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2. Kapitel

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Es war nicht zu fassen. Aber am nächsten Tag wirkte diese konsternierte Frau wie verwandelt. Als diplomierte wissenschaftliche Assistentin des Amtsrates Dr. Hendrik Willberg im hiesigen Katasteramt zog sie wieder einmal alle Register. Nichts mehr erinnerte an ihre gestrige Entgleisung und sie strotzte nur so vor Energie. Hinzu kam ihre modische Eleganz.

So war ihr seitlich gescheiteltes rötliches Haar sorgfältig gestylt und vermittelte den Eindruck von Exaltiertheit und Selbstwert. Zudem sorgte ein besonderer Conditioner für den nötigen Glanz. Und während ein heller Concealer die beginnenden Schatten unter den Augen wirksam milderte, ergänzte die rahmenlose Designerbrille ihren intellektuellen Touch nahezu perfekt. Lediglich die auffallend spitzen Nägel an den von goldenen Ringen überfrachteten Fingern ließen auf eine krankhafte Manie schließen. Am raffiniertesten jedoch war ihr Kostüm aus grauem Taft, das, hauteng geschnitten, ihre Figur ganz wunderbar betonte. Darin verstand sie vorzüglich zu posieren. Jede Bewegung wirkte wie einstudiert, vor allem, wenn ihr seitlicher Rockschlitz unerlaubt viel Schenkel zeigte, welche zu allem noch in verführerischen Nahtstrümpfen steckten. Abgerundet wurde das Ganze durch einen betörenden Duft nach Amber von Prada, ihrem Lieblingsparfüm, wofür sie regelmäßig ein kleines Vermögen ausgab.

Dabei war sie mit ihrer hochgewachsenen, schlanken Gestalt durchaus nicht unansehnlich. So besaß sie ein längliches Gesicht mit einer leicht vorspringenden Nase, zwei wundervolle blaue Augen, die besonders in emotionalen Momenten äußerst rührselig dreinschauen konnten und einen bezaubernd sinnlichen Mund. Lediglich die zu flache Brust und das etwas zu kräftige Kinn milderten ihren Sexappeal.

Eigentlich hätte sie mit sich ganz zufrieden sein können und mit etwas mehr Charme wäre ihre jahrelange Einsamkeit sicher längst beendet gewesen. Und doch galt die beabsichtigte Wirkung weniger einem Mann als vielmehr einer Frau, welche – und das schien paradox – ihr weder würdig noch gewachsen schien. Unter normalen Umständen hätte sie diese zweifellos ausgestochen. Aber aufgrund der momentanen beruflichen Konstellation war das kaum möglich.

Handelte es sich doch um niemand anderen als die Vorzimmerdame ihres gemeinsamen Chefs – eine aufgedonnerte Blondine mit dem albernen Kürzel ‚Mako‘ - für Maren Kosinski. Als Abteilungsliebling nahm sie sich so manches heraus, was puren Frechheiten gleichkam. Diese beschränkten sich nicht nur auf einen schnodderigen Ton oder aufdringliche Koketterien. Es waren vor allem die ständigen Diffamierungen und verbalen Attacken, womit sie ihre Autorität als Assistentin des Doktors untergrub. Schon deshalb herrschte zwischen ihnen schon seit langem so etwas wie ein Zickenkrieg, sehr zum Amüsement der männlichen Kollegen. Aber mit Eigenschaften wie vorlaut, flippig, mannstoll und maßlos von sich eingenommen, repräsentierte diese Kosinski so ungefähr alles, was eine Frau ihrer Meinung nach nicht sein sollte. Nur sah das niemand.

Vielmehr verstand sie mit ihren Modelmaßen und dem kirschrotem Schmollmund nicht nur ihr Spatzenhirn zu verdecken, sondern auch gewisse Mannesregungen zu entfachen - vor allem die des gemeinsamen Chefs. Dabei hatte der sich anfangs noch gesträubt. Doch spätestens nach dem ersten Augenzwinkern, verbunden mit einer zweideutigen Bemerkung, begann er zu schwächeln.

