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Steppke in der Stadt zweier Welten

Vor dem Beginn seines zweiten Schuljahres zogen Margot und Grundmann-Bruder Kurt 1950 in den Bezirk Lichtenberg. In der Eduardstraße war ihnen in der dritten Etage eine nach Brandbombenschaden wieder aufgebaute Wohnung von zweieinhalb Zimmern mit Balkon, Küche, Toilette mit Bad und Ofenheizung, zugewiesen worden.

Das Wohnhaus war von Ruinen-Komplexen umgeben. In ihnen zu spielen war zwar verboten, aber die Neugier, unbekanntes Terrain zu erkunden, überwältigte Roland. Mit nicht immer nur leichtem Gruseln wühlte er sich mit den neuen Spielkameraden durch die Kellerverliese. Meistens hatten sie eine Taschenlampe dabei. Selbst wenn die Batterie ihrem Ende nahe war oder die Birne aufgrund vergammelter Kontakte flimmerte, zwangen sie ihre Augen, in der Dunkelheit Orientierung zu finden. Sich gegenseitig Mut machend, tasteten und schlichen sie durch die feucht und muffig riechenden Katakomben. Die ehemaligen Hausluftschutzkeller waren untereinander verbunden, und so kamen sie erst mehrere Hausaufgänge weiter wieder an die Oberfläche. Wehe, wehe, wenn sie im Halbdunkel unerwartet auf einen Erwachsenen trafen. Dann rannten sie Hals über Kopf mit Mut machendem Gebrüll den Weg zurück. Danach versprachen sie sich zwischen Angst und Neugier einen erneuten Ausflug unter Tage. Brauchbares ist von ihnen aus den Erdgeschossen, Gewölberesten und Luftschutz-Kellernischen nicht zu Tage gebracht worden. Erwachsene wühlten zwischen den Trümmern nicht nur nach Hinterlassenschaften der ehemaligen Bewohner. Buntmetall zum Beispiel war so begehrt, dass von den Wühlern die Kartenhausstatik der bizarren Mauerfragmente oft überschätzt wurde. Es gibt keine Statistik über Verschüttete und/oder zerquetschte Gliedmaßen.

Zur Schule ging Roland nunmehr in Rummelsburg. Dies war ein riesiger Schulkomplex, bestehend aus Grundschule, Oberschule und Hilfsschule. Die neue Klasse war zusammengewürfelt. Als Jahrgangsschüler der zweiten Klasse traf er auf Sitzenbleiber voriger Jahrgänge. Rückgeführte Schüler aus der Hilfsschule waren auch noch da. Der morgendliche Spruch zum Unterrichtsbeginn lautete:

“Hände falten, Köpfchen senken und jetzt an Josef Wissajonnowitsch Stalin denken.“

Die Gemengelage von unterschiedlichen Altersstufen und sozialer Herkunft erforderte die Behauptung der eigenen Position. Die Rangstufe in der Klasse wurde in den großen Pausen zwischen Unterrichtsstunden oder vor dem Nachhausegehen bis aufs Blut auf dem Schulhof ausgetragen. Roland war ein sprachgewandter Steppke, der über Worte versuchte, einer Prügelei auszuweichen. Gerade seine spitzzüngige Klappe ließ seine Kontrahenten oft zuschlagen, weil sie das für kürzer und überzeugender hielten. Roland wich solchem Händel nicht aus, auch wenn dem äußeren Anschein nach die Sache für ihn nicht zum Besten schien. Der Mut, es dennoch anzugehen, wurde von Mitschülern anerkannt. Ein oder zwei Jahre Altersunterschied konnte er durch Geschicklichkeit und Mut nicht immer ausgleichen. Es galt so etwas wie ein Verhaltenskodex. Gekämpft wurde Einer gegen Einen, ohne Schlagring oder Messer. Wenn einer blutete oder am Boden liegen blieb, wurde nicht mehr nachgetreten. Der Kampf war entschieden. Unterlag Roland im Kampf, knüpfte er Allianzen, wie z.B. die ganz allgemeine Zusage fürs Abschreiben. Andere Privilegien, zum Beispiel Süßigkeiten verteilen, standen ihm nicht zur Verfügung.

Unter seinen Spielkameraden wurde einer „Galle“ genannt. Galle war der Sohn des aus Vorkriegsjahren in Berlin bekannten 6-Tage-Rennradfahrers Gallinke. Galle hatte einen festen Stand in der Hierarchie der Kämpfenden. Nicht, dass er von besonderer Größe und von vor Kraft strotzender Figur gewesen wäre. Er kämpfte nach dem Motto: Weniger ist mehr!

Plötzlich krümmte sich der Gegner oder fiel zusammen. Galle wusste, wo er genau zu treffen hatte, und er wusste, nach welcher Finte er treffsicher beim Gegner würde einschlagen können. Das hatte ihm sein Vater beigebracht. Im Krieg war Galles Vater Fallschirmjäger gewesen und als solcher vielfach dekoriert. Er hielt sich sportbegeistert körperlich fit. In Galles langem Wohnungsflur hing an der Decke ein gefüllter Leinen-Sandsack. An dem boxte er mit Sohn Galle mit echten Boxhandschuhen. Vor dem Boxsack hatte Galles Vater hier eine Schaukel platziert, die vom Sohn so beherrscht wurde, das er sich mit den Füßen von der Decke abstoßen konnte. Galle war inzwischen der Schaukelei entwachsen, und so kam der Sandsack an die Flurdecke.

Galle und Roland waren die Bestimmer des Jungentrupps im Wohngebiet. Galles Vater fand Roland zu seinem Sohnemann passend. Als ihm die beiden Steppkes Rolands Probleme auf dem Schulhof schilderten war klar: Roland wird trainiert. Beide Galles führten Roland in die Anatomie des menschlichen Körpers ein.

Leber- Leberhaken, anatomisch gesehen ist die Leber zum größten Teil von den Rippen abgedeckt. Nur unten rechts, beim Gegenüber gesehen also links, lugt ein kleiner Ausläufer von ihr vor. Den treffen, und die Leber zieht sich unter großem Schmerz zusammen - die Sache ist erledigt.

Der Solarplexus, ein begehrtes Objekt suchender Fäuste, befindet sich am Übergang von Brustkorb zur Magengrube. Ein Treffer raubt die Luft und "gut is".

Ein Kinnhaken als Aufwärtshaken, gerade oder schräg geschlagen, am besten aus kurzer Distanz ausgeführt, nimmt dem Hirn seinen Dienst. Die Galles übten mit Roland mitleidlos. Wenn der sich nach ihrer Vorstellung zu dämlich anstellte, musste er halt leiden. Sie zeigten, wie man den Gegner durch Finten täuscht.

„Bloß nicht das Prügeln des Gegners in Richtung Gesicht mitmachen. Arme hoch, schütze dich durch Deckung. Warte ab und hab einen Plan“, so lauteten Vater Galles Beschwörungen. Sich selbst vertrauend demonstrierte Roland die erlernte Technik. Das sprach sich herum. Manch unausweichlich scheinender Schlagabtausch kam so erst gar nicht mehr zu Stande. Roland profitierte bis ins Mannesalter von den Box-Einführungen bei den Galles. Er flatterte nie und nirgends – selbstsicher und kühlen Verstandes suchten seine Augen den Kontakt zu denen des Gegners….

Den familiären Besuch von Ost- nach Westberlin versuchte Grundmann-Bruder Kurt zu unterbinden. Umgekehrt fand der regelmäßige familiäre Kontakt von West- nach Ostberlin, wöchentlich immer mittwochs, durch Oma Else statt.

Opa Rudolf war die ideologische Voreingenommenheit seines neuen Schwiegersohns suspekt. Grundmann-Bruder Kurt war nicht der Funktionärstyp oder Agitator. Man sah es einfach an seiner Körpersprache, wenn er mit den Auffassungen seiner Gäste nicht einverstanden war. Er gab zu erkennen, dass er seiner Meinung Widersprechendes nicht hören wollte. Dem wollte sich Opa Rudolf nicht mehr aussetzen. Grundmann-Bruder Kurt wollte und durfte offiziell von der gutgemeinten Unterstützung durch die Westberliner Verwandten nichts wissen. Das betraf beispielsweise Oma Elses bunte Sammelbilder von Sanella oder Sarotti. Solche Serien-Sammelbilder hatten einen hohen Tauschwert auf dem Schulhof. Noch höher wurde Kaugummi bewertet. Kaugummi haben, Kaugummi kauen demonstrierte Überlegenheit und Wohlstand. Eltern von Rolands Klassenkameraden, die in Westberlin arbeiteten, bekamen einen Teil ihres Lohns in Westgeld und brachten neben all den anderen Dingen, die es in Ostberlin nicht zu kaufen gab, Kaugummis mit. Weil Grundmann-Bruder Kurt das schmatzende Kaugummikauen für westlich dekadent hielt, durfte Oma Else nicht liefern. So sehr Roland auch bettelte, sie tat es einfach nicht. Roland musste sich seine Kaugummis eintauschen. Zu Hause, wenn mit dem Erscheinen von Mutter oder Grundmann-Bruder Kurt zu rechnen war, klebte er seinen angefangenen Kaugummi zwischen seine Bleistifte und kaute tags darauf weiter. Mickymaus oder Comic-Western besaß Roland nicht. Hingegen hatten Mitschüler neue Hefte gelesen und unterhielten sich darüber. Roland konnte die Hefte nicht lesen, jedenfalls nicht sofort. Die Unterhaltungen fanden ohne ihn statt. Geschichten über Kriegsgeschehnisse, wie sie Schulkameraden in ihren Familien erzählt wurden, glaubte er eher als den grundsätzlich gegenteiligen Beschreibungen von Grundmann-Bruder Kurt. Dieser sprach nie über eigene Kriegserlebnisse. Mit Bewunderung sprachen die älteren Jungen von bekannten Kämpfern, zu denen sie Feldmarschall Rommel in Afrika, Kampfpiloten, Ritterkreuzträger mit Eichenlaub, Schwertern und Brillanten, Gallant und Rudel oder den U-Boot-Kommandant Prien zählten. Der Mut der deutschen Soldaten, sich der Übermacht ihrer Gegner bis zum Schluss zu erwehren, machte sie Roland und seinen Altersgenossen zu Helden.

Die Abenteuer des Karl May waren als Schundliteratur eingestuft und durften weder besessen noch ausgeliehen werden. Karl May befand sich in fast jedem Bücherschrank der Erwachsenen, weil er Bestandteil ihrer Jugendbibliotheken war. Das Verbot machte besonders neugierig und so wurden diese Bücher als Schätze untereinander geliehen. Mit der Entgegennahme eines solchen Buches übernahm Roland natürlich auch die Verantwortung für dessen Unversehrtheit bis zur Rückgabe. So war jede Ausleihe stets ein konspirativer Akt. Wie andere Altersgenossen auch las er mit der Taschenlampe unter der Bettdecke, wenn sich in der Wohnung Ruhe eingestellt hatte. Morgens legte er seinen jeweiligen Leseschatz in einen Hohlraum, der sich auftat, wenn er die unterste Schublade seines Schrankes herausnahm. Der Boden des Schrankes schloss durch Holzplatten ab. Über die Führungsschienen zog er die unterste Schublade völlig heraus, legte das Buch in den sich anbietenden Hohlraum und setzte die Schublade wieder ein.

Als Roland die erste oder zweite Rangstelle in der Klasse innehatte, wurde er zu den Geburtstagsfeiern der Mitschüler eingeladen. Auch zwischen solchen Anlässen wurde der Klassenhäuptling zu anderen Familien mit nach Hause genommen. Roland als Einzelkind folgte gerne diesen Einladungen, denn ihm fehlte die Spielgemeinschaft in der Wohnung. Er war ein sogenanntes Schlüsselkind. Schlüsselkinder trugen den Wohnungsschlüssel an einem Band um den Hals. Mutter Margot und Grundmann-Bruder Kurt waren berufstätig. Schlüsselkinder kamen nach Schulschluss in eine leere Wohnung. Wohl aus Lust, mehr in seiner Freizeit zu erleben, trat er, ohne vorher zu Hause zu fragen, eines Tages den “Jungen Pionieren“ bei. Der Gruß unter den Jungpionieren war: „Seid bereit“, der Widergruß lautete: „Immer bereit“. Von der Pionierleiterin bekam er ein blaues Halstuch geschenkt und ihm wurde gezeigt, wie er es zu knoten hatte. Mit dem umgebundenen Halstuch empfing er Grundmann-Bruder Kurt an der Wohnungstür. Der kaufte ihm tags darauf das weiße Jungpionier-Hemd mit dem aufgenähten Emblem auf dem Ärmel, die zur Uniform gehörende blaue kurze Pionier-Hose und weiße Kniestrümpfe. Die Organisation der „Jungen Pioniere“ hatte attraktive Angebote. Es gab kostenlose Kinokarten, Kindertheater-Karten und man unternahm Besichtigungen und Ausflüge. Als Jungpionier aus kommunistischem Funktionärs-Haushalt war er nicht in jeder Familie als Spielkamerad willkommen. Demzufolge reduzierten sich die häuslichen Einladungen.

