Читать книгу Das Leuchten der Sterne in uns - Teil Eins: Aufbruch - Kristina C. Stauber - Страница 6

III.

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Isabell Taylor saß vor ihrem dreiteiligen Spiegel aus teurem Kristallglas und prüfte wohlwollend von allen Seiten ihr Spiegelbild.

Ihre Mutter trat hinter sie. Sie griff die Bürste und begann, Isabells rotglänzendes Haar, welches im Schein der Lampe warm schimmerte, zu kämmen.

„Die Partie wäre natürlich von enormem Vorteil für dich, mein Herz. Unser Einfluss und sein guter Name und Geld...“

Isabell zog die hübsche Nase kraus. „Ja, schon, Mutter, aber ich weiß nicht, er ist so verstockt und nicht besonders amüsant. Und umwerfend sieht er auch nicht gerade aus.“

„Isabell, Herz, er ist ein ganz passabler Bursche und sehr klug. Du weißt, dass wir manchmal Opfer bringen müssen und nicht immer ganz eigennützig handeln können. Die Verbindung hätte für alle Beteiligten ihren Reiz. Und du weißt, so etwas kann sich entwickeln... Was glaubst du, wie es bei deinem Vater und mir war? Kaum gekannt haben wir uns, als wir getraut wurden. Du mit deinen zahlreichen Vorzügen wirst schon wissen, wie man solch einen Mann für sich gewinnt, da bin ich mir ganz sicher.“

Isabell sah ihre Mutter im Spiegelbild an. Die beiden glichen sich in ihrer Schönheit, die eine das jüngere Abbild der anderen. Leider setzte sich die Schönheit nicht bis zu ihren Charakteren fort. Beide Frauen waren kühl, berechnend und auf den eigenen Vorteil bedacht. Konnte man es ihnen verdenken? Die Ränkeschmiederei lag der einen im Blut, der anderen war sie dadurch und aufgrund des Berufes ihres Vaters geradezu in die Wiege gelegt worden und ohne geschicktes Taktieren war es für die Frauen ihrer Epoche schwer, etwas zu erreichen. Isabell wusste daher nur zu gut, dass persönliche Empfindlichkeiten manchmal kurzfristig zurückstehen mussten, um mittel- oder langfristig ein höheres, wichtigeres Ziel zu erreichen. Und der Mehrgewinn an Reichtum und Bedeutung bei einer Verbindung der Familien Taylor und Bradford war tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Schließlich war ihr Vater als Berufspolitiker angesehen. Er würde auch eine anständige Pension erhalten, aber nach seinem Tod würde nichts Gewinnabwerfendes übrig bleiben, wie wenn er etwa ein Unternehmen geleitet hätte. Ihre Brüder waren beide samt Familie als Offiziere Ihrer Majestät in Indien stationiert, und nur der Gedanke an die Kolonie ließ sie erschaudern. In Indien, so war sie überzeugt, gab es nichts außer Dreck und Hitze.

Aber jemand im Besitz eines Unternehmens wie beispielsweise das der Bradfords, ein Traditionsunternehmen, welches von Vater zu Sohn weitergereicht wurde und im Laufe der Jahrzehnte mehr und mehr floriert hatte und einen Namen trug, der seit Generationen respektiert und anerkannt war,… Es war also nur logisch, dass Isabell alles daran setzen musste, in diese Familie einzuheiraten. Der Name Taylor hatte in der Gesellschaft einfach noch nicht so viel Gewicht wie etwa Bradford. Manche alt eingesessenen Familien betrachteten die Taylors sogar naserümpfend als neureich.

Isabell seufzte. Sie wusste, was sie sich selbst und der Familie schuldig war. Und wenn sie erst einmal den Namen Bradford tragen würde, einen Erben (das musste ja wohl ausreichen) geboren hätte und damit eine sichere Position hatte, dann brauchte sie sich ihren Lebtag keine Gedanken um irgendetwas zu machen und könnte tagein und tagaus ein angenehmes Leben führen und das Geld, das Bradford&Sons abwerfen würde, mit vollen Händen zu ihren Zwecken verwenden.

Und Bewunderer und Verehrer hatte sie zur Genüge, als dass es ihr langweilig werden würde. Daran würde sich auch nach einer Eheschließung nichts ändern, davon war sie überzeugt.

„Hat Jacob Alexander nicht doch noch einen älteren Bruder?“, scherzte sie, obwohl sie genau wusste, dass er ein Einzelkind war. Man munkelte, dass Mrs Bradford, die über eine eher schwächliche Konstitution verfügte, vor Jacob Alexander mehrere Fehlgeburten erlitten hatte, aber so etwas wusste man natürlich nicht genau und sprach auch nicht öffentlich darüber.