Aber ehrlich gesagt, befand er sich schon seit langem in der Rolle eines willenlosen Trottels, der ihr aus der Hand fraß. Dabei war diese Mako genau genommen nichts weiter als eine gewöhnliche Tippse, welche Post machte, ihm Kaffee kochte und sich die Nägel feilte. Nicht genug, dass es ihr an fachlicher Qualifikation mangelte - sie war mit ihren gerade mal Mitte zwanzig auch bereits Mutter eines Kleinkindes, natürlich ledig, bis über die Ohren verschuldet und total abgebrüht. Der Kindesvater soll ein Trunkenbold gewesen sein, der sie verprügelte und sogar schon mal auf den Strich geschickt habe. Selbst ein Frauenhaus war ihr nicht unbekannt, wie einigen ihrer Bemerkungen zu entnehmen war. Alimente zahlte er offenbar keine, so dass die junge Mutter auf staatliche Hilfe angewiesen war. Das erzählte sie auch noch überall herum, um bedauert zu werden.

Doch erstaunlicherweise störte das niemandem, am wenigsten den Doktor, obgleich er normalerweise ein von Sachlichkeit und strengen Prinzipien geprägter Mann war. Und doch vergaß er das sehr schnell, sobald es seine Mako wieder mal darauf anlegte. Als man beispielsweise neulich im Rahmen eines wichtigen Gesprächs zusammensaß und nach einer Problemlösung suchte, starrte er ihr während des Kaffeeservierens derart in den Ausschnitt, dass es sogar der sonst so trägen Kollegin Kern aus der Nachbarabteilung auffiel. Darüber entsetzt, warf sie ihm einen empörten Blick zu, was er aber in seiner Gedankenverlorenheit nicht mal mitbekam. In der Tat fehlte nicht viel und er hätte ihr vor versammelter Runde auch noch auf den Hintern geklapst, so vernarrt schien er in sie zu sein.

Was fand er nur an dieser Schlampe? Etwa dieses billige Flitterspray im Haar oder das Piercing an der Lippe? Lächerlich! Ebenso zeigte das ihren ganzen linken Arm bedeckende Tattoo ihre Abgeschmacktheit, vornehmlich, wenn sie ihr verboten knappes Top mit den Spaghettiträgern trug. Am schlimmsten aber war ihre Frisur. Wie konnte man sich nur so entstellen! Während die ganze linke Seite weit ausrasiert war, baumelte das übrige Haupthaar in stumpfen abgebrochenen, mit irgendwelchem Gel versteiften Strähnen ständig wild durcheinander und erinnerte an einen explodierenden Wellensittich. Das war weder hipp noch trendy, sondern einfach nur peinlich.

Daraus blieb nur zu folgern, dass dieser hochgestochene Analytiker und wohlkalkulierende Übermensch gar nicht so hochgestochen war. Vielmehr entpuppte er sich als armseliges Würstchen, sobald ihm das Hirn unter die Gürtellinie glitt. Dabei hatte seine Assistentin doch wesentlich mehr zu bieten. Nur sah er das nicht. Selbst als er neulich infolge eines flüchtigen Zusammenstoßes ihre Brust berührte und damit eine heiße Welle in ihr auslöste, zeigte er sich eher erschrocken.

Die Sache war die, dass sie, vor einem Regal stehend, an ihm vorbei musste, indes er aufgrund Platzmangels noch höflich sein Jackett gegen den Bauch drückte. Im Moment ihres Passierens aber blieb ihr Hacken so unglücklich an einer Linoleumkante hängen, dass sie beinahe gefallen wäre. Glücklicherweise fing er sie auf, wobei es dann zu dieser Berührung kam und sie sich darüber ganz pikiert gab. Dabei wollte ihr scheinen, als währte seine Hilfe länger als nötig. Natürlich konnte das auch trügen, zumal er sich auch sofort entschuldigte. Und doch plagte sie seither die Ungewissheit. Die Folge waren mehrere schlaflose Nächte mit der quälenden Frage, was wohl geschehen wäre, hätte sie ihm in diesem Augenblick statt Ablehnung ein Wohlgefallen signalisiert.