Grundmann-Bruder Kurt arbeitete im Zentralkomitee der SED, dem höchsten Führungsgremium in der Sowjetzone. Diese nannte sich nach einem Gründungsakt am 7. Oktober 1949 jetzt Deutsche Demokratische Republik (DDR). Margot, die seit Mai 1950 in einem Verlag als Stenotypistin gearbeitet hatte, war seit August 1951 Schulsekretärin in Lichtenberg.

Beeindruckt und stolz war Roland auf Grundmann- Bruder Kurt, nachdem dieser ihn zusammen mit Mutter Margot zu einer Weihnachtsfeier mitgenommen hatte, bei der Staatspräsident Wilhelm Pieck zugegen war. Roland saß in Pionier-Uniform an einer langen Festtafel. Der Staatspräsident lief die gesamte Tischreihe ab. Vor Roland stehend, wurde von einem eilfertig im Weihnachtssack kramenden Angestellten “Das versteinerte Brot“ hervorgeholt. Dieses Märchenbuch schenkte ihm der Präsident. Das den anderen Pionieren zu erzählen war schon toll, aber über diesen Kreis hinaus kam kein größeres Interesse bei seinen Alterskameraden auf.

Oma Else war wieder zu Besuch und brachte in buntes Seiden-Papier gewickelte runde orangefarbene Früchte mit. Ihr Duft war fremdartig, aber interessant. Wie in einen Apfel biss Roland in die orangefarbene Kugel. Das war die erste Apfelsine seines Lebens. Als er Grundmann-Bruder Kurt fragte, warum es denn diese schöne Frucht nicht auch im HO-Laden zu kaufen gäbe, versuchte der ihm dies mit Übergangsschwierigkeiten zu erklären. Auch wenn Oma Else mal ganz schnell vorbeischauen musste, um Zitronen zu bringen, deren Vitamin C zur Bekämpfung einer Erkältung notwendig war – gleiche Frage, gleiche Antwort: „Übergangsschwierigkeiten“.

Oma Else erzählte, in Westberlin seien die Lebensmittelkarten abgeschafft. Die wieder an Grundmann-Bruder Kurt gestellte Frage, warum es Lebensmittelkarten bei ihnen weiter gäbe, obwohl doch der Sozialismus gegenüber dem Westen siegen würde, erbrachte den zu erwartenden Hinweis auf die „Übergangsschwierigkeiten“. Die letzten Lebensmittelkarten in Ost-Berlin verschwanden acht Jahre später, im Mai 1958.

Onkel Horst hatte zusammen mit Opa Rudolf erneut den Laden umgebaut. Diesmal wurden aus dem großen Laden wieder wie zur Vorkriegszeit, zwei Läden. In einem hatte Opa Rudolf sein Auskommen, aus dem der Zeit angepassten Warensortiment. Die Leute konnten jetzt Gemüse und Obst frisch in den Lebensmittelgeschäften kaufen. Der eigene Anbau war nicht mehr von die Grundversorgung sichernder Bedeutung. Opa Rudolfs quasi private Zigarrenproduktion stieß an die Grenzen der Gewerbeerlaubnis. Die guten Zeiten seiner Produktionslinie hatten nach der Blockade ihren Höhepunkt überschritten. Es gab ausreichend Rauchwaren allerorten. Im Verhältnis zu den Kosten der Eigenproduktion waren sie sogar relativ preiswert. Den Leuten fehlte über alle Sparten hinweg immer häufiger die Zeit, sich um wachsende Keimlinge zu kümmern. In den Gärten wollte man jetzt entspannen und Spaß haben. Opa Rudolf verkaufte für diese Rasen-Romantik die Utensilien und sicherte die Kundschaft durch eine Lotto-Annahmestelle.

Onkel Horst führte im anderen Ladenteil Kinderspiel- und Schreibwaren. Traudchen und er waren immer noch zusammen und hatten es in den Turnier-Tanzwettbewerben zu allerlei Ehren gebracht. Sie hatten viel Spaß, waren aber , weil nicht verheiratet - damals durchaus Grund genug - kinderlos.

Bei den Spielkameraden im Wohngebiet waren die Vorbehalte gegenüber Roland nicht so groß wie in der Schule, ganz im Gegenteil.

Für Roland war der Kinderspielzeugladen von Onkel Horst eine tolle Sache. Über diesen Weg fand der erste mit Luftkammer-Gummireifen versehene Roller in seine Straße. Mit diesem Vehikel hatte er alle Spielkameraden auf seiner Seite. Abwechselnd durfte jeder auf dem Roller seine Runden drehen. Grundmann-Bruder Kurt war es gar nicht recht, dass ausgerechnet in seiner staatsnahen Familie ein aus westlicher Produktion stammendes protziges Spielmobil existierte.

Es gab noch weitere Transfers zwischen den Welten:

„Onkel Horst, eine Murmel aus glasiertem Ton kostet bei uns drei Pfennige, bei dir zwei Pfennige West.“

„Ja und?“

„Ich finde deine Glasbucker schön. Die gibt es nicht im Osten, wollen wir tauschen?“ Ich bringe für einen Glasbucker, der zehn Pfennig kostet, fünf und für die größeren sieben oder acht Tonmurmeln.“

„OK, mein Kompagnon, bring die Murmeln, kannst dir heute schon die Bucker aussuchen.“

Roland schaffte tausende von den Tonmurmeln zu Onkel Horst in den Laden.

Auf dem Schulhof mischte er sich unter die privilegiert mit Glasbuckern um Gewinn Murmelnden.

„Wenn einer von euch Bucker haben will, kann er welche bei mir eintauschen!“, warb er die Spieler

Roland ging lieber 'raus auf ein körnig planiertes Trümmerstück zum Fußballspielen, als sofort die Hausaufgaben zu erledigen. Diese machte abends, von der Arbeit gekommen, Mutter Margot mit ihm. Keine vergnügliche Sache. Mutter Margot war strenger und penibler als die Lehrer.

Auf dem Bolzplatz bildeten die Jungen Mannschaften, die aus den gerade Anwesenden zusammengestellt wurden. Zwei vorab bestimmte Mannschaftsführer stellten sich in etwa 2 Meter Entfernung voneinander auf und gingen, Fuß an Fuß setzend, aufeinander zu. Derjenige, der zuletzt einen vollen Fuß setzen konnte, durfte unter den übrigen Spielwilligen zuerst einen weiteren für seine Mannschaft auswählen. Die Mannschaften standen sich gegenüber und begrüßten sich zum Spiel mit: “Zickezacke, Zickezacke, hei, hei, hei“ oder „Sport frei“, manchmal tat es auch ein schlichtes „Sieg Heil“. Als Fußball diente ein genähter Lederfußball mit einer inwendigen Gummiblase, deren Luftventilverschluss durch eine Lederriemen-Verschnürung verkleidet war. Das undichte Ventil erforderte Vorlaufzeit:

„Wat is nu, wolln wa nu die Verschnürung uffmachen zum Pumpen oder spieln wa gleich mit det bischen Luft?“, war die oft gestellte Frage.

Im August 1951 fanden in Ost-Berlin die "III.Weltfestspiele der Jugend und Studenten" statt. Das war für die Ostberliner Bevölkerung eine Öffnung zu internationalem Flair. Die Ruinenstadt litt unter Quartiermangel. Man appellierte, für mehrere zehntausende Gäste Logierplätze zu stellen. Rolands Kinderzimmer diente drei deutschen Gästen als Bleibe. In diesen Tagen herrschten für sechs Personen in der kleinen Zweieinhalbzimmerwohnung abenteuerliche Zustände. Ein besonderer Ort war der Balkon. Rolands Familie wohnte im 4. Stock. Im Gegensatz zu den Balkons der darunter liegenden Stockwerken war dieser nicht verglast, sondern nach oben offen. Im Wohnbezirk lief ein Wettbewerb um die Auszeichnung des am schönsten geschmückten Balkons oder der am schönsten geschmückten Fenster und Hauseingänge. Da der nach oben offene Balkon mit vielen Papierfähnchen aus allerlei Ländern sowie mit Lampions üppig geschmückt worden war, gewann Rolands Familie. Der Balkon war zusammen mit dem Wohnzimmer bis in die Nacht Treffpunkt für Familie und Gäste.

In der Schule sind linierte Unterschriften-Sammelhefte verteilt worden, deren Seiten mit bunten Landesfahnen bedruckt waren. Die Schüler zogen aus, um möglichst viele Unterschriften von Festspielteilnehmern zu ergattern, die diese unter ihre Landesfahne setzen sollten. Äußeres und exotische Gewänder waren besondere Trophäen. „Ich habe einen Inder mit Turban!“ „Ich zwei kohleschwarze Neger mit Leoparden-Umhang!" „Ich brauche noch Japaner und Chinesen!" Ein anderer: "Ick hab Araber uff meene Liste!" So wetteiferten sie tagelang.

Zum normalen Arbeitspensum (in der Regel 48 Wochenstunden) planten viele Berliner Familien „Aufbaustunden“ ein. Das waren mehr oder weniger freiwillig zu erbringende Arbeitseinheiten an Feierabenden oder Wochenenden. Einzeln, in Gruppen von Freunden und Kollegen, Brigaden oder Hausgemeinschaften leistete man diese Einsätze. Natürlich war es nicht erstrebenswert; nach der Arbeit auf irgendeinem Trümmergrundstück Gebäudereste abzureißen, Steine zu klopfen oder Schutt zu schippen. Das Ganze funktionierte unter den staatlich Bediensteten wie ein Selbstläufer. Wie sollte man als Kommunist und/oder Funktionär Kollegen oder Bekannten erklären, womöglich keine Aufbaustunden zu erbringen. Es war Usus, sich zu Aufbaustunden-Leistungen zu verpflichten. Den Nachweis über volle und halbe Stunden stempelte der aufsichtführende Trümmerfeld-Obmann in das Aufbaustundenheft ein, welches jeder sein eigen nannte. Roland hatte auch so ein Heft. Auf Lastkraftwagen, Traktoren oder Pferdefuhrwerken fuhr er mit und half bei ihrem Entladen auf der Trümmerkippe. Die Kippe bestand aus Schutt, der einen ehemaligen, teilweise nach dem Krieg gesprengten Hochbunker mächtig überdeckte. Sie überragte wie ein natürlicher Berg sämtliche Dächer um ihn herum. Später wurde dieser Trümmerberg bepflanzt und ist zu einem riesigen Park in Friedrichshain geworden. Trefflich sein "Innenleben" bezeichnend, gaben ihm die Berliner den Namen „Mont Klamott“.

Als kleine Verpflegung gab es auf den Trümmerplätzen süßen Tee oder Muckefuck-Kaffee, sogenannte Lorke - Ersatzkaffee aus verschiedenen Getreidesorten, dazu bestrichene Marmeladenbrotstullen. Spontane Aktionen, wer zum Beispiel am schnellsten zwanzig Steine putzt, das heißt mittels Hammer von altem Mörtel säubert und stapelt, lockerten die Stimmung. Eine Art Kontaktplatz waren die Treffen auf den Steinschutthaufen auch. Viele Frauen waren ohne Mann. Der war gefallen, vermisst, in Gefangenschaft oder kriegsversehrt. So wurde also auch geschäkert. Das blieb in Erinnerung, weil es manchmal lustig war, zu beobachten, welcher Deckel auf welchen Topf zu passen glaubte.

Aufbaustundenhefte hatten auch den Charakter einer großen Lotterie. Es wurde propagiert, dass die Leute mit den meisten Aufbaustunden die größten Chancen hätten, später zu Bewohnern der gerade in der Planung befindlichen Stalinallee werden zu können. Wer hundert Halbschichten (100x4Std=400Std) leistete, erhielt ein Los der Aufbaulotterie. In dieser Allee in Friedrichshain sollten Wohnungen entstehen, deren architektonische Ansicht, vor allem aber ihre Grundrissgestaltung und Ausstattung in ihrer Gesamtheit den Fortschritt eines sozialistischen Wohnungsbaus für Jedermann verkörpern sollten. Nach einem Losverfahren sollten die Aufbauhelfer Berücksichtigung finden. Bereits im Mai 1952 zogen Mieter in die Wohnungen des ersten Hochhauses an der Weberwiese ein. Dreißig Arbeiterfamilien, darunter auch Trümmerfrauen und Bauarbeiter, waren unter den Erstbeziehern. Die neuen Bewohner hatten zu ertragen, dass noch Wochen nach ihrem Einzug tausende Neugieriger aus Ost und West durch ihre Wohnung zogen, um sich ein Bild von der Vision des neu entstehenden Berlin machen zu können. Roland war mit Mutter Margot und Grundmann-Bruder Kurt dabei. Die Wanderungen durch die neu bezogenen Wohnungen wurden nach Wochen von einem Ausstellungspavillon neben dem Hochhaus abgefangen. Die Durchmischung der Erstbezieher stärkte anfangs propagandistisch zwar das Vertrauen auf das Losverfahren, aber auf die später vollendete Stalinallee bezogen, war das nur die halbe Wahrheit. Neben den Losen existierten feste Kontingente für Günstlinge des Systems, von denen keiner je eine Aufbaustunde geleistet hatte.

