Читать книгу Das Leuchten der Sterne in uns - Teil Eins: Aufbruch - Kristina C. Stauber - Страница 5
II.
ОглавлениеDer März ging in einen verregneten April über. Das Wetter drückte auf jedermanns Stimmung. Selbst die Osterfeiertage waren verregnet.
Aus einer Laune heraus hatte Eleonore bei ihrer Antwort auf Janes Brief nachgehakt, wie das denn funktionieren solle, mit einer Anstellung und ob es denkbar sei, dass sie dort als Gouvernante arbeiten würde? Sie hatte gehört, in Amerika sei vieles so anders, so viel einfacher, weniger festgefahren.
Ansonsten hatte sie nicht viel zu berichten gewusst.
Was sollte sie auch schreiben? Jane erlebte ja so viel mehr in der Neuen Welt. Eleonore erzählte von der neuen Stelle, aber die merkwürdige Begegnung mit dem jungen Bradford und die Abmachung mit den Büchern ließ sie unerwähnt. Was gab es da auch schon zu erzählen? Er hatte ihr einmal ein Buch geliehen und schon hatte er seinen großen Plan wieder vergessen, denn seitdem hatte sie ihn weder gesprochen noch zu Gesicht bekommen. So hatte das Ganze sie lediglich in ihrer Vermutung bestärkt, dass er sich durch seine kleine heimliche Tat fürchterlich edelmütig fühlte, dann aber zu seinem Tagesgeschäft übergegangen war.
Sie hatte ein paar Besorgungen für die Köchin erledigen müssen und so die Zeit für einen Abstecher zum Postamt genutzt, um den Brief an Jane auf die Reise zu bringen.
Nun trat sie aus dem Gebäude, in dem die Feuchtigkeit, die von den vielen Menschen hereingetragen worden war, nasskalt in der Luft hing. Sie zog die Kapuze des schweren Wollcapes über den Kopf, um durch den strömenden Regen zurück zum Bradfordschen Anwesen zu eilen. Um diese Zeit waren die Straßen trotz des Wetters voll.
Eine Droschke, die an ihr vorbei fuhr, spritzte schlammiges Wasser auf. London war bei dieser Witterung mehr als trist.
Seufzend schüttelte sie sich, froh, als sie endlich wieder in der Wärme des Anwesens zurück war.
Die Hausdame saß bei einer guten Tasse Tee in der Küche und überwachte mit gewohnt strengem Blick das Treiben um sich herum.
„He da, Eleonore“, rief sie aus, als sich diese an ihr vorbeistehlen wollte.
„Solltest du nicht längst die Böden wienern? Ich meine mich zu erinnern, dass das die Aufgabe ist, die ich dir heute Morgen zugeteilt hatte.“
Eleonore schluckte. „Ja, Ma’am, es ist nur...“
Sally ging dazwischen. „Es ist gut, Ms Cunningham, ich brauchte noch dringend Eier, die alten waren nicht mehr frisch genug für das Soufflé, da habe ich sie schnell losgeschickt.“
Ms Cunningham zog die Nase kraus und warf beiden einen missbilligenden Blick zu. „Nun gut! Dann aber sofort ab an die Arbeit.“
Eleonore lieferte die Einkäufe ab, rechnete das Wechselgeld auf den Penny genau vor und band sich ein Tuch um die Haare, um dann einen schweren Kessel auf den Herd zu setzen und das Putzwasser vorzubereiten.
„Fang oben an, die Herrschaften sind allesamt außer Hauses. Dann störst du niemanden!“, rief ihr die Hausdame hinterher.
Eleonore polterte mit dem schweren Eimer und dem Schrubber ausgerüstet den Gesindeaufgang hinauf und betrat den Flur mit den Privatgemächern von der hinteren Seite. Sie fing mit den Räumen gleich zu ihrer Linken an.
Es herrschte eine ziemliche Unordnung dort. Nur der Schreibtisch war übersichtlich und aufgeräumt. Es musste der Raum von Jacob Alexander Bradford sein, mutmaßte sie.
„Fang oben an, dann störst du niemanden“, äffte sie ärgerlich Ms Cunningham nach, während sie alles unsanft abstellte. Im gleichen Ton fuhr sie fort, machte ihrem Unmut Luft, der plötzlich in ihr aufgestiegen war.
„Aber ja, Ma’am. Bitte jetzt, bitte gleich, bitte sofort!“, führte sie die imaginäre Konversation fort und hängte gleich noch einige gemurmelte Flüche dran, die eines Bierkutschers würdig gewesen wären und die sie allesamt von Jane gelernt hatte. Dann endete sie mit einer unfeinen Bemerkung über den unglaublichen Saustall, den sie jetzt aufzuräumen hatte.
„Wie meinen?“, durchbrach da eine männliche Stimme ihre Tiraden.
Sie fuhr herum. Dabei stolperte sie fast über den Schrubber, der hinter ihr lehnte, wich dem Eimer aus, und fiel dem Sohn des Hauses direkt in die Arme.
„Hoppla“, brachte der überrascht hervor und fing sie ungeschickt auf. Sie fühlte für den Bruchteil einer Sekunde seinen Atem an ihrer Wange und spürte seinen athletisch anmutenden Oberarm durch den feinen Stoff seines Hemdes hindurch. Wieder einmal wurde sie rot: Weil er sie womöglich über Ms Cunningham hatte herziehen hören, weil er sie mit Sicherheit hatte fluchen hören, und weil sie sich wie ein ungeschickter Tollpatsch verhalten hatte. Sobald sie wieder sicher stand, ließ er sie umgehend los. Sie knickste schnell. „Entschuldigung Sir, ich...“
Er hob abwehrend die Hände, zuckte mit den Schultern. Dabei spielte ein belustigter Zug um seinen Mund. „Ich habe nichts gehört, nichts gesehen… Eleonore, nicht wahr?“
„Ja, Eleonore ist mein Name“, gab sie knapp zurück. Sie ärgerte sich über sich selbst, aber irrationalerweise auch über ihn: Darüber, dass er hier im Weg stand und dass er sich so offensichtlich über sie amüsierte.