Es blieb unbegreiflich, aber obwohl Carola wusste, dass ihr Schatz (wie sie ihn insgeheim längst nannte) verheiratet war und neben zwei Kindern noch diese Geliebte besaß, konnte sie ihre Gefühle für ihn nicht abstellen. Ihr Verlangen nach ihm führte zu einer geradezu schmerzhaften Sehnsucht, die nicht selten in überaus bizarren Träumen endete, deren Inhalt sie niemandem gestehen konnte.

Das war ja auch kein Wunder, denn nach ihrer letzten großen Enttäuschung vor nunmehr gut zehn Jahren mit einem völlig ungeeigneten Mann, musste ihr dieser Doktor mit seinem resoluten Auftreten und der geschliffenen Kasuistik wie ein Ideal erscheinen. Zudem entsprach er mit seinem Gardemaß von 190 cm, der schlanken Gestalt und den fein geschnittenen Zügen durchaus dem Sinnbild der Männlichkeit schlechthin, auch wenn seine Stirnecken bereits weite Schneisen aufwiesen und zahllose Fältchen sein fortgeschrittenes Alter verrieten. Aber womöglich war es gerade das, was sein Charisma ausmachte. Allein sein Lächeln vermochte in ihr ein Feuerwerk zu entfachen und jeder noch so flüchtige Körperkontakt einen Schauer.

Wie wundervoll hätte doch alles sein können ohne dieses verdammte Miststück! Es war zum Auswachsen! Wie vermochte er seinen Arbeitstag so oft zu verlängern, ohne sich die geringsten Gedanken ob der Glaubhaftigkeit der Ausflüchte gegenüber seiner Frau zu machen? Vor allem aber, wie konnte er so naiv sein, nicht zu sehen, was um ihn herum geschah? Ständig scharwenzelte dieser widerliche Lucas Hövelmann aus der Nachbarabteilung um ‚seine Mako‘ herum und selbst dessen Chef nannte sie mitunter sein ‚süßes Schneckchen‘. Verwunderte ihn nicht, wieso dieser Trottel von Systemtechniker auffallend lange unter ihrem Tisch hockte und an ihrem Tower nach einer Problemlösung suchte, während sie Solitär spielend die Beine auffallend weit auseinander stellte?

Das war doch alles offensichtlich! Nein, er konnte diese Tusse nicht lieben, das war unmöglich und allein nur ihren körperlichen Reizen zu verfallen, erschien kaum wahrscheinlich. Es musste etwas anderes geben, was ihn an seinem ‚Hasenfratz‘, wie er sie albernerweise nannte, faszinierte. Und während er nicht müde wurde, ihr neue Kosenamen zu geben, blieb sie für ihn Kollegin Ritter, die unscheinbare Assistentin, mit der man hin und wieder ein nüchtern-sachliches Gespräch führt. Das war schon sehr ernüchternd. Kein Wunder, dass ihr Hass auf ihre Rivalin wuchs und sich bald in allerlei absurden Phantasien entlud.

Wie wäre es mit einem kleinen Unfall? In der Tat hatte Carola schon darüber nachgedacht und einen Stoß in den Rücken kurz vor der einfahrenden U-Bahn in Erwägung gezogen. So aus dem Gedränge heraus könnte es unbemerkt bleiben. Ebenso wäre die Verabreichung eines gewissen Medikamentes denkbar, das über einen längeren Zeitraum schlimme Folgen bewirkt. Darin kannte sie sich aus, nicht zuletzt aufgrund der eigenen Medikamentensucht. Doch immer wieder zögerte sie, zumal es auch hoffnungsvolle Zeichen gab.

Denn während er sich in Makos Beisein niemals verstimmt zeigte, änderte sich das bei ihrer Abwesenheit. Dann wurde er manchmal ganz melancholisch und redete sogar mit einem gewissen Respekt von seiner Frau, als bedauere er, ihr so etwas anzutun. Schon deshalb fühlte sich Carola versucht, ihm endlich die Augen zu öffnen, mit welchem Früchtchen er sich umgab.

