Читать книгу AUFRECHT IN BERLIN - K.R.G. Hoffmann - Страница 6

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Formate im Herbst

Herbst 2013 in Berlin an einem Tag des sich in die Länge ziehenden Altweibersommers in einem Reinickendorfer Gartenrestaurant. Das Geschirr der letzten Mittagsgäste ist abgeräumt und alles neu eingedeckt. In etwa drei Stunden ist mit dem Eintreffen gutbürgerlicher Abendgesellschaften zu rechnen. Jetzt ist „Happy hour time“. Alles ruhig - das Personal steht privatissime zu Diensten. Zwei Tischreihen von meinem Platz entfernt sitzt ein Mann an der Stirnseite eines Tisches, der von 5 leeren Gartenstühlen umstanden ist. Diese Komposition lässt darauf schließen - Man(n) erwartet Gäste. Der Mann scheint das Alleinsein in der nachmittäglichen, wärmenden Sonne zu genießen. Bequem im Gartenstuhl mit Armlehne sitzend, hat er vor sich auf dem Tisch eine Karaffe mit Weißwein stehen. Scheint auch noch nicht lange da zu sein, denn aus der Karaffe fehlt nicht mehr als eines Glases Menge.

Zwischen den ersten drei Fingern seiner linken Hand bewegt er spielerisch die Zigarrenspitze, die quasi das Mundstück für eine Zigarre im Korona-Format bildet. Das Erscheinungsbild dieses Mannes lässt vermuten, es könne sich bei der Zigarre um eine „Havanna“ handeln. Die könnte ein Longfiller sein. Das sind ineinander gedrehte Blätter, entgegen Füllungen aus kleingeschnipseltem oder gerupftem Tabak - Shortfiller genannt. Der Beobachtete schaut gedankenversunken auf den langen Brand seiner Zigarre. Erst als dieser gute zwei Zentimeter lang ist, für Longfiller charakteristisch, streift er die Asche ab. Eine Zigarrenspitze macht noch keinen Snob, meinte „Zigarrenpapst“ Davidoff. Er schrieb: "Leute, die eine „Havanna“ mit Spitze rauchen, trinken womöglich Champagner mit Strohhalm. Wie auch immer, unverfälscht und voll genießen – dann ist alles richtig!“

Später werde ich erfahren, der Mann raucht seit gut vierzig Jahren Zigarren nur in Spitze. So rauchend, wird er sagen, das ließe ihn gleichzeitig schreiben, oder auf der Computertastatur tippen, telefonieren oder am Lenkrad sitzend Auto fahren. Die universelle Handhabung der Zigarrenspitze förderte seinen Konsum und ließ ihn bis zu sieben Koronas täglich schmauchen. Voll genießend, so habe ich den Alleinsitzenden vor Augen. Ohne zu inhalieren, lässt er den Rauch im Mund zirkulieren und bläst hernach abgekühlte blaue Wölkchen in die laue Herbstluft.

Der Beobachtete schaut zu mir herüber – unsere Blicke treffen sich. Mit einem brennenden Fidibus-Zündel, bei dem es sich um einen Streifen Zedernholz handelt, den ich mit dem Feuerzeug anstecke, sorge ich für einen sich über den gesamten Durchmesser ausbreitenden Anbrand.

Nach dieser Prozedur hebe ich wieder den Blick. Ich schaue in das offene Gesicht des Beobachters. Da drückt sich so viel Sympathie aus, dass es mir wie die Erfüllung eines Wunschs vorkommt, just in diesem Augenblick von ihm angesprochen zu werden.

„Gutes Teil das, Herr Nachbar – sieht nach Havanna aus.“

„Man gönnt sich ja sonst nichts, Herr Nachbar, scheinen ja den gleichen Geschmack zu haben.“

„Wenn es Sie nach Unterhaltung gelüstet, geben Sie mir die Ehre und setzen Sie sich her.“

Mir gefällt die leicht ins Ironische überkippende Ansprache.

„Gerne, augenblicklich zu tun das Beste!“, erwidere ich im selben Duktus.