„Ich muss mich wohl entschuldigen“, kam es da von ihm. Sie nahm den Putzlappen, wrang ihn energisch aus und befestigte ihn dann am Schrubber. Dann begann sie den Boden zu wischen. Sie fragte nicht, ob er seine Räumlichkeiten, nun da er doch im Hause war, eventuell benutzen wollte und sie später wieder kommen sollte.
„Entschuldigen? Ich wüsste nicht warum.“ Sie sprach ins Leere und sah ihn nicht an, sondern wischte weiter, als ob er nicht zugegen sei.
„Nun ja, für gewöhnlich halte ich mich an meine Versprechen!“
Er folgte ihr mit seinem Blick. Als sie nichts erwiderte, sagte er: „Ich bin Ihnen doch eine weitere Bücher-Leihgabe schuldig.“
Eleonore hielt inne, stütze sich auf den Stiel und sah ihn aus schmalen Augen an. „Schuldig sind Sie mir gar nichts, Sir!“
„Doch, doch“, widersprach er. „Sagen Sie schon, wonach steht Ihnen der Sinn?“
„Nach einer dampfenden Tasse heißer Schokolade“, entfuhr es ihr. Sie hatte nicht weiter nachgedacht, die Worte waren unüberlegt über ihre Lippen gekommen. Erschrocken schlug sie sich mit der Hand vor den Mund. Was war denn heute bloß los mit ihr? Das musste das Wetter sein, da konnten die Nerven ja nur blank liegen!
„Nun“, lachte Jacob Bradford auf, „ich hatte an etwas Literarischeres gedacht, aber wenn Mademoiselle eine Schokolade wünschen, warum nicht?“
Sie sah ihn forschend an. War da Ironie in seiner Stimme gewesen? Verärgerung? Aber er sah sie in keinster Weise zürnend an. Eine Stimme in ihrem Kopf mahnte sie zur Vorsicht. Man konnte nie wissen, was die Männer im Schilde führten, es war ja mehr als hinlänglich bekannt, dass die feinen Herren sich gerne an Dienstmädchen heran machten. Scharf sog sie die Luft ein. „Nein, danke, Sir“, gab sie schroff zurück.
Für einen Moment wirkte er vor den Kopf gestoßen. Dann begann er, sie zu necken. „Oh, ich verstehe, Sie müssen Ihrer Arbeit nachgehen. Ja, wahrscheinlich haben Sie Recht, mit dem was Sie vorhin sagten: Ms Cunningham kann ein echter Drache sein. Und bei dem Saustall, der hier herrscht, ist eine Verzögerung wahrscheinlich nicht vertretbar, Sie wollen ja irgendwann auch fertig werden mit der Arbeit.“ Wieder blitzte es belustigt in seinen Augen. Eleonore hingegen stand der Mund offen. Ihr wurde heiß. Er hatte es doch gehört, jedes einzelne Wort!
Sie fasste sich nervös an das rechte Ohrläppchen. „Oh Gott, Sir, Sie haben alles… Bitte sagen Sie ihr nichts und bitte...“, sie sah ihn flehentlich an, „…bitte entschuldigen Sie, was Sie gehört haben, das war nur dummes Geschnatter!“
Er winkte ab. „Na ja, Sie haben eindeutig Recht. Das hier…“, und er zeigte mit einer ausladenden Geste in den Raum, „…ist die Definition eines Saustalls!“
Eleonore konnte sich nicht helfen und unterdrückte das Grinsen, das sich auf ihr Gesicht stehlen wollte, nur mit Not.
„Also, wie wäre es, wenn ich Ihnen als Wiedergutmachung eine heiße Schokolade hole? Es muss ja niemand wissen, dass sie für Sie ist“, fügte er schnell hinzu, als er ihren Blick sah, der gleich wieder abweisend wurde.
„Ich will Ihnen auch nichts Böses“, setzte er noch ernst nach, als ob er ihre Gedanken lesen konnte, und klang dabei leicht angegriffen. „Ich bin auch gleich wieder weg, ich muss nur schnell etwas holen.“
„Sie sind zu freundlich, Sir“, brachte sie verunsichert hervor. Der Verlauf der Unterhaltung verwirrte sie.
Er ging zum Schrank, wühlte kurz in der Schublade, holte einen Beutel hervor und ein Florett und ließ sie dann mit ihrer Arbeit allein. Kopfschüttelnd nahm sie den Putzlappen wieder auf.
Kurze Zeit später war Jacob Bradford zurück.
„Ich nehme an, Sie mögen Sahne?“ Er stellte das mehr fest, als dass er sie fragte, und platzierte eine dampfende Tasse auf seinem Schreibtisch. Als sie protestieren wollte, sagte er schlicht: „Sagen Sie Sally einfach, dass der faule, unordentliche Bengel seine Tasse, so wie alles andere auch, in der Gegend rumstehen lassen hat!“
Man sah ihm an, dass er sich fast diebisch über diesen Schabernack freute. Er legte ein Buch neben die Tasse und dreht sich schließlich zum Gehen.
„Viel Spaß beim Lesen“, hörte sie noch, als er schon auf den Gang trat. Sie starrte die Tür an, die hinter ihm ins Schloss gefallen war. Was war denn das nun bloß gewesen? Das war doch wohl ein Scherz? Nahm er sie auf den Arm?
Aber er hatte zwar den üblichen Schalk im Nacken gehabt, ansonsten war er jedoch völlig ernst gewesen. Sie wagte einen Blick auf das Buch.
„Reise um die Erde in 80 Tagen“.
Es sah sehr neu aus, so als ob es erst ein-, zweimal gelesen worden sei.