Und eine solche Gelegenheit ergab sich tatsächlich bald. Wie es der Zufall wollte, gab es an diesem Tag ein wichtiges Projekt zu besprechen. Bereits zwei geschlagene Stunden saßen sie beide am Versammlungstisch und grübelten über Lösungswege. Es war aber auch wie verhext. Alles, was der Doktor vorschlug, wurde von ihr offenbar schon aus Prinzip abgeschmettert, ohne dass sie selbst eine gangbare Lösung aufzeigte. Das begann ihn zunehmend zu reizen, zumal das dafür vorgesehene Zeitbudget längst überschritten war.

Da platzte ihm der Kragen. „Tut mir leid, aber ich verstehe Sie nicht, Frau Ritter! Diese Antwort war wieder einmal typisch! Warum sagen Sie ja, wenn Ihre Antwort doch nein bedeutet?“

Die Angesprochene sah ihn erschrocken an und meinte für einen Moment, irgendeine Finte zu wittern. Dann aber erwiderte sie gelassen, wenn man Diskussionen von vornherein auf ihr Ergebnis beschränke, kämen sie wohl kaum zustande.

„Das ist nicht die Frage! Nur muss man das Ergebnis auch zulassen! Aber diesen Eindruck habe ich bei Ihnen leider nicht!“, intervenierte ihr Chef, der nicht mochte, wenn man ihm in Grundsatzdingen widersprach.

„Ich kann Ihnen nur versichern, dass ich meine Überlegungen nach rein sachlichen Aspekten abwäge. Im Übrigen, wo wir gerade dabei sind – ich finde dieses alberne ‚Sie‘ und ‚Frau Ritter‘, nach all der Zeit, die wir uns kennen, unangebracht.“

Er sah sie verdutzt an. „Wie kommen Sie denn darauf?“

„Ich stelle das nur mal fest, nachdem mir in letzter Zeit so einiges durch den Kopf gegangen ist.“

„Durch den Kopf gegangen? Was meinen Sie?“

„Darf ich offen reden, Herr Doktor?“

„Aber natürlich! Ich bitte darum!“ Seine Empörung wich zunehmend echter Verwunderung.

„Ich finde, Sie schenken Frau Kosinski zu viel Aufmerksamkeit und das ist nicht gut für Sie und vor allem das Arbeitsklima.“

„So so, finden Sie das?“ Sein Ton wurde sofort wieder zynisch. „Und deshalb bieten Sie mir das Du an? Wie soll ich das verstehen?“

„So, wie ich es sage! Sehen Sie mich doch endlich als gute Freundin an und nicht als ewige Assistentin. Es kränkt mich.“

„Ja aber, und überhaupt“. Er kam ins Stammeln und wusste für einen Moment nichts zu erwidern. Dann aber schaute er beinahe erheitert drein. „Nun ja, Carola wäre schon einfacher“, kicherte er, wobei man ihm sein Unbehagen ansah. „Aber das ist völlig unmöglich! Man könnte ja sonst etwas denken! Deshalb sollten wir es beim Sie belassen.“

„Interessant, wie Sie das sagen und dabei nicht einmal erröten. Mit ihr da draußen haben Sie offenbar nicht so ein Problem.“ Sie wies mit dem Kinn in Richtung Vorzimmer.

Der Doktor fühlte sich unangenehm berührt. Was erlaubte sie sich eigentlich? Und doch wagte er keinen Einwand. Vielmehr überging er diesen Lapsus mit der Bemerkung, dass dies jetzt nicht das Thema sei. Vielmehr erwarte er bei Sachgesprächen etwas mehr Selbstdisziplin und Zielorientierung.

„Oh ja, vor allem Zielorientierung“, stichelte Carola weiter und deutete mit einem vielsagenden Kopfnicken zu jener Ecke hin, wo sie ihn neulich mit seiner Mako erwischt hatte. An diesem Tag war sie unangekündigt ins Zimmer geplatzt und hatte diese kleine Schlampe vor ihm stehend vorgefunden. Diese rückte gerade ihren Rock zurecht, während er sich, auf dem Stuhl sitzend, die Hose zuknöpfte. Gott, war ihm das peinlich, hingegen dieses Luder nur schamlos grinste. Auch wenn die Hereintretende so tat, als hätte sie nichts bemerkt, tat es dennoch weh.

