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In diesen heil’gen Hallen

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Es ging auf Nachmittag zu, und die Kantine im Polizeipräsidium hatte sich schon weitgehend geleert. In einer Ecke saßen jedoch Hauptkommissar Hasenbach, Leiter des K20, und seine Mannschaft zu einer Besprechung beisammen, - wie schon so oft. Hasenbach bezeichnete dies gern als „Arbeitsessen“ und tat sich dabei furchtbar wichtig. Der Obrigkeit in Person von Kriminalrat Dr. Sowetzko behagte das allerdings weniger, und so nutzte er heute die Gelegenheit, sich an einem Nebentisch zu platzieren, einen Kaffee zu trinken und dabei – hinter einer Zeitung verborgen – neugierig den kriminalistischen Erkenntnissen dieses angeblich so wichtigen Treffens zu lauschen.

Marion und ihr Kollege Hoffeld kamen gerade von einem Einsatz zurück. Zum Mittagessen hatte die Zeit nicht gereicht, und nun hofften sie, dass die Kantine ihnen noch etwas zu bieten hatte.

„Ach siehe da! Der Stammtisch ist auch wieder versammelt“, rief sie gedehnt und mit unüberhörbarer Geringschätzung durch den Saal. Zwischen Hasenbach und ihr bestand eine über Jahre gewachsene Feindschaft. Auch darüber machte Dr. Sowetzko sich zunehmend Sorgen. Er wusste, dass die Zelenka die Überlegenere war und auch einiges unbeschadet einstecken konnte, Hasenbach dagegen war sensibel, neigte zu Frust und in diesem Zustand vermehrt zu Fehlern. Dass er überdies die Manie besaß, sich ständig als der bessere Kriminalist beweisen zu müssen, machte das Verhältnis besonders schwierig.

Jetzt stand Hasenbach wütend auf und rief zurück: „Werden Sie ja nicht übermütig, gnädige Frau! Nur weil Sie mal wieder einen Fall so la-la gelöst haben. Ich aber prophezeie Ihnen: Des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zuteil. Das hat schon der alte Goethe gewusst.“

Marion lachte und sagte mitleidig: „Ich weiß – ich weiß. Der Ring des Polykrates. Ist aber nicht von Goethe sondern von Schiller. Übrigens, falls Sie’s noch nicht bemerkt haben sollten, dort hinten auf der Fensterbank liegen Anmeldeformulare aus, - für die Volkshochschule.“

Während Hoffeld, der älteste Kommissar im K21, zu Marion mahnend eine dämpfende Handbewegung machte, überlegte Dr. Sowetzko, ob er eingreifen sollte, als Chef vielleicht sogar eingreifen müsste, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Doch dann sagte er ärgerlich zu sich selber: Was soll’s? Der Hasenbach ist ein Idiot, der sich ständig provozieren lässt und meist selbst den Anlass dazu liefert, und die Zelenka lässt sich ohnehin nicht das Maul verbieten. Wenn sich das weiter zuspitzt, muss da mal eine ganz andere Lösung her.

Als er sich anschickte aufzubrechen und gerade seine Zeitung zusammenfaltete, stand seine Hauptkommissarin plötzlich vor ihm. „Haben Sie noch einen kurzen Moment Zeit?“, fragte sie ungewöhnlich freundlich.

„Falls Sie mich auch über deutsche Klassiker belehren wollen ...“

„Keine Sorge, ich brauche nur drei Tage Sonderurlaub aus meinem Überstunden-Fundus. Meine Tochter ist mit Freunden von mir eine Woche an der Nordsee. Und ich möchte in dieser Zeit gern meinen Partner zu einem VDE-Kongress nach Berlin begleiten.“

„Machen Sie jetzt auch noch in Elektrotechnik?“

„Nein, für mich steht mehr Kultur auf dem Programm.“

„Hätt’ ich mir denken können. Und vermutlich ist bereits alles schon komplett gebucht, nicht wahr? Nach dem Motto: Der Chef wird’s schon absegnen. Ich sollte es Ihnen rein aus Prinzip abschlagen.“ Dr. Sowetzko sah sie dabei strafend, doch eher ein wenig gekünstelt strafend an.