Ihre Mutter, die aus der Frage Isabells Erkenntnis der Vorteilhaftigkeit einer solchen Verbindung herauszulesen wusste, lächelte ihre Tochter an. „Vertrau nur ganz auf mich, ich werde alles Nötige in die Wege leiten. Sei du einfach weiterhin besonders aufmerksam gegenüber dem jungen Bradford.“ Mrs Taylor legte die Haarbürste aus der Hand, strich noch einmal gedankenverloren über Isabells Haar, welches dieser wie ein Wasserfall über die zarten blassen Schultern floss, und ließ ihre Tochter dann allein in ihren selbstgefälligen Betrachtungen.

* * *

Endlich war es geschafft: Eleonores seit langem herbeigesehnter, kostbarer freier Nachmittag war da. Der Tag war sonnig angebrochen und schien alle Menschen nach draußen gelockt zu haben.

Eleonore eilte am Mittag so schnell sie konnte heim, um so viel wie möglich von der Sonne genießen zu können. Sie rannte fast die Treppe hinauf, in die Dachkammer, um sich endlich dem Buch zu widmen, das nun schon seit einigen Tagen unberührt unter ihrem Bett lag. Sie nahm es mit hinunter, wo sie sich nach einem kurzen Plausch mit der Nachbarin aus der ersten Etage im Innenhof auf die Treppenstufen setzte. Wohlig seufzend streckte sie das Gesicht der Sonne entgegen. Die wärmende Kraft schien bis in ihre müden Glieder vorzudringen. Eine Weile verharrte sie so und lauschte mit geschlossenen Augen dem Geschnatter der Kinder, die einige Meter von ihr entfernt im Dreck spielten. Sie würde dieses Buch in vollen Zügen genießen. Aber es musste das letzte sein! Es war doch eindeutig, dass dies zu nichts Gutem führte. Schon jetzt war sie jedes Mal haarscharf an Schwierigkeiten vorbeigeschlittert, wenn sie mit Jacob Bradford gesprochen hatte: Beim ersten Mal hatte sie ihre Arbeit vernachlässigt, beim zweiten Mal war es zu dem unsäglichen Zwischenfall in der regnerischen Nacht gekommen. Immerhin wusste sie nun, warum er sich dort herumgetrieben hatte. Die Erklärung, die sein Freund neulich in der Bibliothek geliefert hatte, klang zumindest plausibel und rückte den jungen Bradford in ihrem Ansehen wieder ein wenig auf den rechten Platz.

Seufzend, aber voller Vorfreude, schlug sie das Buch auf. Es würde nicht einfach werden, dem eben gefassten Vorsatz treu zu bleiben!

Es dauerte nicht lange und sie war völlig vertieft in die Lektüre, so dass sie alles um sich herum vergaß. Sie spürte die verspannten Schultern nicht mehr, vergaß den Ärger der letzten Tage und war völlig von den Geschehnissen um Phileas Fogg und seinen Diener Passepartout gefesselt. Sie schaute erst auf, als sich ein Schatten zwischen sie und die Sonne schob. Die kleine Ada stand vor ihr und schaute sie neugierig an. Eleonore lächelte ihr freundlich zu. Sie versuchte, zu der Kleinen immer besonders warmherzig zu sein, denn es schien, als habe es das schmächtige Ding noch schwerer als die anderen. Ihre Mutter verdiente sich ihr Brot damit, dass sie sich an gut oder weniger gut zahlende Freier verkaufte und wohnte mit Ada in einem zugigen, ärmlichen Zimmer, das selbst nach den Maßstäben des Viertels als erbärmlich galt.