Roland hatte für sich eine neue Freizeitbeschäftigung entdeckt, die auch bei Grundmann-Bruder Kurt auf Interesse stieß. Es ging um Zierfisch-Zucht. Die mit ihr einhergehenden Pflichten teilten sie sich. Roland ging nachmittags Wasserflöhe kaufen, und die Reinigung des Aquariums einschließlich der Sauerstoffversorgungsanlage bewerkstelligten sie gemeinsam. Stolz präsentierten sie Mutter Margot und dem Besuch die Zunahme der Population. Bei der Aufzucht der Spezies Guppys hatten sie ein glückliches Händchen. Die Guppys hatten so lange fächerartige, bunte Schwänze, dass sie beim Schwimmen schwanzlastig waren. Weil die Guppys so besonders wirkten, ließ sich die Tierhandlung, bei der sie Wasserflöhe und allerlei Zubehör erwarben, aus dieser Züchtung versorgen. Kaufmännisch betrachtet versorgten sich die Fische also selber

Stalin, als größte Statue auf deutschem Boden, etwa 5m hoch, und in Bronze gegossen, stand seit 1951 in der Allee, die seinen Namen trug. Er starb im März 1953. Die Schulklassen kondolieren. Dabei ging es nicht darum, mit Papierfahnen bestückt am Straßenrand der Stalinallee, in noblen schwarzen Karossen vorbeifahrenden Kommunistenführern zuzuwinken, wie es des Öfteren im Schuljahr statt Unterrichts geschah. Die gesamte Wegstrecke betrug rund 4 Kilometer. Auf den letzten hundert Metern hatten sie zu schweigen. Am Sockel, auf dem Stalin stand, angekommen, war aus dem Normalschritt ein schlurfendes Schleichen geworden, welches sie den Erwachsenen gleichtaten. Weinende Menschen, Tränen überströmte Gesichter, mit Gestik tiefster Trauer und Anteilnahme - so schlich die von ihren Arbeitsplätzen abkommandierte Masse, komplette Arbeitskollektive, Brigaden und Abteilungen, an der Stalin-Büste vorüber. Jahre später konnte Roland aus den Erfahrungen anderer Begebenheiten nachvollziehen, dass es in dieser Gemeinschaft durchaus Sinn machte, ein paar Tränen, sichtbar für die nahe stehenden Kollegen, zu vergießen. Man beobachtete sich gegenseitig, um den Grad der sozialistisch-sowjetischen Durchdringung einander abzuschauen. Stalin war tot, aber der dumm-platte sowjetische Stalinismus als die angestrebte deutsche Lebensform lebte weiter. Der Ritus, jedem Substantiv das Wort „sozialistisch“ voranzustellen, wurde bis zum Zusammenbruch der DDR zelebriert und geheuchelt.

Das vierte Schuljahr war zu Ende. Roland war zwei Tagen zuvor in einem Ferienlager in Neu-Fahrland bei Potsdam angekommen, als sich am 17. Juni 1953 auf dem gesamten Gebiet der DDR der Aufstand entwickelte. An diesem Tag gab es einen lauten Knall aus Richtung der Hauptstraße, und zu sehen war ein hoher dunkler Rauchpilz. Neugierig liefen die Jungen aus dem Ferienlager in dessen Richtung und sahen einen Tankwagen der Sowjets ausbrennen. Zwischen den schaulustigen Erwachsenen stehend wunderte sich Roland, dass niemand Mitleid mit dem verkohlten Leichnam des Fahrers zeigte. Vom 17. Juni und den Unruhen in Berlin bekam Roland nur mit, dass Vieles durcheinander geraten sein musste. Mutter Margot hatte Roland noch bei der Abreise versprochen, ihn in Neu-Fahrland abzuholen, um am kommenden Samstag zur Hochzeit von Onkel Horst und Traudchen zu fahren. Die Reise zur Hochzeitsfeier schien in Frage gestellt. So war es dann auch. Drei Tage später, als Onkel Horst sein Traudchen am 20. Juni heiraten konnte, war die Stimmung wegen der politischen Lage getrübt. Die Zukunft wurde wieder einmal von den Berlinern als höchst unsicher empfunden. Die Sektorenübergänge waren gesperrt und der vom Osten verwaltete S-Bahn-Betrieb war seit dem 17. Juni unterbrochen. Auch die U-Bahn fuhr nicht mehr über die Sektorengrenze. Keiner der im Osten wohnenden Freunde und Verwandten von Horst und Traudchen konnten die Hochzeit besuchen. Niemand wusste, ob und wann diese Einschränkungen aufgehoben würden. Mit dem 22. Juni begann sich der Verkehr zwischen den Sektoren wieder zu normalisieren. Der Betrieb der U-Bahn im Ostsektor und der S-Bahn funktionierten wieder, zunächst jedoch nur bis zur Sektorengrenze. Vom 9. Juli 1953 an konnte man wieder mit den Bahnen durch die Sektoren fahren.

Das Beste für Roland wollend, kam der Gedanke auf, ihn in einem Internat unterzubringen. Das passte ideal zur Karriereplanung vom Grundmann-Bruder Kurt. Das Internat befand sich in Grünheide bei Berlin.

Es war, über alles gesehen, im Internat ein verlockendes Leben. Funktionärs-Kinder aus dem Internat gingen in die am Ort befindliche Schule. Die Gruppenbetreuer kontrollierten die Hausaufgaben nur teilweise. Ansonsten kam es darauf an, sich in die Gemeinschaft einzufügen. Sportlicher Wettkampf wurde groß geschrieben. Roland war unter seinen Alterskameraden der schnellste Läufer im Internat und in der Schule. Der Sport und seine Persönlichkeit überhaupt brachten ihm Ansehen. An der Tafel im Unterricht spielte er allerdings oft den Klassenclown. Es gab dort einen Freund namens Dirk, mit dem er 12 Jahre später einen Schwur leistete, der diesem letztlich den Weg in die westliche Hemisphäre geebnet hat.

Nach Rolands Geburtstag zogen Mutter und Grundmann-Bruder Kurt im Februar die Notbremse. Sie holten ihn aus dem Internat zurück, weil seine Versetzung von Klasse 5 nach Klasse 6 unmöglich schien. Mutter Margot arbeitete im Sekretariat der Grundschule in Lichtenberg. Dorthin erfolgte auch die Umschulung.

Fünf Minuten Fußweg entfernt lag das Jugendtheater „Theater der Freundschaft“. Es gab keine neue Vorstellung, zu deren Generalprobe nicht für jeden interessierten Schüler seiner Schule Freikarten und für deren Eltern verbilligte Eintrittskarten verteilt wurden. Als Roland erfuhr, am Theater würden Komparsen für die Nachmittagsvorstellungen gesucht, wollte er Komparse sein. Das klappte! In einer sehr bewegten, mit Gesang getragenen Rolle stand er auf der Bühne. In einem Stück, mit Räubern im Walde, gab er einen Hasen! Alle über die Bühne hoppelnden Hasen sangen mit dem Chor. Der Ohrwurm blieb ihm unvergessen.

“Potz, plaus, ei der Daus, Geld und fette Beute,

flix flux keinen Mux, sonst, ihr lieben Leute,

drehn wir euch schrumm schrumm schrumm,

eh ihr´s denkt den Kragen rum,

und dann seid zu aller Nooot –

ihr noch mima mause tooot!“

Zu beobachten wie die Theaterleute miteinander umgingen, ihre Proben, das wuselige Treiben unterschiedlichster Dienste und die Aufregung, bevor sich der Vorhang öffnete, das war eine Welt für sich. Als kleiner Akteur auf der Bühne, Verwandte und Freunde im Publikum wissend, das hatte etwas.

Die Umschulung Rolands erfolgte rechtzeitig und zahlte sich aus. Die Schande des Sitzenbleibens blieb ihm erspart. Besser noch:

Es gab auf dem Jahreszeugnis noch nicht einmal eine Vier.

1954 trat die deutsche Mannschaft zum Turnier der Fußballweltmeisterschaft in der Schweiz an. Roland befand sich, wie alle Jahre in den Sommermonaten, in einem schönen Ferienlager. Die Betreuer fragten:

„Für wen drückt ihr denn die Daumen?“

Wissend, dass es sich um eine rein westdeutsche Besetzung, also ohne einen DDR-Spieler handelt, sagten sie naiv und offen:

„Klar, für die Deutschen!“

Das passte den Erziehern gar nicht und sie bekamen Oberwasser, als Ungarn gegen Deutschland 8: 3 in der Vorrunde gewann. Die Überlegenheit eines sozialistischen Kollektivs gegenüber einer aus kapitalistischen Egoisten zusammengesetzten Mannschaft schien bestätigt. Deutschland kam über die Türkei, Jugoslawien und Österreich doch bis ins Finale. Dort traf man wieder auf die Ungarn. Wohl weil die sozialistischen Ungarn als Sieger schon vor dem Endspiel festzustehen schienen, durfte die Rundfunkübertragung gemeinsam mit den Erwachsenen gehört werden. Nach deren Einschätzung stand nun eine Demonstration sozialistischer Überlegenheit bevor. Bei allem Zweifel an der Chance für die Deutsche Mannschaft hatte diese voreingenommene Betrachtung für Roland und seine Freunde keinen Wert. Um keinen der Erzieher zu verärgern, äußerten sie salomonisch zu Beginn der Übertragung:

„Der Bessere möge gewinnen.“

Bei Halbzeit führten die Ungarn 2: 0. Die Betreuer gaben sich, den Sieg der sozialistischen Freunde vor Augen, als dialektische Besserwisser. Die Männer um Fritz WALTER erkämpften jedoch mit ihrem grandiosen Torwart Toni TUREK den Ausgleich und errangen dann durch Helmut RAHN den Siegtreffer zum 3: 2. Deutschland war Fußballweltmeister! Die Gruppenleiter, vom spontanen ehrlichen Jubel überwältigt, wurden im Siegestaumel ihrer Schutzbefohlenen mitgerissen.

Nach den Ferien, zu Beginn des sechsten Schuljahres, kam Roland im Sog der Schulversetzung von Mutter Margot wieder in eine andere Schule. Diese war jetzt in Berlin-Friedrichsfelde. In der neuen Klasse sollte sein Schülerdasein nicht glücklich sein. Einerseits musste er sich wiederum in der Rangordnung neu behaupten und andererseits wurden seine diesbezüglichen Händel sofort Mutter Margot von den Lehrern gemeldet. Das gleiche galt für nicht oder schlecht gemachte Hausaufgaben. Zur Schule musste er jetzt 10 Minuten zur U-Bahn gehen, drei Stationen fahren und dann noch einmal 10 Minuten laufen.

Neben der Schule lag das Friedhofs-Areal des ehemaligen Schlossparks, welches später dem neu geschaffenen "Tierpark Berlin" zugeschlagen und dann teilweise mit Wohnhäusern bebaut wurde. Vor seiner Neuwidmung war das gesamte Areal stark verwildert. In großen Bombenkratern hatten sich kleine Teiche mit eigenständigen Biotopen gebildet. Hier kreuchte und fleuchte alles – von Molch und Blindschleiche bis zur Ringelnatter. Sonntags ging Roland allein oder mit Schulkameraden, mit Köcher und Gläsern ausgestattet, um Schmetterlinge, seine Freunde, um Getier für ihre Terrarien zu fangen. Mit Äther betäubt, dann mit Nadeln aufgespießt, wurden die Schmetterlinge in kleine Glaskästchen eingeklebt. Diese bestanden aus quadratisch geschnittenen Glasscheiben, die, schon zugeschnitten, in der Tierhandlung käuflich zu erwerben waren. Zwischen die Scheiben wurden Leisten eingeklebt. Fertig war das Glaskästchen, das später noch von Roland an den Rändern angemalt und beschriftet wurde. Das Interesse für solche selbst zu bastelnden Kästchen, das fachmännische Fangen und Aufbereiten der Schmetterlinge und die Fertigung der Schaukästchen hatte er in einem der Ferienlager erlernt. Mit den von ihm gebastelten Kästchen konnte er vortrefflich seine Geschenke für alle Anlässe im Verwandten - und Freundeskreis abdecken.

In den Schulferien zweimal, manchmal auch dreimal, konnte er in solch ein Lager reisen. Engagierte Betreuer, sport-und spieltechnisch voll ausgestattet und bei bester Verpflegung, von lieben Landfrauen zubereitet, da gab es kaum Heimweh. Es blieben keine Wünsche offen.

Hier traf Roland auf Kinder, deren Elternhäuser dem seinen ähnlich waren. Es galt, sich immer wieder neu in die Gemeinschaft einzupassen. Eines dieser Ferienlager war zum Beispiel das Schloss Wachwitz bei Dresden, einem der ehemaligen Wohnsitze der Wettiner (August der Starke). In den Bibliotheksräumen des Schlosses lernte er Schach zu spielen.