„Ach nein, der Typ sind Sie absolut nicht“, erwiderte sie lächelnd.

„Wie bitte darf ich das verstehen? Etwa als Kompliment – aus Ihrem Munde? Das wäre ganz was Neues. – Ach, hauen Sie schon ab!“ Er wusste genau, dass sie im K21 alle notwendigen Maßnahmen für ihre Abwesenheit getroffen hatte und dass es dadurch keine Probleme geben würde. Doch wenn er geglaubt hatte, das Thema „Berlin-Trip seiner Hauptkommissarin“ damit abhaken zu können, sollte er später noch eines Besseren belehrt werden. –

Ganz schön anstrengend, dieses Berlin, dachte Marion, als sie im soeben frisch erworbenen figurbetonten schwarzen Blazermantel an der Philharmonie vorbeischlenderte in Richtung Potsdamer Platz. Ihre Füße schmerzten vom vielen Laufen, der Rücken meldete sich. Daher war sie geradezu dankbar, im Filmhaus das Kinoplakat „Trollflöjten“, Ingmar Bergmans filmische Version von Mozarts „Zauberflöte“, zu entdecken. Den Film wollte sie immer schon gern sehen. In wenigen Minuten sollte die nächste Vorführung beginnen. Wenn das kein Wink des Himmels war ...

Die Nachmittags-Vorstellung war an diesem Sonnabend nur mäßig besucht. Die Plätze links und rechts von ihr blieben zunächst frei, bis kurz vor Beginn, als das Licht im Saal schon fast verloschen war, mit vernehmlichem Ächzen eine stämmige männliche Gestalt sich neben sie setzte, sogleich eine Tüte mit billigen, nach Bratfett riechenden Kartoffelchips hervorkramte und sie mit lautem Rascheln aufriss. Musste sich der Kerl ausgerechnet hierhin setzen? Er stank zudem unangenehm nach Kneipe. Als er genüsslich und hörbar die Chips zwischen seinen Zähnen zermalmte und dabei ungeniert schmatzte, sah sie ihn hasserfüllt an. Er verkannte völlig die Empfindungen seiner Nachbarin und hielt ihr gönnerhaft die Tüte hin: „Woll’n ’Se ooch?“

Statt einer Antwort rückte Marion demonstrativ drei Plätze zur Seite und konzentrierte sich ganz auf den Film. Dennoch gelang es ihr nicht, die störenden Geräusche völlig zu überhören, die der widerliche Mann in allen denkbaren Variationen von sich gab. Irgendwann wurde er dann ruhig. Die Tüte war wohl endlich leer. Vielleicht war er auch eingeschlafen. Na, hoffentlich würde er nicht zu schnarchen beginnen!

Sarastro beendete im Film gerade seine große Arie „In diesen heil’gen Hallen“, da hörte sie neben sich ein dumpfes Knackgeräusch. Prüfend wandte sie den Kopf zur Seite und stutzte. Der Mann hing nach vorn gebeugt über die Lehne des Vordersitzes, den Kopf schlaff nach unten gerichtet. Die Filmszene wurde heller, und in dem schwachen Widerschein erkannte sie, dass irgendein länglicher Gegenstand in seinem Nacken steckte. Sofort rutschte sie zu ihm hinüber, um Näheres erkennen zu können. Und sie erschrak ...

Urplötzlich sprang sie auf, eilte zum Ausgang, sprach kurz mit einer Angestellten des Filmhauses und blieb mit verschränkten Armen am Ausgang des Saales stehen. Niemand käme mehr an ihr vorbei. Trotz der Unruhe lief die Vorstellung zunächst weiter, bis wenig später Polizei und Notarzt eingetroffen waren. Der Film wurde gestoppt und das Licht im Saal eingeschaltet. Niemand durfte den Raum verlassen.