„Ich glaube, es ist besser, wenn wir das Gespräch ein anderes Mal fortsetzen“, blockte der Doktor peinlich berührt ab, setzte sich an seinen Schreibtisch und widmete sich wieder seinen Akten.

„Ja, natürlich! Es ist ja angenehmer, solche Peinlichkeiten zu vermeiden, nicht wahr? Doch sie werden dadurch nicht besser, im Gegenteil!“

„Ich muss doch sehr bitten, Frau Ritter! Das sind Dinge, die Sie nun wirklich nichts angehen!“

‚Schwein‘ dachte Carola und hätte ihm am liebsten eine geknallt. Was lag ihr jetzt nicht alles auf der Zunge. Und hätte er noch ein Wort gesagt, sie hätte sich vergessen. Er schien das auch zu ahnen, denn er vertiefte sich auffallend schnell in seine Unterlagen. Was blieb ihr, als verbittert den Raum zu verlassen und die Tür hinter sich zuzuknallen? Im Vorzimmer wäre sie beinahe noch mit seiner Gespielin kollidiert, die unmittelbar hinter der Tür in einer Akte wühlte. Natürlich hatte sie gelauscht und freute sich nun diebisch über diese Abfuhr. Carola würdigte sie keines Blickes.

Kaum wieder in ihrem Zimmer, musste sie durchatmen. Dieser Mann war nichts weiter als eine Null, dessen blendende Fassade einen faulen Kern umhüllte! Dabei war er früher ganz anders gewesen. Sie war überzeugt, dass ihn erst Makos Einfluss ruiniert und zur Lachnummer hatte verkommen lassen. Begriff er denn nicht, was sie aus ihm machte? War er wirklich so schwach, sich dagegen zu wehren?

Sie stürzte auf die Toilette und musste sich übergeben. Dort saß sie eine ganze Weile zusammengekauert und heulte Rotz und Wasser. Kaum aber war diese Schwäche vorüber, beschloss sie, ihren schon lange gefassten Plan endlich in die Tat umzusetzen. Dabei rang sie noch sehr mit sich und war so verwirrt, dass sie die beabsichtigte Botschaft in Textform verfassen musste, um sie im Bedarfsfall auch flüssig abzurufen. Immer wieder formulierte sie diese Zeilen, korrigierte, verwarf und schrieb am Ende neu, denn es hing viel davon ab. In jedem Fall aber musste es glaubhaft klingen.

Aber da war noch das quälende Gefühl der Denunziation. Nicht abzusehen die Folgen, wenn er dahinter käme. Dennoch ließen ihr Zorn und Hass keine Wahl. Zuvor aber musste sie sich unbedingt vergewissern, ob es heute auch tatsächlich dazu käme. Dafür genügte es jedoch nicht, nur nachzuschauen, ob sein Wagen noch vor der Tür stand. Nein, sie musste es mit eigenen Augen sehen.

Also blieb Carola an diesem Tag ebenfalls länger. Nachdem bald alle Mitarbeiter das Gebäude verlassen hatten und sein Wagen noch immer auf dem Parkplatz stand, schlich sie durch den Flur zu seiner Bürotür hin, wo sie sogleich lauschte. Doch zu ihrem Kummer war alles still. Nun hätte man meinen können, sie habe seinen Fortgang vielleicht verpasst, wären nicht eindeutig am Dienstterminal die noch offenen Auscheckzeiten von ihm und natürlich der Kosinski zu erkennen. Die Sache war also klar.

Nur, wo steckten sie? Von der anderen Flurseite her, von wo aus ein Blick zu den beiden Fenstern des Chefbüros möglich war, konnte man keinerlei Licht erkennen. Nicht mal der Bildschirmschoner flimmerte. Folglich weilte er nicht im Zimmer und konnte überall sein. Aber ohne eindeutigen Beweis war ihr Vorhaben unmöglich.