Von Onkel Robert hatte er eine Fotobox geschenkt bekommen, in die ein Film für acht Aufnahmen eingelegt werden konnte. Nur acht Fotos, die hatte er schon am ersten Tag geschossen. Auf fünf Mark für die ganze Lagerzeit war das Taschengeld von den Erziehern limitiert. Grundmann-Bruder Kurt war einer der Wenigen, die sich penibel an diese Vorgabe hielt. Roland war also seinen Spielkameraden finanziell unterlegen. Demgegenüber war seine Stellung in den Ferienlagern stets eine besondere. Als Berliner hatte er mehr aus der Welt zu erzählen als es dem Horizont der aus den Provinzstädten stammenden Kinder entsprach. So erzählte er vom Leben in der Stadt mit den zwei Welten. Die größte Aufmerksamkeit bekam er beim Erzählen von Western-Filmen. Roland konnte aus Kinofilmen erzählen, die er in Farbe gesehen hatte. Das war etwas Besonderes, weil zu dieser Zeit in der Provinz meist Filme in Schwarz/Weiß gezeigt wurden. Schon mit der Beschreibung der von ihm besuchten Kinos gewann er Aufmerksamkeit, denn in den Provinzen wurden die Filmrollen im zwei- oder dreiwöchigen Rhythmus angefahren und dann im Zelt oder in der Ortskneipe abgespielt. Oft spielten Rolands Zuhörer mit ihm die Hauptszenen nach, in denen sich die Kontrahenten Kirk Dougles, Jerry Cooper, John Wayn u.a. beim Schießduell gegenüberstanden. Seine Roman- und Filmkenntnisse waren so nachgefragt, dass er aus eigener Anschauung nicht so viel Quellen im Kopf hatte, wie man sie ihm zu schildern abverlangte. Um sich keine Blöße zu geben und die erworbene Anerkennung zu halten, erzählte er aus dem Stehgreif ausgedachte (Film-)Handlungen. Für die ihm abverlangten Dienste einigte man sich vorher darauf, ihm beim nächsten Ausflug einen Film für seine Fotobox zu kaufen.

Die Wohnungen der Stalinallee in den Blocks bis zum Frankfurter Tor waren vergeben und bezogen. Ehemalige Verfolgte des Nationalsozialismus, Amtsträger und Funktionäre der DDR oder Leute, derer man sich mit dieser Zuweisung ihre Loyalität für den Aufbau des Sozialismus in Ostberlin sichern wollte, waren besonders berücksichtigt worden. Die von Mutter Margot und Grundmann-Bruder Kurt geleisteten Aufbaustunden lagen im höheren dreistelligen Bereich. Gewiss nicht durch das Losverfahren, aber wiederum auch nicht ohne ihre erbrachten Aufbaustunden als sozialistische Eigenleistung, bekamen sie Anfang September 1954 eine Wohnung im letzten Wohnblock (G-Süd). Die Berliner nannten die Wohnblöcke, weil sie dem Baustil der Moskauer Prachtbauten ähnelten, „Klein Moskau“. Es handelte sich um eine Vierzimmer-Wohnung mit gekacheltem Bad und Toilette, Fernheizung, Warmwasser, zwei Balkone, Besen- und Abstellraum. Die Küche war eine Wohnküche, in der unter einer großen Terrazzo-Arbeitsplatte ein Unterschrank eingebaut war, in dem sich ein Zinkkasten für die Eisaufnahme befand. Milch und andere Lebensmittel mittels elektrischer Kühlschränke zu kühlen, entsprach noch nicht der normalen Küchenausstattung in Ost-Berlin. Im Haus gab es auf jeder Etage Müllschlucker und Fahrstuhl. Die Wohnungen waren über Klingel-Gegensprechanlage erreichbar und ein Kinderwagen- sowie ein Fahrradraum befanden sich im Erdgeschoss jeden Aufgangs. Ein Hausgemeinschafts- oder Tischtennisraum befand sich auf dem Dachgarten, der ebenfalls von jedem Bewohner und seinen Gästen benutzt werden konnte. Sie hatten Telefon, was in Ost-Berlin allein für sich schon ein Privileg erster Güte darstellte. Für die großzügige Wohnung waren knapp 100 Ostmark Monatsmiete zu zahlen. Legt man diesem Mietpreis den sich in den 30ger Jahren für Berlin üblichen 25 Prozent eines Monatsgehaltes oder einen Wochenlohn zugrunde, waren die Mieten in der Stalinallee sehr niedrig. Angesichts der Entwicklung, dass der Mann als Alleinverdiener durch die Berufstätigkeit der Frau in der DDR-Familie abgelöst wurde, war das Mietniveau fast schon niedlich. Rendite oder Unterhaltskosten spielten nach sozialistischer Rechnung keine Rolle.

Mutter Margot und Grundmann-Bruder Kurt komplettierten ihre neuen Nachkriegsmöbel gleichzeitig mit dem Einzug. Die Einrichtung entsprach der allgemeinen Vorstellung von moderner Wohnkultur.

Die bauliche Konzeption der Wohnungen in der Stalinallee bildete die Spitze des sozialen Wohnungsbaues in ganz Berlin. Dieser Vergleich hält auch gegenüber der Neubauplanung des im Westteil gelegenen Hansaviertels im Bezirk Tiergarten stand. Hier war die Bausubstanz zu gut neunzig Prozent im Krieg zerstört. Seit 1953 wurde geplant und in den Jahren von 1955 bis 1960 die moderne Stadtplanung und Architektur jener Zeit realisiert. Den Rahmen gab damals die Internationale Bauausstellung von 1957, die heute als Projektion der klassischen Nachkriegsmoderne gilt. Die Bauten und ihre Grundrisse waren auch Versuche, neue Wohnformen zu erproben. Die Häuser in der Stalinallee und die im Hansaviertel stehen als städtebauliches Dokumente ihrer Zeit für das finanziell Machbare, Gewollte und Gekonnte.

Mutter Margot wurde 31 Jahre alt. Was lag näher, als Bruder Horst und sein ihm angetrautes Traudchen einzuladen. Als Onkel Horst und Traudchen den bereits anwesenden Gästen vorgestellt wurden, hieß es immer:

„Das ist der Genosse Direktor, das ist die Genossin Leiterin, das ist der Genosse XY und seine Frau, die Genossin…“ und so weiter und so weiter. Für Horst und Traudchen ein befremdliches Willkommen.

Im Gegensatz zu seiner Schwester Margot war aus Onkel Horst ein virtuoser Klavier- und Akkordeonspieler geworden. Er hatte sein Akkordeon mitgebracht und musizierte mit Gesang für die Festgesellschaft. Im Verlauf der Feier kamen wie selbstverständlich auch Gäste aus der Hausgemeinschaft hinzu. Polonaise war angesagt. Es ging hinaus auf das Treppenpodest, die breiten Treppen hinunter, Onkel Horst vorneweg, hinter ihm Margot und sich anschließend der ganze Schwanz von Genossen und Genossinnen. Ein Lied reihte sich an das andere, und irgendwann ging es weiter mit der Melodie:

„Wir wolln unsern alten Kaiser Wilhhelm wieder habn, aber den mittn Bart, aber den mittn Bart, mittn langem Bart…."

Mutter Margot zuppelte an ihrem Bruder. Der war im Spielrausch und merkte das Zuppeln verspätet, denn inzwischen sang er als letzter, und die Mitläufer schauten sich betreten an. Wie kann denn so etwas hier gesungen werden…? Es wurde weiter gefeiert, aber der „Kaiser mittn Bart“ blieb als „deplatzierter“ Sangesakt bei den Grundmanns in den Köpfen…

Der Umzug in die Stalinallee war ein Jahr her. Aus praktischer Erwägung kam es für Roland zum fünften Schulwechsel in sechs Jahren. Die Abkürzung durch einen Torbogen nehmend, über dem „6. Hof“ stand, war er in sieben Minuten in der Schule. Die Vorderhäuser und Seitenflügel dieses Komplexes waren weggebombt oder abgerissen. In dieser Schule saß Mutter Margot nicht im Schulsekretariat.

Die Stalinallee der fünfziger Jahre war, gemessen am Verkehrsaufkommen und lustwandelnden Menschen in Ostberlin, überdimensioniert. Rolands Wohnblock war der letzte Block im “Klein-Moskau-Stil“ stadtauswärts auf der rechten Seite. Zwischen diesem Block und der gegenüberliegenden Häuserzeile lag ein weiter Zwischenraum: Breiter Bürgersteig mit Fahrradweg, Pflasterstreifen für die breiten steinernen Sockel der Laternen, eine Fahrbahn mit zwei Spuren, eine ebenso breite Rasen-Zwischeninsel, eine Fahrbahn mit zwei Spuren in Gegenrichtung, der Laternenstreifen, der Fahrradweg in Gegenrichtung, eine große Fläche, die so breit ist wie die vorgenannten Flächen zusammen, und nochmals ein breiter, mit Platten belegter Bürgersteig. Wenn z.B. Fotos oder Filmaufnahmen von der Stalinallee gemacht wurden, stoppte die Verkehrspolizei die Autos in beide Richtungen und ließ dem Verkehr anschließend wieder freien Lauf, um die Illusion eines Großstadtdynamik widerspiegelnden Verkehrsaufkommens auf Zelluloid festzuhalten.

Als Rolands Familie einzog, ragten noch Schutt und Trümmer ehemaliger Fundamente zwischen und über dem Niveau der geplanten Grünflächen. Nach und nach erfolgte die Einrichtung der Ladengeschäfte. Aus ihrer Anordnung und Zuordnung wurde der Anspruch der Stalinallee als Ganzes sichtbar. Hier sollte das Wohnungsbauprogramm für Berlin als beispielhafte Zukunftsvision, und in den Schaufenstern die Leistungskraft der sozialistischen Gesellschaft demonstriert werden.

Die teilweise Offenlegung der Verbrechen Stalins durch Chrustschow 1956/57 überstand Stalin zwar noch unbehelligt bis in den November 1966 auf seinem Sockel in der Allee, die seinen Namen trug, aber aus dem Arbeitszimmer von Grundmann-Bruder Kurt verschwanden die in rotes Leder eingebundenen gesammelten Reden Stalins aus der ersten Reihe der verglasten Bücherfront. Sie wurden nicht vernichtet, sondern quer hinter die Reihe der vorne stehenden Prachtbände von Lenin, Karl Marx, Friedrich Engels und Walter Ulbricht dekoriert. Die belletristischen Bücher dieser Bibliothek umfassten die Werke deutscher und russischer Autoren, die als unbedenklich im Sinne der sozialistischen Erbauung galten. Insgesamt mögen es weniger als die Zahl der Finger an Rolands Händen gewesen sein, derer er sich aus diesem Angebot bedient hat. Seine Begeisterung am Lesen konnte er anderweitig befriedigen. Im Erdgeschoss seines Hauses eröffnete nämlich eine Leihbücherei. In Hauspantoffeln konnte er hinuntergehen und sich sämtliche Bücher ausleihen. Es gab Tage, an denen er ein ganzes Buch auslas. Darunter litt natürlich die Erledigung seiner Schulaufgaben. Dass Roland das große sich ihm bietende Bücherangebot nutzen konnte, war an und für sich eine günstige Fügung. Niemand stand bei der Auswahl des Lesestoffs anleitend zur Seite. So las er oft kommunistischen Schund, der die Bezeichnung Literatur nicht verdiente. Er erlag dem Bedürfnis an beschriebener Aktion. Er las von russischen und kommunistischen Heldentaten im 2. Weltkrieg und er duldete der Story wegen sogar, dass es letztlich deutsche Soldaten waren, denen man sämtliche Grässlichkeiten zuschrieb. Er trauerte gelegentlich noch Jahre später ob der ihm so verlustig gegangenen Zeit.

Grundmann Bruder Kurt und Mutter Margot nahmen zur Kenntnis, dass er viel las, und damit war die Sache für sie positiv abgehakt – der Junge lernt. Der Umfang des von ihm bewältigten Lesestoffs hat ihm, gemessen an den gebotenen Möglichkeiten, einen immerhin überdurchschnittlichen schöngeistigen und/oder philosophischen Horizont eröffnet. Es waren neben den deutschen Klassikern die Literaten und Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts, besonders die russischen und französischen, die einen Fundus besserer Allgemeinbildung schufen. Seine Phantasie löste sich in den Weiten beschriebener Länder auf und ließ ihn von dort durchlebten Abenteuern träumen.