„Na, kleine Madame? Wie geht es dir heute?“, erkundigte Eleonore sich bei der kleinen Rotznase. Diese antwortete gar nicht auf die Frage, sondern streckte ihre dreckigen kleinen Hände nach dem Buch aus. „Was ‘n das?“, wollte sie neugierig wissen. Eleonore seufzte. Für sie war es unverständlich, dass jemand, auch wenn er erst fünf Jahre alt war wie Ada, nicht wusste, was ein Buch war. Dann ermahnte sie sich selbst, nicht hochmütig zu sein. Sie hatte einmal, als sie und ihre Mutter gerade neu in die Stadt gekommen waren, entsetzt über die Art des Broterwerbs der Huren, eine abfällige Bemerkung darüber gemacht und sich laut gewundert, warum die Frauen nichts Ehrenwertes machten. Da war ihre Mutter, die sonst immer so besonnene Frau, aus der Haut gefahren und hatte ihr eine Standpauke darüber gehalten, dass Eleonore Glück gehabt hatte, dass ihr eine solche Bildung zuteilgeworden war, dass nicht jeder solch eine Gelegenheit im Leben gehabt hatte und dass sie sich nicht anmaßen dürfe, darüber zu urteilen, wenn sie nicht die Hintergründe kenne. Sie hatte Eleonore an den Grundsatz des Vaters erinnert, alles zu hinterfragen und nicht leichtfertig zu urteilen. Danach war sie aus dem Zimmer gerauscht. Eleonore war verdattert zurückgeblieben, aber die Worte ihrer Mutter hatte sie sich zu Herzen genommen. Wer war sie, dass sie darüber richtete, wenn jemand dazu gezwungen war, seinen Körper zu verkaufen? Bildung und damit der Weg zu einem anderen Broterwerb war ein Privileg! Und selbst sie, die viel wusste und noch mehr lernen wollte, verdiente doch ihr karges Leben auch bloß als Dienstmagd.

Erst später hatte Tante Mary ihr erklärt, dass dieser Ausbruch der Mutter noch einen weiteren Hintergrund hatte: Die Schwestern Mary und Margaret hatten noch eine ältere Schwester gehabt: Mabel. Diese war nach einem Streit mit dem Vater mit einem Mann durchgebrannt und die Familie hatte fünf lange Jahre kein Lebenszeichen von ihr gehabt. Der Altersunterschied zwischen Mary, Margaret und Mabel war erheblich, so dass die beiden Schwestern die genauen Hintergründe damals nicht verstanden hatten. Sehr wohl verstanden hatten sie aber, was die fremde Frau, die eines Morgens an die Tür geklopft hatte, der Familie unverblümt und schonungslos mitteilte. Mabel war von dem Mann sitzen gelassen worden, ein Souvenir hatte er ihr aber dagelassen: Mabel hatte ein lediges Kind zur Welt gebracht. Da sie zu stolz gewesen war, um in Schande nach Hause zurückzukehren, und sich und das Kind durchbringen musste, war sie schnell den Verlockungen des scheinbar leichten Geldes erlegen und war Hure in einem der zahllosen billigen Freudenhäuser geworden. Das Kind hatte nicht lange überlebt. Die Fremde, die eine Leidensgenossin von Mabel war, hatte berichtet, dass Mabel immer Geld zur Seite gelegt hatte, da die Erkenntnis schnell gekommen war, dass sie auf Dauer nicht bleiben konnte, wo sie war, ohne daran zu zerbrechen. Sie war nicht mehr dazu gekommen, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen: Die Schwindsucht hatte sie erwischt, noch bevor sie ein besseres Leben beginnen konnte.

Das war die traurige Geschichte, welche die fremde Prostituierte ihnen erzählt hatte. Mabel hatte ihr das Versprechen abgerungen, die Eltern zu suchen und es ihnen zu beichten und das gesparte Geld zu überbringen. Mary hatte immer gemutmaßt, dass nicht die ganze Summe angekommen war, aber das hatte auch keine allzu große Rolle mehr gespielt, denn Geld hatte den Verlust nicht aufwiegen können.

„Ellono, was ist das?“, insistierte die fordernde, piepsige Stimme der kleinen Ada und riss Eleonore aus den Gedanken. Ada tat sich mit Eleonores Namen schwer.

„Das, Ada, ist ein Buch. Da stehen Geschichten drin. Siehst du, die Zeichen hier sind alles Buchstaben und sie bilden Wörter. Und die Wörter bilden Sätze und daraus wird eine Geschichte“, erklärte sie der Kleinen. Die sah sie vertrauensvoll aus großen Kinderaugen an. „Ui, ich mag Geschichten! Erzählst du mir welche?“, bat sie.

„Na, dann komm her, du kleiner Racker.“ Eleonore klopfte auf den Platz neben sich. Sie überlegte kurz und fing dann an, der Kleinen aus „Reise um die Erde in 80 Tagen“ vorzulesen. Diese schmiegte ihren mageren Körper an Eleonore und hörte gebannt zu. Jedoch wurde sie bereits nach einigen Sätzen unruhig und rutschte hin und her. Eleonore unterbrach die Lektüre und schaute Ada fragend an.

„Ellono“, piepste die Kleine, „ist das alles da drin? Ich will wissen, wie das geht!“, sagte sie energisch.