Während sie auf den Umschlag starrte, stieg ihr der verführerische Duft des Kakaos in die Nase. Es war sehr lange her, dass sie das letzte Mal in den Genuss gekommen war. Genau genommen hatte sie erst ein einziges Mal etwas so Teures gekostet. Aber an den Geschmack erinnerte sie sich ganz genau. Sehr behutsam nippte sie an der Tasse. Welch eine Wohltat an diesem grauen Tag! Die weiche Sahne umschmeichelte ihre Lippen, die Flüssigkeit rann wohltuend und samtig ihre Kehle hinab.
So musste sich wahre Glückseligkeit anfühlen!
* * *
„Kommst du heute Abend mit in den Club?“, erkundigte sich Thomas, während er einen Angriff von Jacob geschickt parierte.
Thomas konnte ihm beim Reiten nicht das Wasser reichen, aber beim Fechten musste Jacob neidlos eingestehen, dass er in Können und Geschicklichkeit weit hinter dem Freund stand.
„Harvey Connor wird seinen Geburtstag feiern. Das wird eine große Sache.“ Thomas zwinkerte ihm zu. Jacob wusste genau, was mit der „großen Sache“ gemeint war. Erst würde man sich zu Zigarren und Brandy und gepflegter Unterhaltung im Gentlemen’s Club treffen, damit die Altvorderen sahen, dass sich ihre Nachfolger auch zu benehmen wussten. Zu späterer Stunde ging es dann mit Sicherheit in eines der gewissen Etablissements, eine Tatsache, die den alten Herren natürlich völlig klar war, auch sie waren ja einmal jung gewesen.
Thomas sah Jacobs zweifelnden Gesichtsausdruck und nutzte dessen kurze Unaufmerksamkeit für einen Angriff: „Touché!“
„Du weißt, dass ich Connor nicht ausstehen kann...?“
„Mag sein, aber seine Partys sind die besten...“
„Na ja, ich finde, sie ufern immer etwas aus, meinst du nicht?“
Thomas rollte die Augen. „Nun sei doch nicht so ein Spielverderber! Und wann warst du denn das letzte Mal so richtig aus? Ich meine „richtig“?“
Thomas brauchte nicht weiter zu spezifizieren, was er damit implizierte. Er nahm die Fechtmaske ab, klopfte Jacob freundschaftlich auf die Schulter und ging in die Umkleideräume, nach links und rechts grüßend, denn um diese Zeit wimmelte es hier von gleichaltrigen Bekannten.
Jacob ließ sich auf die Bank fallen. Ihm waren die unvermeidlichen Besuche in einem der „Etablissements“, in denen solche Abende immer endeten, nie ganz angenehm. Natürlich, zur Befriedigung von gewissen Gelüsten war es ausgezeichnet, da er nicht zu jenen gehörte, die sich das Recht herausnahmen und am Personal vergriffen. Aus seiner Sicht sollte diese Sache freiwillig passieren, oder, wie in den Bordellen üblich, mit finanzieller Gegenleistung. Und die war, zumindest in den Einrichtungen, in denen er und seine Freunde Gäste waren, mehr als großzügig, den Damen ging es gut dort. So fühlte er sich zwar nie ganz wohl dabei, aber ein schlechtes Gewissen hatte er nicht direkt. Manchmal jedoch drängte sich ihm die Frage auf, wie es wäre, wenn bei der Sache nicht nur die Befriedigung von Lust im Spiel wäre, sondern auch noch Gefühle.
Aber wahrscheinlich passte beides gar nicht zusammen, die Liebe und die Triebe.
Er folgte Thomas, erfrischte sich und zog sich um.
„Wir sehen uns also im Club!?“ Als keine Widerrede von Jacob kam, stellte Thomas fest: „Abgemacht, Carlton Club, heute Abend um acht!“
* * *
Connor legte ihm den Arm um die Schulter.
„Bradford!“ Er schwankte leicht vor und zurück und streckte mahnend den Zeigefinger aus.
„Bradford, jezzz kommen die Mädchen. Verstehst du, die Mädchen „kommen“!“ Er lachte glucksend, als ob er einen besonders intelligenten Witz gemacht hätte. Sie standen auf dem nassen Kopfsteinpflaster vor dem Gentlemen’s Club, bereit weiter zu ziehen. Es war noch relativ früh und trotzdem hätte man vom Alkoholpegel der Gruppe her auf vier Uhr in der Früh schließen können. Jacob wand sich peinlich berührt. Sie wollten der große Stolz ihrer Eltern sein, bereit, die führenden Unternehmen des Königreichs zu leiten, Verantwortung für hunderte von Mitarbeitern und die wirtschaftliche Blüte Englands zu übernehmen? Wenn er sich Connor und die anderen ansah, hatte er da so seine Zweifel.
„Und Connor hat für seine Freunde was wirklich… wasss wirklich! ... besonderes ausfindig gemacht“, lallte dieser weiter. „...lasst euch überraschen. Gentlemen...“ Er winkte fahrig zum Aufbruch. Sie hielten zwei Droschken an und die acht Männer verteilten sich lachend und derbe Witze reißend darauf.
Die Droschken fuhren nicht in die übliche Richtung, in der die gehobenen Bordelle lagen. Im Gegenteil wurde die Gegend immer schäbiger. Jacob schaute zu Thomas hinüber. Auch der hatte es bemerkt und erwiderte den fragenden Blick schulterzuckend.
Schließlich hielten sie vor einem baufälligen Gebäude, an dem die rote Laterne keinen Zweifel in Bezug auf die Nutzung der Räumlichkeiten ließ.
Jacob sah seine Befürchtungen bestätigt. Connor hatte sich eines der billigsten Bordelle ausgesucht. Jacob betrat diese aus Prinzip nicht, denn er wusste, dass die Damen hier nicht für gutes Geld, sondern in der Regel unfreiwillig ihrem Gewerbe nachgingen, und dass so mancherlei Abscheulichkeit angeboten wurde. Er wollte dieses System von Unterdrückung und Abhängigkeit nicht noch fördern. Außerdem – wer wusste schon, was man sich neben der Syphilis hier noch so alles als Souvenir mit nach Hause bringen konnte. Auch Thomas schien unangenehm berührt.