Schräg gegenüber, im letzten Block gegenüber dem Frankfurter Tor, eröffnete im Frühjahr 1956 ein Reisebüro (DER). In Ostberlin und in der übrigen "DDR" gab es so gut wie keinen nennenswerten Auslandstourismus. Die Leute, die für Auslandsreisen das Geld hatten, reisten über Westberlin. Das geschah via Flug von Tempelhof bzw. per Bahn ins Bundesgebiet oder ins europäische Ausland. Um so mehr sorgte die öffentliche Ankündigung für Aufsehen, dass es tags darauf Reiseangebote für DDR-Bürger nach Bulgarien in eben diesem Reisebüro geben würde. Der Preis von über 1.000 Mark pro Person sorgte schon für eine Vorauswahl, wenn man ihm z.B. das Monatsgehalt einer Verkäuferin von 240 Ost-Mark gegenüberstellt. Als Roland mittags, von der Schule kommend, am Reisebüro vorbei ging, saßen Leute auf Stühlen vor dem Laden. Zu Hause angekommen erreichte ihn der Anruf seiner Mutter:

„Mach deine Hausaufgaben und stelle dich bitte in die Reihe! Wenn wir nach Hause kommen, lösen wir dich ab.“

So handhabten sie es dann. In der Nacht lösten die Eltern einander ab, und am nächsten Vormittag zählten sie zu den Glücklichen, die einen Antrag auf eine Urlaubsreise nach Bulgarien in der Hand hielten. Wie auch immer die Endzuteilung erfolgt sein mochte, sie flogen nach Bulgarien. Roland war zur selben Zeit wieder in einem Sommerferienlager.

An Rolands 12. Geburtstag, führte Mutter Margot ihn morgens vor dem Weg in die Schule feierlich zu den aufgebauten Geschenken im Wohnzimmer. Er hatte zwölf brennende Kerzen auszupusten. Mutter Margot nahm seine Hand, schaute ihm ernst in die Augen und erklärte:

„Du bist jetzt adoptiert! Kurt ist nunmehr dein einziger und richtiger Vater.“

Warm und einfühlsam klang Kurts Stimme:

„Bist mir ja schon lange mein Sohn!“

Vater und Sohn umarmten sich herzlich.

Roland fand die Regelung prima. In allen Jahren hatte er nichts Schlechtes an Kurt ausmachen können. Er hatte nie lauten Streit zwischen Mutter Margot und ihm vernommen, Schläge, selbst Backpfeifen, hatte er nicht ein einziges Mal von ihm erhalten. Kurts Gesamtpersönlichkeit‚ seine Belesenheit und handwerkliche Geschicklichkeit, hatten ihn ihm zum Vorbild werden lassen.

Die schulischen Leistungen von Roland hatten sich nicht verbessert und konnten bei allem Wohlwollen höchstens als „durchwachsen“ bezeichnet werden. Wie jedes Jahr am Anfang des Schuljahres einer der besten Schüler in der Klasse, fand er sich zu Weihnachten in der Gruppe der Versetzungsgefährdeten. Gute Noten hatte er in Deutsch, Geschichte, Erdkunde, Musik und Sport. Bis zum Ende des Schuljahres hatte er Mühe, ohne eine 4 auf dem Zeugnis die Versetzung zu erreichen. Die Lehrer erklärten den Eltern zwar stets auf den Elternabenden, Roland sei zu wesentlich besseren Leistungen fähig, wenn er nur nicht so faul bei der Erledigung der Hausaufgaben wäre. Selbst Vaters finanzielle Anreize, ihm für eine 2 fünfzig Pfennige und für jede 1 eine Mark geben zu wollen, fruchteten nicht wirklich. Bei einer 4 hatte Roland nämlich fünfzig Pfennige zu zahlen und für eine 5 eine Mark.

Jeder Schüler hatte ein Tagebuch zu führen. Hier trug der Lehrer Mitteilungen, Lob oder Tadel ein. Die Schüler hatten für jedes Fach die erhaltenen Zensuren selber einzutragen. Das Tagebuch mussten die Eltern wöchentlich unterschreiben. Roland trug nur die Zensuren von 1-3 ein, „vergaß“ die Zensuren 4 und 5, und wenn Geldnot war, nahm er noch Zweier und Einser auf. Das Anreizsystem wurde nach Entdeckung seiner Manipulationen ersatzlos gestrichen.

Mindestens einmal in der Woche kontrollierten die Lehrer Schulmappen. Es ging dabei darum, Nichtsozialistisches zu konfiszieren. Darunter fielen Miniaturautos der Deutschen Wehrmacht, Wehrmachtssoldaten aus gebranntem Ton, Westernfiguren aus Plastik, Comics, Western- und Landserhefte, Wasserpistolen, Sanella-Sammelbilder u.a.m.. Rolands Schulmappe wurde selten oder nie vom Klassenlehrer durchwühlt, weil bei ihm als „Jungem Pionier“ und Sohn aus einer Funktionärsfamilie solche Spielsachen und „Schundliteratur“ nicht zu vermuten waren. Das führte dazu, dass die Klassenkameraden ihre Habe bei ihm deponierten, bis die Kontrolle abgeschlossen war. Durch Lehrerwechsel ging ihm das Privileg, „nicht kontrolliert zu werden“, verloren. Der Fund von West-Literatur in seiner Schulmappe schlug zu Hause ein wie eine Bombe.

Die Eltern waren zwischenzeitlich über die Schulleistungen zumindest beruhigt, wenn er ihnen ein neues Abzeichen „Für gutes Wissen“ vorlegte. Roland wartete mit Silber auf. Die Organisation der „Jungen Pioniere“ vergab diese Anerkennungen in Bronze, Silber und Gold für Abfragen den Sozialismus betreffender Zusammenhänge. Es war ein ganz kleiner, dem schulischen Lehrplan zuzuordnender Stoff, der in diese spezielle Abzeichenvergabe einging. Die erste Fremdsprache war Russisch. Es zu lehren war nicht einem ausgebildeten Pädagogen, sondern einem Altkommunisten übertragen worden. Der hatte die Sprache bei den „Sowjetischen Freunden“ im Exil erlernt. Ihm machte Rolands Klasse die Unterrichtsstunden sehr schwer. Neudeutsch, er wurde „gemobbt“. Die Vorbehalte gegen die Sprache gingen einher mit der allgemeinen Einstellung gegenüber allem Russischen.

Rolands Eltern haben gerne daran geglaubt, dass er zu den leistungsstärkeren Schülern in der Klasse zählte, weil es sich bei denen, die die Auszeichnungen zuerkannten, u.a. auch um seine Klassenlehrerin handelte. Dass er immer wieder am Kurs „Für gutes Wissen“ teilnahm, hing in Wahrheit mit der Verehrung zusammen, die er für seine Klassenlehrerin empfand, die auch gleichzeitig die Pionierleiterin an der Schule war. Die von ihm Verehrte roch nach seinem Dafürhalten gut und sah, egal was sie anhatte, immer schick aus. Selbst das FDJ-Hemd betonte ihre Figur.

Als einmal ein gemeinsamer Theaterbesuch geplant war, hatte Roland irgend etwas mit einem Jungen getauscht, nur um die nummerierte Platzkarte neben seiner Lehrerin zu ergattern. Er war ganz aufgeregt in seiner Vorfreude. Für Männer gab es damals eine Duftcreme, mit der das Haar durchkämmt wurde. Roland kaufte eine solche Tube 'GLÄTT'. Fast die ganze Tube setze er für seine Vorbereitung auf den Theaterbesuch ein. Stolz saß er abends neben ihr. Zwei Jahre später im Abschlussferienlager seiner Klasse am Lagerfeuer erfuhr er dann:

„Roland, du hast im Theater so penetrant gerochen, dass mich in der großen Pause die hinter uns sitzende Frau vor dem Frisierspiegel in der Toilette auf den Geruch angesprochen hat.“

Sie lachten beide bei der Erinnerung, und Roland, ganz der galante Kavalier:

„Ich weiß, es ist besser dezent zu duften als aufdringlich zu riechen. Hätte ich es besser gekonnt, Sie sind es mir wert.“

Lehrerwechsel waren nicht gerade selten, weil viele Lehrer nach West-Berlin übersiedelten.

Allgemein war der Flüchtlingsstrom von Ost-Berlin in den Westen bei weitem nicht so stark, wie es der Flüchtlingsstrom aus den übrigen DDR-Provinzen gewesen ist. Die Berliner hatten im Gegensatz zu den Landsleuten von außerhalb Berlins die Möglichkeit, sich täglich der jeweils besseren Variante der zwei Welten zu bedienen. Deshalb siedelte der Berliner ausnahmsweise spontan in den Westen über, wenn er politische Verfolgung oder Benachteiligung befürchten musste. So mancher Ost-Berliner arbeitete in West-Berlin und bereitete sich in aller Ruhe auf den Umzug nach Westberlin nach dem Motto vor: Erst eine Wohnung dann - der Wechsel.

Viele ehemalige Schulkameraden von Roland gingen nach der vierten Klasse in West-Berliner Gymnasien, wohnten aber weiter mit den Eltern in Ost-Berlin. In West-Berlin wurde keine politische Einstellung, weder die des Schüler noch die seiner Eltern, für den Besuch des Gymnasiums abgefragt. Der Nachweis proletarischer Herkunft erübrigte sich.

Rolands Status in der Klasse war gut. Die Interessen begannen sich zu verlagern. Die Auswahl der Freundschaften fand nicht mehr nach der politischen Orientierung der Elternhäuser statt. Der Freundeskreis unterlag anderen Maßstäben. Mädels rückten in das Blickfeld der Begierde. Beurteilt wurden die von den Jungen figürlich nach dem Entwicklungsstand ihrer weiblichen Proportionen und nach ihrer Garderobe.

Petticoats aus dem Westen zu tragen, war nur wenigen Mädchen möglich. Ihre nähenden Mütter glichen das aus. Die Jungen verglichen untereinander ihre Kleidung und die Mädchen schätzten diese auch ab. Der Unterschied zwischen der Kleidung aus dem Westen und der aus der Ost-Produktion war augenscheinlich. Im Unterschied zur Mädchenkleidung konnte für die Jungs nicht die Nähkunst der Mütter zaubern. Die Jungs trugen, sobald die Sonne wärmte, kurze Lederhosen. Entscheidend war hier das Leder. Die Lederhosen aus dem Westen waren aus steiferem Rindsleder und die aus dem Osten aus etwas schlabbrigem Ziegenleder. In den Taschen hatte ein Junge immer Taschentuch, Kamm und, wenn vorhanden, Uhr. Ein Taschenmesser oder kleinerer Hirschfänger mit Horngriff steckte in der seitlich aufgenähten Scheide der Lederhose, Den größten Unterschied bildete das Schuhwerk. Aus dem Westen kamen die Schuhe mit dicken Kreppsohlen. Die gab es in Ost-Berlin nicht. Den wohl größten Zuspruch erhielt derjenige, der ein Kofferradio hatte. Mit ihm konnte, batteriebetrieben, unabhängig vom Stromnetz empfangen werden. In der Schule war das Mitbringen von Kofferradios verboten. Die Geräte waren auf Grund ihres hohen Westgeld-Preises recht selten. In Rolands Klasse hatte nur ein Junge so ein Radio. Dessen kleinerer Bruder, noch nicht schulpflichtig, wartete auf ihn zum Schulschluss vor dem Haupttor, um ihm das Radio zu übergeben. Er, mit dem Radio auf dem Arm, und alle standen um ihn herum. So wurde RIAS-Schlagermusik gehört.

Ein weiteres Statussymbol war das Fahrrad. Nicht das Fahrrad an sich, sondern seine Herkunft, seine Form und seine Ausstattung gaben dem Fahrer die Wertigkeit. Ein Fahrrad aus dem Westen war das Maß der Dinge. Die Fahrräder aus dem Westen hatten schmalere Felgen, Felgenbremsen vorn und hinten und Mehrgangschaltung. Wenn die Pedale im Leerlauf standen und die Nabe surrte, ergab das einen Sound, der die Blicke der Passanten wandern ließ. Sollten dem Rad diese Attribute fehlen, konnte über kleines Zubehör der Ostlook gemildert werden. Hierbei half die Montage eines anderen Lenkers. Der nach seiner Form benannte „Ochsenkopf-Lenker“ galt als Mindesteinstand für ein standesgemäßes Fahrrad. Über besondere Gummi- und Plastiküberzieher für die Lenker- und Bremsgriffe und bunte Ölabstrichringe auf den Naben kam man der Norm, wenn auch auf schmerzlich niedrigerem Niveau, näher. Außerhalb jeder normalen Vergleichbarkeit befand sich der Status eines Rennradbesitzers. Ein Rennfahrrad hatte nur jemand, dessen Eltern über richtig gute Westverbindungen verfügten.

Die Fahrräder von Lehrern und Schülern, die mit dem Rad zur Schule kamen, standen auf dem Schulhof neben dem Heizungskeller. Hier wurde nicht geklaut. Auf dem Schulhof zu klauen oder überhaupt einem Mitschüler etwas wegzunehmen, was man selber gerne haben wollte, widersprach dem als normal empfundenen Grundkodex von Ehre und Anstand. Rennfahrrad fahren und dabei Nietenhosen tragen war die Statusspitze. Nietenhosen waren in der Schule verboten. Die Niethosenträger der Klasse kamen in erlaubten Hosen zum Unterricht und zogen sich nach dem Unterricht in der Toilette für den Heimweg um. So angezogen konnten sie noch einige Straßen weiter mit den Mädels schäkern.

