Читать книгу AUFRECHT IN BERLIN - K.R.G. Hoffmann - Страница 8
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Rolands Vater Karl hatte den Krieg unversehrt überstanden und sich bei seiner Familie im Schwarzwald eingefunden. Er hatte jedoch zu große Angst, durch die damalige Sowjetzone zu seiner Frau nach Berlin zu kommen. Mutter Margot wollte aber, selbst wenn sie eine Reisemöglichkeit gefunden hätte, mit dem kleinen Roland nicht aus dem zusammenstehenden Familienverband weg von Berlin. Womöglich hätte sie in den dörflichen Schwarzwald übersiedeln müssen und wäre gar bei ihr fremden Menschen gelandet. Wie Mutter Margot einige Monate später hat erfahren müssen, war Karl inzwischen eine neue Beziehung mit einer Frau eingegangen. Ein Kind aus dieser Verbindung war wohl auch schon unterwegs. Unterhalt zahlte Vater Karl für Roland keinen.
Die Situation in der Britzer Wohnung: Opa Rudolf, der Familienpatriarch, hatte das Heft fest in der Hand. Mutter Margot war mit Roland in ihre vormalige Mädchenrolle zurückgestuft, und Oma Else fungierte in diesem Sinne als der verlängerte Arm von Opa Rudolf.
Mutter Margot nahm wieder Kontakt zum Jugendfreund Grundmann-Bruder Alfred aus der alten Jugendgruppe in Berlin-Friedrichshagen auf. Von den fünf Grundmann-Brüdern waren drei im Krieg gefallen. Ein Grundmann-Bruder, Kurt, befand sich in russischer Kriegsgefangenschaft. Alfred arbeitete als Mechaniker in der Firma Hecker, einem Friedrichshagener Metallbetrieb. Die Segeljolle vom Bruder hatte er unbeschädigt über den Krieg gerettet. So konnten Alfred und Margot wie zu Vorkriegszeiten Törns auf dem Müggelsee unternehmen.
Als inzwischen Neunzehnjähriger konnte Onkel Horst etwas von der fehlenden Jugendzeit aufholen, die ihm durch die Kriegsjahre verloren gegangen war. Er besuchte in Berlin-Britz eine Tanzschule, die sich in den Räumlichkeiten des Vereinszimmers einer Britzer Kneipe eingerichtet hatte. Seine Tanzpartnerin war das sehr schöne Mädchen namens Traudchen. Onkel Horst war vom Tanzen aber mehr noch von Traudchen begeistert. Einander zugetan, bildeten beide ein Tanzpaar bei den Turnieren, die in Berlin-Britz und Berlin-Neukölln stattfanden. Die Tanz- und Ballkleider wurden von den Witwen und Müttern aus den Vorkriegs-Garderoben, mitunter auch aus Gardinenvorhängen genäht. Einmal geriet Traudchen mit ihren Tanzfreundinnen in eine abendliche Polizeirazzia. Solche Aktionen, die nur der Ergreifung junger Frauen galten, waren häufig, weil das Fraternisieren mit den amerikanischen Soldaten verhindert werden beziehungsweise sich für die Sieger nicht gesundheits-schädigend auswirken sollte. Die Frauen wurden auf einem Lastwagen in ein Polizeigebäude gebracht. Dort untersuchten Ärzte, von weiblichen Hilfskräften assistiert, rigoros und ohne Rücksicht auf Verluste die aufgegriffene Weiblichkeit auf Geschlechtskrankheiten. Bei dieser Prozedur verlor Traudchen ihre Jungfräulichkeit, noch bevor sie ihr von Onkel Horst genommen werden konnte.
Der Winter 1946/47 war der bislang kälteste des 20. Jahrhunderts. Mitte November 1946 kam die erste große Kältewelle nach Berlin. Dass hohe Frosttemperaturen und Schneemassen bis in den März 1947 hinein so überdurchschnittlich kalte Winterlandschaften erzeugte, hatte keiner geahnt. In Britz fällte man die letzten Bäume und machte selbst vor den Obstbäumen nicht halt. Die Menschen waren so verzweifelt, dass sie mit der letzten Kraft, die sie noch aufbieten konnten, aus dem vereisten Boden sogar die Baumstümpfe herauszubrechen versuchten. Von den ehemals etwa 200tausend Bäumen im Tiergarten sind gerade noch ca. 700 stehengeblieben. Auch aus den Ruinen trug man Brennmaterial in Form von Balken und Brettern zusammen. Das waren durchaus gefährliche Unternehmungen. Die Ruinen waren fragile Hausreste, die durch Wind und Wetter ihre ohnehin schwache Standsicherheit weiter einbüßten, beziehungsweise plötzlich auch in sich zusammenfielen. Beim Herausziehen der Balken, durch Gewichtsverlagerung auf irgendwelchen Überständen oder einfach nur infolge einer Erschütterung gab es dabei auch Tote und Verletzte. Demgegenüber