„Ich bin raus“, flüsterte Jacob ihm zu, während die anderen durch die Tür verschwanden.
„Ach, komm schon, wir nehmen einen Absacker, und wenn wir davon nicht blind werden“, versuchte Thomas zu scherzen, „dann trollen wir uns.“
„Nein danke, ich habe wirklich genug“, gab Jacob zurück.
„Gut, wie du meinst. Ich geh‘ noch kurz mit rein. Aber wirklich nur auf ein Gläschen, wer weiß, was da drinnen alles lauert.“ Thomas schüttelte sich. „Wir sehen uns morgen.“
„Ja, bis morgen, und sei vorsichtig!“ Jacob kam sich vor, wie eine alte Gouvernante, die ihren Schützling entließ. Er drehte sich kopfschüttelnd zur Droschke um, aber die fuhr ihm gerade vor der Nase davon. Nun stand er hier irgendwo im East End, der dunkelsten Ecke der Stadt, und wusste nicht genau, wie er nach Hause kommen sollte. Na, großartig! Ein krönender Abschluss für einen verschwendeten Abend. Er fluchte laut. Er hatte schon gewusst, warum er keine große Lust auf die heutige Unternehmung verspürt hatte. Er schlug den Kragen höher und machte sich dann etwas zögerlich auf in die Richtung, aus der die Droschke gekommen war. Er verfluchte Connor, den alten Dummkopf, dass dieser ausgerechnet ein Bordell im East End ausgewählt hatte, keine Adresse für einen als solchen erkennbaren Gentleman. Mit einem Mal war er wieder völlig nüchtern. Nun konnte er nur hoffen, dass er heil nach Hause kam, ohne seiner Brieftasche beraubt zu werden. Die gleiche Sorge hatte er um die Gruppe, aber die waren immerhin mehrere. Glücklicherweise waren aufgrund des Wetters wenige Menschen unterwegs.
Er richtete den Blick starr auf den Boden und versuchte so selbstsicher und zielstrebig wie möglich zu laufen, was schwierig war, wenn man nicht wusste, wo man hinwollte.
Die Straßen waren unglaublich schmutzig und voll mit allerlei Unrat. Er mied die engen Gassen und blieb auf der Straße, die wie eine Art Hauptstraße anmutete. Sein Herz schlug bis zum Hals. Was, wenn ihn jemand überfallen würde? Erpressen? Entführen? Er verbot sich jeden weiteren Gedanken und lief einfach weiter. Es hatte wieder zu regnen angefangen. Er verwünschte Connor, er schimpfte auf Thomas, der ihn überredet hatte mitzukommen, und er ärgerte sich über sich selbst, dass er nicht einfach abgelehnt hatte. Nun war er um diese Uhrzeit mutterseelenallein in dieser heruntergekommenen Gegend unterwegs!
Nach etwa einer viertel Stunde rumpelte eine Droschke an ihm vorbei, aber er traute sich nicht, sie durch lautes Rufen zum Stehen zu bringen, aus Angst, aufzufallen. Das Winken schien der Kutscher nicht gesehen zu haben. Vielleicht hatte er aber auch nicht anhalten wollen.
Die Gegend war mittlerweile geringfügig weniger verkommen. Das ließ Jacob hoffen, dass er bald bekannte Gefilde erreichen würde oder zumindest eine Stelle, an der häufiger eine Kutsche vorbeikäme.
Er sah eine dunkle Gestalt auf der anderen Straßenseite, die gegen den Regen in ein Cape aus schwerem Stoff gehüllt war. Sie hielt etwas an die Brust gedrückt, wie um es gegen den Regen zu schützen. Kurz hob er den Blick, um die Gefahr eines Angriffs abzuschätzen, sah dann aber erleichtert, dass es sich um eine schmale Person handelte, eine Frau, der er körperlich überlegen sein musste.
Die Person hatte ebenso kurz aufgeschaut und schien ihn für einen Moment zu mustern. Er senkte schnell die Augen auf das schmutzige Pflaster. Wer wusste schon, was das für eine Gestalt war, Bettlerin oder Verrückte, man konnte nie wissen.
Er spürte den Blick der Frau auf sich, als sie sich einander näherten.
Zu seinem Entsetzen hörte er, wie die Person die Schritte verlangsamte und ihn dann ansprach. Hektisch beschleunigte er seinen Gang, bis er seinen Namen hörte, ausgesprochen von einer vage bekannt klingenden Stimme. Er drehte sich um, erkannte aber nicht, wer es war und hatte Angst, dass dies vielleicht eine Falle sein könnte. Gleich darauf schimpfte er sich aber selbst, dass er Gespenster sah, denn die Person schlug die Kapuze zurück und zu seiner großen Erleichterung, ja Freude fast, erkannte er das Dienstmädchen, Eleonore, über die er sich heute Nachmittag noch so amüsiert hatte.
„Mr Bradford?“, fragte sie erneut, ungläubig, ihn hier zu sehen. „Sind Sie wahnsinnig?“, entfuhr es ihr. Als ihr aufging, wie unangemessen diese Anrede war, beeilte sie sich zu sagen: „Entschuldigen Sie, Sir!“
Er gab zurück: „Nein, nein, nur zu, dasselbe habe ich mich auch schon gefragt.“
„Sie können hier doch nicht einfach herumspazieren als ob... als ob... als ob Sie im heimischen Garten lustwandeln. Das ist Whitechapel! Sie müssen froh sein, dass es regnet, das hält selbst das Gesindel im Trocknen.“ Sie sah sich hektisch um.