Gott-sei-Dank wurden Liebesbriefe zwischen den Jungen und Mädchen nicht allein wegen der Summe vorhandener Statussymbole ausgetauscht. Roland war im Kreis der Mädchen ein geschätzter Junge. Sie wussten, Roland ist ein Beschützer. Wenn nämlich Ungerechtigkeit in der Luft lag, ergriff Roland Partei. Da waren auch noch seine beeindruckenden Leistungen im Sport und seine höflichen Umgangsformen. Roland war der Typ eines „burschikosen Charmeurs“. Sein größtes Handikap hingegen waren seine rotblonden Haare. Ein rotblonder Typ entsprach damals so gar nicht dem Ideal der Mädchen. Sängertypen wie Vico Torriani, Freddi Quinn, Bill Haley oder Elvis Presley waren gefragt. Wenn sie also bei einem Jungen nur den Anflug einer Ähnlichkeit zu den Typenmerkmalen ihrer Idole erkannten, fiel die Entscheidung immer zu dessen Gunsten aus. Selbst rabaukenhaftes Benehmen oder allgemeines Doofsein wurde von den Mädchen eher akzeptiert als ein rotblonder Freund. Auch wenn Roland seine Haare so wie Elvis hinten zum Entenschwanz kämmte, änderte das nichts, denn rotblond war nicht schwarz. Das Kämmen der Haare zum Entenschwanz konnte Roland immer erst auf dem Schulweg vornehmen, denn seine Eltern hätten ihm die Haare eher ganz kurz schneiden lassen, als einen Entenschwanz, wie ihn Elvis heimlich trug, zu tolerieren. Und trotzdem, seine Mühe wurde von der höchst umworbenen Schönheit beider Parallelklassen, Sylvia, belohnt. Die während der Unterrichtstunden über mehrere Bankreihen hinweg ausgetauschten Liebeszettel brachten ihm die Verabredung mit Sylvia nach der Schule bei ihm zu Hause ein. Irgendwie muss er sich aber bei diesem Treffen nicht richtig um sie gekümmert haben. Möglicherweise erzählte er ihr zu viel aus einem gerade gelesenen Buch. Sie gab ihm aber immerhin einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, den er als die Krönung und den Beginn des Miteinandergehens gedeutet hat. Sein Herz war von Sylvia voll erobert. Es war sein erster schmerzlich empfundener Liebeskummer, als sich Sylvia einige Tage später von seinem Schulfreund Jürgen ins Kino nach Westberlin einladen ließ. Einen Vorteil hatte diese kleine Begebenheit dennoch. Sylvia hatte mit dem kurzen, aber für alle Klassenkameradinnen sichtbaren Interesse an ihm den Bann gebrochen. Roland war nunmehr auch für andere Mädchen von Interesse – trotz seiner rotblonden Haare.

Den ersten Liebeskummer half ihm seine platonische Verehrung einer Frau mindern, die mit ihrem Mann im sechsten Stock seines Wohnhauses lebte. Diese Frau war eine Künstlerin – Malerin. Über alle Maßen schön, entsprach sie wohl exakt dem idealen Frauenbild, welches jeder Mann zu jener Zeit hatte. Hätte es Misswahlen in der Stalinallee gegeben, wäre sie mit Abstand zur Königin gewählt worden. Etwa 1,60m groß, die dunkelblonden, über die Brust reichenden langen Haare zum Pferdeschwanz gebunden und diesen nach vorne übergeworfen, betonte sie ihre Figur durch enge Rollkragenpullover. Diese Schönheit fragte bei den Eltern an, weil Roland immer so besonders freundlich zu ihr sei, ob sie es erlaubten, wenn er ihr Modell sitzen würde. Roland war hin und weg, als die Eltern das an ihn weitergaben. Malen wolle sie Roland in Öl als „Jungen Pionier“ mit weißem Hemd und Halstuch. Ihr lichtdurchflutetes Atelier befand sich auf dem Dachgarten. Da saß Roland Stunde um Stunde. Er wagte sich nicht zu bewegen, konnte aber lange in ihre grünlich-gemaserten Augen schauen, wenn sie an ihm für die Pinselstriche Maß nahm. Nach der Sitzung träumte er sich abends, mit ihr vor Augen, in den Schlaf. Den Altersunterschied von etwa 10 Jahren empfand er als ungerecht und tragisch. Er brachte nicht den Mut auf, sie zu fragen, ob er ihr einen richtigen Kuss geben dürfe….

Im Hausaufgang in der vierten Etage wohnte Rolands Spielfreund Peter Der war zwei Jahre älter, aber nur eine Klasse über ihm, weil er erst mit sieben Jahren eingeschult worden war. Peter besuchte die Oberschule. Rolands Eltern begrüßten und förderten diese Freundschaft. Peter glänzte mit besonders guten schulischen Leistungen. Er wurde zu familiären Unternehmungen, auch auf Urlaubs-Sommerreisen mitgenommen. In dem Alter war es prima, bei Freunden schlafen zu dürfen. Weil Peter sich sein Zimmer mit seinem fünf Jahre jüngeren Bruder teilen musste, schlief er gerne bei Roland. Die Geburtstagsfeiern wurden zusammengelegt – Peter hatte zwei Tage vor Roland Geburtstag. Rolands Eltern war Peters Zielstrebigkeit vorbildhaft. Sie hofften sehnlichst, Roland würde ihm nacheifern.

Schule war von Montag bis Sonnabend, genau wie die Arbeit der Eltern. Aus der Schule kam Roland samstags gegen elf Uhr nach Hause. Seine Eltern trafen gegen 13 Uhr ein. Dann ging es zu dritt, und wenn Peter dabei war, zu viert mit dem Fahrrad ab nach Motzen. Eine Strecke von ca. 50 km war zu bewältigen. Abends zuvor hatte jeder sein Rad auf Funktion überprüft und die unverzichtbaren Sachen auf den Gepäckträgern verzurrt. Ziel war ein ehemaliger Ton-Abbau, dessen Gelände großräumig von Nudisten genutzt wurde. Das Wasser war so klar, dass noch Loren aus dem ehemaligen Betrieb des Ton-Abbaus in der Tiefe sichtbar waren. In den zwanziger Jahren, im kulturell ins Grenzenlose explodierenden Berlin, hatten sich Sympathisanten textilfreier Bewegung gefunden. Diesen Leuten, als Gruppe ohne politisches Korsett, stand damals nur die kleinbürgerliche Voreingenommenheit gegenüber. Mit ihr gab es abseits, südöstlich vor Berlin im Märkischen gelegen, keine Probleme. So markierten und kultivierten sie das Revier nach ihrem Dafürhalten. Sowohl die Ideologie der Nationalsozialisten als auch folgend die der Kommunisten interpretierten die Freikörperkultur als „Guten Betrag für Körperkultur und Sport im Sinne der Volksgesundheit“. Die meisten Vereinsmitglieder hatten ihren Familien kleine Hütten gebaut, die wiederum im Laufe der Jahrzehnte untereinander weitergegeben wurden. Für Gäste oder neue Mitglieder gab es ein großes Gemeinschaftshaus. Das war eine riesige hohe Bretterhalle mit einer großen Veranda. Hier suchten sich die einzelnen Familien ihre Liegestätten für das Wochenende in gezimmerten Holzbetten mit Strohsäcken. Es konnten auch eigene Zelte im Freien aufgeschlagen werden. Gegessen wurde das von zu Hause Mitgebrachte. Warme Mahlzeiten entstanden über einer gemauerten Feuerstelle, die sich seitlich der Baracke befand. Auf dem Gelände wurde Volleyball, Völkerball oder Tischtennis gespielt. Ein stabiler Holzsteg, der von der Hauptbadestelle in den See führte, diente als Anlauffläche für kunstvolle Kopfsprünge ins Wasser. Sonntagabends wurde immer zeitig losgefahren, um bis zum Einbruch der Dunkelheit wieder in der Stalinallee anzukommen.

Die Frauenbrüste, die Roland bei der FKK zu sehen bekam, hatten nicht die geometrisch gerundeten Formen, wie er sie von den Bildern aus „Zehn kleine Negerlein“ in Erinnerung hatte. Was ihm seither textilverkleidet, als Skulptur geformt oder auf Zelluloid vor Augen kam, brachte inhaltlich keinen Zweifel. Mit den Brüsten seiner Mutter (Mädchenkörbchen), die nicht herunterhingen, konnte er leider nur wenige vergleichen. Die Brüste der Frauen und Mädchen, so viel stand fest, erscheinen in ihrer Natürlichkeit vielfältig. Enttäuschte Erwartung wollte er es nicht nennen, aber zuvorderst stand bei starker Neugier, ultimativ „Schönes“ in seiner Vorstellung zu modellieren. Das Verhältnis von Schwerkraft und Fülle im Einklang mit festem Gewebe verhalf ihm später zum Idealbild. Die Frauen bedienten sich erfreulicherweise reicher Auswahl textiler Büstenhalter - über Jahrzehnte spannendes Entblättern. Peters damalige Erkenntnis über die Formen der Frauenbrüste, nicht beschwert durch das Ideal aus „Zehn kleine Negerlein“, verlief spontan. Ihn erquickte die Vielfalt der Formen, was ihm Festlegungen ersparte.

Der Umgang der Nackedeis untereinander war natürlich. Peter und Roland tauschten neugierig aus, mit welchen der in etwa gleichaltrigen Mädchen sie gerne engeren Kontakt haben wollten. Da war ein Mädchen namens Rosemarie, das gerne mit ihnen schwimmen ging. „Zufällig“, aber doch häufig berührten sie sich im Wasser. Beim spielerischen Untertauchen berührten sie sich dabei überall und Roland nahm jede dieser Berührungen sinnlich auf. Unter Wasser schwammen sie so aufeinander zu, dass die Körper über ihre volle Länge beim aneinander Vorbeigleiten Kontakt hatten. Rosemarie lachte. Roland und Peter konnten entweder nicht lange genug und so schnell wie möglich wieder mit Rosemarie ins Wasser. Natürlich wollten beide mit Rosemarie auch in Berlin Kontakt haben. Mit Roland klappte eine Verabredung zuerst. Als Treff hatten sie die „Milchbar Berlin“ in der Stalinallee gewählt. Das war eine Tagesbar im Schick einer Eisdiele, die es schöner auch nicht im Westen der Stadt gab. Das Interieur bildete die über die Grenzen hinweg bestimmende Moderne jener Zeit. Von den Nierentischen mit dazu passenden bunten Stühlen und thematisch im Stil bemalten Wänden bis zu den aus Hochglanzkarton bestehenden Eiskarten - alles war aufeinander abgestimmt. Die Eiskarte war so besonders, dass sie sofort nach der getroffenen Auswahl vom Personal wieder eingesammelt wurde. Als Souvenirs begehrt, wurden sie den Besuchern aus dem Westen von der Bedienung, "unter dem Tisch", gegen D-Mark verkauft. In den ersten Wochen nach ihrer Eröffnung standen dort Schlangen auf Einlass wartender Gäste. Der Bekanntheitsgrad der “Milchbar Berlin“ war als Treffpunkt vergleichbar mit der 1969 auf dem Alexanderplatz errichteten Weltzeituhr. Rosemarie und Roland tranken hier Milchshakes. Sich bekleidet gegenüber sitzend waren sie einander fremd und etwas verkrampft.

Die Fahrten in das FKK-Gelände nach Motzen gingen nur über zwei Sommer. Peter hatte später, als die Fahrten nach Motzen nicht mehr gemeinsam stattfanden, mit der schönen Rosemarie in Berlin Kontakt aufgenommen. Aber es kam auch zwischen ihnen noch nicht einmal zum händchenhaltenden Spazierengehen.

Rolands Eltern pachteten ein Grundstück, mit einem eineinhalbgeschossigen Holzhäuschen, in Ostberlin sagte man "Datsche" (nach dem russischen Datscha) am Rande Berlins, in Waldesruh. Da es sich um ein Waldgrundstück handelte, bedurfte es keiner großen Pflege für ein gefälliges Aussehen. Ein bisschen Ernte von Obst, Gemüse und Blumen erforderte hingegen immense Mühe im glazial-sandigen Boden. An dem Holzhäuschen wurde innen und außen ständig repariert, ausgebessert und sogar angebaut. Rolands Vater war handwerklicher Allrounder. Von ihm hat sich Roland Einiges abgeschaut. Angefangen beim Geradeklopfen von Nägeln, denn neue Nägel gab es selten zu kaufen, bis zum Reparieren sämtlicher mechanischer Verschleißteile hat Roland später so ziemlich alles wieder gangbar machen können. Das erklärte sich weniger aus einer überdurchschnittliche Begabung, sondern war eher der Tatsache zuzuschreiben, dass er, dem Stand der Technik entsprechend, nur logisch dem Kraftverlauf folgen musste. Dort, wo die Kraftweitergabe unterbrochen war, lag der Fehler! Der war sichtbar oder/und messbar, im Gegensatz zu den heutigen elektronischen Regelkreisen in den Chips.