ungefährlich, aber anderweitig auch mit Schmerzen verbunden war es, entbehrliche Regale und Schränke zu verheizen. Wenn dieser Fundus nichts Brennbares mehr hergab, ging es ans Herz - dann wurde der Buchbestand nach verzichtbaren Titeln durchforstet. Dabei sank von Mal zu Mal die Schmerzgrenze, liebgewonnene Literatur dem Wunsch nach Wärme zu opfern. In Rolands Familie traf die Auswahl Onkel Robert. Diesem Bücherwurm waren seine großen Bücherschränke im „Berliner Zimmer” und in den anderen Räumlichkeiten der Wohnung schon vor dem Krieg zu groß geworden. Er hortete deswegen seine Bücher auf dem Giebeldach-Boden. Während der Kriegsjahre hatte er deswegen Ärger mit dem Luftschutzwart. Onkel Robert rettete deshalb seinen Bücherschatz stapelweise zwischen die Pflanzen im Gewächshaus auf dem Hof, wo sie der Feuchtigkeit Tribut zahlten. Bei Kriegsende kamen die Bücher deshalb sofort wieder auf den Dachboden. Der Buchbestand lichtete sich dort wider Willen schneller, als er es je erahnt hätte. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er im Zimmer lieber seinen Atem gefrieren lassen, als seine Bücher brennen zu sehen, um nicht vor Kälte zu zittern. Es bedurften aber seine Mutter - Ur-Großoma Anna - sein Vater – Ur-Groß-Opa Georg - seine Ehefrau Herta, schwanger mit Tochter Christel, Rolands späterer Cousine, und, nicht ganz unwichtig, die Ladenkundschaft, der Wärme! Er litt wie ein geprügelter Hund. Apropos Hund, wenn in der einen oder anderen Familie der Hund oder die Katze die Kriegswirren (mit-)überlebt hatten, konnten sie kaum noch durchgefüttert werden. Folgerichtig waren solche Vierbeiner in der Stadt selten. Sie wurden entweder von ihren Haltern, oder schlimmer noch, von darauf spezialisierten Einfängern, durch Schlachtung dem Überlebenswillen der Menschen geopfert. Trefflich und pietätvoll sprachen die Berliner bei Tisch im Angesicht angerichteter Katzen beim Verzehr von "Dachhasen".
Opa Rudolf bekam im schlimmsten Kälte-Monat, und das war der Januar 1947, wieder ein CARE-Paket von seinem Freund Dr. Levi, der Stoffe und Decken schickte. Nach den schlimmen Wintermonaten war aber die Not noch nicht vorbei. Die Schäden an der vor dem Winter gerade wieder etwas in Gang gekommenen Infrastruktur der Ver- und Entsorgung mussten erneut überwunden werden. Straßen- und sonstigen Bahnen fuhren in unregelmäßigen Abständen. Durch die lang anhaltenden sehr frostigen Temperaturen waren die meisten mehrjährigen Pflanzen im Boden erfroren. Eingelagerte Saatkartoffeln waren größtenteils unbrauchbar.
Bei Beobachtung der Freiheiten, wie sie Onkel Horst genießen durfte, und wie sie Opa Rudolf andererseits gegenüber Mutter Margot an den Tag legte, war deren Auszug aus der Britzer Wohnung absehbar. Sie zog mit Roland in den Ostsektor nach Friedrichshagen zu ihrem Jugendfreund, dem Grundmann-Bruder Alfred. Durch Scheidung und erneute Heirat wurde diese Neuorientierung zum Jahreswechsel 1946/47 legalisiert. Grundmann Bruder Alfred fand kurz darauf ein Zuhause für seine neue Familie – eine Zwei-Zimmerwohnung zur Miete in Berlin Friedrichshagen, direkt am Wasser gelegen. In der Nachbarschaft zur Rechten befand sich ein Segelverein mit Werkstatt und Vereinskneipe und zur Linken der Anlegesteg einer Dampfschifffahrtunternehmung. Der kleine Dampfer schipperte Pendler und Ausflügler zu den Ausflugslokalen am Müggelsee bis nach Neu-Helgoland und zurück. Das Spielparadies für Roland war perfekt. Mutter Margots Auszug aus der elterlichen Wohnung bedeutete hingegen für Opa Rudolf und Oma Else, dass ihnen nunmehr eine Untermieterin zugewiesen wurde. Hierbei handelte es sich um eine Kriegswitwe namens Clawitter aus Schlesien. Die Witwe verdiente sich ein paar Mark durch das Kochen von Sirup und Kohlsuppe. Aus Mutter Margots ehemaligem Zimmer kam infolge dieser Kocherei ein Geruch, der aufdringlich durch Wohnung und Hausflur zog.
Im Frühjahr 1947 wurde Opa Rudolf zum Bezirksobmann gewählt. Hierbei handelte es sich zwar um ein Ehrenamt, aber ein Besucher- bzw. Arbeitszimmer wurde ihm dennoch zugestanden. Somit fand das kurze Koch-Intermezzo in der Etage sein Ende.