Im Aufstehen, das Bierglas mit dem Unterdeckel in der einen und die Zigarre zwischen drei Fingern der anderen Hand, gehe zu seinem Tisch. Stehend begrüßen wir uns und nehmen dann einander gegenüber Platz.

ER Berliner - ICH Berliner, frotzelnd, - landsmannschaftliches Treffen. ICH vier Jahre älter, beide studiert und, wie man so sagt, augenscheinlich gut drauf.

ER, von einer Lesehilfe abgesehen, brillenlos.

ICH mit randlosen gleitsichtigen 6 Dioptrien ausgestattet.

Beide in Sommerweste.

ER trägt ein Hemd mit Umschlagmanschetten und eine über jeden Zweifel erhabene, von Hand gebundene Seidenfliege.

ICH mit offenem Kragen und umgeschlagenen Hemdsärmeln. Gespannt und neugierig suchen wir nach Schnittstellen in den zurückliegenden sieben Jahrzehnten.

Beide hatten wir es beruflich mit Menschen zu tun.

ER ein WOSSI - ICH ein WOSSI.

Die Begriffe WESSI, OSSI und WOSSI haben sich für uns Deutsche im geographisch und politisch geteilten Vaterland entwickelt. WESSIS, das waren Leute, die im Westen lebten. OSSIS wohnten in der ehemaligen DDR. WOSSI ist die Kombination von beiden und setzt in Sprache um, sowohl in der DDR als auch im Westen gelebt zu haben. Man bediente sich der drei Termini hüben wie drüben - nicht immer wertfrei. ER und ICH, Bürger einer wieder zusammenfindenden Nation, erinnern sich dieser Termini, zufrieden darüber, dass sie heute kaum noch, höchstens auf Kalauerniveau, gebräuchlich sind.

ER aus Berlin-Britz stammend, im Bezirk Friedrichshain aufgewachsen, fünf Jahre nach dem Mauerbau beim zweiten Fluchtversuch in den Westen gelangt, Student, junger Wissenschaftler, Unternehmer, Manager, Designer, Rentner.

ICH ursprünglich aus Berlin-Mitte. Meine Mutter lebte nach dem Krieg ohne Mann - ich ohne Vater. Der, Berufssoldat, galt seit den letzten Abwehrschlachten vor Berlin auf den Seelower Höhen 1945 als vermisst. Um die tausend Aufbaustunden hatte Mutter als Trümmerfrau geleistet, wurde dafür prämiert, und der Sohn durfte bis zum Abitur auf die Oberschule. Für meine Zulassung an die Universität hatte Mutters Trümmerfrauen-Bonus kein Gewicht mehr. Ich hatte kein Pioniertuch getragen und war nicht Mitglied der Freien Deutschen Jugend. 'Mangelnde gesellschaftliche Mitarbeit', so lautete die Begründung für die Nichtzulassung an die Humboldt-Universität.

In Westberlin dauerte die Schulzeit bis zum Abitur 13 Jahre. Das Ostberliner Abitur nach 12 Jahren reichte nicht für die Immatrikulation an den Universitäten in West-Berlin und dem übrigen Bundesgebiet. So ging ich für das 13. nach West-Berlin - wohnte aber weiter in Ostberlin, bei Muttern in der Reinhardstraße, nur eine S-Bahnstation von meiner neuen Schule in Tiergarten entfernt. Mein nunmehr zweites Abitur, in den Naturwissenschaften eine ganze Note besser als mein Ost-Abitur, war jetzt die Eintrittskarte zur Immatrikulation an der Freien Universität, Fachrichtung Germanistik und Geschichte, Lehramt. Wohnort blieb weiter Hotel „Mutter“. Mitte August 1961 wurde die Mauer gebaut. Mit der geborgten Identität eines Kommilitonen, der aus Hessen stammte, konnte ich zwei Wochen später - das DDR-System arbeitete noch an der Undurchlässigkeit seiner Einmauerung - in den freien Teil Berlins flüchten. Zeugnisse und Geburtsurkunde hatte ich mit Leukoplast auf den Körper geklebt. So sehr es meine Mutter schmerzte, von mir in Ostberlin zurückgelassen worden zu sein, frohlockte sie doch bei dem Gedanken an mein Leben in Freiheit. Tausenden Menschen ist von den Kommilitonen der Berliner Universitäten der Weg in die westliche Hemisphäre ermöglicht worden - eine bis heute nachklingende heroische Leistung der damaligen Studentenschaft. Verhaftungen gegen Ende 1961 zeigten dann an, der DDR-Käse hatte so gesehen, nun keine Löcher mehr. Mein Studium dauerte 11 Semester, denen sich 80 als Gymnasiallehrer anschlossen.