Zum FKK-Besuch kam es nur noch bei gemeinsamen Urlauben an der Ostsee auf der Insel Hiddensee.

Ein Klassenausflug zu Beginn des Schuljahres 1956 führte Roland in das Konzentrationslager (KZ) Sachsenhausen, einem Ortsteil von Oranienburg. Über die KZ der Nazizeit hatte er in jedem der Schuljahre gehört und gelesen. Im Vordergrund standen hierbei stets die inhaftierten kommunistischen Arbeiterführer. Der Roman “Das siebte Kreuz“ spielte in dieser Geschichtsdarstellung eine hervorgehobene Rolle. Diesem Roman von Anna Seghers liegt eine Schilderung des KZ Osthofen in der Nähe von Worms zugrunde, wo sich das Lager auf einem damals stillgelegten Fabrikgelände befand.

So ein Lager war auch das zur Gedenkstätte ausgebaute KZ Buchenwald, bei Weimar gelegen, welches sie im Jahr zuvor besucht hatten. In Buchenwald wurde ihnen das Lagersystem nach Anna Seghers erklärt. Diesmal, im KZ Sachsenhausen, wurde ihm und seinen Mitschülern erstmals eine Gaskammer gezeigt, in denen sowjetische Kriegsgefangene durch die Nazis vergast worden sein sollten. Die Besichtigung der Gaskammer beeindruckte ihn sehr und verschwand über Wochen nicht aus seiner Phantasie.

Im Oktober gab es einen Volksaufstand im sozialistischen Ungarn. Fotos von verstümmelten Leichen, bei denen es sich um Kommunisten gehandelt haben soll, erschienen auf den Titelseiten der Ostberliner Zeitungen. Im Unterricht wurden sie als Beweise für faschistische Vorgehensweisen vorgelegt. Die geschilderten Verbrechen der Nazis in Sachsenhausen im Kopf, ergriff Rolands Klasse Partei für die „sowjetischen Freunde“, die den Ungarnaufstand brachial niederwarfen. Etwa 12 Jahre später las Roland, dass die Gaskammer in Sachsenhausen eine Konstruktion der Sowjets gewesen ist. In einer eidesstattlichen Erklärung beschreibt ein ehemaliger Nachkriegs-Internierter der Sowjets, die im ehemaligen KZ Sachsenhausen eines ihrer Sonderlager errichtet hatten, seine Mitarbeit an der Bauausführung der „Gaskammer“. Erst in diesem Jahrtausend ist die „Gaskammer“ in Sachsenhausen abgerissen und aus dem jahrzehntelang gepflegten Horrorszenario "Deutsche Faschisten" in Sachsenhausen entfernt worden.

Einige Hausaufgänge neben dem Rolands befand sich der größte und wohl am besten belieferte Laden „Wild und Geflügel“ in Ostberlin. Die Gänse wurden in dünnwandigen Sperrholzkisten aus Polen angeliefert. Die leeren Kisten wanderten auf einen riesigen Haufen hinter dem Hausblock. Hier besorgten sich alle Interessenten aus der Umgebung Bastel- und Brennholz, bevor die von der HO (Handelsorganisation) geplante Sammelabholung zum Zuge kam. Roland fertigte aus dem Sperrholz einige anspruchsvolle Laubsägearbeiten als Weihnachtsgeschenke für Eltern und Verwandte. Mit Peter bastelte er aus diesem Material ein schönes großes Kasperle-Theater. Als sie dieses Vorhaben angingen war es die Begeisterung, durch spätere Vorstellungen vielleicht ihren Geldbedarf für Kinobesuche decken zu können. Sie ahnten nicht, wie zeitnah sich ihre Mühe auszahlen würde. Das Kasperle-Theater, schön anzusehen, stellten sie unten im Kinderwagenraum auf. Dann klingelten sie, auch an Wochenenden, bei Familien mit Kindern, die noch nicht zur Schule gingen. Den Müttern sagten sie, dass in Kürze eine Kasperle-Vorführung begänne. Die Kinder sollten einen Groschen mitbringen. Zehn und mehr Kinder kamen zusammen, die dann erwartungsvoll vor der kleinen Theaterbühne auf Kasperle warteten. Von ihren Müttern und Vätern, glücklich darüber, dass ihnen für etwa 2 Stunden die Kinder abgenommen waren, hatten diese mehr als nur einen Groschen mitbekommen. Bei den ersten Vorspielstücken orientierten sie sich an bekannten Märchen. Weil den Kinder-Kunden aber nicht viele Male dieselben Stücke vorgespielt werden konnten, trugen Roland und Peter Stegreif-Geschichten vor. Ihre Vorführungen dauerten manchmal gerade so lange, um es anschließend noch zum Beginn einer Nachmittags-Kinovorstellung zu schaffen. Die freudige Erwartung auf den Besuch einer Filmvorstellung wurde öfters enttäuscht, weil entweder beide nicht oder nur einer von ihnen eingelassen wurde. Es gab Filme, die waren ab 14, 16 oder erst ab 18 Jahren zugelassen. Nicht immer glaubte der Kartenverkäufer das ihm gegenüber behauptete Alter.

Der Winter 1956/57 brachte Ende Januar Kältegrade von unter 20°. Sogar der Müggelsee war zugefroren. Vielerorts platzten die Wasserrohre, und die Belieferung mit Kohle brach völlig zusammen. In Rolands Schule gab es diese Probleme gleich mehrfach. Im Schulbetrieb gab es einen neuen Begriff "Kälteferien". Morgens pünktlich um 8: 00 Uhr in der Schule, saßen die Schüler in Mantel und Mütze in den Bänken. Der Lehrer gab der Klasse die Hausaufgaben bekannt. Er nannte die Buchseiten und Aufgaben für die einzelnen Fächer, wohl In der Hoffnung, irgendwie würden seine Schüler zu Hause einen warmen Platz zum Lernen finden. Kurz darauf schickte er die Klasse nach Hause. Wenn anschließend die Schüler nicht nach Hause gingen, vermissten die Eltern ihre Kinder nicht, weil sie sie ja in der Schule glaubten. Fast alle Klassen, und die von Roland war nur eine von mehreren im Bezirk, machten sich auf den Weg in Richtung Oberbaum-Brücke. Auf die Straßenbahn konnte man sich nicht verlassen, weil deren Oberleitungen immer wieder abschnittsweise dem Frost zum Opfer fielen. Weiterer Grund für den Fußmarsch war die Relation zwischen Fahrpreis und Kinokarte. Die nur 4 Straßenbahn-Stationen kosteten hin einen Groschen und zurück noch einen - die Kinokarte 1 Mark. Es war also Eile geboten, denn zeitlich versetzt zwischen 8: 30 – 9: 15 Uhr begannen jenseits der Oberbaumbrücke in Westberlin die Kinovorstellungen. Das Kinoprogramm wechselte täglich, und vorweg gab es die "Fox Tönende Wochenschau". Es war aber nicht nur die Zeit, die es einzuhalten galt. Rechtzeitiges Kommen sicherte überhaupt einen Platz, und nur bei frühzeitigem Eintreffen konnte ein guter Sitzplatz ergattert werden. Oft musste gerannt werden, weil die Verteilung der Hausaufgaben länger gedauert hatte. Die Schulranzen auf dem Weg und im Kino waren lästig. Sie wurden deshalb in einem Bäckerladen abgestellt, der auf dem Weg lag. Bei der guten Bäckersfrau stapelten sich die Schulranzen, die erst Stunden später auf dem Nachhauseweg wieder von ihnen abgeholt wurden. Es gab nahe hinter der Sektorengrenze die Film-Theater Lido, Stella, WBT, Oppelner und Casino. Bei Vorlage irgendeiner Ost-Identifikation, das konnte auch ein Pionierausweis sein, zahlte man mit einer Ostmark, egal wie der Kurs gerade stand. Es war möglich, nach einem Film sofort ins nächste Kino zu gehen, da die Anfangszeiten um 15 Minuten versetzt lagen. Wenn das Geld für die zweite oder dritte Vorstellung nicht reichte, begab man sich in eine der zahlreichen kleinen Stehhallen und hörte sich die neuesten Schlager aus den ständig spielenden Musikboxen an. Irgend jemand hatte immer ein Paar Pimperlinge übrig, um eine neue Platte aufzulegen. Wieder zu Hause eingetroffen, fragte Mutter, eher aus Routine denn wissbegierig:

„Wie war es in der Schule, war was los?“

Auf dem selben Level kam die Antwort:

„Alles knorke heute!“

Unausgesprochen blieb, dass das „Schulprogramm“ des Tages aus ein, zwei, ausnahmsweise sogar drei Western-Filmen bestand. Die Vorfreude galt bereits dem nächsten Kälteferien-Tag. Rolands Eltern blieben die täglichen Ausflüge nicht verborgen. Am Grenzübergang versah nämlich ein Polizist, der in Rolands Wohnhaus in der fünften Etage wohnte, seinen Dienst. Der hatte natürlich nichts Besseres zu tun, als seinem Genossen, Rolands Vater, zu berichten, dass er täglich seinen Sohn mit den Klassenkameraden in den Westen wandern sehe. Die Kasperle-Einnahmen sprudelten synchron zu den Kälteferien prächtig. Mit dem Ende der Kälteperiode gingen auch die Kasperle-Einnahmen zurück. Womöglich war die Gutgläubigkeit der Mütter ausgenutzt, täglich würde den Kindern ein „neues“ Programm geboten.

Im achten Schuljahr machte man Roland als „Pionier“ automatisch zum FDJ-ler. Bedeutender in diesem Schuljahr war jedoch, dass die Konfirmations- und Jugendweihefeiern stattfanden. Für Roland war, dem sozialistischen Menschenbild entsprechend, die Jugendweihe vorbestimmt. Seitdem Mutter mit Kurt verheiratet war, gab es abends kein gemeinsames Gebet vor dem Einschlafen mehr, Roland wurde atheistisch erzogen. Gleich ob Einsegnung oder Jugendweihe, in allen Familien legte man Geschenke und Geld zurück, um den Übergang vom Kind zum Erwachsenen unvergesslich werden zu lassen.

Roland wurde von Kopf bis Fuß als „Mann“ eingekleidet. Sakko, lange Hose, Hemd mit Umschlagmanschetten, Manschettenknöpfe, Krawatte und gerade in Ostberlin in den Verkauf gelangte Kreppschuhe. Die Gesamtkomposition, von Mutter Margot zusammengestellt, spiegelte formvollendeten höchsten Standard. Roland gab mit einer Größe von etwa 1,70m eine gute Figur ab. So stand er dann zwischen den Mädchen seiner Klasse. Wunderschöne Petticoats, dazu Lack-Ballerina-Schuhe, Seidenhandschuhe, Handtäschchen und hochgesteckte Frisuren machten aus ihnen plötzlich kleine Damen. Ab jetzt ging Roland wie ein Erwachsener gekleidet ins Theater, nicht mehr mit gebügelter kurzer Hose über langen Strümpfen. Eine vergoldete Armbanduhr mit Datumsanzeige ersetzte die verchromte Taschenuhr. Das Stück aber, das alle anderen Geschenke übertraf, war ein Kofferradio. Mit dem Kofferradio gab es wenige Tage später Ärger. Jetzt war es Roland, der mit einem Kofferradio im Arm dastand. Von einer Gruppe Jungen umringt, hörten sie im RIAS die „Schlager der Woche“. Um den Klang weithin schallen zu lassen, fand diese Anhörung im Säulengang des Nachbarblocks statt. Prompt erschien der für den Abschnitt zuständige Polizist und kassierte unter großem Protest der Anwesenden Rolands Kofferradio:

„Det Kofferradio bekommste wieder, wenn dein Vater mit dir uffs Revier kommt!“

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Vater zu beichten, dass er „Schlager der Woche“ gehört hätte. Auf dem Polizeirevier angekommen, erklärte der eine Polizist-Genosse dem anderen Genossen, Roland sei das Kofferradio wegen “Gedanken groben Unfugs“ abgenommen worden. Sein Vater reagierte anders als erwartet. Er kommentierte die schlichte Begründung des Genossen Polizisten nicht. Das Kofferradio, welches wieder zurückgegeben worden war, gab der Vater ohne weitere Auflagen oder Belehrungen an den Sohn weiter.

Wie inzwischen in fast jeder Familie im Haus, gab es natürlich auch bei Roland ein Fernsehgerät. Abends, manchmal bis neun Uhr, schaute die ganze Familie gemeinsam. Er durfte auch, wenn er die Hausaufgaben erledigt hatte, alleine fernsehen. Ausdrücklich war ihm verboten, auf den Westsender umzuschalten. Dem Verbot schenkte er keine Beachtung, weil er es als unangebrachte Bevormundung empfand. Da er nachmittags gegen 14 Uhr zu Hause war und die Eltern regelmäßig immer gegen 18 Uhr eintrafen, schaute er also Westfernsehen. Das Geräusch des Fahrstuhls und das Geklapper der Fahrstuhltür auf der Etage ließen ihm immer genug Zeit, um schnell auf den Ostsender zurückzuschalten, bevor die Eltern das Wohnzimmer betraten. Eines Tages fragte ihn sein Vater unmittelbar nach seiner Heimkehr:

„Hattest du gerade Westfernsehen an?“

Roland im Brustton der Überzeugung: „NEIN!“

„Gibst du mir dein Ehrenwort darauf?“

Roland gab sein Ehrenwort!

