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LIEBE, LICHT UND TOD

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Nach zehn Tagen war der Jaguar, der scheinbar ewig vor dem Palace gestanden hatte, verschwunden und ein Jahr verstrich, ohne dass sie viel über den rätselhaften Mann nachdachte. Nur wenn sie ihre Lieblingsjeans anzog und nach der Visitenkarte tastete, die sich inzwischen vom vielen Waschen bestimmt in ihre Einzelteile aufgelöst hatte, erinnerte sie sich an die mysteriöse Begegnung und träumte von der Glitzerwelt, in der sich der elegante Jaguar-Besitzer mit grosser Wahrscheinlichkeit bewegte. In einem dieser Momente hatte sie sich für eine Stelle im Hotel Palace beworben, aber der Wunsch ging nicht in Erfüllung.

Mumtaz versuchte, auch ihre unerfüllten Träume zu akzeptieren, denn oft zeigte sich der Sinn einer Endtäuschung erst lange nach dem unerfreulichen Ereignis und an dem Tag, als Sie die Absage auf ihre Bewerbung erhielt, wählte sie nach Arbeitsschluss den Weg über die mehrstöckigen Rolltreppen der riesigen Parkhausanlage, die von zeitgenössischen Designern entworfen und unterhalb des Palace Hotels in die Erde gegraben wurde. Am oberen Ausgang drehte sie sich um und blieb lange stehen. Von hier hatte sie einen freien Blick auf das nahe Alpenpanorama, das an diesem Abend zu glühen schien. Das Wetter hatte im Verlauf des Tages umgeschlagen und die Sonnenstrahlen fanden ihren Weg durch sich ständig ändernde Wolkenformationen. Dabei beleuchteten sie jede Minute eine andere Felswand oder andere Schneegipfel, so dass sie wie aus Fels und Eisschnee gemeisselte Ozeanwellen aussahen.

Mumtaz erinnerte sich an die Visitenkarte und entschied, dass heute der Tag war, an dem sie die vermeintlichen Krümel davon endlich in den Wind streuen wollte. Das war aber nicht möglich, weil die Kunststoffbeschichtung der Karte verhindert hatte, dass sie sich beim Waschen auflöste. Mumtaz schloss die Augen und als sie diese wieder öffnete, um den Aufdruck zu lesen, gelang ihr auch das nicht, weil der Schriftzug fast ganz verblasst war. Nur einen, der goldenen Buchstaben konnte sie gerade noch entziffern: …N…

Der Rest war verschwunden. Da konnte sie die Karte drehen solange sie wollte und auch die Sonne, die soeben hinter einer Wolkenwand hervortrat, half ihr beim Entziffern nicht weiter. Sie ärgerte sich, denn heute gelang anscheinend gar nichts und setzte ihren Weg fort, der als nächstes am Palace vorbeiführen würde.

‚Super-shitty‘ dachte sie im Rhythmus der ersten Schritte. ‚Super-shitty, Super-shitty, Su – per – shi - ty .

Als sie am Palace vorbeiging, stand der Jaguar auf seinem gewohnten Platz. Genau, wie vor einem Jahr.

Der kurze Anstieg vom Parkhausdach bis zum Hotel Palace hatte sie etwas ausser Atem gebracht, aber erst jetzt begann ihr Herz heftig zu schlagen. Mumtaz verlangsamte ihren Schritt aber nur unmerklich und stieg weiter hinauf zu ihrer Wohnung, die in einem Teil von St. Moritz lag, wo es keine teuren Einkaufsstrassen mehr gab. Sie schenkte den luxuriösen Schaufenstern schon lange keine grosse Aufmerksamkeit mehr. Nur wenn in einer der zahlreichen Kunstgalerien mal wieder ein neues und interessantes Bild hing, bemerkte sie das sofort. Aber heute musste sie sich mit dem Wiedererscheinen des Jaguars begnügen.

„Auch nicht schlecht,“ dachte sie und ging viel zu früh ins Bett, denn sie konnte lange nicht einschlafen.