Getretene Kieselsteine lenken meinen Blick in Richtung des Geräuschs. Eine Dame in Begleitung zweier Herren, alle um die Mitte Vierzig, nähert sich unserem Tisch. ER erhebt sich, seine Zigarrenspitze ruht im für Zigarren dimensionierten Aschenbecher. Ich beobachte eine Begrüßungsszene, wie sie unter Freunden und guten Bekannten heutzutage gang und gäbe ist. ER umarmt aus der Dreiergruppe zuerst die Dame. Links und rechts bekommt sie einen angedeuteten Kuss auf die Wangen und dann strahlen sie sich an. Das herzliche Willkommen läuft bei den beiden Männern genauso ab - nur ohne Küsschen.

ER, ROLAND, stellt uns einander vor.

Die lockere Kennenlern-Konversation nimmt gerade Fahrt auf, als eine jüngere Dame hinzutritt und sie unterbricht. Weil sie dazugehört, geht das herzliche Szenario noch einmal reihum. Die Gesprächskultur, bei der das Ausreden-lassen so selbstverständlich ist, wie die achtungsvolle Einbeziehung von nicht Anwesenden, zeigt den Respekt im Umgang miteinander. Mein Eindruck - hier sind kultivierte Freunde beisammen.

Die liebenswerte Runde bleibt zusammen, die Sonne verlässt den Horizont, der Wirt gibt uns Decken, damit wir weiter im Freien verweilen können.

Ich freue mich über die Bereicherung meines Bekanntenkreises.

Voraus, der Leichenschmaus

Sieben Jahre sind seither vergangen. Roland ist tot!

Er war mir zum Freund geworden. Den Gipfel der Freundschaft bildete unsere gemeinsame Adresse. Wir wohnten in einem Reinickendorfer Wohnpark für Senioren, wo im selben Haus jeder sein Appartement hatte. Dort verbrachten wir viel Zeit miteinander. Manches unserer Gespräche endete mit dem einander ausgedrückten Respekt, solch erbaulicher Erörterungen überhaupt fähig zu sein. Es war eine beiderseitige Freude, mit Roland im Kreise anderer Gesprächspartner wechselseitig geistreiche verbale Korsettstangen zu reichen. Aus Spaß an der Freude spielte für uns nicht einmal das Thema die ausschlaggebende Rolle. Rolands und meine Freunde, das war eine illustre Palette von Leuten, die sich von spontan bis regelmäßig trafen. Ein festes Stammlokal hatten wir nicht. An trockenen und warmen Tagen saßen wir manchmal bis spät in die Nacht vor den Cafés, politisierten, taten einander kund, was wir beispielsweise mit Frauen erlebt oder durchlitten hatten und redeten über Gott und die Welt, über die sich Reiseberichte wie ein Netz spannten. Beim Leutebeobachten hielt die Betrachtung der nachgewachsenen Damenwelt unsere Augen und Sinne aktiv. Das ging soweit, dass schon mal galant nach dem Woher und Wohin gefragt wurde. Die Lust zu rauchen schränkte die Auswahl der Treffpunkte in den kühlen Jahreszeiten zwar ein, aber Berlin ist die Metropole exquisit geführter Raucherlounges. Möglichkeiten, das überbordende Kulturangebot Berlins auszukosten, handhabten wir wie die meisten Einheimischen. Gäste von außerhalb wussten über Events in der Stadt oft besser Bescheid und legten so für uns die Spur.

Roland und mir ging es gesundheitlich ausgesprochen gut. Wir glaubten, auf hundert Lebensjahre programmiert zu sein.