Daraufhin zeigte der Vater ihm den Ratschendrehknopf, mit dem man die Sender, "klack, klack, klack" einstellen konnte. Der untere, nicht im Blickfeld liegende Sektor der Ratsche war vom Vater mit einem kleinen schmalen Papierstreifen überklebt worden. Beim Drehen des Knopfes auf den Westsender war der Papierstreifen zerrissen.

Roland hatte seine Ehre verloren!

Das war für ihn dermaßen demütigend, dass er noch Jahre später vieles dafür getan hätte, um vom Vater bezüglich des Ehrenwortes Absolution zu erhalten. Die bekam er nie!

Das Westfernsehen am häuslichen Gerät fand für Roland ab sofort nicht mehr statt. Er ging nunmehr immer drei Etagen höher zu einer Familie, in der zwei Söhne Westfernsehen anschauen durften, so oft, so lange und wann sie wollten. Gegen 18 Uhr ging er dann hinunter, um mit den Eltern pünktlich zu Abend zu essen.

Roland hatte es doch tatsächlich vollbracht, die Schule zu beenden, ohne jemals eine "4" auf dem Zeugnis zu haben. Seine minimalistische Einstellung fand er bestätigt. Die Schule lag hinter ihm. Vor ihm stand die Entscheidung, wie er mit dem Abschluss der achten Klasse seine berufliche Ausbildung angehen sollte.

Sein Vater wechselte von der Tageszeitung, zum Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN). Margot arbeitete inzwischen auch dort. Als Auslandskorrespondent reiste er jetzt durch die Welt. So kam er von Aufenthalten in Paris, Melbourne und Kairo zurück, was für Roland höchst beeindruckend war. Er hatte viel über die Kontinente und ihre Länder gelesen. Andere Kulturen, ihre Geschichte und Reisebeschreibungen fesselten ihn. In seiner Bibliothek standen zum Beispiel drei bebilderte Bände "Afrika", von denen er Passagen auf die Seite genau aufschlagen konnte, so oft hatte er sie gelesen. Er hatte Fernweh und wäre gerne als Abenteurer oder Archäologe unterwegs gewesen. Wenn es also um seine berufliche Orientierung ging, konnte es sich nur um ein Berufsbild handeln, welches ihm das Tor zur weiten Welt öffnen würde. Pilot, das erschien ihm trefflich.

In der DDR war gerade der Aufbau einer eigenen Flugzeugindustrie angelaufen. In Ludwigsfelde bei Berlin war mit dem Bau von Strahlturbinen begonnen worden. Roland las von einem Internat, gelegen in Ludwigsfelde bei Berlin, in dem Facharbeiter ausgebildet wurden und gleichzeitig Segelflug betrieben werden konnte. So fuhr er nach Ludwigsfelde, schaute sich das Internat an und sprach mit Internats-Lehrlingen und Ausbildern. Beeindruckt vom Enthusiasmus der Lehrlinge und ihrer Ausbilder, kam er nach Berlin zurück. Während der Berufsausbildung den Einstieg in die Fliegerei zu bekommen, das als Einstieg, gefiel ihm schon mal gut. Besser noch war die Aussicht als einer der besten Segelflieger, die Motorflugausbildung anzuschließen. Sein Entschluss stand fest. Die Chance, über den Segelflug zum Motorflug zu kommen, um Pilot zu werden, wollte er ergreifen. Er wollte unbedingt auf das Internat, und so war ihm die konkrete Benennung eines Facharbeiterberufs in seiner schriftlichen Bewerbung vollkommen nebensächlich. Nie vergaß er die Formulierung eines Satzes aus seinem damaligen Bewerbungsschreiben, das er an die Direktion der Flugzeugwerke, zu Händen des Herrn Professor Dr. BAADE, richtete: „….es wäre nebensächlich, ob er einen Ausbildungsplatz zum Hobler, Dreher, Fräser, Werkzeugmacher oder Triebwerkmechaniker bekäme, Hauptsache sei, er werde in das Internat aufgenommen.“ Sein Internatswunsch nach Ludwigsfelde traf voll auf die Interessenlage seiner Eltern. Die planten einen mehrjährigen Auslandseinsatz im Auftrag des ADN. Mit dem (fernen) Berufsziel seines Sohnes kam der Vater gut zurecht. Er sah den Ausbildungsweg zu einem Piloten der DDR-Lufthansa anders als sein Sohn, weil er das Abitur als den besseren Einstieg betrachtete. Also besorgte er rechtzeitig die Vertragsunterlagen eines ebenfalls in Ludwigsfelde befindlichen Internats, in dem mit dem Abitur auch Segelflug mit späterem Zugang zum Motorflug möglich wäre. So kam es, dass zwei unterschiedliche Vertragsunterlagen für Rolands Ausbildung auf dem Tisch lagen. Es gab eine denkwürdige Zusammenkunft im Arbeitszimmer des Vaters. Das Einverständnis musste gegenüber dem Internat auch durch die Unterschrift der Eltern erklärt werden. Hinter seinem Schreibtisch sitzend fragte der Vater den Sohn:

„Welchen der zwei vor dir liegenden Verträge willst Du von mir unterschrieben haben?“

Roland, völlig von sich überzeugt und froh, aus dem Schulbetrieb 'raus zu sein:

„Bitte unterschreibe den Vertrag, für das Internat Lehrlingskombinat „Philipp Müller“! Ich mache dort den Facharbeiter zum Universal-Fräser. Das Handwerkliche reizt mich mehr als die Oberschule.“

Der Vater sah Roland lang und ernst an.

„Ich kann jetzt einfach unterschreiben, so wie du es möchtest. Überlege es dir jetzt endgültig! Wenn ich jetzt so unterschreibe wie du es forderst, will ich in Zukunft nie einen Vorwurf von dir hören!“

Roland, 14 Jahre alt, von sich überzeugt, alles zu können, alles zu verstehen und alles erreichen zu können was er sich vornimmt:

„Niemals werde ich dir einen Vorwurf machen, darauf kannst du dich verlassen, darauf hast du mein Wort!“

Roland war der ernste Unterton seines Vaters und sein zögerliches Handeln unverständlich. Was sollte es seinerseits später schon für Vorwürfe geben, von ihm, dem deutschen Facharbeiter. Arbeiter in der DDR zu sein, war doch der von allen gelobte gesellschaftliche Status. Außerdem würde der Facharbeiterabschluss nur eine kurze Episode auf seinem Berufsweg zum Piloten darstellen. Irgendwo hatte Roland den Spruch gelesen, ihn quasi zu seinem Credo erkoren:

„Ich weiß alles, ich kann alles, ich darf alles!“

Mit dieser, ihm auch später oft als provokant und überheblich ausgelegten Äußerung, verlangte er die Unterschrift vom Vater. Der unterschrieb den Antrag zur Ausbildung als Facharbeiter zum Universalfräser, im Internat „Philipp Müller“.

Rolands letzte Vorbereitung auf das Erwachsensein war der Besuch einer Tanzschule. Eine solche befand sich nur fünf Minuten von der Wohnung entfernt. Schulabgängern, die es verpasst hatten, vor Konformation oder Jugendweihe tanzen zu lernen, wurde im Juli ein 1957 Kurs für Standarttanz angeboten. Über 6 Wochen, wochentags, täglich nachmittags, wurde unter engagierter Anleitung geübt. Roland bekam nicht die Tanzpartnerin seiner ersten Wahl, aber immerhin konnte er sich bei einem Mädchen eintakten, das Rhythmus im Blut zu haben schien und stolz darauf war, von ihm geführt zu werden.

Die Tanzpartnerin seiner Wahl wäre allerdings ein Mädchen gewesen, das bereits in einem Parallelkurs für Fortgeschrittene von einem Jungen betanzt wurde. Man nannte sie Gina. In ihrer schönen Aufmachung war sie der Star unter den Tanzschülerinnen. Hintergrund ihrer adretten Erscheinung war die Schneiderwerkstatt ihres Vaters in Verbindung mit ihrer Lehrstelle. Ihr war gelungen, was einem Lottogewinn gleichkam. Der Berufswunsch "Friseuse" stand bei tausenden Mädchen an erster Stelle. In der damaligen Planwirtschaft waren demgegenüber aber in Ostberlin nur wenige Lehrstellenplätze für den Jahrgang vorgesehen. Gina konnte aus dem Vollen schöpfen, weil sie einen Lehrvertrag in einem privat geführten Friseursalon für Damen und Herren in der Schönhauser Allee bekommen hatte. Ihr Lehrmeister war eine große Nummer in der Handwerksinnung und so kam Gina als Haar-Kopf-Modell kostenlos zu den aktuellsten Frisuren.

Sie erschien zum Kurs gekleidet und frisiert wie die Damen von Welt auf dem Kurfürstendamm.

Im gegenüberliegenden Hausblock von Rolands Wohnung gab es die Gastronomie “Frankfurter Tor“. Im Erdgeschoss befand sich eine große Speisegaststätte und in der darüber liegenden Etage ein Tanzcafé. In dieses Tanzcafé gingen die Schüler nach dem Üben, um mit den erlernten Schritten Ehre einzulegen. Dieses Vergnügen währte aus zweierlei Gründen nicht bis zum Ende der Live-Musik. Der Umsatz, den Roland und alle zusammen zustande brachten, war es nicht, der sie beim Bedienungspersonal und der Kapelle zu gern gesehenen Gästen hat werden lassen. Das Erscheinungsbild als Jugendgruppe, angemessen gekleidet, die Jungs mit „Schlips und Kragen“, die Mädels in ihren von Petticoats ausgestellten Kleidern, und als die Schritte beherrschende Tanzpaare, gaben den Ausschlag. Wenn um 19: 00 Uhr der Kapellmeister die Gäste begrüßte, sich und jeden Musiker des Quartetts vorgestellt hatte, waren bei Erklingen der ersten Melodie die Tanzschüler auf dem Parkett. Die Erwachsenen wären zu diesem Zeitpunkt ohne deren Aktivität noch gar nicht in Tanzstimmung gewesen. Sie wurden sozusagen vorzeitig animiert. Gina war inzwischen die ständige Begleiterin von Roland - modischschick, schlank, halblang topfrisiertes schwarzes Haar, braune Augen und aufregend proportioniert. Sie tanzte wie sie aussah. Die Zeit musste genutzt werden, denn um 22.00 Uhr war für die Minderjährigen "Schluss mit lustig". Der zweite Grund für ein vorzeitiges Tanzende waren junge Männer, älter als die Tanzschüler, die deren Tischdamen aufforderten oder einfach auf der Tanzfläche abklatschten. Gina ließ sich nicht abklatschen, sie wollte Roland. Oft saßen die mitgebrachten Mädels, von Rolands Freunden eingeführt, bis zu ihrem Zapfenstreich an den Tischen anderer Kavaliere. Die meisten Mädchen folgten nicht aus überschwappender Sympathie zu Karl-Heinz, Manfred, Wolfgang, Klaus oder Roland. Sie kamen einfach mit, weil sie wussten, mit Rolands Freunden kämen sie an der Einlass-Garderobe vorbei. Manfred und Karl-Heinz waren gerade 18, und Roland ging in ihrer Begleitung optisch auch als volljährig durch. Selbst wenn die Freunde einmal nicht dabei waren, reichte Rolands adretter Auftritt. Andere Jungen im gleichen Alter oder junge Männer machten sich an die Begleiterinnen von Roland und seinen Freunden 'ran und hatten ihnen als Kavaliere mehr zu bieten. Sie kamen als Westberliner oder Ostberliner, hatten in Westberlin Arbeit oder standen dort in Ausbildung. Westgeld, 1: 4 bis 1: 6 umgetauscht, machten sie Roland und Freunde zu zweiten Siegern.

Rolands Eltern waren zwei Monate bevor er ins Internat ging, zu ihrem Auslandseinsatz nach Damaskus abgeflogen. Von der Partei SED bekam Roland einen „Paten“ gestellt. Das war ein alter Genosse, bei dem er sich alle zwei Wochen zu melden hatte, oder jederzeit kommen konnte, um zu erzählen, was es Neues gäbe. Von ihm bekam er ein Taschengeld von 30 Mark pro Monat ausgehändigt. Wenn Roland, plausibel und ausnahmsweise, einen höheren Bedarf reklamierte, entschied der „Pate“ über den geforderten Betrag. Die Wohnung wurde von der schon jahrelang für die Familie arbeitenden Zugehfrau sauber gehalten. Ihr oblag auch die Pflege von Rolands Wäsche. Das Taschengeld besserte sich Roland durch Besuche bei seinen Großeltern, Onkels und Tanten in Westberlin auf.

AUFRECHT IN BERLIN

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