Der Notarzt stellte den Tod des Mannes fest. Die Spurensicherung rückte an. Dann erschienen zwei Herren, die den Anwesenden verkündeten, sie seien von der Kriminalpolizei und müssten jeden einzelnen befragen sowie die Personalien aufnehmen. Der ältere der beiden stellte sich kurz als „Kommissar Bödecker“ vor, blickte kurz in die Runde und meinte: „Da fangen wir doch gleich mit der jungen Dame an, die am nächsten an dem Toten dran war.“

Doch die junge Dame hatte sich wieder dem Toten genähert und unterhielt sich angeregt mit dem Polizeiarzt und den Beamten der Spurensicherung. „Dem Mann wurde ein Messer in den Nacken gestoßen. Die Klinge traf den oberen Teil der Halswirbelsäule und verletzte dabei das Hals-Rücken-Mark. Der Tod trat vermutlich sofort ein. Der Stoß muss mit hoher Wucht erfolgt sein, da die Spitze vorn in Kehlkopfhöhe um etwa zwei Zentimeter austritt.“

„Das ist ja mehr als merkwürdig.“ Marion grübelte nach, wie das möglich sein konnte, wo sie doch quasi neben dem Mann gesessen hatte. Unmöglich, dass ein Fremder sich unbemerkt hätte anschleichen können, um dem Mann dieses Messer in den Nacken zu stoßen!

Der jüngere der beiden Kripobeamten trat hinzu, zog Marion ziemlich unsanft beiseite und ranzte Arzt und Spurensicherung an: „Die Ermittlungen gehen neugierige fremde Personen hier überhaupt nichts an! Was denken Sie sich eigentlich dabei?!“

Die neugierige fremde Person kramte ein grünes Plastikkärtchen aus ihrer Tasche und reichte es dem Beamten. Der schluckte erst mal, als er las: „Marion Zelenka – Hauptkommissarin – Kriminalpolizei Duisburg“.

„Määänsch!!“, rief er dann aus, dass alle im Saal irritiert zu ihnen herüber blickten. „Sie kamen mir gleich irgendwie bekannt vor. Damals unser Fortbildungs-Seminar in Köln! Erinnern Sie sich? Willkommen in Berlin! – Übrigens, ich bin Karsten Roloff.“

Bödecker hatte inzwischen mit der Geschäftsführung vereinbart, dass vor dem Kino jedes Aufsehen vermieden werden sollte. Die nächsten Vorstellungen mussten offiziell „wegen technischer Probleme“ ausfallen. Besucher, die schon vernommen worden waren und deren Personalien eindeutig feststanden, durften einzeln durch einen seitlichen Notausgang den Tatort verlassen. Der Kommissar war ebenso ratlos wie verärgert; denn keiner der Kinobesucher hatte irgendetwas gesehen oder gehört, - bis auf die Tatsache, dass die blonde Frau irgendwann ein paar Plätze von dem Opfer abgerückt war. „Lebte der Mann zu diesem Zeitpunkt denn noch?“ Niemand konnte diese Frage eindeutig beantworten.

Nun sah er mit Erstaunen, wie sich sein junger Kollege Roloff mit eben dieser Dame, die für ihn erst mal die Hauptverdächtige war, angeregt und offenbar sehr freundschaftlich unterhielt. Dem wollte er augenblicklich ein Ende setzen.

„Das ist eine Kollegin, Frau Zelenka aus Duisburg,“ erklärte Roloff.