„Aber Sie sind doch auch noch unterwegs, Eleonore?“ Jacob bemerkte sorgenvoll, dass sie äußerst nervös wirkte. War die Lage denn wirklich so ernst? Aus einer der Seitengassen kamen zwei dunkle Gestalten, sie torkelten wie Betrunkene. Ohne lange zu fackeln, griff Eleonore Williams mit einer Hand seinen Arm und zog ihn in die Richtung, aus der sie gekommen war, weiter. „Kommen Sie, wir können hier nicht stehen bleiben“, zischte sie, „das zieht nur die Aufmerksamkeit auf uns.“ Mit dem freien Arm hielt sie immer noch etwas eng an ihre Brust gedrückt.
„Hören Sie mir genau zu, und schlagen Sie um Gottes Willen den Kragen wieder hoch, damit man ihr Gesicht nicht erkennt.“ Sie selbst hatte die Kapuze gleich nachdem sie sich ihm zu erkennen gegeben hatte, wieder tief ins Gesicht gezogen. „Ich kann mich relativ frei bewegen, man erkennt mich als jemanden von hier, bei mir ist nicht viel zu holen. Aber bei Ihnen, da reicht ein Blick auf die Kleidung und Ihre Art zu gehen und alles ist klar.“ Vorwurfsvoll sah sie ihn an. „Was machen Sie überhaupt hier?“
Er war froh, dass sie nicht sehen konnte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. „Ach, ein Missverständnis und dummer Zufall“, gab er schwach zurück. Eleonores energische Art beeindruckte ihn. Sie bewegte sich auf sicherem Terrain, dabei war er doch der Gentleman und sie gehörte dem vermeintlich schwachen Geschlecht an…
Sie sah sich hastig um und beschleunigte ihre Schritte. „Jetzt machen Sie genau, was ich sage“, raunte sie ihm zu, nur um dann im nächsten Moment schrill und mit verstellter Stimme aufzulachen und ihm vertraulich die Hand auf die Brust zu legen. Er zuckte überrascht zurück. Zwischen den Zähnen hindurch wisperte sie: „Tun Sie, als ob Sie betrunken wären und stützen Sie sich mehr auf mich. So als ob Sie... als ob ich... na, Sie wissen schon...?“
„Wie?“ Er verstand nicht, worauf sie hinauswollte.
„Jetzt tun Sie nicht so dumm: Als ob Sie mein Freier wären, meine ich!“, stieß sie hervor.
Hinter ihnen vernahm er ein lallendes: „He, ihr zwei Turteltäubchen. Bleibt doch mal steh‘n!“
„Na los, wir haben keine Zeit für falsche Bescheidenheit!“ Sie presste sich an ihn und mit heiserer Stimme und mit einem für die Gegend typischen, ihr normalerweise nicht eigenen Dialekt rief sie über die Schulter: „Was ‘n los, Jungs, ihr seht doch, dass ich mit meinem Freier hier beschäftigt bin. Der is‘ betrunken wie ‘n alter Schenkenwirt, verdammich nochmal!“
„Täubchen, ich glaub‘ wir könnten mehr Spaß zusammen haben, wenn du ‘n bisschen nett bist zu mir und meinem Kumpel hier… und das Geld von deinem reichen... Freund könnten wir auch gut gebrauchen!“
Die zwei Gestalten waren näher gekommen. Eleonore zog sich die Kapuze noch tiefer ins Gesicht. Es waren zwei völlig heruntergekommene Männer, grobschlächtig und einem fehlten vorne die Schneidezähne. Eleonore boxte Jacob in die Rippen. „Nun machen Sie schon mit, seien Sie betrunken und verhalten Sie sich wie ein Freier!“ Er legte ihr zögernd den Arm um die Schulter. Sie seufzte entnervt auf und schob seine Hand in Richtung ihres Gesäßes. Jacob erstarrte, entsann sich dann aber der Rolle, die sie ihm zugewiesen hatte. Er spürte, dass er ihr hier vertrauen musste, sie kannte die Spielregeln in diesem Teil der Stadt wohl besser als er. Und wenn sie meinte, dass sie sich und ihn so aus der Situation am besten herausbringen könnte... Obwohl erst er sie hineingebracht hatte.
„Jungs, zieht Leine, ihr seht doch, dass ich Kundschaft hab‘ “, gab sie in der schnodderigen Art zurück. Ihre Stimme klang viel reifer als gewöhnlich und rau dabei.
„Ha, der is’ doch so besoffen, der kriegt doch heute und nich’ mal morgen mehr einen hoch!“, gab der Größere der beiden zurück und grabschte nach Eleonore. Jacob versuchte sich vorzustellen, was ein betrunkener Freier nun machen würde und lallte: „He, Finger weg, die gehört mir, ich zzzahl‘ gutes Geld hier, alles klar?“ Dann gab er ihr, ohne weiter darüber nachzudenken, einen Klaps auf ihr Hinterteil. „Nich' wahr, Süße?“
Eleonore zuckte zusammen, er meinte ein böses Funkeln in ihren Augen erkannt zu haben. Gleich fiel sie aber in ihre Rolle zurück. „Jungs, nochmal, zieht Leine. Was glaubt ihr wohl, wie ich an so ‘n reichen Kunden gekommen bin, hä?“
Die beiden sahen sie begriffsstutzig an.
Eleonore klärte sie auf. „Ihr kennt Pat, den „Würger“, Bullcroft?“, stieß sie drohend hervor.
„Alter!“ Der Kleinere zog dem Größeren am Jackenärmel. „Der Würger! Komm wir hauen ab!“
„Quatsch, das kann jeder sagen“, gab der zurück.