Inmitten ihres ganzen Durcheinanders überkam sie plötzlich ein seltsames Gefühl, eigentlich mehr ein Ziehen in der Magengegend als Vorbote sich steigernder Übelkeit. Warum es gerade beim Gedanken an den Duschraum entstand, blieb ihr rätselhaft. Von einer sonderbaren Vorahnung getrieben, schlich sie jetzt in Richtung der Umkleideräume. Oh wie klopfte ihr Herz bei der Annäherung an den Waschraum! Sollte er wirklich so viel Instinktlosigkeit besitzen? Und tatsächlich! Kaum durch die Tür getreten, prallte sie förmlich zurück. Das durfte doch nicht wahr sein! Unter der Dusche also! Das wurde ja immer schöner! Zwar waren ihre nackten Körper von einem heißen Dampfschleier umhüllt, so dass nur Schemen zu erkennen waren - doch war es eindeutig. Wie Amor hielt er seine Venus von hinten umschlungen und koitierte mit ihr im Stehen.

Während diese Schlampe, leicht nach vorn geneigt, ihm lüstern ihren Steiß entgegenreckte und sich dabei mit den Händen an den Fliesen abstützte, stand ihr Liebhaber wie betäubt hinter ihr. Alles um sich her vergessend, befanden sich beide in einer derartigen Ekstase, dass sie ihre Zuschauerin selbst im Falle eines Lärms kaum bemerkt hätten. Damit nicht genug. Mako feuerte ihren Lover auch noch an, nannte ihn Schlappschwanz und Versager, während er – offenbar völlig durchgeknallt – sich alle Mühe gab, ihr das Gegenteil zu beweisen. Immer wieder stemmte er sich in sie und schob sie gegen die Wand, so dass sich ihre Wange an den Fliesen plattdrückte und sie vor Wollust kreischte. Ab und zu entfuhr auch ihm ein schwerer Seufzer und sein Gesicht wirkte eigenartig verkrampft, während sie sich vor Wonne in die Hand biss. Kurzum, einfach abscheulich und ekelhaft!

Carola hätte nicht sagen können, wie lange sie da stand und dieses widerliche Schauspiel betrachtete. Alles in ihr schien leer und abgestumpft. Das war einfach nicht zu ertragen! Sie rannte in ihr Zimmer zurück und schrie sich die Seele aus dem Leib. Verdammt, es muss etwas geschehen! Hatte dieser Mann denn kein Gewissen?

Also fasste sie sich ein Herz, legte das Taschentuch um den Hörer und rief in ihrer Verzweiflung seine Ehefrau an, eine Frau Maria Willberg-Wittge, welche ihr bisher nur einmal begegnet war. Dabei hatte diese Dame auf sie aber keinen besonders guten Eindruck gemacht, blieb wortkarg und reserviert und betrachtete ihr Gegenüber herablassend. Nein, das war keine Frau, die man lieben konnte. Ihre Verbindung schien nur einer Zweckgemeinschaft zu entspringen, entstanden aus widrigen Umständen - das sah sie klar.

Jetzt aber war Carola viel zu erregt, um sich noch länger darüber nachzudenken. Nur fand sie in ihrem Eifer den vorgefertigten Zettel nicht, kam aber zu keiner weiteren Überlegung, da sie in ihrer Rage bereits gewählt hatte und nun ein trockenes: ‚Ja, hallo“ am anderen Ende vernahm.

Nach einigem Zögern verkündete sie mit sonorer Stimme: „Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann gerade seine Sekretärin unter der Dusche bespielt. Dieses miese Schwein! Er fickt sie! Dafür sollten Sie ihm die Kehle durchschneiden und das möglichst langsam!“

Kaum ausgesprochen, legte sie auch schon auf. Schwer atmend rang sie nach Luft, stemmte sich auf den Tisch und sank in den hinter ihr stehenden Sessel. Ihr Stressasthma forderte seinen Tribut. Dann packte sie zusammen und stürzte aus dem Zimmer.