„Na und?!“, knurrte Bödecker ebenso ärgerlich wie drohend. „Sie setzen sich jetzt vorne zu den anderen Kinobesuchern und warten, bis wir Sie aufrufen. Extrawürste gibt’s auf der Kirmes – hier nicht!“

Marion sah ihn spöttisch an. „Aua, verdächtigen Sie mich etwa?! – O verstehe, das müssen Sie ja. Steht so im Lehrbuch.“

Roloff zog sie beiseite. Er kannte seinen Kollegen als einen prima Kumpel, aber er wusste auch, dass er schnell nervös und ungenießbar wurde, sobald er in einem Fall nicht mehr weiter wusste. „Der ist nicht immer so,“ sagte er beschwichtigend, während Marion unbekümmert zu einem weißgekleideten Herrn ging, der sich gerade anschickte, vorsichtig dem Toten das Messer aus dem Hals zu ziehen.

„Stopp – stopp – stopp!“, rief sie. „Bringen Sie den Toten erst in die normale Sitzposition. So, wie er vermutlich dasaß, bevor ihn das Messer traf.“ Zwei Beamte schauten sich verdutzt an. War diese Frau neu in ihrem Kommissariat? Sie kamen der Aufforderung aber nach, und Marion überprüfte, unter welchem Winkel das Messer den Hals durchbohrt hatte. Ihr Blick verlängerte diesen Winkel, der schräg nach oben wies. Ein vager Verdacht befiel sie.

„Hat die ’n Gehörschaden?!“, schrie Bödecker wütend. „Was fällt der ein, unseren Leuten Anweisungen zu geben!“ Und noch lauter forderte er: „Halten Sie sich da gefälligst raus! Wir sind hier in Berlin und nicht im Ihrem Ruhrpott oder wo immer Sie herkommen mögen!“

Marion reagierte darauf wie gewohnt: was sie nicht hören wollte, das hörte sie auch nicht. Also ignorierte sie einfach die Anweisung, tat, als wäre dieser Bödecker gar nicht da, - ein für sie typisches Verhalten in solch einer Situation. Ihre Duisburger Vorgesetzten hätten manch garstig Lied darüber singen können.

„Und zeigen Sie mir bitte das Messer.“ Zum Kollegen Roloff gewandt fuhr sie fort: „Geben Sie mir ein Paar Handschuhe.“ Als Marion die blutige Tatwaffe in Händen hielt und sie akribisch genau betrachtete, schüttelte sie nachdenklich den Kopf. „Schauen Sie mal! Das ist mal ein ganz normales Küchenmesser gewesen. Nur, - es fehlt der Griff. Hier an den Bohrungen war mal der Griff befestigt. Frage: Wo ist er jetzt? Ohne Griff damit zuzustechen, birgt für den Täter selbst eine Verletzungsgefahr. Ist der Griff bei der Ausführung der Tat abgefallen, läge er vielleicht hier irgendwo herum? Womöglich mit verwertbaren Fingerabdrücken des Täters?“

„Wir werden jeden Zentimeter des Fußbodens absuchen,“ beeilte sich Roloff zu versichern.

„Immer schön der Reihe nach. Mir fällt noch etwas viel Interessanteres auf: Die gesamte Klinge ist mit schwarzer Farbe überzogen und zwar auch dort, wo sich mal der Griff befand. Haben Sie ’ne Ahnung, warum die Tatwaffe komplett geschwärzt wurde?“

Er überlegte eine Weile, ehe ihm ein Licht aufging: „Klar. Wegen der Lichtreflexe. Andere Besucher wären womöglich auf die Handbewegung mit der blitzenden Klinge aufmerksam geworden.“

Marion nickte. Unbemerkt hatte sich währenddessen Kommissar Bödecker herangeschlichen und hielt einen gelben Gartenhandschuh hoch. „An der Innenfläche sind Spuren schwarzer Farbe,“ sagte er triumphierend. „Sollte mich nicht wundern, wenn es die gleiche Farbe ist wie die an der Tatwaffe.“

„Mit so einem dicken Handschuh könnte der Täter die Klinge auch ohne Griff seinem Opfer in den Hals gestochen haben,“ sinnierte Roloff.