„Wirklich, Ada?“ Eleonore schaute erstaunt auf das Kind herunter und war begeistert. Mit einem Mal sah sie vor ihrem geistigen Auge, wie sie der Kleinen das Lesen und Schreiben und vielleicht auch noch Rechnen lehren würde.

Vielleicht würde das Ada eines Tages ermöglichen, einem anderen Broterwerb als ihre Mutter nachzugehen!

„Wenn du möchtest, Ada, bringe ich dir gerne die Bedeutung der Buchstaben bei, dann kannst du irgendwann selbst lesen.“

„Au ja, fein!“

Eleonore nahm ein Stöckchen zur Hand und begann, die erste Lektion ohne zu zögern gleich dort in den Sand zu zeichnen.

Ada war wissbegierig und nahm schnell auf. Eleonore war ganz in ihrem Element. Schon bei Jane hatte ihr die Wissensweitergabe viel Freude gemacht und mit der neuen kleinen gelehrigen Schülerin bestätigte sich ihre Vermutung wieder, dass ihr das Lehren am Herzen lag.

Als sie später darüber sinnierend die Treppen hochstieg, hörte sie aus der Wohnung der Tante lautes Geschrei. Entsetzt eilte sie hinüber.

Tante Mary saß am Tisch, das Gesicht in den Händen verborgen, während Onkel Wilbur dem zappelnden Peter eine gehörige Tracht Prügel verpasste und dabei laut schrie. Eleonore zuckte zusammen. Körperliche Züchtigung war durchaus üblich, aber nicht in ihrer Familie. Wie versteinert blieb sie in der Tür stehen. Das Geschrei ihres Onkels ergab keinen Sinn. Was war hier los? Noch bevor sie sich einen Reim auf die Szene machen konnte, riss Peter sich plötzlich los, als Wilbur den Griff etwas lockerte, und rannte mit trotzigem Geheul aus der Tür. Mary sah mit rotgeränderten Augen auf, während Peter mit voller Wucht gegen Eleonore prallte. Für einen Moment blieb ihr die Luft weg. Dieser Augenblick genügte Peter, um Eleonore zur Seite zu stoßen und aus der Tür hinaus zu fliehen. Mary machte einen halbherzigen Versuch, ihm hinterher zu laufen, aber als der Stuhl polternd hinter ihr zu Boden fiel, war es, als ob alle Energie aus ihr wich und sie blieb nur hilflos mitten im Raum stehen.

Dann schaute sie zu Wilbur hinüber. Der sonst so ruhige Onkel explodierte regelrecht: „Schau mich nicht so an! Er hat nur bekommen, was er verdient. Das war mehr als ein dummer Jungen-Streich! Das hätte mich die Anstellung kosten können!“ Auch er stürmte an Eleonore vorbei nach draußen.

„Mary, was um alles in der Welt geht hier bloß vor sich?“, fragte Eleonore vorsichtig. Die Tante schüttelte nur den Kopf, stellte den Stuhl wieder zurecht und machte sich am Herd zu schaffen. Eleonore sah jedoch, dass ihr schon wieder die Tränen kamen, denn Marys Schultern begannen zu zucken.

Eleonore trat zu ihr hinüber, fasste sie an den Schultern und führte sie sanft wieder an den Tisch, drückte sie auf den Stuhl. Sie war überfordert, denn sie wusste nicht, was die ganze Aufregung verursacht hatte. Und nie hatte es bisher eine Situation gegeben, in der sie die Tante hatte Schwäche zeigen sehen.

Nach mehreren Versuchen gelang es ihr endlich, den Grund der Aufregung herauszufinden: Peter hatte mit einer Gruppe älterer Burschen wohl einen Überfall auf eine der Kutschen geplant, die vom Fuhrunternehmen betrieben wurden, für das Wilbur arbeitete. Die Burschen, zwei, drei Jahre älter als Peter selbst, waren Kleinkriminelle und dafür bekannt, dass sie immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt kamen. Wie Peter sie kennengelernt hatte, wusste Mary nicht. Scheinbar hatten sie ihm mächtig imponiert und er war naiv genug gewesen, Details wiederzugeben, die Wilbur am heimischen Tisch erzählt hatte. Solche pikanten Informationen, wie die Tatsache, dass hin und wieder Geld in nicht unbeträchtlichen Summen auf gewissen Routen transportiert wurde. Peter hatte damit vor seinen Freunden geprahlt und die hatten seine Naivität ausgenutzt. Als Peter seinen Vater ungeschickt und zu detailliert über die Routen und Summen ausgefragt hatte, war dieser hellhörig geworden. Ihm war schon zuvor aufgefallen, dass sein Sohn seit einiger Zeit viel zu spät nach Hause gekommen war, und das ein oder andere Mal schien er nach billigem Fusel gerochen zu haben.