Opa Rudolfs Geschäfte liefen gedeihlich. Ein sehr nachgefragter Artikel war der Tabaksamen. Den verkaufte er in Mengen (1000 Tabaksamenkörner wiegen 0,1 Gramm), kaufte aber für manufakturelle Kleinstfertigung für den Eigenbedarf und Freunde der Skatrunde die geernteten Tabakblätter wieder zurück. Diese Tabakblätter wurden zum Trocknen auf Schnüre gezogen und quer durch den Laden aufgehängt. Die verschiedenen Samen, besonders aber die Tabakblätter, ergaben zusammen einen einzigartigen Duft im gesamten Laden. Ladenbesucher und Kunden honorierten diesen Geruch durch tiefes Durchatmen. Die getrockneten Tabakblätter wurden fermentiert, entrippt und geschnitten. Opa Rudolf rauchte selbstgefertigte Zigarren. Mit der Produktionskette Tabak kam Opa Rudolf deswegen so gut klar, weil er über das Wissen der Rohstoffbehandlung sowie über die Fertigungstechnik verfügte. Besonders die Rezeptur der erforderlichen Fermentiermittel für die Tabakblätter erbrachte so etwas wie einen typischen Geschmack. Das Wickeln, Rollen und Pressen der Zigarren machte aus ihm keineswegs einen autarken Zigarren-Produzenten. Selbst baute er nämlich auf seiner Gartenfläche keinen Tabak an. Andernfalls hätte er auch gleich auf dem Grundstück schlafen müssen. Erntereife Tabakblätter waren begehrtes Diebesgut. Oft waren bei der Ernte die Diebe schneller als die Züchter Das gleiche galt übrigens auch für Kartoffeln. Die Kunden von Opa Rudolf, sofern sie überhaupt über einen Garten verfügten, bauten aus Angst und Vorsicht vor Verlust in den wenigsten Fällen ihren Tabak in den Gärten an. Tabak, Kartoffeln, Tomaten und andere Nutzpflanzen wurden in Balkonkästen oder in eigens für ihre Aufzucht hergestellten Kisten auf dem Balkon oder im übrigen Wohnungsbereich herangezogen.
Roland wohnte nun mit seiner Mutter bei Grundmann-Bruder Alfred. Die Bewältigung des Winters 1946/47 gestaltete sich im Ostberliner Bezirk Friedrichshagen nicht anders als im amerikanisch besetzten Britz. In den rund um Rolands Wohnhaus liegenden kleinen Wäldchen war es bei Strafe durch die russische Kommandantur verboten, von den letzten Bäumen Äste abzusägen. Gefällt werden durften sie schon gar nicht. Mutter Margot fuhr mit Roland in Richtung Erkner. In den dortigen Wäldern sammelten sie Kienäpfel, die etwa fünf bis zehn Zentimeter großen Zapfen der Waldkiefer. Ein großer Rucksack und eine Tasche waren stets ihr Gepäck, und ein weiterer kleiner Rucksack befand sich auf Rolands Schultern. Nicht nur über die Hilfe beim Tragen der Kienäpfel hat er zur Beheizung der Dachwohnung beigetragen.
In Richtung Friedrichshagen-Markt führte eine Straßenbahnlinie an Rolands Wohnhaus vorbei. Daneben verlief eine mit Granit-Kopfstein befestigte Straße. Über diese Straße transportierten die Sowjets auf Fuhrwerken, die meist noch einen zusätzlichen Anhänger hatten und mit Pferden bespannt oder von einem Traktor gezogen wurden, Kohle in ihre Garnison. Roland lief mit den Jungen aus der Nachbarschaft neben den Fuhrwerken her, und sie versuchten – meist besonders erfolgreich, wenn es sich um ein Pferdegespann handelte – mit langen Stöcken in die hoch geladenen Kohle zu stochern, damit seitwärts die Stücke herunterfielen. Das ging bestenfalls über eine Strecke von fast hundert Metern. Dann galt es, schnell die Beute zu sichern, bevor vorbeikommende Erwachsene die Kohle aufsammeln konnten. Die sowjetischen Soldaten waren nicht von Hause aus kinderfeindlich, aber durch Geschrei, Drohungen mit dem Trommelgewehr und Peitschenhiebe verteidigen sie ihre Ladung. Wohl aus diesem Grund saßen manchmal gleich zwei Soldaten auf dem Fahrbock. Die verfeinerte Methode, Kohle von den Wagen direkt in ihrer Klaustrecke fallenzulassen, sah so aus:
Die älteren Jungen hievten Roland als den Kleinsten auf den Wagen. Der größte und kräftigste Klaukamerad nahm ihn auf die Schultern und rannte von hinten, außerhalb des Sichtbereichs des Fahrers, an den letzten Wagen heran. Roland zog sich über den Wagenrand und stieß sich über die Schulter seines Trägers nach oben ab. Jetzt musste er ganz schnell mit Händen und Füßen die Kohle über den Rand schieben. Wenn ihn die meist betrunkenen Ivans erblickt hatten, reagierten sie mitunter, als stünden sie unter Feindangriff. Durch abruptes Bremsen und Beschleunigen des Traktors versuchten sie Roland vom Wagen zu schütteln. Bei einem Pferdegespann traf ihn einmal eine Peitsche voll am Bein. Er verlor das Gleichgewicht und wäre beinahe auf das Pflaster der Fahrbahnseite gestürzt.