Sie wollte gerade die Treppe hinunterlaufen, als ihr von der anderen Seite plötzlich der kauzige Peter Wachtel aus der anderen Abteilung entgegen kam. Vor lauter Schreck wurde sie ganz blass. Er war ein unscheinbares Männlein von Mitte Fünfzig mit einem silbernen Haarkranz und dem verkniffenen Gesicht eines überkorrekten Beamten. Dieser besaß die Eigenschaft, immer in unpassenden Momenten aufzutauchen und dann allerlei dumme Fragen zu stellen. Schon seit längerem hatte sie das Gefühl, er habe ein Auge auf sie geworfen, war sich aber nicht sicher, da seine Bewunderung auch stets etwas Spott beinhaltete. Das machte ihn besonders widerwärtig, weshalb sie ihn lieber von hinten als von vorne sah.

Der staunte auch nicht schlecht, sie um diese Zeit noch hier anzutreffen und hätte gern mehr dazu erfahren. Normalerweise wäre sie auch darauf eingegangen, schon um seinen Argwohn nicht noch zu nähren. Da aber im Moment nichts normal war und jederzeit die Gefahr einer anderweitigen unangenehmen Begegnung bestand, blieb sie nur kurz angebunden. Das verwirrte ihn und er erkundigte sich nach dem Verbleib des Doktors. Sie antwortete darauf jedoch nur ausweichend. Damit gab er sich natürlich nicht zufrieden und setzte nun erst recht nach. „Aber warum so eilig, Frau Ritter? Wir haben doch den gleichen Weg.“ Sein Grinsen war unverschämt. Fehlte noch, dass er nach ihrem Arm fasste.

„Was Sie nicht sagen!“

„Ich denke schon. Oder meinen Sie, ich nehme die Feuerleiter?“, scherzte er und fand das wer weiß wie originell.

Was blieb ihr, als mit ihm gemeinsam die Treppe hinunterzugehen, wobei er fortlaufend irgendetwas von seinen jüngsten Erlebnissen palaverte und dabei immer wieder Bogen zu Dr. Willberg schlug, in der Hoffnung, ihr etwas zu entlocken. Doch sie ließ sich nicht beirren und wich ihm durch Lachen und Schweigen aus, selbst als er mit einer schmutzigen Vermutung herauskam, die ihm schon lange auf der Zunge lag. Aber damit war sie nicht zu fangen, schon gar nicht von ihm. Schließlich hatten sie die Ausgangstür erreicht.

„Ah, er ist also noch im Haus. Dort steht sein Auto“, stellte er grinsend fest, was nichts anderes hieß als - habe ich es doch gewusst. „Aber sagten Sie nicht, er sei schon weg?“

„Nein!“, erwiderte Carola gereizt. „Wie kommen Sie darauf? Vielleicht ist er tatsächlich noch da, vielleicht aber auch zu Fuß nach Hause gegangen! Wer kann das wissen?“

„Aber warum gleich so erregt, Frau Ritter? Ich habe doch nur höflich gefragt!“, setzte er in gekünstelter Empörung nach.

„Ich bin nicht erregt!“

„Wirklich?“

„Einen schönen Tag noch!“, erwiderte sie, ohne weiter darauf einzugehen.

Sie wandte sich gerade von ihm ab, als er ihr nachrief: „Sie haben hier etwas verloren!“ Und schon hob er ein Blatt vom Boden auf, das ihr offenbar gerade aus der Tasche geglitten war. Welcher Stich jetzt in ihrem Herzen, denn das war genau jener handgeschriebene Zettel, den sie vermisst hatte. Glücklicherweise hatte er nicht weiter draufgeschaut.

„Oh ja, danke, vielen Dank“, entgegnete sie, verstaute ihn hastig und eilte zu ihrem Auto, einem kleinen grünen Chevi, den sie stets um die Ecke parkte.

Als sie losfuhr und noch einmal am Haupttor vorbeikam, bemerkte sie im Rückspiegel, dass er noch immer vor der Tür stand und ihr auffallend lange nachschaute. Nun stand zu befürchten, dass der Doktor neben ein paar Ohrfeigen von seiner Frau noch von ihrer späten Anwesenheit erfuhr. Damit wäre für ihn alles klar.


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Liebeswahn

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