„Genau.“ Bödecker sah Marion mit überlegenem Grinsen an: „Der Handschuh ist einer der kleineren Sorte, - wie Damenhände ihn bevorzugen. Soll ich Ihnen verraten, wo wir ihn gefunden haben? – Ausgerechnet unter Ihrem Sitz, gnädige Frau! – Und jetzt fordere ich Sie zum letzten Mal auf, sich da unten still irgendwo hinzusetzen und bis zu Ihrer Vernehmung zu warten. Wir werden Sie aufrufen.“

Marion lachte kurz spöttisch auf und hielt ihm die Tatwaffe entgegen. „Kümmern Sie sich lieber um diese nachträglich eingefeilte Kerbe am Ende des Griffstücks. Die Kerbe gehört nämlich nicht dahin, aber sie könnte für die Tat wesentlich gewesen sein.“

Bödeckers Stimme war durchdringend laut und heiser vor Wut, als er erwiderte: „Das wird unsere Kriminaltechnik alles herausfinden, auch ohne ihre vorwitzigen Bemerkungen.“ Drohend fügte er hinzu: „Würde mich nicht wundern, wenn am Ende ein sehr überraschendes, aber für manch einen hier unangenehmes Ergebnis steht.“

„Da sind wir uns ausnahmsweise einig“, erklärte Marion spöttisch. „Fragt sich nur für wen.“

Bödecker wurde es nun endgültig zu bunt. Legte es diese angebliche Kollegin aus Duisburg darauf an, ihn vor seinen Kollegen zu provozieren? Nein, von diesem jungen Ding wollte er sich nicht zum Narren machen lassen. Einen Moment spielte er mit dem Gedanken, Marion als dringend Tatverdächtige vorläufig fest zu nehmen. Aber mit einem so dünnen Beweismaterial wollte er dann doch lieber nicht vor den Haftrichter treten. Stattdessen ranzte er sie lautstark an: „Wenn Sie sich nicht augenblicklich zügeln, sorge ich dafür, dass Sie in Duisburg ein Disziplinarverfahren an den Hals kriegen, das sich gewaschen hat. Darauf können Sie Gift nehmen!“

„Das mit dem Gift streichen Sie lieber. Könnte für Sie wenig hilfreich sein,“ erwiderte Marion ruhig. „Ich werde mich hier noch ein wenig umsehen. Und wenn mir dann etwas auffällt, wende ich mich vertrauensvoll an Ihren erheblich aufgeschlosseneren Kollegen.“

Bödecker kochte. „Sie werden jetzt hier verschwinden! Wir haben jeden befragt, der auch nur im Entferntesten als Täter in Betracht kommen könnte.“

„Da habe ich erhebliche Zweifel.“

Karsten Roloff schaltete sich nun beschwichtigend ein. Alle seien wohl ob dieser brutalen Tat recht nervös. Und ernsthaft glaube niemand, dass die Duisburger Kollegin irgendetwas mit dem Verbrechen zu tun habe. Sie dürfe nicht alles so wörtlich nehmen, der Kollege Bödecker habe das nicht so gemeint.

Marion lächelte über dieses Friedensangebot und nickte zustimmend. „Wie sagt man? – Hunde die bellen, beißen nicht. Ist schon okay so.“

Ruckartig wandte Bödecker sich um und verließ wutschnaubend den Kinosaal. Für ihn stand es fest, dass er sobald wie möglich eine schriftliche Beschwerde gegen diese dreiste Person ausarbeiten würde. Froh, den Störenfried los zu sein, schritt Marion die Sitzreihen ab. Klebestreifen kennzeichneten jene Sitze, die zur Tatzeit von Besuchern belegt waren. Von jedem Platz aus stellte sie in Gedanken eine direkte Linie zum Opfer her. Roloff, der sie interessiert dabei beobachtete, ahnte ihre Gedanken. „Glauben Sie an ein Wurfmesser?“