Geistesgegenwärtig sprang er einen nebenherlaufenden Klaukameraden an. Der federte den Fall ab. Kontrolliert ging sein Abgang von oben so vonstatten wie der Sprung auf's Bett. Er sprang in die ausgestreckten Arme der eng zusammenstehenden Mitstreiter auf der Bürgersteigseite, deren Körper ihm die Matratze bildeten. So fielen dann alle durcheinander und trollten sich unverletzt in Richtung der auf der Fahrbahn verstreuten Kohlestücke. Die Aufteilung der Beute war nicht gerecht. Das begriff Roland aber erst später. Er war erst einmal mit dem Lob zufrieden, welches er von den Großen hörte. Als Beuteanteil bekam er nur ein oder zwei Kohlestücke. Das war immerhin schon etwas, und Mutter Margot und Grundmann-Bruder Alfred freuten sich über seine Mitbringsel. Roland erklärte die Gaben zu gesammelten Fundstücken vom Straßenrand, selbst wenn sich diese im Laufe der Zeit bis zu mehreren vollen Eimern steigerten. Die Kohlenklau-Aktionen unternahmen die Jungs ziemlich regelmäßig, und zwar mit zunehmender Raffinesse. So hielten sie Steine am Straßenrand bereit, die sie vor die rollenden Räder schoben. Beim Überrollen wurde das Gefährt dermaßen durchgerüttelt, dass die Kohlenstücke nur so herunterkullerten. Irgendwann reklamierte Roland dann gegenüber seinen größeren Klaukameraden die ungerechte Aufteilung und forderte von nun an, nicht mehr auf den Wagen klettern zu wollen, sondern wie sie ja auch, nur noch die Kohle aufzusammeln. Ob das den Ausschlag gab oder nicht - auf jeden Fall wurde im Verlaufe der Klauaktionen die Beute gerechter aufgeteilt.
Roland hatte in dieser Zeit noch eine weitere ertragreiche Unternehmung.
Der gesamte Spree-Verlauf an der Hahnsmühle wimmelte von Krebsen. Dass man Krebse essen konnte, und wie sie schmeckten, hatte er von Grundmann-Bruder Alfred erfahren. Wenn sie nämlich mit der Segeljolle abends ins Schilf glitten, um in Ufernähe zu kampieren, hatte dieser oft zum Abendessen ein paar Krebse gefangen. Die Krebse wurden dann in das über offenem Feuer kochende Flusswasser geworfen. Nach wenigen Minuten waren sie knallrot, also gar. Hinter dem Kopfpanzer wurden sie gebrochen und auseinandergezogen. Danach puhlte man den essbaren Teil, Schwanz und Scheren, aus der Chinin-Panzerung und zusammen mit Kartoffeln, Brot oder Nudeln war die Mahlzeit fertig. Krebse wurden von den Anglern, die an den Uferböschungen saßen und Köder auswarfen, nicht beachtet. Krebse zu fangen war ja auch eher etwas für flinke Jäger. In der Segler-Vereinskneipe neben dem Haus hatte Roland beobachtet, dass Krebse, die zum gelegentlichen Angebot des Wirtes gehörten, von den Seglern geschätzte Leckerbissen waren. Um Fassbrause trinken zu können so viel er wollte, musste er Krebse fangen, das war seine Idee. Er fing an im klassischen Stil zu jagen, so wie er es bei Grundmann-Bruder Alfred gesehen hatte. Ein ca. ein Meter langer Stock war auf etwa zehn Zentimeter an der einen Seite eingeschnitten und am Ende des Schnittes durch einen quer eingelegten Zweig, der als Spaltkeil diente, begrenzt. Der sich am unteren Ende des Zweiges ergebende Zwischenraum war breit genug, um über den Panzer des Krebses gedrückt zu werden. War der Krebs in den Schenkeln des breit gestellten Keils eingeklemmt, konnte er aus dem Wasser gehoben werden. Weil sich die Krebse das aber nicht so einfach gefallen ließen und durch Zusammenkrümmen und katapultartiges Zurückschnellen ihres Schwanzes in größeren Sprüngen flüchteten, stellte Roland auf Handergreifung um. Diese Methode war auch nicht erfolgreicher, weil wie zuvor immer nur ein Krebs beobachtet und gefangen werden konnte. Im Schlamm setzte Roland Fuß vor Fuß, dabei den Krebs und seine erwartete Fluchtrichtung im Blick. Das Aufwühlen des Schlamms war das Ergebnis jeder Attacke. Andere Krebse schreckten hoch und waren dann, nicht mehr in ihrer Ruhestellung, nur schwer zu fangen.
Roland kam also auf die Idee, die Krebsjagd zu "industrialisieren". Es gab Bausteine aus Ziegeln, die von zwei Röhren durchzogen waren. Von diesen Ziegelsteinen legte er unter den Bootsstegen immer zwei Steine übereinander und einige nebeneinander. Die Steine griff er dann später so, dass er mit den Händen beide Enden abdeckte. So hob er Stein für Stein aus dem Wasser, und schüttete sie auf dem Steg aus. Manchmal kamen gleich zwei Krebse aus einem Stein. Es dauerte nicht lange, bis er einen 5-Liter-Eimer mit Krebsen gefüllt hatte. Diese Jagdbeute präsentierte Roland dem Kneipenwirt und nahm neben Lob und Dank ein, zwei oder drei große Glas Fassbrause entgegen. Für den familiären Krebs-Eigenverzehr sorgte er auch vor. Er aß damals wohl zu viele Krebse, sodass er in späteren Jahren keine mehr essen mochte. So ging es ihm auch mit Krabben und Garnelen. Eine Szene in Verbindung zu der Krebsjagd war ihm noch im neuen Jahrtausend im Gedächtnis.
