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Amtshilfe

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Am anderen Morgen herrschte im Präsidium helle Aufregung. Die Presse war voll knallharter Vorwürfe gegen die Justiz. Was war geschehen? Mark Wrobel, einst wegen Vergewaltigung und Körperverletzung zu 12 Jahren Haft verurteilt, hatte wegen guter Führung einen Freigang in Begleitung erhalten und dabei die erstbeste Gelegenheit genutzt, das Weite zu suchen. Die Flucht schien sogar geplant, und möglicherweise hatte der Flüchtige dabei auch Helfer gehabt.

Kommissar Hoffeld hatte Wrobel seinerzeit überführen können, und er wusste daher nur zu genau, welch ein unberechenbarer und brutaler Bursche das war. Das Urteil hielt er damals schon für zu milde, da keine anschließende Sicherheitsverwahrung angeordnet wurde. „Der wird bei der ersten Gelegenheit rückfällig“, hatte er prophezeit und diese Äußerung nach der Urteilsverkündung vor Pressevertretern missmutig kundgetan. Kein Wunder also, dass er in den Regionalzeitungen nun in voller Länge zitiert wurde.

Hoffeld war daher wütend und zugleich besorgt, dass Wrobel sich schon bald ein neues Opfer suchen könnte. Im Treppenhaus begegnete er dem Oberstaatsanwalt Dr. Kämmereit. Ihm schüttete er spontan sein Herz aus, aber wider Erwarten schien Dr. Kämmereit absolut nicht seiner Meinung zu sein. Er setzte sich über Hoffelds Befürchtungen einfach hinweg und versuchte stattdessen, ihn zu beschwichtigen und über die Notwendigkeit von Resozialisierungs-Maßnahmen zu belehren. Zuletzt tätschelte er seinen Arm und meinte zuversichtlich lächelnd: „Sie haben den Mann schon mal erwischt, und Sie werden das auch diesmal schaffen. Da mach’ ich mir keine Sorgen.“

Hoffeld war ein ruhiger und besonnener Beamter. Nun aber platzte es aus ihm heraus: „Wir sind hier nicht beim Skatspiel! Es geht um das Wohl und Wehe unschuldiger Menschen, deren Leben durch solch einen Leichtsinn in Gefahr gerät.“

Der Oberstaatsanwalt sah ihn mitleidig an. „Sie wirken in letzter Zeit etwas überarbeitet. Ich denke, ich sollte mal mit Ihrer Vorgesetzten darüber ...“ Er vollendete den Satz nicht, denn Hoffeld hatte sich abrupt abgewandt und war kopfschüttelnd weitergegangen. Warum nur hat dieser Mensch sich nicht gleich fürs Richteramt entschieden?, fragte er sich. Seine Sympathien scheinen ja ohnehin mehr dieser Sparte zu gehören!

Ein paar Stunden später rief Dr. Kämmereit tatsächlich Marion an, um sie – wie er sich ausdrückte - „auf das unangepasste Verhalten des Herrn Hoffeld“ aufmerksam zu machen. Er mache sich Sorgen um den ja nicht mehr ganz jungen Kollegen. Vielleicht wäre da ein Kuraufenthalt mal angebracht. Darüber möge sie doch bitte mal nachdenken.

Von Hauptkommissar Hasenbach, der das K20 leitete, war er es gewohnt, für derartige Informationen untertänigen Dank zu erhalten. Marion hingegen wechselte in betonter Sachlichkeit mit ihm nur ein paar Worte, ehe sie abschließend feststellte: „Daran finde ich nichts unangepasst. Dem Wrobel auf diese Weise die Flucht zu ermöglichen, ist nicht mal mit paranoider Naivität zu entschuldigen. Für mich ist das ein staatlich sanktionierter Freifahrschein zu weiteren Gewalttaten. Kein Wunder, wenn Hoffeld das sauer aufstößt. Wird das zur Regel, ist unsere Arbeit hier bei der Polizei bald sinnlos.“

Dr. Kämmereit musste einige Male schlucken, ehe er barsch erwiderte: „Mäßigen Sie sich! Hier ist nichts leichtfertig erfolgt, sondern ein Gericht hat nach Abwägung aller Fakten ...“

„... sich wieder einmal völlig falsch entschieden“, unterbrach sie ihn. „Das ist doch – weiß Gott – nicht das erste Mal!“

„Über die Entscheidung eines Gerichtes steht Ihnen als kleiner Kripo-Beamtin kein Urteil zu!“, donnerte Dr. Kämmereit nun los. „Und falls Sie’s nicht tun, werde ich Ihren vorwitzigen Kollegen Hoffeld bei nächster Gelegenheit gehörig zusammenpfeifen, denn so ...“

Wiederum fuhr Marion ihm forsch dazwischen: „In meinem Ressort wird niemand zusammengepfiffen, - es sei denn von mir! Ich habe Ihre Beschwerde vernommen. Mehr kann ich nicht für Sie tun. Wenn Sie mich deshalb steinigen wollen, halten Sie bitte den heiligen Dienstweg ein. Guten Tag.“ Damit legte sie den Hörer auf.