Jacob hörte Eleonore scharf einatmen. „Willst du’s drauf ankommen lassen, Süßer?“, fragte sie zurück. „Du weißt ja, was man über ihn sagt. Und glaub‘ mir, ich war schon dabei, wenn er solchen wie euch die Eier zerquetscht hat…“
Das war genug. Die Kerle hatten die Hosen voll und waren außerdem zu betrunken. Sie wichen zurück. Der mit der Zahnlücke fing an zu laufen und schon waren sie in der Gasse wieder verschwunden. Der Regen strömte jetzt so dicht, dass man kaum zehn Meter weit schauen konnte. Eleonore zog Jacob weiter. „Nun gehen Sie in drei Teufels Namen einfach weiter!“, befahl sie. „Und nehmen Sie Ihre Hände wieder zu sich!“
Schuldbewusst steckte er die Hände in die Taschen. Sie löste sich von ihm, was er bedauerte, denn selbst durch das nasse Cape hatte ihr Körper eine angenehme Wärme ausgestrahlt.
„Wer ist Pat, der Würger?“, fragte er schnell, um seine Befangenheit zu überspielen. „Das war doch hoffentlich ein schlechter Scherz, oder? Gibt es den Herren wirklich hier in der Gegend?“
Sie seufzte. „Pat, der Würger, ist ein bekannter und brutaler Zuhälter. Man weiß nicht, wie viel Legende und wie viel Wahrheit an den Geschichten ist.“ Ihre Stimme schlug plötzlich um und klang nun zittrig. Sie stieß hörbar die Luft aus und blieb stehen. „Das war knapp!“
Jacob sah sie besorgt an. „Eleonore, ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
„Ja, ich,... es ist nur... mir wird nur gerade etwas übel, das war vermutlich gefährlicher, als mir zuerst klar war!“
„Ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie in die Situation mit hineingezogen habe!“ Beschwichtigend legte er ihr die Hand auf den Arm.
Sie sah ihn müde an. „Kommen Sie, ich bringe Sie noch ein Stück weiter, wo Sie wieder eine Droschke finden können. Dann kann Ihnen nichts mehr passieren.“
„Aber dann bringe ich Sie noch heim damit. Haben Sie etwa so lange gearbeitet? Ich kann Sie doch durch solch ein Viertel nicht allein gehen lassen. Um die Zeit und dazu noch dieses Wetter!“, empörte er sich.
Sie atmete noch einmal tief durch, dann gingen sie weiter.
„Sir, erstens wohne ich nicht im ganz gefährlichen Teil des Viertels, und außerdem kenne ich mich hier aus und falle nicht weiter auf. Zweitens laufe ich normalerweise nicht um diese Zeit hier durch, aber mein Arbeitstag ging heute tatsächlich länger als sonst und drittens: Sind sie von allen guten Geistern verlassen, hier noch mal mit der Droschke durchzufahren? Sehen Sie zu, dass Sie nach Hause kommen und die nassen Kleider vom Leib kriegen.“ Sie schaute ihn unverwandt an. Dann fuhr sie fort: „Ich komme schon gut zurecht. Außerdem…“, hier versuchte sie ein Lächeln, was ihr aber etwas misslang, „…habe ich ja heute die beste vorbeugende Medizin für Kummer und Sorge genossen!“ Sie spielte wohl auf die Schokolade an, die er ihr aus der Küche gebracht hatte.
„Und,…“, sie klopfte sich gegen die Brust, „…sofern das Buch nicht komplett durchgeweicht ist, habe ich auch noch Zerstreuung.“
Er sah sie besorgt an. „Kann ich Sie wirklich allein…“
„Es ist in Ordnung, glauben Sie mir!“, gab sie in einem Ton zurück, der keine Widerrede mehr zuließ. Sie zeigte auf die nächste Straße, die in einigen Metern Entfernung kreuzte. „Ab da vorne können Sie unbesorgt weiterlaufen, dort ist es sicherer und da bekommen Sie auch über kurz oder lang eine Droschke. Gute Nacht, Sir!“ Sie wandte sich um, ohne abzuwarten, ohne noch einmal zurückzublicken.
„Eleonore“, rief er ihr hinterher, „…ich stehe in Ihrer Schuld!“
Doch schon war sie hinter der Regenwand verschwunden. Er hoffte inständig, dass sie gut zu Hause ankam, denn wenn ihr etwas geschehen würde... Nicht auszudenken, das wäre seine Verantwortung.
An seine Freunde dachte er nicht mehr, die würden schon wissen, wie sie zusammen aus dem Schlamassel herauskämen.
Eine halbe Stunde später schlich er leise die Treppe hinauf. Er hörte durch die angelehnte Tür des Schlafzimmers seiner Mutter die Stimme des Vaters. „In Boston ist genau der richtige Platz!“ Die Mutter erwiderte etwas, das er nicht genau verstehen konnte. Es drangen nur Wortfetzen an sein Ohr: „…richtige Frau an seiner Seite…“
Er war zu müde und zu erschöpft von den Ereignissen, um sich dafür zu interessieren und schloss eilig die Tür seines Schlafzimmers hinter sich.
Er streifte schnell die nasse Kleidung ab und trocknete sich endlich ab. Draußen strömte noch immer der Regen. Er hörte die Tropfen ans Fenster trommeln.
Müde sank er in die weichen Kissen. Eleonore Williams hatte ihn überrascht. Nun ja, eigentlich kannte er sie ja kaum. Wie auch, sie war schließlich ein Dienstmädchen, da gab es wenige Berührungspunkte ihrer Welten. Aus irgendeinem Grund hatte er aber das plötzliche Bedürfnis, mehr von ihr zu erfahren. Über diesen überraschenden Gedanken schlief er ein.
* * *
Eleonore schälte sich aus dem schweren Wollcape. Es triefte vor Regen und schnell hatte sich eine Lache unter ihr gebildet.