Es war Frühjahr, letzte Eisschollen spiegelten sich wie schwimmende Glasscherben, wenn Wellen das Wasser bewegten. Mutter Margot wollte mit ihm die Verwandten in Westberlin besuchen. Roland freute sich seit Tagen auf diesen Ausflug und war schon frühzeitig komplett, fertig angezogen und gestriegelt. Besonders stolz war er auf seine neuen schwarzen, halbhohen Lederschuhe, die Mutter Margot mit ihm tags zuvor auf Bezugsschein im Laden abgeholt hatte. Auch seine ständige Tageshose, eine Art von Trainingshose, war gegen eine neue, gebügelte, lange schwarze Hose ausgetauscht worden. Bei Mutter Margot dauerte die Reisevorbereitung noch an. Was lag da näher, als sich eventuell anzutreffenden Nachbarn oder Spielkameraden im neuen Staat zu zeigen. Er ging also mit Mutter Margots Genehmigung vor, hinunter vor die Tür. Niemand nahm von ihm Notiz. Na, wenn schon keiner da war, dann interessierten ihn eben die Krebse seiner Kolonie. Gedacht, getan, er also auf den Bootssteg. Auf dem Bauch liegend beugte er sich vor, um in den Röhren nach Krebsen Ausschau zu halten. Dann passierte es. Er verlor das Gleichgewicht und plumpste ins kalte Wasser. Sofort war er wieder auf dem Steg. Er war sich der Reaktion seiner Mutter sicher, wenn die das Malheur wahrnehmen sollte. Die beste Möglichkeit, ihrem zu erwartenden Wutanfall zu entgehen, sah er darin, ihr die Nässe zu verschweigen. So gut er konnte, wrang er das Wasser aus und kniff die Bügelfalte in Fasson. Mutter trat aus dem Haus:
„Wir sind spät dran, aber die Straßenbahn kommt ja gleich.“
Vor ihm stehend erkannte sie sofort, was mit Rolands Kleidung passiert war. Seine Hose dampfte und Mutter Margot konnte ihm ansehen, dass es ihm kalt, bitterkalt war. Wie erwartet gab es ein Riesengeschrei und Backpfeifen links, rechts. Roland hatte ihr die Freude genommen, mit ihm an der Hand in Straßen- und S-Bahn und natürlich vor den Verwandten ein bisschen Eindruck zu machen. Rückmarsch nach oben! Schuhe und Strümpfe ausziehen, Hosen, Unterhosen runter. Strafkleidung waren jetzt Leibchen und dicke Strümpfe. Leibchen, das war ein um die Hüften geknöpfter Latz, der von Mädchen und Jungen gleichermaßen zwischen Unterhemd und Hemd getragen wurde. An ihm befanden sich Strumpfhalter, wie man sie heute als "Strapse" an Frauenkleidern bezeichnet. Am Ende der baumelnden Gummibänder befanden sich Ösen mit Knöpfen. Der Strumpf wurde straff über die Knöpfe hochgezogen, darüber gelegt und mit jeweils zwei Ösen fixiert. Über die dicken braunen Strümpfe kam eine gebügelte kurze Hose, und an die Stelle der neuen Schuhe traten die alten Schnürschuhe. Die nasse Hose und die neuen Schuhe wurden eingepackt und mitgenommen. So trafen sie dann tatsächlich als die letzten Gäste bei den Ur-Großeltern ein. Anlass für die feierliche Veranstaltung, zu der sich die ganze Familie eingefunden hatte, war die Heimkehr des zweiten Sohns vom Ur-Großvater aus russischer Kriegsgefangenschaft. Onkel Gerhardt war zwar kränklich und unterernährt, aber ansonsten unversehrt.
Für Rolands Verwandtschaft mütterlicherseits ergab sich so knapp zwei Jahre nach Ende des Krieges ein Blutzoll von nur einem Mitglied. Dabei handelte es sich um den noch als vermisst geltenden Bruder von Opa Rudolf, Onkel Ernst.
Die „Samenhandlung Beist“, seit Kriegsende von der Ur-Großmutter zusammen mit Onkel Robert geführt, sollten fortan Onkel Robert und Onkel Gerhardt gemeinsam führen. Ur-Opa Georg lag schon seit einigen Wochen mit einer Lungenentzündung im Bett, wo sich sein Gesundheitszustand immer weiter verschlechterte. Er ist von der Krankheit nicht mehr genesen. Sein Sohn, Onkel Robert, hatte inzwischen Herta, eine rotblonde, grünäugige, dralle Frau mit gewaltigen Brüsten geheiratet. Auf diese konnte Roland blicken, als Herta die gerade geborene Tochter Christel stillte.
Herta war als Flüchtling in den Kriegsjahren aus Ostpreußen nach Berlin gekommen und hatte in Ur-Großvaters Samenhandlung Anstellung gefunden. Der Anblick von Hertas Brüsten fiel in die Zeit, als Roland zählen und lesen lernte. Wohl jedes Kind erlernte 1946/47 das Zählen anhand der Kinderfibel „Zehn kleine Negerlein“. Diese aus buntem Karton bestehende Fibel beschrieb in einem Singsang die Geschichte von zehn kleinen Negerlein, deren Bestand durch einen mehr oder weniger lustigen Schicksalsschlag jeweils um eins von zehn bis Null abnahm. Zählen konnte Roland zwar schon, aber ihm diente das Buch als Vorlage für Leseversuche. Da sprangen also zehn, nur mit einem Blätterschurz um die Hüften bekleidete Negerlein durch den Wald und spazierten über einen umgefallenen Baum, der als Überbrückung eines Baches diente. Beeindruckend bei den weiblichen Negerlein waren die dreieckigen, nackten Brüste. Er zeigte Mutter Margot seine Favoritin und erklärte, dass später einmal seine Frau genau so aussehen müsse. Das geschah zu jener Zeit, als sich bei ihm, wenn er sich auf dem Bauch liegend schupperte, ein wohliges Jucken bemerkbar machte.