„Weißt du, das Schlimmste ist, ich hatte auch die ganze Zeit das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Aber was hätte ich denn tun sollen? Ich dachte halt, es ist das Alter, da werden sie schwierig. Und ich habe weiß Gott auch so genug Sorgen...“ Mary verstummte und starrte vor sich hin. Als Wilbur dann an diesem Abend auf dem Nachhauseweg Peter mit der Gruppe der Burschen hatte herumlungern sehen, zu einer Zeit, zu der er eigentlich bei seinem Dienstherrn hätte sein müssen, da hatte er seinen Sohn buchstäblich am Ohr nach Hause geschleift und sich zu dem, was er aus Peter hatte herausprügeln können, den Rest dazu gereimt.

„Was mach’ ich denn nur? Wer weiß, wo er jetzt hin ist?“ Mary strich mit dem linken Zeigefinger gedankenverloren immer wieder an der rauen Tischkante entlang. Eleonore wusste nicht, was sie der Tante sagen sollte, ohne, dass es nach leeren Trostworten klang. Sie schaute dankbar auf, als sie ihre Mutter eintreten hörte und war froh, die Verantwortung abgeben zu können.

* * *

Als Eleonore und die Mutter schon im Bett lagen, tauschten sie sich darüber aus, was in Hinblick auf Peter zu tun sei. Eleonores Vetter war nicht wieder aufgetaucht. Sehr spät hörten sie Wilbur lallend die Treppe hochtorkeln und in die Wohnung poltern. Ein Grund mehr zur Sorge, denn Wilbur gehörte normalerweise nicht zu den Männern, die bei Ärger in die Schänke verschwanden. Und dann hörten sie, wie ein Streit zwischen Mary und Wilbur entbrannte. Durch den dünnen Fußboden drangen Satzfetzen zu ihnen nach oben. Es waren gegenseitige Anschuldigungen, sie warfen sich unschöne Dinge an den Kopf. Eleonore seufzte. Sie hatte die beiden vorher nie ernsthaft streiten hören. Sie drehte sich zur Seite und versuchte, an etwas anderes zu denken. Sie musste dringend schlafen, brauchte die Nachtruhe, um am nächsten Morgen wieder arbeitsfähig zu sein.

Über die Aufregung hatte Eleonore ihren kleinen Lichtblick vom Nachmittag fast vergessen: Die wissbegierige Ada. Bevor sie endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, kreuzte noch ein Gedanke ihren Kopf, den sie aber aufgrund der tiefen Erschöpfung, die sie ergriffen hatte, nicht mehr festhalten konnte: Bildung war der Schlüssel für die kleine Ada, um eine bessere Perspektive zu haben als ihre Mutter. Aber auch für die Bande, der Peter sich angeschlossen hatte, wäre eine gute Ausbildung der Ausweg vor dem Abrutschen in die Kriminalität gewesen.

* * *

Jacob studierte die Zeitung nur unaufmerksam. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Mehr als ihm lieb war. Es ging ihm nun schon seit einigen Tagen so. Er brach das noch warme, frischgebackene Scone in zwei Teile und tunkte es in seine Tasse mit dem teuren Darjeeling. Seine Mutter wäre vor Empörung ganz blass um die vornehme Nase geworden, wäre sie Zeugin davon gewesen, aber ihm schmeckte es so schlichtweg am besten.

Immer wieder spielte er gedanklich die seltsame Begegnung mit Eleonore durch. Warum spukte das Dienstmädchen ständig in seinem Kopf herum?

„Herrgott nochmal!“, fluchte er laut und versuchte, sich wieder auf die Börsennachrichtern zu konzentrieren. Ob ihr der Jules Verne wohl gefiel? Er selbst hatte das Buch verschlungen. Wenn er jetzt klingelte, würde wahrscheinlich nicht sie sondern Kate hereinkommen, oder eines der anderen Mädchen. Er ertappte sich dabei, wie er einen Vorwand suchte, mit Eleonore zu sprechen, sie zu fragen, was ihre Gedanken zu dem Roman waren. Warum musste er ständig an sie denken? Er zuckte zusammen, als er sich wieder daran erinnerte, wie sie ihn angesehen hatte, nachdem sie das Gespräch zwischen Thomas und ihm vor einigen Tagen mitgehört hatte. Wie viel hatte sie mitbekommen? Und was für einen Reim machte sie sich darauf? Wahrscheinlicher war, dass sie gar nicht über ihn nachdachte. Seine Gedanken drehten sich im Kreis.