Bei Roland hat das leider nicht geklappt. Jetzt ist er unter einer großen Säule aus rotbraunem Granit beerdigt. Ungefähr hundert Leute haben ihm soeben bei blauem Himmel eines Tages im Mai, das letzte Geleit gegeben. Schon auf dem Friedhof hörte ich so etwas wie: “Dolle Grabsteinvariante das…..“

Gut die Hälfte der Trauergemeinde sitzt momentan Aperitif trinkend um mich herum - beim Leichenschmaus. Seine Moderation ist mir eine Selbstverständlichkeit.

Die älteste Freundschaft, fünfundsechzig Jahre, die zwischen Roland und Peter bestand, bekundet dieser durch seine Anwesenheit. Er ist immer noch aktiver Segelflieger. Jedes Jahr muss er vor der Flugmedizinischen Kommission erscheinen, um ein weiteres Jahr fliegen zu dürfen. Rank und schlank ist seine Erscheinung, eben die eines aktiven Sportlers. Man traut ihm gut und gern noch einige Jahre Fliegerei zu. Angelika, Franzke, Winfried, Frenzel, Krause, „Der Lange“ mit Frau Elke, Holzapfel und natürlich 'Wölkchen' pflegten über mindestens 10 bis 50 Jahre die Freundschaft zu Roland. Gute Bekannte, die kurz oder über längere Phasen Rolands Weg gekreuzt hatten, komplettieren die Leichenschmaus-Gesellschaft. Jene, die Rolands Wesen mit formten und nicht in dieser Runde sitzen, bilden vielleicht im Universum Spalier?

„Nun erzähl doch endlich, wie kommt die Säule auf das Grab?“, verlangt Winfried.

„Gemach, gemach, ihr seht doch, meine Zigarre braucht noch den Zündel! -Pause- Also, in mein Blickfeld kam die Säule, als wir gelegentlich wegen einer Besorgung an ihr vorüberfuhren und Roland mich auf sie aufmerksam machte. Seit zehn Jahren führte sein Weg des öfteren an dieser rotbraunen übermannshohen Granitsäule mit baumdickem Durchmesser vorbei. Sie stand auf dem Hof eines Steinmetzes in Berlin Pankow direkt an der B96a. Roland hatte sich in den Kopf gesetzt, diese Säule als seinen Grabstein haben zu wollen, sofern es sie noch gäbe, wenn er nicht mehr sei.

Roland hatte für den Tag X überhaupt keine Vorkehrungen getroffen. Wir wollten ja hundert Jahre alt werden. Für mich war die Säule ein Gedanke, dem Freund bei seinem Heimgang von dieser Welt einen letzten Freundschaftsdienst zu erweisen. Ich machte mich also auf den Weg, der eher eine Suche war. Die Säule stand immer noch auf dem Grundstück eines Steinmetz-und Bildhauermeisters, der auch über den Bezirk hinaus ein bekannter Steinrestaurator ist. Als ich den Mann aufsuchte, stand vor mir die personifizierte Steinmetz-Dynastie von Pankow. Seine Vorfahren gehörten bereits zur Steinmetz-Zunft, und sein Bruder und ein Neffe haben auch ihre Betriebe in fußläufiger Nähe. Mein Interesse an der Säule wurde, ich hatte es kaum ausgesprochen, zweifelsfrei und bestimmt gekontert:

„Die Säule ist unverkäuflich! So lange ich lebe, wird die nicht verkauft!“

„Na, da kann man doch sicherlich etwas regeln, lassen Sie mich erklären…..“

„Da gibt es nichts zu erklären. Die Säule ist ein Andenken an meinen Vater. Der hat sie aus den Trümmern der Reichskanzlei geborgen, sozusagen vor ihrer Zerstörung gerettet.“

„Hören Sie mir doch wenigstens zu! Ich will die Säule für meinen verstorbenen Freund, der sie sich zu Lebzeiten als Grabstein ausgesucht hat.“

„Ihr Freund? Wer war denn das? Hier war mal jemand, das mag bestimmt schon sechs sieben Jahre her sein, der genau das vorhatte. Seinen Namen habe ich vergessen, aber Fliege trug er. Daran erinnere ich mich.“

„Kein Zweifel, das war Roland!“

„Ich habe dem damals genau das Gleiche gesagt, wie Ihnen heute. Er ließ aber nicht locker. Er meinte, es sei gut zu hören, dass ich die Säule nicht verkaufen würde. Er wüsste auch gar nicht, was er solange mit ihr machen solle. Sowohl bei mir als auch bei ihm würde das mit dem Tod ja noch ein Weilchen dauern. Könnte ja sein, meinte er, dass, wenn ich eines Tages in Rente ginge, die Säule dann vielleicht doch verkäuflich sei. Er würde immer mal wieder vorbeischauen.