Durch die Heirat von Mutter Margot mit Grundmann-Bruder Alfred hatte Roland väterlicherseits sozusagen eine Oma hinzubekommen. Oma Berta war eine Kriegswitwe. Ihr Mann war in den letzten Kriegstagen beim Schanzen mit dem Volkssturm von einem russischen Scharfschützen erschossen worden. Sie lebte im Seitenflügel einer hufeisenförmigen Hofbebauung in Berlin-Friedrichshagen. Hier gab es Hühner und Kaninchen, die sie gut bewachte. Oma Berta kochte alles ein, was an Obst und Gemüse auf ihrer etwa 800 m’ großen Scholle wuchs. Ihr größtes Problem bestand jedoch darin, dass sie nicht immer genügend leere Einweckgläser oder keine Gummiringe vorrätig hatte, um dem Einkochen nachzukommen. Roland war ihr immer ein guter Abnehmer. Ihre Natur-Eierkuchen mit wenig Mehl sind ihm als besonders lecker in Erinnerung geblieben.
Von ihren fünf Söhnen waren drei im Krieg gefallen. Der jüngste, Grundmann-Bruder Alfred, und der zweitälteste, Grundmann-Bruder Kurt, der sich noch in russischer Gefangenschaft befand, gaben ihr Hoffnung auf einen Lebensabend in Gemeinschaft. Ab 1947 gab es Briefkontakt mit ihrem Sohn Kurt. Als vom Schulgeld befreites Kind hatte der als einziger ihrer Söhne wegen besonders guter schulischer Leistungen das Gymnasium in Berlin Friedrichshagen absolvieren dürfen. Als Oberleutnant geriet er bei den Rückzugs-Kämpfen in der Ukraine in Gefangenschaft. Dem Grundmann-Bruder Kurt war Margot bereits damals in der Jugendgruppe besonders zugetan. Mit der Gefangenenpost, die Mutter Margot für Oma Berta und Grundmann-Bruder und Ehemann Alfred zu führen übernahm, flammte die Schwärmerei von damals wieder auf. Grundmann-Bruder Kurt hatte wohl einiges im Krieg erlebt und gesehen. Er kehrte im Frühjahr 1948, nunmehr 33-jährig, als ein von den Sowjets zum Kommunisten umerzogener Mann in sein in Trümmern liegendes Berlin zurück.
Die Wochenendausflüge an den Müggelsee wurden neuerdings gemeinsam mit Onkel Horst und Traudchen, Onkel Gerhardt mit Frau Ilse, Grundmann-Bruder Alfred, Mutter Margot sowie Grundmann-Bruder Kurt unternommen. Der am häufigsten aufgesuchte Anlegeplatz für die Ausflugstruppe lag in der Nähe zur Badestelle Müggelsee-Teppich. Den Ausflüglern blieb nicht verborgen, dass sich zwischen Grundmann-Bruder Kurt und Mutter Margot etwas anzubahnen begann.
Am 23. Juni 1948 gab es in den West-Sektoren von Berlin die Währungsunion, und am 26. Juni 1948 begann die Blockade West-Berlins durch die Sowjets. Zwei Tage später begannen die West-Alliierten die Versorgung der eigenen Truppen aus der Luft. Diese ging in die Vollversorgung der Bewohner ihrer Sektoren über. Als "Luftbrücke" ging diese Unternehmung in die Geschichte ein, derzufolge es gelang in einer nie dagewesenen Aktion über zwei Millionen Menschen aus der Luft am Leben zu halten.
An der kargen Versorgung der Bevölkerung in den Ost-Berliner Bezirken änderte sich während der Blockade nichts, die weitere Versorgung schien allgemein gesichert. Vielmehr versuchte der Ost-Berliner Magistrat, die Bevölkerung West-Berlins damit zu locken, ihre Grundversorgung von Lebensmitteln und Brennstoffen aus Ost-Berlin zu sichern. Dazu hätten sich die Westberliner im Ostteil anmelden müssen. Moskau hat so versucht, dem weltweit erhobenen Vorwurf zu begegnen, es wolle die Menschen in Westberlin aushungern. Selbst im Angesicht des täglichen Bildes hungernder Familienangehöriger schlug die Bevölkerung West-Berlins aus Angst, so in den Einzugsbereich der Sowjets zu gelangen, überwiegend diese Verlockung aus. Die alte Losung „Lieber tot als rot“ erlebte Renaissance. Gerade einmal hunderttausend Westberliner haben bis März 1949 die "sowjetische Großzügigkeit" genutzt. Die Versorgungslage wurde von Woche zu Woche angespannter. Besonders der vorangegangene Winter, in dem viele Bürger in den Wohnungen verhungert und erfroren waren, ließ am Erfolg der „Luftbrücke“ zweifeln. Oma Else sagte einmal, wenn sie die CARE.- Pakete nicht erhalten hätten, wären sie entweder nicht durch den Hungerwinter 1946/47 oder nicht durch die Blockadezeit 1948/49 gekommen.