„Ich versuche das gerade zu prüfen, - besser gesagt, es auszuschließen. Der Täter müsste ein Zirkuskünstler von Weltklasse sein, um auf diese Entfernung zu treffen. Außerdem hätte er von hier hinten nicht unbemerkt von den anderen Besuchern das Messer schleudern können. Auch keines, das er vorher sorgfältig geschwärzt hat.“ Marion sah Ihren Berliner Kollegen ernst an. „Ich denke, das Messer wurde mit einer Hilfseinrichtung regelrecht abgeschossen, - vielleicht eine Art umgebauter Armbrust.“

Nun befielen auch Roloff Zweifel, ob er diese Frau weiter ernst nehmen durfte. Hatte sie Spaß daran, sich hier in dieser Weise aufzuspielen? – „Warum glauben Sie das?“, fragte er zögernd und mit unüberhörbarem Zweifel.

„Der Handschuh unter meinem Sitz, – das war ein kapitaler Fehler des Täters,“ sinnierte Marion. „Eindeutig eine falsche Spur, die vom wahren Hergang ablenken soll. Solche Aufmerksamkeiten von Tätern nehme ich stets mit Dankbarkeit entgegen.“

„Mit einer Armbrust hier im Kino herumzuschießen? Und das soll kein Mensch bemerkt haben?!“ Roloff wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Ging mit dieser Kollegin nun gewaltig die Fantasie durch?

„Lieber Kollege, drehen Sie sich mal um“, sagte Marion freundlich. „Schauen Sie nach hinten auf die Wand zum Projektionsraum. Schauen Sie auf die Durchbrüche, durch die das Licht vom Projektor auf die Leinwand strahlt. Einer dieser Durchbrüche diente als Schießscharte für eine Waffe, mit der das Messer abgeschossen wurde. Wie gesagt: Umgebaute Armbrust oder so etwas Ähnliches. Daher das grifflose Messer, daher der schwarze Anstrich, daher die Kerbe am Ende des Heftes. Und der dusselige Handschuh sollte uns weismachen, die Tat sei von Hand im Zuschauerraum erfolgt.“

„Man hätte doch den Schatten des Messers auf der Leinwand erkennen müssen.“

„Nicht unbedingt. Wenn der Projektionsstrahl aus dem linken Schacht austrat, das Messer aber aus dem rechten abgeschossen wurde, hätte es nie den Lichtstrahl geschnitten.“

„Und das Motiv?“

„Vielleicht wollte einer den perfekten Mord üben, Ihre Kollegen gründlich hinters Licht führen – was weiß ich. Auf alle Fälle war die Tat geplant und vorbereitet. Das beweist der gelbe Gartenhandschuh, - reine Irreführung.“

Roloff starrte Marion voller Respekt an. „Ist der Ermordete ein Zufallsopfer, oder galt der Anschlag gezielt dieser Person? Was denken ...“

„Also nun reicht’s! Sonst muss ich mir noch Gedanken darüber machen, ob ich nicht auch dieses Zufallsopfer hätte sein können“, unterbrach ihn Marion. „Wissen Sie was, verehrter Herr Kollege? Ich gehe jetzt. Den Rest werdet ihr wohl alleine schaffen.“

Roloff schickte zwei Beamte los, um den Vorführer dingfest zu machen. Er selbst begleitete Marion hinaus auf die Straße. Eine Weile ging er stumm neben ihr her und grübelte nach passenden Worten. Endlich wagte er die Frage, ob er sie zum Essen einladen dürfe.

Marion blieb abrupt stehen, zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die andere Straßenseite und sagte: „Sehen Sie den Mann dort, da drüben neben der Laterne. Den kenne ich! Der ist hier in Berlin wegen einer VDE-Tagung.“

„Und wer ist das?“, fragte Roloff interessiert, wieder ganz Polizist. „Wird er gesucht?“

„Gesucht nicht, aber erwartet – vor mir. Das ist Sven, mein Freund. Tschau! War nett, Sie kennen zu lernen.“ Sprachs, hangelte sich wieselflink zwischen zwei Autos hindurch über die Straße und rannte in die ausgestreckten Arme ihres Lebenspartners.