Das war´s, seitdem habe ich nichts mehr von Ihrem Roland gehört oder gesehen.“

„Und jetzt bin ich hier. Wenn Sie gestatten, ich komme mit einer Leseprobe aus dem Manuskript über Rolands Leben vorbei. Wenn Ihnen die Person „Roland“ gefällt, reden wir noch einmal über die Säule.“

„Einverstanden, aber ich verspreche nichts!“

Auf der Heimfahrt überlegte ich, welche Passagen geeignet seien, um sie als Leseprobe für den Steinmetz auszudrucken. Ich entschied mich für die Vorbereitung der zweiten, letztendlich erfolgreichen Flucht Rolands von Ost- nach West Berlin 1966.

Zwei Tage später war ich wie verabredet wieder bei Steinmetzmeister Carlo. Die Leseprobe werde er sich zu Gemüte ziehen. Wir verabredeten uns an Ort und Stelle für dieselbe Woche.“

Ich erhebe mein Glas in Richtung Steinmetz:

„Carlo, ich begrüße dich herzlich in dieser Runde! Ich will es kurz machen, unser Roland hat dir gefallen, und so wechselte die Säule ihren Besitzer.“

„Moment, Moment“, unterbricht mich Carlo:

„Roland war ein ordentlicher Typ, aber eine Szene, die er beschreibt, ging mir zu Herzen. Er hatte seinem Freund das Ehrenwort gegeben. Sie hatten einander versprochen, einer holt den anderen innerhalb eines Jahres nach, wenn einem die Flucht in den Westen ohne den Freund gelänge. Das hat er geschafft. Darum gab ich die Säule.“

„Danke, Carlo!

Die Säule war also da, aber mit ihr auch ein neues Problem. Die Friedhöfe in Berlin haben Satzungen, die die Errichtung einer Säule ausschließen. Ich musste also einen Friedhof finden, der Rolands Säule erlauben würde. Denkt daran, wenn ihr euren Hinterbliebenen Wünsche hinterlasst. Früher konnten die Hinterbliebenen sogar kleine Paläste auf den Gräbern errichten. Heute stehen sie unter Denkmalschutz. Vier Friedhöfe habe ich angefragt, und genauso viele Absagen habe ich mir eingehandelt. Inzwischen waren drei Monate vergangen, und das Beerdigungsinstitut wurde ungeduldig. Wie und wann es mit der Urne weitergehen sollte hatte ich von der Aufstellung der Säule auf Rolands Grab abhängig gemacht. Carlo lieferte dann letztlich die Säule mit der allumfassenden Insigne „Vita militare“ und den Friedhof mit Genehmigung gleich mit. Eine Skulptur von Carlo auf diesem Gelände bedeutete nämlich diesem hier einen Prestigegewinn. Carlo! Dir dafür einen freundlichen Zutrank außer der Reihe. Ende gut, alles gut. Bitte sich zu erheben!“

Wir stoßen an:

„Vivat crescat floriat in memoriam Roland.“

Dem Gescharre der Stühle und dem Klingen der Gläser folgt eine kurze erwartungsvolle Stille. Das Essen wird hereingetragen.

Die letzten Esser haben mittlerweile auch ihr Dessert verspeist.

Ich erteile Raucherlaubnis.

„Das passt!“, ist Remuss zu vernehmen.

