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4. Spieltag – Rituale

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Es war die Standardausrede: Das Spielfeld inspizieren. Helmgaard lief über den Rasen, tat so, als trete er ab und zu einen Erdhügel platt. Die Spieler hielten es für eine Marotte, was es zugegebenermaßen auch war, allerdings in einem ganz anderen Ausmaß, als es alle anderen ahnten. Die heikle Stelle befand sich am Tor, wo er den alten Groschen genau in der Mitte mit der Bäumchenseite nach vorne, direkt hinter der Kreidelinie eindrücken musste. Nachdem er mit der Mannschaft aufgestiegen war, hatte er zunächst nicht genau auf die Seite geachtet, doch als sie dreimal hintereinander verloren und gegen den Tabellenletzten nur ein Unentschieden zustande gebracht hatten, war ihm klar geworden, dass er ein Detail übersehen hatte. Der Glücksgroschen musste mit der Bäumchenseite nach oben hinter die Linie und der Baum musste aufrecht stehen.

Die Leute, die keine Ahnung hatten, hielten den Trainerberuf für deswegen schwierig, weil man sich gleichzeitig mit den Vorgaben des Vereins, den Macken der Spieler, den Fans und dem nächsten Gegner auseinandersetzen muss. Für Helmgaard waren diese Dinge Kleinigkeiten, keinesfalls Auslöser von schlaflosen Nächten oder ein Grund, den Job demnächst an den Nagel zu hängen. Es stimmte schon – die Dummheit und Ignoranz einiger Fußballer war haarsträubend, die Vorstellungen der Vereinsleitung grenzten an Größenwahn und aus diesen zwei instabilen Konstanten eine Taktik zu schmieden, war nahezu unmöglich. Aber das war alles irrelevant, wenn er es nicht hinbekam, die spirituellen Vektoren, die zum Erfolg führten, akribisch auszurichten. Mittlerweile war er sich sicher, wie es funktionierte, doch es hatte Jahre gebraucht. Und er wünschte sich, dass er sein Wissen mit jemandem teilen könnte, doch das war in einer Welt, die so überaus materiell veranlagt war, unmöglich.

Er blickte sich um. Das Stadion war fast verlassen, ein einsamer Ordner fegte irgendwo weit hinten auf der Haupttribüne ein paar herabgefallene Blätter von den Sitzen. Es war erst Mitte September und dennoch wirbelten überall braune Blätter durch die Luft. Der Groschen war versorgt. Jetzt nahm er die Asche, die er in einer Plastiktüte in seiner Innenjacke trug, und verstreute sie über das Torwartnetz. Gleichzeitig zog er an dem Netz, was den Anschein haben sollte, dass er die Haltbarkeit überprüfte. Dann spazierte er langsam hinüber auf die andere Seite des Feldes, wo er dasselbe Ritual erneut vollzog, mit einem neuen Groschen und weiterer Asche.

Die Asche zu bekommen, war nicht leicht gewesen. Genau genommen war es diesmal nicht die richtige Asche. Das war erst fünfmal passiert und dreimal war es gutgegangen. Er brauchte ein benutztes Jersey, jeweils eins von seiner Mannschaft und eins von der gegnerischen. Das mit der eigenen war mittlerweile kein Problem mehr. Er hatte seiner Mannschaft glaubhaft erläutert, dass er nach jedem Spiel ein Trikot für eine karitative Einrichtung einsammeln würde. Keiner hatte Fragen gestellt. Das war der Vorteil von der Verlegenheit, die das Thema Behinderung bei Leuten auslöste –es gab keine Fragen. Er erinnerte sich daran, wie er noch den jungen Teffel trainiert hatte, den mit dem behinderten Bruder. Keine blöden Sprüche, wenn er vorzeitig vom Mannschaftsabend nach Hause ging, kein Gemoser der anderen, wenn der Sieg nicht ausreichend zelebriert wurde.

Das Problem waren die Jerseys der gegnerischen Mannschaft. Er gab einen nicht geringen Teil seines Trainergehaltes für den Kauf gebrauchter Trikots bei Ebay aus. In Hamburg hatte er sich sogar schon in der Kabine der Hansestädter an die Spinds gemacht und tatsächlich einen ganzen Satz neuer Heimtrikots geklaut. Außerdem bestellte er regelmäßig neue Trikots bei den Herstellern. Doch wenn die Dinger nicht vom Gegner getragen waren, war die Wirkung nicht ansatzweise so groß. Grundsätzlich hatte er folgende Wirkungsgrade feststellen können:

 Von Spielern getragene Trikots sind am besten. Je mehr Schweißpartikel, Hautschuppen oder Haare auf oder an dem Trikot sind, desto besser.