Als Roloff seine Enttäuschung überwunden und seinen traurigen Dackelblick abgelegt hatte, griff er zum Handy und erfuhr, dass seine Kollegen den Vorführer gefunden hatten. „Bringt ihn ins Kommissariat. Ich komme gleich.“ –

Für Marion hingegen hielt dieser Abend noch eine ganz andere Überraschung bereit.

Seit drei Monaten lebte sie mit Sven zusammen in dessen Haus. Ihre alte Wohnung hatte sie geräumt, nachdem ihre Tochter Svenja alle Ängste und Vorbehalte gegen ihn nicht nur überwunden hatte, sondern in ihm schließlich einen Freund fand, dem sie vertraute und zu dem ihre innere Bindung stärker und stärker geworden war. Sven, der schon einmal glücklich verheiratet war, hatte vor zwei Jahren am Ende eines Urlaubs an der Algarve Frau und Tochter beim Absturz eines Rundfliegers verloren. Seitdem hatte er allein in diesem Haus gewohnt, das er einst für seine Familie baute.

Als er Marion und Svenja kennenlernte, erschien es selbst diesem nüchtern denkenden Ingenieur wie ein Wunder, - als wolle ihm der Himmel angesichts eines schreienden Unrechts sein verlorenes Glück zurück geben. Eine selbstbewusste, sympathische junge Frau, eine Tochter, die Svenja hieß ... Sven und Ja! Solch seltsame Assoziationen geisterten ihm durch den Kopf, so dass er diese Begegnung als einen gut gemeinten und zugleich mahnenden Wink des Schicksals empfand. Ohne langes Zögern und Prüfen griff er zu. Und genau das fiel bei Marion auf fruchtbarem Boden. Denn sie kannte bisher nur schwache, unentschlossene Männer, angefangen bei ihrem Vater über Henning, ihrem ersten Lebenspartner und Vater Svenjas bis hin zu dem weichlichen Arno, der ihr Kind eines Tages brutal missbrauchte.

Zwar erschien ihr Sven beim ersten Kennenlernen grob und unfreundlich. Einen „Hackklotz“ nannte sie ihn, und tat dies auch heute noch manchmal. Doch schon nach wenigen Stunden hatte er bei ihrer ersten Begegnung ihr Gefühlsleben arg durcheinander gewirbelt. Nein, zu diesem Zeitpunkt wollte sie wirklich keine neue Beziehung, - auf gar keinen Fall! Aber Sven war stärker und blieb später in vielen Situationen auch der Stärkere.

Jetzt, da sie alle beisammen wohnten, umgab ihn wieder eine heile häusliche Welt. Er hatte eine Frau, die er liebte, und er hatte eine Tochter, der er ebenso viel väterliche Fürsorge und Aufmerksamkeit schenkte, als sei sie sein leibliches Kind. Und da er auch Svenjas Zuneigung immer wieder spürte, war es für ihn die natürlichste Sache der Welt: Dies ist meine Familie.

An ihrem letzten Abend in Berlin saßen Marion und er in einem gemütlichen Restaurant an einem kleinen Tisch in einer Nische, wo sie sich ungestört unterhalten konnten und keine unerwünschten Lauscher befürchten mussten. Diesen Tisch hatte Sven mit Bedacht ausgewählt, Denn er hatte seiner „Rio“, wie er Marion seit Kurzem liebevoll nannte, etwas Wichtiges zu sagen. Und er war trotz seiner oft derben Art einfühlsam genug zu wissen, dass er ihr damit ein seelisches Problem aufbürden würde. Was ihm unausweichlich und geradezu logisch erschien, könnte sie ängstigen. Zu unterschiedlich waren ihre bisherigen Lebenserfahrungen in der Liebe und in der Partnerschaft.