„Du hast ja mit Roland das Thema 'Zigarre und Genuss derselben' kultig gehandhabt. Eine 'Havanna' gehörte zu eurer definierten allumfassenden Lebensqualität. Innerlich muss ich jetzt schmunzeln. Roland gab, bezogen auf die propagierte Gefährlichkeit des Zigarrenkonsums, eine These zum Besten. Er hätte eine medizinische Studie gelesen, die bei den 1,6 Millionen Kubanern heute schon dreitausend über Hundertjährige festgestellt habe. Als Ursache für die statistisch lange Lebenserwartung vermuteten die Mediziner, dies hinge mit dem jahrzehntelangen Embargo zusammen, welches die USA, Präsident EISENHOWER 1960, über Castros Reich verhängt hätten. Damit waren die Kubaner von allen in der übrigen Welt gebräuchlichen Antibiotika abgeschnitten. Spöttisch lächelnd trug Roland in Bezug auf das Gelesene seine Gegenthese vor.

Kubas geomorphologischer Untergrund ist vulkanischen Ursprungs. Der dortigen roten Erde wird landläufig, quasi als Alleinstellungsmerkmal, der Geschmack der kubanischen Tabakpflanze zugeschrieben. In Kuba laufen die Menschen über die Generationen hinweg, Männlein und Weiblein gleichermaßen, von morgens bis abends mit einem Zigarrenstummel im Mund herum. Vielleicht haben diese Tabaks Spurenelemente in sich, die das Leben länger währen lassen. Als Beispiel nannte er dich und sich. 'Wir rauchen seit fünfzig Jahren täglich Kuba-Zigarren' sagte er, und von unserem bevorstehendem Ableben kann überhaupt keine Rede sein. Hätte ich das Geld, würde ich aus reiner Forschungslust eine Vergleichsstudie auf den Kanaren initiieren, um bei gleicher geomorphologischer Ausgangslage statistisch Signifikantes aufzuspüren.' Verrückt genug dazu war er ja.“

„Na zumindest in Einem hatte er recht. Ich habe auf Kuba die ständig rauchenden oder Zigarre nuckelnden Einheimischen gesehen“, wirft Werner ein.

Frenzel, als nichtrauchender Arzt:

„Ohne Zigarrenrauchen säßen wir vielleicht nicht zum Leichenschmaus hier. Vielleicht würde Roland noch leben.“

Ich erwidere:

„Das ist ja wohl nicht dein Ernst. Unser Genießen kubanischen Tabaks, von dir als lasterhaft bespöttelt, zeitigte weder bei Roland noch bei mir Beeinträchtigungen.“

„Jetzt will ich es genau wissen, weshalb oder wie ist Roland denn nun in die ewigen Jagdgründe gegangen?“, fragt Dirk.

„Könnte dazu etwas sagen, aber bevor ich das tue, muss ich die Absolution der anwesenden Damen, zuvorderst die von 'Wölkchen' einholen. Es geht um eine Pietät fordernde Petitesse.“

Wölkchen prompt:

“Wir sind volljährig und nicht nachtragend, lass hören!“

„Wölkchen, dich hat Roland sehr geliebt. Es klang wie Stolz, wenn er von zwölf gemeinsamen Jahren sprach, in denen er dir immer treu gewesen sei. Eure Trennung haben wir, das weißt du, eigentlich nie verstanden. Der aufmerksame Umgang, den ihr beide nach der Trennung miteinander pflegtet, war eine Demonstration tiefer Freundschaft. Bewunderns- und bedauernswert zugleich, das Ganze.“ “Genug der Ehre, ist ja gut, komm zum Kern,“ meint Wölkchen.

„Ihr wisst, in den letzten Jahren flog Roland mindestens einmal im Jahr nach Thailand. Franske, du lebst dort seit 30 Jahren. Winfried, du bist wie ein Zugvogel. Wenn es in Berlin kalt wird, fliegst du ab und bleibst, bis der Frühling hier wieder Fuß fasst. Frenzel und Peter, ihr habt dort öfter euren Urlaub verbracht, weil ihr es mit der Flucht vor dem Winter in Deutschland hieltet wie Winfried und Roland. Eure Treffen dort habt ihr genossen. Roland hat sich rundum wohlgefühlt. Zurückgekehrt war er voll des Lobes über die Wirkung einer aus Indien stammenden Viagra-Variante, die nicht nur unserer Generation zeit- und punktgenau die nötige Manneskraft spendet. Darauf angesprochen spendierte er auch schon mal eins von den Tütchen, die aussehen wie eingeschweißte Erfrischungstücher. Mit Ananas- oder Orangengeschmack gehörten sie zu seiner Rundumversorgung wie die Zigarren.