Als sie am nächsten Morgen am Palace vorbeiging versuchte sie den gutgekleideten Mann nicht zu beachten, der in diesem Moment zu seinem Auto trat.

Er hatte sie sofort gesehen und winkte sie zu sich.

„Du hast nicht angerufen, Mumtaz.“

„Nein, was hätte das für einen Sinn gehabt?“ antwortete sie schlagfertig.

Der Mann reichte ihr eine neue Visitenkarte: „Das habe ich nicht anders erwartet und deshalb frage ich dich jetzt direkt, ob du in den nächsten Tagen Zeit hast, mit mir einen Kaffee zu trinken?“

Mumtaz konnte - oder wollte nicht antworten und machte eine fragende Geste.

„Ruf mich an,“ sagte er. „Du hast nichts zu verlieren. Höchstens ein paar Minuten deiner Zeit.“

Er öffnete die Tür und setzte sich hinter das Steuer des Jaguars, wo er den Motor startete und das Auto fast geräuschlos über den Parkplatz zur Hauptstrasse steuerte. Erst jetzt realisierte Mumtaz, dass der Mann ihren Namen gewusst hatte und sie blieb einige Sekunden nachdenklich stehen, bevor ihr Blick auf die Visitenkarte in ihrer Hand viel und sie herausfand, für welchen Namen der Buchstabe N stand.

Dann setzte sie ihren Arbeitsweg fort.

Den Rest des Morgens versuchte sie, das eben erlebte zu vergessen und zwang sich, weder die Nummer auf der neuen Visitenkarte, noch den Namen Nick in Ihrem Mobiltelefon zu speichern oder gar anzuwählen. Aber bereits in der Mittagespause wusste Mumtaz, dass sie das höchstens noch bis zum Feierabend durchhalten würde. Deshalb setzte sie sich gleich ans Seeufer der Pension Sonnenschein, zog die Visitenkarte aus ihrer Tasche und griff zum Telefon.

„Hallo,,,“ mehr brauchte sie nicht zu sagen, denn die Antwort kam prompt.

„Hallo Mumtaz. Es freut mich, dass du anrufst. Leider kann ich im Moment nur schlecht telefonieren. Komm doch in den nächsten Tagen im Segantini-Museum vorbei. Dort können wir in Ruhe einen Kaffee zusammen trinken.“

„Wann genau?“ wollte sie wissen.

„Wann immer du willst.“

Der Mann hatte aufgelegt. Mumtaz blieb noch einen Moment am See von Silvaplana sitzen und schaute hinauf zum Segantini-Museum, das sie von ihrem Pausenplatz aus sehen konnte. Sie betrachtete den dunkelgrauen Steinbau mit der eindrücklichen Turm- und Panoramakuppel und fragte sich, ob es dort oben überhaupt ein Restaurant gab, aber sie konnte sich nur an einen gepflegten Garten erinnern und an einen Weg, der zur schattigen Rückseite des Gebäudes führte. Und natürlich an die Werke des grossen Meisters, die ihren Platz in dem eigenwilligen Schloss gefunden hatten.

Morgen war ihr freier Tag und es war gut möglich, dass sie die Bilder wieder einmal sehen wollte… . Am Abend schaute sie sich im Bett und im Internet den neuen Segantini-Film an, in dem Bruno Ganz die Sprechstimme des Künstlers und seine durchaus auch poetischen Texte vortrug und sie war von der ersten Minute an fasziniert.

Der Film zeigte und handelte von Giovanni Segantinis aussergewöhnlichem und rebellischem Leben. Von seinen Bildern, aber auch von seinen Briefen an Förderer und Freundinnen aus der Kunstscene, in denen er sich oft für seine mangelhafte Ausdrucksweise entschuldigte, obwohl das überhaupt nicht zutraf, und vom Bündnerland und von Liebe, Licht und Tod.

Als sie den Computer ausschaltete, hatte sie Tränen in den Augen, denn das war auch ihr Bündnerland. Sie löschte die Nachttischlampe, drehte sich auf ihre Lieblingsseite und schlief tief und fest in dieser Nacht.



Mumtaz und Nick

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