Sven wusste auch, dass Marion nächtelang gegrübelt, gezweifelt und sich geängstigt hatte, ehe sie bereit war, zu ihm zu ziehen. Vielleicht hatte Svenja am Ende den Ausschlag dazu gegeben. Das Mädchen hatte geradezu ein Übermaß an Vertrauen zu ihm aufgebaut, was Marion nicht verborgen geblieben war, ohne dass sie sich dieses Phänomen erklären konnte. Denn immer noch hatten das Mädchen böse Albträume geplagt, die es nachts manchmal aufwachen und vor Angst aufschreien ließen. Seit dem Umzug – so schien es ihr – wirkte Svenja ausgeglichener, fröhlicher, und die bösen Träume wurden seltener. Hatte es damit zu tun, dass sie in der neuen Umgebung nichts mehr an Arno, ihren Peiniger, erinnerte?

Sven hatte sicherlich ein feinfühliges Gemüt und machte sich gern über Menschen in seiner Umgebung tiefschürfende Gedanken, doch es war ihm nicht gegeben, sich dementsprechend zu artikulieren. Und somit kam an diesem Abend, wo er mit seiner Rio so ungeheuer Wichtiges zu besprechen hatte, wieder der „alte“ Sven zum Vorschein, den Marion bei ihrer ersten Begegnung spontan „Hackklotz“ taufte.

Bevor das Dessert serviert wurde, beugte er sich zu ihr hin, sah sie eine Weile geheimnisvoll schweigend an, ehe er sachlich bestimmend sagte: „Wir sollten heiraten, - denke ich.“

Einen Augenblick schien Marion wie betäubt, dann fing sie sich und lachte heiser. „Das ist doch nicht dein Ernst! – So altmodisch sind wir doch beide nicht!“ Sie schüttelte den Kopf und hätte gern ganz schnell das Thema gewechselt.

„Aber ich denke, wir lieben uns. Jetzt sind wir doch eine richtige Familie, leben zusammen ...“

Himmel, der meint das wirklich so, schoss es ihr durch den Kopf. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Ja, ich denke – nein, ich weiß es: Wir lieben uns. Und das ist wunderbar. Es macht mich wirklich glücklich. So soll es auch bleiben! Da muss man nicht obendrein heiraten. Und alles Materielle lässt sich auch anders regeln.“

„Das ist wahr. Aber darum geht es mir nicht. Ich finde, ein feierlicher Bund fürs Leben ...“

„Sven, der Romantiker! He, so kenne ich dich ja gar nicht. Wenn ich Eheringe sehe, erinnern die mich an die beiden Hälften von Handschellen, an Fesseln, an eingesperrte Tiere im Zoo und all so was“, sprudelte es aus ihr heraus. Sie lächelte, da sie glaubte, Oberwasser in dieser Frage zu bekommen.

Sven blickte lange Zeit versonnen in die leicht flackernde Kerze auf dem Tisch, während Marion vergeblich nach einem anderen Gesprächsthema suchte. Doch irgendetwas in ihr wehrte sich dagegen, Svens Vorstoß damit einfach abzublocken. War es nur deshalb, weil sie ihm nicht weh tun wollte? „Meine liebe Rio“, sagte er dann ungewöhnlich sanft, „es ist nicht, weil ich dich liebe. Deshalb allein muss man wirklich nicht heiraten. Du und Svenja, - ihr seid für mich so etwas wie – wie Heimat.“

Heimat? Dieses Wort schockte sie in diesem Augenblick mehr noch als der Heiratsantrag. Wie käme sie da nur wieder heraus? Vor Verlegenheit wechselte sie auf die halbernste Tour: „Rio nennst du mich – ja, das gefällt mir auch. Aber weißt du auch, was es bedeutet? Rio bedeutet Fluss. Panta rhei – alles fließt. Und alles fließt einmal davon, - auch die Liebe.“

„Panta rhei“, wiederholte er zustimmend. „Mag der Fluss fließen, wohin und so lange er will, - die Heimat bleibt.“

„Reden wir ein anderes Mal darüber“, sagte sie leise und schaute betroffen vor sich hin ins flackernde Kerzenlicht.

Zelenka - Trilogie Band 2

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