Sie war vom langen Tag bis in die Knochen erschöpft und gleichzeitig hatten sie die Ereignisse aufgewühlt. Was war Jacob Bradford bloß für ein ausgemachter Dummkopf! So etwas hätte sie nicht von ihm gedacht. Sie breitete das Cape so gut es ging über einem der beiden Stühle aus. Es würde Tage dauern, bis es hier in der klammen Kammer getrocknet war. Das Buch, das sie die ganze Zeit zum Schutz gegen den Regen an den Körper gepresst hatte, fühlte sich auch feucht an, an den Ecken schien das Papier etwas aufgequollen zu sein. Und wenn schon... Das konnte sie nun auch nicht mehr ändern. Schließlich war es ja auch Jacob Bradfords Schuld, dass sie länger als nötig im Regen herumspaziert war. Wieder spürte sie die Wut in sich aufsteigen und die Müdigkeit verdrängen. Wie konnte man denn durch einen dummen Zufall in Whitechapel landen? Entnervt zerrte sie an ihrem Mieder. Auch ihre Kleidung war feucht geworden. Sie streifte das Nachthemd über, bemüht, keine Geräusche zu machen. Ein Niesen, das sie in die Nase kriechen fühlte, unterdrückte sie. Trotzdem hörte sie, wie die gleichmäßig atmende Mutter aufschrak. „Eleonore?“, fragte sie in die Dunkelheit.
„Schh, Mutter, alles in Ordnung, schlaf wieder. Ich bin nur aufgehalten worden.“ Die Mutter murmelte schlaftrunken etwas und kurz darauf setzten die gleichmäßigen Atemzüge wieder ein. Eleonore kauerte sich unter ihrer kalten Decke zusammen wie ein Säugling und wartete darauf, dass sie langsam wieder warm wurde. Nichts tat sich, die Füße waren wie Eisklumpen. Und endlich fiel die ganze Anspannung von ihr ab und leise liefen ihr Tränen über die Wangen.
* * *
Der nächste Morgen brach klar an, der Regen schien alles reingewaschen zu haben.
Eleonore aber fühlte sich wie gerädert. Ihre Lider waren von mangelndem Schlaf und vom Weinen geschwollen, ihre Nase lief.
Die Mutter hatte sie geweckt. „Eleonore, Schatz, steh auf. Es ist schon recht spät.“ Sie spürte die warme, trockene Hand an ihrer Wange, eine vertraute Geste aus Kindertagen. Liebevoll sah die Mutter auf sie herab.
„Ich habe mir Sorgen gemacht, gestern, als du so spät kamst. Es war ja schon weit nach zehn.“
„Ach, ich habe noch lange zu tun gehabt“, dehnte Eleonore die Wahrheit etwas aus. Den Zwischenfall mit dem jungen Bradford und den Betrunkenen ließ sie lieber unerwähnt. Sie wollte nicht, dass die Mutter sich mehr Gedanken machte als nötig. Sie reckte die schweren Glieder und versuchte, richtig wach zu werden. Die Mutter wandte sich ab, um sich die Haube aufzusetzen und dann aufzubrechen. Dabei stieß sie mit dem Fuß gegen das Buch, das Eleonore im Dunkeln unter das Bett geschoben hatte. Anscheinend nicht vollständig, denn es ragte ein Stück hervor. Ihre Mutter bückte sich ächzend, hob das Buch auf und sah Eleonore überrascht an.
„Wo kommt das her?“
Eleonore fluchte innerlich. Sie hatte ein offenes Verhältnis zu ihrer Mutter, aber die Sache mit den Büchern hatte sie für sich behalten wollen.
„Ich habe es mir geliehen“, sagte sie tatsachengetreu.
„Geliehen???“
„Mutter, ich will jetzt wirklich nicht… Schau mich nicht so an. Glaubst du mir nicht?“
„Ich glaube nicht, dass ich einen Grund hätte, dir zu misstrauen, denn ich weiß, wie ich dich erzogen habe. Aber ich wüsste nicht, wer in unserem Umfeld Bücher zu verleihen hätte...“
Eleonore stand nun endlich auf und gab schnippischer als ihr lieb war zurück: „Ist ja auch nicht so wichtig“, nahm der Mutter bestimmt das Buch aus der Hand und schob es wieder unter ihr Bett. Sie erntete einen missbilligenden und verletzten Blick, was ihre Gereiztheit nur steigen ließ. Schnell widmete sie sich der Morgentoilette. Das Haar war vom gestrigen Regen ganz verfilzt und sie brauchte lange, bis sie es durchgekämmt hatte und einigermaßen akzeptabel aussah.
Die Kleider waren wenigstens so trocken, dass sie hineinschlüpfen konnte, ohne gleich wieder zu frieren. Aber das Cape war noch immer wie durchgeweicht und die nasse Wolle gab einen stechenden Geruch von sich. Vielleicht konnte sie es in der Küche der Herrschaften trocknen.
Einen knappen Gruß murmelnd verließ sie die enge Kammer.
Am nun wolkenlosen Himmel zeichnete sich das erste Morgenrot ab und überall schimmerten noch die Pfützen. Der Boden war völlig schlammig, aber der wie blankgescheuerte Himmel war zumindest etwas Balsam auf ihrer Seele, es versprach ein schöner Tag zu werden.
Als sie atemlos am Bradfordschen Anwesen angelangt war, war der siebente Schlag der Kirchturmuhr schon eine Weile verklungen.
Das passte ja zum Schlamassel. Ärgerlich stieß sie die Tür auf und wäre beinahe mit Kate, dem sommersprossigen rothaarigen Dienstmädchen, zusammengestoßen. Die musterte sie kritisch. „Na, hast du dir noch eine extra Runde Schlaf gegönnt? Ist wohl spät geworden gestern, was?“
Eleonore wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. In Kates vorlauter Gegenwart fühlte sie sich immer wie auf den Mund gefallen.
„Nun guck mich nicht an wie eine Kuh und komm lieber mit, bevor die alte Cunningham mitkriegt, dass du zu spät bist.“
Wieder spürte Eleonore ein Kribbeln in der Nase und musste herzhaft niesen. Kate wich zurück. „Steck mich bloß nicht an, mit deiner Rotznase! Ich habe später meinen freien Nachmittag.“ Verschwörerisch senkte sie die Stimme. „Ich treffe meinen Liebsten, weißt du?“ Sie zwinkerte Eleonore zu und zog sie mit in die Küche.