Er schob die Zeitung von sich weg. Arbeit, das war das richtige Mittel, um sich auf etwas anderes zu besinnen.

Hastig schlang er den letzten Bissen seines Frühstücks hinunter, spülte mit Tee nach und verließ das Haus.

Er stürzte sich in die Arbeit und tatsächlich gelang es ihm, sich auf die Zahlen zu konzentrieren, die er durchging, um eine Besprechung mit dem wichtigsten ihrer Lieferanten vorzubereiten. Er wusste, dass Miller & Co. als mehr als zuverlässig galt. Er war sich aber im Klaren darüber, dass dies zu kurz gedacht war und man sich auf diese Tatsache nicht als ehernes Gesetz verlassen durfte. Er würde darüber unbedingt mit seinem Vater sprechen müssen. Erst kürzlich hatte Oscar Godwin, ein Freund aus Studententagen, den er zufällig im Club getroffen hatte, ihm erzählt, wie die Veränderungen in der Geschäftsführung des Hauptlieferanten der väterlichen Firma eine enorme Gewinneinbuße gebracht hatten. Die Zeiten änderten sich: Die neue Geschäftsleitung gab nichts auf die Gentlemen‘s Agreements, welche die Herren bei Zigarren und Brandy geschlossen hatten. Besser also für klare Verhältnisse und Verträge sorgen, damit jeder wusste, nach welchen Regeln gespielt wurde. Wer konnte denn garantieren, dass nicht auch ein zuverlässiger Geschäftspartner wie Miller sein Fähnlein eines Tages nach dem Wind hängen würde? Jacobs Vater würde das anders sehen, er würde sich immer auf den Namen Bradford und dessen Wirkung verlassen, aber Jacob wusste, dass das Geschäft schnelllebiger wurde. Und er hielt viel von Fair Play, auf beiden Seiten. Nur wer sich auf Augenhöhe begegnete, konnte Geschäfte abschließen, welche für alle Beteiligten gewinnbringend waren. Letztendlich war es doch alles ein großes Geben und Nehmen, auch in der Geschäftswelt!

Er blickte schließlich erst von den Unterlagen auf, als es anfing zu dämmern. Mit einem Mal merkte er auch, dass er Hunger hatte. Mittags hatte er nur ein Sandwich verschlungen.

Er streckte sich gähnend.

Frederick Bradford schlug in seinem Büro ebenfalls die Bücher zu und löschte das Licht. Er trat zu seinem Sohn an den Schreibtisch und erinnerte ihn: „Jacob, du weißt, dass deine Mutter Karten für die Aufführung im St. James’s Theatre hat besorgen lassen!?“

Jacob stöhnte auf. Das war das letzte, wonach ihm heute Abend der Sinn stand.

„Muss das sein, Vater? Ich habe den ganzen Tag ohne Pause gearbeitet und einen riesigen Hunger. Was spielen sie denn?“

Frederick Bradford winkte ab. Er war für die Musik zu begeistern, aber kaum für das Schauspiel.

„Ich fürchte, es geht kein Weg daran vorbei. Deine Mutter besteht darauf. Die Taylors werden auch dort sein. Es würde an einen Affront grenzen, wenn wir nicht kämen.“

Jacob streifte seufzend seinen Gehrock über und folgte dem Vater nach draußen, wo bereits die Kutsche wartete. Sein Magen knurrte, er hoffte nur, dass das Stück nicht zu lange dauerte. Er ging gerne in das Theater, liebte sowohl die modernen Stücke als auch die Klassiker, aber heute Abend stand ihm der Sinn nach einem Glas Wein, Ruhe und einem guten Buch.

* * *

Isabell Taylor hatte an diesem Abend noch mehr Sorgfalt für ihre Toilette und Garderobe verwendet als gewöhnlich. Zweimal hatte das Dienstmädchen die Frisur neu machen müssen, denn es musste alles vollkommen perfekt aussehen.

Man traf sich in der Loge. Jacob Bradford und sein Vater kamen erst kurz vor Beginn der Vorstellung. Das leise Gemurmel der Zuschauer wogte durch den Saal.

Isabell reichte Jacob huldvoll ihre Hand. So positiv gestimmt wie möglich sie den Plan auch umsetzen wollte, sie kam nicht umhin, zu bemerken, dass der Gute zerzaust und geistesabwesend wirkte. Nun gut, sie war auch schon mit schwierigeren Aufgaben fertig geworden. Sie wusste, dass Jacob sehr intelligent war, also musste sie ihn auf diesem Wege für sich gewinnen. Aber ein Mann blieb er immer noch. Sie müsste also dezent, aber an den richtigen Stellen, ihre Reize zur Geltung bringen. Außerdem redete doch jeder Mann gerne von sich selbst und prahlte mit seinem Können.