In acht Monaten Blockadezeit wandelte sich das Ansehen der Westalliierten bei den Berlinern von Siegern über Besatzer bis hin zu befreundeten Schutzmächten. Dazu trugen beispielsweise abertausende meterhohe Bäume bei, die zu den eingeflogenen Gütern zählten. Selbige wurden im Tiergarten gepflanzt und knüpften an die Idylle der Deutschen an, in der Bäume und Wald ihre romantische Überhöhung hatten.
In der Blockadezeit machte sich Mutter Margot oft mit Roland auf den Weg, um Eier, Kaninchenfleisch und Eingemachtes von Oma Berta aus Friedrichshagen nach Britz zu schaffen. Das war nicht ohne Risiko, denn die Kontrollen in der S-Bahn durch die unter kommunistischer Aufsicht Ostberlins stehende Bahn-Polizei (VOPO) dienten besonders dem Ziel, das Transportieren der Verpflegung von Ost nach West zu unterbinden.
Auch die Bevölkerung in Ost-Berlin hatte Angst vor einem Rückzug der West-Alliierten aus Berlin. Die Vorbehalte, oft bis zum Hass gegenüber den Sowjets gesteigert, hatten die Bewohner in ganz Berlin verinnerlicht. Diese Einstellung war auch bei Mutter Margot verständlicherweise tief verankert. Sie ging mit Roland auf der Hauptstraße von Friedrichshagen immer beim selben Bäcker einkaufen. Für den war das stets ein spannendes Erlebnis.
Vor dem Bedienungstresen befand sich ein im Terrazzo-Fußboden eingelassener Fußabtreter aus längs verlaufenden Holzstreben. Die Bäckersfrau kannte Oma Berta, und der freundschaftliche Kontakt zwischen den beiden Frauen ging auf Mutter Margot, vor allem aber auf Roland über. So durfte der vor den Augen aller Kunden immer versuchen, mit seinen kleinen Fingern die zwischen den Rost des engen Gitters gefallenen Schnipsel von Lebensmittelkartenabschnitten herauszufriemeln. Wenn es ihm gelang, bekam er von der Bäckersfrau prompt ein kleines Stück Kuchenrand.
Einmal, sie hatten gerade den Einkauf erledigt und warteten auf die Straßenbahn, bekam er den Stolz von Mutter Margot und ihre Wut auf die Sowjet-Russen schmerzlich zu spüren.
Mutter Margot stand mit anderen deutschen Frauen, ihn an der Hand, auf dem Bürgersteig und wartete auf die Straßenbahn. Neben den Schienen gab es zwischen der Fahrbahn und dem Bürgersteig eine Verkehrsinsel. Auf der Verkehrsinsel stand eine Gruppe wohl alkoholisierter „Russenweiber“, zu der sich die deutschen Frauen nicht stellen wollten. Die auffälligen Weibsbilder warfen mehrere Geldmünzen auf die Fahrbahn in Richtung der deutschen Frauen, die auf dem Bürgersteig standen. Nur zu gern hätten die Siegerfrauen beobachtet, wie sich die deutschen Frauen zu ihren Füßen um die Münzen balgen. Roland war schnell, sammelte die Münzen auf und streckte sie stolz, in freudiger Erwartung ihres Lobes, der Mutter entgegen. Es kam kein Lob, sondern unerwartet eine klatschende Backpfeife. Mutter Margot nahm das Geld und warf die Münzen in Richtung der Russinnen auf die Fahrbahn zurück. Keine andere Frau ging vor, um die Münzen erneut aufzusammeln. Als die Straßenbahn kam, warteten die deutschen Frauen, bis die Russinnen eingestiegen waren, um dann in den anderen Wagen zu gelangen, wo sie weiter unter sich blieben.
Bei Rolands damaliger Erziehung spielte die Angst vor den Russen ebenfalls eine Rolle. Manches Mal spielte er irgendwo im Freien und musste austreten. Für die Geschäftserledigung extra bis nach Hause und dann noch drei Etagen hinauf zu laufen, lag ihm fern. Der Weg nach Hause zur Toilette war womöglich länger, als dass der zunehmende Druck von ihm noch hätte ertragen werden können. In solchen Situationen suchte er ein uneinsehbares Plätzchen in Gottes freier Natur Dort wischte er sich mit einem Blatt den Allerwertesten ab. Da blieb dann schon mal ein bisschen „brown-color“ in der Unterhose. Die Reaktion von Mutter Margot war die Drohung:
“Wenn du das so weitermachst, gebe ich dich bei den Russen ab.“
Beim Besuch der Großeltern in Britz ging Opa Rudolf mit Roland auch auf den Friedhof in der Neuköllner Hermannstraße bis an dessen Ende. Ein Maschendrahtzaun trennte den Friedhof vom Flughafen Tempelhof. Ganz niedrig flogen die DC-3-Blockade-Transportflugzeuge der Amerikaner über sie hinweg. Kaum war eine Maschine gelandet und rollte aus, war schon das nächste Flugzeug über ihnen. Roland konnte die Besatzungen unmittelbar sehen.
Zwischen den Gräbern jagten Zuschauer, ob jung oder alt, den manchmal herabsegelnden kleinen Fallschirmen hinterher, an denen Schokolade, Bonbons oder Kaugummis hingen. Die Amerikaner waren für sie die Größten.