Als man ihn aus dem Appartement im Wohnpark abholte, sah ich auf der breiten Matratzen-Holzumrandung seiner Schlaflandschaft solch ein geöffnetes Plastiktütchen liegen. Mich hatte nämlich morgens eine Frau angerufen, deren Stimme ich erkannt zu haben glaube. Ihren Namen zu nennen, würde sie kompromittieren – es handelt sich immerhin um eine Dame der Gesellschaft. Sie bat mich als Rolands Freund, nach ihm zu schauen. Sie klang seltsam aufgeregt:

„Es ist etwas passiert!“

Das Tütchen auf dem Bettrahmen lässt mich über Rolands letzte Wahrnehmungen auf Erden mutmaßen.

Ich wünsche ihm, erlebt zu haben, was die Franzosen den "süßen Tod" nennen. Wenn das passiert sein sollte, wäre ihm widerfahren, was Männer sich als "Letztes" wünschen mögen, aber was sich statistisch in nur einem Prozent aller plötzlichen Todesfälle widerspiegelt. Von diesem vielleicht einen Prozent wären dann noch die lustvollen von den tragischen Begebenheiten zu trennen. Ich lebe ja nun auch schon acht Jahrzehnte und denke im Hinblick auf mein Lebensende an Rolands möglichen Abgang. Andere planen in diese Richtung vor. Rolf EDEN, ihr kennt ja noch den ehemaligen Berliner Playboy und Unternehmer, der schwadronierte mit 80 Jahren im Fernsehen, er hätte testamentarisch und notariell verfügt, dass, wenn ihn der Tod beim Akt heimsuchen sollte, der beteiligten Frau 300.000 Euro auszubezahlen seien.“

Remuss ergreift nochmals das Wort:

„Diese Geschichte hätte Roland nicht besser ausgemalt! So wie wir hier sitzen, ergötzen wir uns an Rolands Eloquenz. Mitunter beantwortete er Fragen, die im Raum waberten, aber noch nicht gestellt waren. Gewollt, manchmal auch wider Willen, stand er so im Mittelpunkt polarisierender Meinungen. Er wurde nicht nur aus unserem Kreis angesprochen, seine Erlebnisse und Beurteilungen der Schriftform zu übergeben. Er sei schließlich Zeitzeuge und aber auch Akteur. Ihm schien das zu gewaltig. Er tat das als emotionale Augenblickskomplimente ab.“

Christian wirft ein:

„Die sich wiederholenden Anregungen formten dann doch die Tat. Er ließ uns ja wissen, dass er sich an die Niederschrift seines Lebens gemacht habe. War leider für ihn und für jene zu spät, die nicht mehr sind, aber die zu ihren Lebzeiten gerne noch einmal nachgelesen hätten.“

„Na dann komme ich jetzt mal zum ernsten Teil unseres Beisammenseins.“

Ich stehe auf, nehme einen Schluck aus dem Weinglas und wende mich, rechts neben mir platziert, Wölkchen zu.

„Du hast mir Rolands Vita-Niederschrift mit dem Titel „Drei Metamorphosen eines Berliners“ gegeben. Ich möge nach meinem Gusto darüber verfügen, sagst du. Natürlich kenne ich den Inhalt in allen Teilen. Oft war er bekümmert, weil er sich in ständiger Umschreibung seiner „jetzt endgültig letzten Fassung“ befand.

„Ich mag ein Erzähler sein“, sagte er, „aber Romanschreiben ist etwas Anderes.“

Christian dazwischen:

„Hört sich ja an, als hätte er befürchtet, seine Vita nicht veröffentlichen zu können.“

„Nicht ganz meine Meinung. Die vorliegende Abfassung ist gut genug, sie der Öffentlichkeit zu unterbreiten. Das will ich als letzten Dienst für unseren Freund tun. Aus der Ich-Form werde ich sie in die dritte Person umschreiben.“

Beifall wird mir zuteil und auf gutes Gelingen leeren wir "ex" unsere Gläser.

AUFRECHT IN BERLIN

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