 Die Trikots sollten idealerweise genau diejenigen sein, mit denen die Mannschaft am Spieltag aufläuft. Wenn die Mannschaft ein grünes Auswärtstrikot trägt, er aber ein blaues verbrannt hatte, sind die Chancen auf einen Sieg schlechter.

 Je wichtiger ein Spieler für seine Mannschaft ist, desto wirksamer ist die Asche des Trikots.

 Das Verbrennen mehrerer Trikots erhöht die Wirkung NICHT.

 Die Trikots sollten von der aktuellen Saison stammen.

 Ein Trikot mit einem falschen Ligenaufdruck (Bundesliga, Pokal, Champions League, Europaleague) kehrt die Wirkung um (in 7 von 8 Fällen).

 Es ist besser, irgendein Trikot zu verbrennen, selbst wenn es das von der Jugendmannschaft, eines Spielers, der gar nicht mehr für die Mannschaft spielt oder ein Trikot von einer vergangenen Saison ist. Ohne Asche geht das Spiel mit Sicherheit verloren (in 9 von 9 Fällen).

Manchmal wünschte er sich, die immateriellen Bedingungen für einen Sieg nie kennen gelernt zu haben. Er würde ganz einfach trainieren, aufstellen und gewinnen oder verlieren. Er würde sich irgendwo in der zweiten Liga rumtreiben. Ein schlechter Trainer war er nicht. Aber so ging er zur gegnerischen Bank, spuckte einmal auf jeden der Plastiksitze und verrieb die Spucke mit seinem Glücksschlips. Gut, dass der Schlips anthrazit war, so wären die Reste von Dreck, Speichel und Staub kaum auszumachen, wenn er an der Seitenlinie stehen würde. Er hatte diesen Schlips einmal gewaschen – mit einem desaströsen Ergebnis, eine 0:6-Niederlage zuhause. Okay, es war gegen die Bayern gewesen, aber Helmgaard konnte die Höhe der Niederlage in die Gesamtkonstellation einordnen.

Als er in den Kabinengang trat, kam ihm der sportliche Leiter entgegen. Sie nickten sich zu und grüßten sich. „Morgen.“ „Morgen.“ Gänswein nahm ihm freundschaftlich am Arm. „Sie müssen entspannen, Herr Helmgaard. Für die Inspektion sorgt schon der Schneiz.“ Helmgaard winkte ab. Für solche Situationen hatte er genug Ausreden parat. „Wollte mir noch einmal die Platzverhältnisse ansehen. Wegen der Stollen.“

„Schon recht, Helmgaard. Habe übrigens noch nichts vom Berater von Vadale gehört. Aber der wird sich schon melden. Ich denke nur, dass wir hinten noch was machen müssen.“ Sie gingen durch den Innenbereich des Stadiongebäudes, Gänswein würde sicher in sein Büro wollen. Helmgaard blieb stehen. „Ach, hab’ noch was vergessen.“ Herablassend lächelnd und kopfschüttelnd ging Gänswein weiter. Helmgaard kannte die Blicke und die Gesten und er hatte gelernt, sie zu übersehen. Wo wärst du ohne mich, dachte er nur leicht verbittert.

Er stieg die Stufen hinab zu den Kabinen und klopfte dreimal an die Tür der Gästekabine und fünfmal an die Tür seiner Mannschaft. Dann lief er durch die Gänge, bis er an der vorderen Pforte hinauskam, wo er einmal hustete, sich beide Füße an der Matte abwischte (zweimal links, einmal rechts) und zu seinem Auto stiefelte. Er hatte es, wie immer, rückwärts eingeparkt und als er herausfuhr, umkreiste er einmal den ganzen Platz, bevor er durch die Schranke nach draußen fuhr. Zuhause würde es, wie immer, Erbseneintopf geben.

Der Tag war wunderbar verlaufen. Die Sonne schien, kein Wölkchen zierte den Himmel, die Spieler waren alle pünktlich gewesen und die gegnerische Mannschaft war wegen einer Panne eine halbe Stunde zu spät erschienen. Alles so wie es sein sollte. Er saß auf der Bank in seinem dunkelblauen Anzug und beobachtete vergnügt, wie der Schiedsrichter das Spiel anpfiff. Die Anfangsbuchstaben der vier Offiziellen hatten als Quersumme 7 ergeben, er hatte den Schiri siebenmal mit der Hand irgendwo berührt, als sie sich vorgestellt hatten. Alles war perfekt. Er setze sich und blickte sich zufrieden um.

Doch dann tat sich vor ihm unendliche Dunkelheit auf. Er sah die Frau. Sie stand an der Seitenauslinie links von ihm, hinter der Kamera. Eine Kamerafrau. Er schnappte nach Luft. Stand auf. Setzte sich wieder. Sein Co schaute ihn verwundert an. Er schaukelte mit dem Oberkörper hin und her. Eine Frau. Er hätte …

Das Spiel war verloren.

Die dunkle Seite des Balles

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