Am Geburtstag von Onkel Horst, dem 12. Mai 1949, war die Blockade der Russen gescheitert. Die Flugzeuge der Alliierten flogen aber noch bis Ende September mit vollem Einsatz, um Vorräte anzulegen. Damit sollte dem nächsten Winter vorgesorgt werden, denn Sicherheit vor neuen Schikanen durch die Kommunisten gab es keine.
Die Westberliner atmeten auf. Die Ostberliner fühlten überwiegend mit ihnen, aber so glücklich wie die Westberliner waren sie nicht. Im sowjetischen Sektor hatte sich zwar nichts geändert, aber es gab zwei Währungen in der Stadt. In West-Berlin gab es auf einmal alles zu kaufen. Der Währungswert zwischen der Ostmark und der Westmark differierte stark. Jetzt wurde nicht mehr Ware gegen Ware getauscht, sondern nur noch mit Geld für Ware bezahlt. Das wurde natürlich von der Bevölkerung in Ost-Berlin als klare Benachteiligung empfunden. Es gab zwar alles zu kaufen, aber eben nur in Westberlin. Die erste Wechselstube in Westberlin verkaufte eine Deutsche Mark im Juli 1948 für 2,20 Ostmark. Schnell stieg der Kurs von West zu Ost von 1: 3, auf 1: 5 bis 1: 8. Normal verdienende Bürger aus Ostberlin konnten nicht regelmäßig in Westberlin einkaufen. Rolands Ur-Großeltern und Großeltern aber schütteten nach den vorangegangenen Notjahren das ganze Füllhorn der neuen Möglichkeiten über ihm aus.
Am 1. September 1949 wurde Roland bei schönem Wetter eingeschult. Er bekam gleich drei große Schultüten. Fotografiert werden konnte er aber nur mit Zweien, und so musste eine der Schultüten immer abwechselnd von einer der Omas gehalten werden. Er hatte einen prächtigen und gleichermaßen robusten Schulranzen bekommen. Der stammte von Opa Rudolf und war aus hellbraunem Rindsleder. Federtasche für Bleistifte, Federhalter, Buntstifte und Radiergummi sowie Hefte, Malblock, Knete, Schulkreide, Schiefertafel mit Schwamm - alles war neu. Die Einschulung war, vom Beschenktwerden her betrachtet, wie Weihnachten im Sommer. In den Schultüten befanden sich Süßigkeiten, Murmeln und Bucker. Murmeln waren glasierte Tonkugeln. Bucker waren runde Glaskugeln, größer als die Murmeln. Schule ist schön, und so war sie es auch für Roland in der ersten Klasse. Der Schulbetrieb war zweischichtig. Der Unterricht fand zwei Wochen lang vormittags und darauf zwei Wochen am Nachmittag statt. Sein Schulweg dauerte zu Fuß etwa 15 Minuten und führte durch einen von zusammengerutschten Schützengräben durchzogenen ehemaligen Wald, wo jetzt ausgebrannte Autos und rostender Militärschrott lagen.
Die Grundmann-Brüder Alfred und Kurt hatten ihr Verhältnis zu Mutter Margot sortiert und unspektakulär geklärt. Die Ehe mit dem jüngeren Grundmann-Bruder Alfred wurde geschieden. Mutter Margot heiratete unmittelbar darauf, im Jahr 1950, den 10 Jahre älteren Grundmann-Bruder Kurt. Zu Grundmann-Bruder Alfred hatte Roland weiterhin Kontakt, und ab und zu segelte dieser mit ihm auf dem Müggelsee - so wie früher. Eine neue Oma bekam Roland nicht, denn Oma Berta war ja auch die Mutter von Grundmann-Bruder Kurt. Sein Nachname wurde auch nicht geändert. Einen gravierenden Unterschied gab es aber doch im neuen Familienkonstrukt. Die Paradigmen politischer Betrachtungsweisen änderten sich unter Grundmann-Bruder Kurt total. Die Deutschen wären nicht besiegt, sondern seien befreit. Die sowjetrussischen Soldaten waren von nun an heldenhafte Kämpfer. Sie hätten zusammen mit deutschen Antifaschisten und auch westlichen Alliierten Deutschland vom Hitler-Faschismus befreit. Den Befreiern, ganz besonders dem sowjetischen Führer Jossif Wissarijonnowitsch Dschugaschwili, genannt STALIN, dem größten Genius unserer Epoche, sei zu danken. Die ruhmreiche Sowjetunion hatte Stalin zum Führer und Deutschland Wilhelm PIECK als Präsidenten. Die deutschen Soldaten waren faschistische Verbrecher. Die Faschisten lebten heute im Westen. Unter der Führung der Kommunisten, angeführt durch die Klasse der Arbeiter und Bauern, werde der Sozialismus in ganz Deutschland siegen….
Die DDR hatte ab 1950 eine neue, eigene Nationalhymne, die den Aufbauwillen, die Friedenssehnsucht und das vereinte deutsche Vaterland im Text manifestierte. Ab 1972 durften die Bürger ihren Text nicht mehr singen, weil die Politik der DDR strikt gegen eine Wiedervereinigung ausgerichtet war und die Militarisierung Mitteldeutschlands als Bestandteil des „Warschauer Paktes“ den Friedenswillen konterkarierte.
Mutter Margot wurde Mitglied in der Organisation „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische-Freundschaft“ und Kandidatin der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED)“.