Als er sich formvollendet über ihre Hand beugte und einen Handkuss andeutete, drückte sie mit ihren schlanken Fingern für den Bruchteil einer Sekunde seine warme, trockene Hand. Nur ganz kurz, gerade so, als ob es nur ein Versehen war und so, dass es gerade noch schicklich schien. Falls er es bemerkt hatte, so ließ er es sich in keinster Weise anmerken, er zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Dummkopf!“, schoss es Isabell durch den Kopf, aber ihr Lächeln blieb genauso liebreizend wie zuvor. Während ihr Vater und der alte Bradford sofort in ein Gespräch über Politik einstiegen, tauschten die Mütter Einrichtungsratschläge aus. Isabell holte tief Luft, gab ihrer Stimme einen liebenswerten Klang und fragte mit einem, wie sie meinte, koketten Augenaufschlag: „Mr Bradford, Sie müssen müde sein, Sie haben sicherlich einen anstrengenden Tag hinter sich?“

Er kam nicht dazu, zu antworten, denn die Lichter wurden gedimmt und das allgemeine Gemurmel verstummte.

Was nun folgte, war ein durchschnittliches Schauspiel. Isabell überlegte, ob es zu gewagt wäre, wenn sie sich vorsichtig zu Jacob Bradford herüberlehnte, gerade so, dass ihre Schulter seinen Arm berühren würde. Vorsichtig und ganz behutsam rutschte sie leicht auf ihrem Sitz in seine Richtung. Als sie schon seine Körperwärme spüren konnte, atmete sie tief ein, so als ob sie gerade sehr ergriffen von den Geschehnissen auf der Bühne sei. Dabei lehnte sie sich noch ein Stückchen weiter zu Seite, kam ihm näher. Sie merkte, wie Jacob auffuhr und verdutzt um sich sah: Er war eingenickt und hatte überhaupt nichts von ihrem Annäherungsversuch bemerkt! Unglaublich! Und durch und durch stillos. Isabell verlor langsam die Geduld. Es lief ganz und gar nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte.

Sie brütete schmollend vor sich hin und wagte keinen zweiten Versuch.

Als das Theaterstück endlich vorbei war, schützte sie Migräne vor. Ihre Mutter funkelte sie über den Fächer hinweg an, was Isabell geflissentlich übersah. Dann nestelte Mrs Taylor kurz am Knopf ihres Handschuhs und blickte Jacob Bradford und seine Mutter entschuldigend an. Bradford Senior und Mr Taylor waren wieder in politische Gespräche vertieft. Das vornehme Publikum um sie herum strebte langsam in Richtung Ausgang.

„Meine liebe Mrs Bradford, Jacob Alexander, ich muss mich entschuldigen. Die arme Isabell hat manches Mal so starke Migräne, das arme Ding. Ich fürchte, ich muss Sie ihrer liebreizenden Gesellschaft berauben.“

Erwartungsvoll sah sie Jacob Bradford an, der mit Mühe ein Gähnen unterdrückte. Mrs Bradford lenkte schnell ein: „Wie schade! Arme Isabell. Machen Sie ihr kalte Umschläge! Und Zitronenwasser, das hilft!“

Man verabschiedete sich. Kaum saßen die beiden Frauen in der Kutsche, zischte Isabell: „Ich hätte es keine Sekunde länger ausgehalten. Jacob Alexander Bradford ist nicht nur ein Langweiler, es ist mir auch unverständlich, wieso er überhaupt gar nicht auf mich reagiert. Er tut fast so, als ob ich Luft wäre.“

Ihre Mutter gab gereizt zurück: „Du hättest wohl noch einen Moment länger ausharren können. Wenn er kein ausreichendes Interesse zeigt, dann bemühe dich halt mehr um seine Gunst!“

Isabell zog ihre Lippen zu einem Schmollmund zusammen. „Muss es denn wirklich Jacob Alexander Bradford sein? Ausgerechnet?“

„Wir hatten das bereits diskutiert, Isabell. Ja, es muss Jacob Alexander Bradford sein! Nenn mir einen anderen, der genauso reich ist und in so passendem Alter... Nun...? Siehst du! Außerdem…“, setzte sie besänftigend und schmeichelnd hinzu, „…denk daran, es dient alles einem höheren Plan. Nicht nur wärest du für immer bestens abgesichert, nein, wir brauchen auch die politische Unterstützung vom alten Bradford.“

Isabell horchte auf. Daher wehte also der eigentliche Wind, darauf hätte sie ja gleich kommen können!

