße geben, wollte nicht der Erste sein, der über diesen unausgesprochenen Kampf redete. Den Kampf zuzugeben, hätte schon geheißen, ihn zu verlieren. Es war eine lächerliche Szene. Wortlos, den anderen nicht beachtend, ballerten sie Bälle auf das Tor. Still beobachtete Holtzer seinen Konkurrenten, zählte dessen Treffer mit und zählte die eigenen. Sie fingen an zu schwitzen und obwohl sich immer mehr Verbissenheit einschlich, täuschten beide eine mühelose Gelassenheit vor. Nach einer gefühlten Ewigkeit schaute Holtzer auf die Stadionuhr und sah, dass es bereits zehn nach fünf war. Sahaler schien den Blick gesehen zu habe. Sein Grinsen wurde noch breiter und er hämmerte einen Ball unter die Latte. Holtzer lächelte zurück und ließ sich auf den Boden fallen, wo er zwanzig Liegestütze machte, um wie ein junger Hüpfer nach dem letzten aufzuspringen und den nächsten Ball dribbelnderweise in Richtung Tor zu führen. Sein abschließender Heber tanzte auf der Oberkante der Latte und fiel dahinter auf die Oberseite des Netzes. Sahaler hustete und als Holtzer hinsah, hielt sich der Franzose die Hand vor den Mund, als müsse er sein Lachen verbergen. Dann ging er in Richtung Innenraum, kam danach mit einer Spielerfigur aus Hartplastik zurück, baute sich nach und nach einen Spielerparcours auf, legte sich acht Bälle an den Anfang des Parcours und umspielte die falschen Kollegen mit französischer Gelassenheit.

Holtzer wurde langsam unruhig. Wie lange wollte der das noch durchziehen? Es machte nicht den geringsten Anschein, als sei er müde. Monoton zog er weiter auf das Tor ab, schielte aber dabei immer wieder zu den Dribbelkünsten des Franzosen herüber. Dann hatte er eine Idee. Er stellte sich im Sechzehner auf, warf Sahaler einen Ball vor die Füße und rief: „Schieß mir mal ein paar von der Eckfahne drauf.“ Er wollte ihn zum Zulieferer degradieren. Aber Sahaler ließ sich nicht darauf ein. Er kickte den Ball wortlos zurück, sich nicht die Mühe machend, auch nur aufzublicken, und fuhr fort, die Plastikspieler zu umdribbeln.

Nach weiteren zwanzig Minuten Schusstraining war es Holtzer zu blöd. Er brauchte diese Spielchen nicht. Dr. Hartels hatte es ja gesagt, Sahaler war nicht sein Problem. Er musste sich und den anderen nichts beweisen. Er machte noch einmal zehn Liegestütze, ächzte beim Aufstehen und ging in die Kabine, ohne sich umzudrehen. War doch egal. Was für eine blöde Art, sich zu produzieren, das war nicht sein Niveau. Aber schon auf dem Weg in die Kabine fühlte es sich an wie eine Niederlage. Ich brauche das nicht, sagte er sich, doch eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf lachte über ihn.

Als er zehn Minuten unter der heißen Dusche gestanden hatte, kam Sahaler herein und sagte: „Pass auf, wenn du die abdrehst, die wird eiskalt.“ Holtzer duschte, bis seine Haut krebsrot war und er gehört hatte, wie Sahaler die Kabine wieder verlassen hatte.

Er saß in Gedanken versunken, als das 4:0 fiel. Allegri hatte es geschossen, Vorlage Sahaler. Holtzer blieb sitzen. Er hatte einen Plan. Im nächsten Training würde er dem anderen die Knochen brechen.

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