Nun wurde Eleonore ungefragt mit mehr Details versorgt, als ihr lieb war. Kate hatte die unangenehme Angewohnheit, jedem, der sie fragte, aber auch jedem, der sich gar nicht dafür interessierte, ihre ganze jeweilig aktuelle Lebenssituation darzulegen. Diese hob sich nicht besonders von der anderer ihres Standes ab, aber Kate verstand es, auch der nebensächlichsten Begebenheit noch Dramatik einzuhauchen und erst dann ein Thema zu beenden, wenn sie sichergestellt hatte, dass sie es auch wirklich jedem mitgeteilt hatte.
Später am Tag, nach einem endlosen Monolog von Kate, den diese auch bei den Frühstücksvorbereitungen und der Morgenroutine nicht unterbrochen hatte, trat Eleonore mit einem Stapel frischer Wäsche auf den Gang, um diese in den Zimmern zu verteilen. Als sie aus dem Ankleidezimmer von Mrs Bradford kam, sah sie den jungen Herrn aus seinem Zimmer treten. Ihre Blicke trafen sich, aber sie nickte nur kurz in seine Richtung und wandte sich dann abrupt ab, um den Stapel geplätteter Hemden in das Ankleidezimmer von Mr Bradford Senior zu bringen. Jacob Bradfords Anblick hatte wieder einen gewissen Zorn in ihr aufsteigen lassen. Sie verstand einfach sein Betragen nicht, es passte so gar nicht zu dem, was sie bisher von ihm kennengelernt hatte. Hoffentlich war ihr Cape, das in der Küche nah am Ofen zum Trocknen hing, bis zum Abend nicht mehr so feucht. Als sie wieder niesend aus den Gemächern des Hausherrn heraustrat, stand Jacob Bradford an der Tür. Er sah verlegen aus und druckste herum. „Ich bin froh, Sie wohlbehalten zu sehen, Eleonore! Sie sehen aber nicht gut aus.“ Als ihm bewusst wurde, wie das in ihren Ohren klingen musste, fügte er schnell hinzu: „Also, ich meine, nicht gesund. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich Sie gestern...“
Ein Klopfen war aus dem Erdgeschoss an der großen repräsentativen Eingangstür zu vernehmen. Jacob Bradford unterbrach sich, als im Foyer Stimmen zu hören waren und trat an das Geländer, um zu sehen, wer der Besucher war.
Eleonore nutzte die Unterbrechung, mit ihrer Arbeit fortzufahren, ohne unhöflich sein zu müssen. Ihr Schädel dröhnte. Sie konnte sich nicht ständig von Jacob Alexander Bradford von ihrer Arbeit abhalten lassen. Wie gut, dass sie bald einen freien Nachmittag haben würde. Dann könnte sie sich zur Abwechslung ohne schlechtes Gewissen und ohne kostbaren Schlaf opfern zu müssen, der Lektüre widmen.
* * *
„Thomas! Wie ich sehe, bist du wohlauf!“ Jacob konnte einen gewissen Spott nicht verhehlen. „Komm doch mit in die Bibliothek.“
Thomas schien etwas blass um die Nase. Jacob schickte nach Tee.
Thomas ließ sich unfein auf das Louis Quinze Sofa fallen, das Mrs Bradford erst kürzlich erstanden hatte. Die Dame des Hauses wäre ob der flegelhaften Behandlung des Prachtstückes zusammengezuckt.
Thomas hielt sich stöhnend den Schädel.
„Jacob, du hattest nur allzu Recht, dass du gestern Abend frühzeitig die Szenerie verlassen hast! Ich hätte auf dich hören sollen. Es war wirklich nicht schön!“
Jacob war wenig verwundert, das zu hören. Thomas fuhr fort: „Ich habe die ganze Zeit üblen Schnaps getrunken, während ich auf die anderen gewartet habe. Es heißt schließlich, Alkohol desinfiziert.“ Er schüttelte sich. „Ein Wunder, dass ich mein Augenlicht noch besitze! Connor muss dem Wirt einen hübschen Batzen Geld zugesteckt haben. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass uns nichts zugestoßen ist, in diesem Drecksloch. Widerlich! Sei froh, dass du da gar nicht erst mit hinein gekommen bist, sondern schlauer warst als wir.“
Ein leises Klirren war von der Tür zu vernehmen. Jacob sah nicht auf, sondern wies nur an: „Stell das Tablett einfach auf dem Tisch neben der Tür ab, Kate, wir schenken uns selbst ein. Danke.“ Er wollte nicht weiter gestört werden, man konnte nie wissen, was dann wieder in der Küche getratscht wurde. Kate war ohnehin ein vorlautes Ding, besser sie hörte nichts, was nicht für ihre Ohren bestimmt war.
„Kate hat ihren freien Nachmittag, Sir“, ertönte da die Stimme von Eleonore. Er sah erschrocken auf und lief dunkelrot an. Sie musste alles mitgehört haben! „Äh, ja,... danke,… Eleonore.“
Diese knickste leicht und stellte das Tablett ab, während Thomas verwundert zwischen ihr und Jacob hin und her sah. Kaum, dass Eleonore aus der Tür heraus war, wandte er sich fragend an Jacob. „Was ist denn hier los, mein Lieber? Du schaust ja verlegen wie ein Schuljunge. Und wer ist das hübsche Ding? Ist die neu? Habe ich noch nie gesehen. Ein ganz passabler Anblick!“
Jacob antwortete nicht, sondern betrachtete verlegen seine Schuhspitzen. Dann stand er auf und unterband jegliche weitere Diskussion, indem er Thomas neckte: „So, alter Junge, dann wollen wir dir mal einen starken Tee gegen den Kater verpassen.“