Aber nun gut, sie wurde gebraucht, um den Namen und das Ansehen der Familie hoch zu halten. Natürlich wäre sie in der Lage, ein gutes Vermögen für sich zu sichern.

Ihr Ehrgeiz war von neuem geweckt. Es wäre doch gelacht, wenn das einer Isabell Taylor nicht gelingen sollte. Sie streckte das Kinn entschlossen vor und schaute durch das Fenster der Droschke hinaus in das nächtliche London.

* * *

„Solch eine reizende junge Dame“, schwärmte Mrs Bradford, kaum dass Mrs und Ms Taylor das Theater verlassen hatten. „Findest du nicht auch, Jacob?“ Der war noch ganz benommen von dem kleinen Schläfchen während der Vorstellung. Er hoffte, dass es nicht weiter aufgefallen war. Andererseits war es auch egal, Isabell Taylors Meinung war ihm gleichgültig.

„So anmutig und liebenswert, nicht wahr?“

„Ja, Mutter, da hast du natürlich Recht“, antwortete er automatisch. Wenn man nicht zugehört hatte, war es im Zweifel immer am geschicktesten, ihr zuzustimmen.

Sie nahmen die Droschke nach Hause und Jacob war froh, als er nach dem langen Arbeitstag und der Theatervorstellung endlich die Tür hinter sich schließen konnte. Der Tag hatte Ablenkung gebracht, aber kaum, dass er im Bett lag, ertappte er sich wieder beim Gedanken an Eleonore.

Er konnte sich diesen Umstand nicht erklären. Sicher, er war nicht voreingenommen gegenüber der hart arbeitenden, ärmlichen Bevölkerung, so wie andere seines Standes. Seine Kinderfrau, die er wie eine Mutter betrachtet hatte, war selbst aus sehr bescheidenen Verhältnissen gekommen. Sie hatte ihm behutsam und sehr geschickt – ohne dass es aufrührerisch gewirkt hätte – beigebracht, dass alle Menschen gleich waren und es eine Sünde war, in Klasse und sozialem Status niedriger Gestellte zu verachten. Schließlich suchte sich niemand aus, in welche Schicht er oder sie hinein geboren wurde. Es kam letztendlich nur darauf an, was man aus seiner Situation machte und ob man hart arbeitete. Abgesehen davon, dass er diese Einstellung mit fünfzehn Jahren als willkommene Ausrede genommen hatte, um mit einem kaum älteren Dienstmädchen heimlich verstohlene Küsse hinter der Gardine auf dem Gang auszutauschen, war er mittlerweile kraft eigener Reflektion darauf gekommen, dass die Amme Recht gehabt hatte – eine ungewöhnliche Einstellung für jemanden seines Ranges, das war ihm bewusst. So behielt er diese Art von Überlegungen meist für sich. Außerdem war er in den Schranken und Grenzen seines Standes gefangen und wusste, dass er es unterlassen sollte, zu viele Gedanken auf ein Dienstmädchen zu verschwenden. Und doch hörte er nicht auf, die Begegnungen mit ihr Revue passieren zu lassen. Unruhig wälzte er sich auf die andere Seite. Was war denn so Besonderes an ihr, dass sie seine Gedanken beherrschte? Ja, sicher, sie war ein hübsches Ding, wie Thomas es so nonchalant formuliert hatte. Aber man sah ihr die Entbehrungen des Alltags an, und es gab sicherlich Frauen, die er eher als Schönheit bezeichnet hätte. Und doch: Etwas lag in ihren Augen, ihrem Blick und in der Art, wie sie sich ausdrückte, das ihn scheinbar so anzog, dass er mehr von ihr wissen wollte. Vielleicht war es die Tatsache, dass ihr ganzes Wesen in solch einem Gegensatz zu dem Bild stand, das man sich vom Dienstpersonal machte, so gar nicht zu den allgemeinen Klischees passte, die auch er nie hinterfragt hatte.

Hatte er dieses Gefühl schon einmal gehabt, dass ein Mädchen ihn so interessierte, dass er geradezu ungeduldig geworden war, mehr von ihr zu erfahren?

Bevor er weiter über diese eigenartige neue Erkenntnis nachdenken konnte, schlief er ein, aber die Erinnerung an die Wärme, die in der regnerischen Nacht in Whitechapel von ihrem Körper ausgegangen war, begleitete ihn in den Schlaf.

Das Leuchten der Sterne in uns - Teil Eins: Aufbruch

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