Alle Anwesenden im Raum hatten ihre Worte mithören können, sie aber hatte damit absolut kein Problem. Denn eines wusste sie: Auf „ihre Jungs“ konnte sie sich verlassen. Niemand von ihnen würde ihr in den Rücken fallen, das verschaffte ihr Stärke und Sicherheit. Ihre Geradlinigkeit, Offenheit und Konsequenz gab wiederum ihren Mitarbeitern Sicherheit, mochte die Chefin manches Mal auch noch so hart und unbequem sein.

Kollege Laubitz brachte ihr einen Aktenhefter mit der Aufschrift „Rutkowsky, Karel“. Er hatte alle Unterlagen aus Berlin sorgsam zusammengestellt und sich dabei auch schon mal in den Sachverhalt vertieft. Und daran hatte er gut getan; denn Marion fragte ihn sogleich nach seiner Meinung zum weiteren Vorgehen. Doch ehe er sich dazu äußern konnte, fiel ihr ein, Dr. Sowetzko darüber informieren zu müssen, dass K21 nun auch in dieser Sache ermitteln werde. Sogleich griff sie zum Telefonhörer.

„Was – wie bitte?“, wunderte sich der Kriminalrat. „Jetzt haben wir Ihr Berliner Kino-Abenteuer am Hals? Das wird ja immer schöner! Und ich habe mich lang und breit für Ihren Auftritt dort schriftlich entschuldigt!“

„Wäre nicht nötig gewesen. Inzwischen hat sich der Bödecker nämlich bei mir entschuldigt, - nein nicht persönlich. Er hat sich entschuldigen lassen.“

„Das darf nicht wahr sein! Erst dieser Zwergenaufstand und dann ... Ach dieser ...“

„Pinscher“, warf Marion amüsiert ein. „Das Wort hatten wir noch nicht.“

Dr. Sowetzko lachte so laut auf, dass es aus dem Hörer überall im Raum zu vernehmen war. Hatte doch „seine“ Kommissarin wieder einmal das letzte Wort behalten! Da vergaß er glatt, den Ausdruck „Pinscher“ zu rügen. Es erfüllte ihn mit Genugtuung, erneut feststellen zu müssen, wie richtig damals seine Entscheidung war, dieser Frau das K21 anzuvertrauen. Sein Freund Dr. Kämmereit hatte zwar die Meinung vertreten, sie sei zu unerfahren und werde sich dort kaum gegen die Männerriege durchsetzen können. Na, Günter, dachte er nun bei sich, da haben sich deine Bedenken wohl inzwischen ins Gegenteil verkehrt. Vom jüngsten Disput der beiden wusste er freilich noch nichts. Immerhin fühlte er sich nun in der rechten Laune, Kommissar Detering zu sich zu bestellen. Vielleicht konnte er ihn ja dazu überreden, zurück ins K21 zu wechseln und damit diesem Kommissariat wieder zur vorgesehenen Personalstärke zu verhelfen.

Klaus Detering war Mitte dreißig, groß, von athletischer Statur, hatte volles schwarzes Haar und trug eine Brille mit recht dicker Einfassung, die zwar nicht sehr modisch wirkte, ihm aber einen intellektuellen Ausdruck verlieh. „Sie wollten mich sprechen, Herr Doktor Sowetzko?“

„Setzen Sie sich erst mal“, sprach der Kriminalrat freundlich. „Und den Doktor dürfen Sie sich schenken, wir sind hier nicht beim Arzt.“ Dann kredenzte er noch rasch einen Kaffee und kam gleich auf seine Weise zur Sache: „Ich gehe schwer davon aus, dass Ihre Meinungsverschiedenheit mit Frau Zelenka allmählich begraben werden kann. Sie ist jedenfalls dazu bereit. Wie steht’s da mit Ihnen?“

Detering bekam einen roten Kopf. Das Thema war ihm zu persönlich, um es mit einem Dritten zu erörtern. „Ich weiß jetzt nicht, was ich dazu sagen soll“, druckste er herum und schien großes Interesse am Teppichmuster unter dem Schreibtisch zu entwickeln.

„Ich weiß Bescheid, Herr Detering. Kein Mann kriegt gern ’nen Korb. Ein Mann Ihres Alters sollte es aber gelernt haben, so etwas wegzustecken, - nach einer gewissen Zeit zumindest. Mann, Sie stehen voll im Leben, sehen gut aus, Sie haben bei den Göttinnen der Schöpfung massenhaft Chancen. Muss es da unbedingt die Kollegin Zelenka sein? Die ist ohnehin in festen Händen, wenn ich das richtig sehe.“

„Was mich gekränkt hat, war weniger der Korb. Es war die Art und Weise. Wie einen dummen Schuljungen hat sie mich behandelt.“

Dr. Sowetzko schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass dies jemals ihre Absicht war. Aber Sie wussten doch genau, dass Frau Zelenka unter ihren Mitarbeiten keinen Beziehungsstress duldet, - erst recht keinen der amourösen Art.“

„Mir war die Sache verdammt ernst!“, begehrte Detering auf. „Und nun soll ich zurück ins K21, als ob nichts gewesen wäre?! – Die werden da wild über mich herziehen“

„Genau das werden die nicht tun“, unterbrach ihn Dr. Sowetzko. „Dafür wird Frau Zelenka garantiert sorgen. Fachlich hält sie übrigens viel von Ihnen und hätte Sie deshalb gern zurück.“

„Als reuigen Sünder?“

„Nein. Als Kommissar Detering, der diese Episode ebenso vergessen hat wie sie. Überlegen Sie es sich.“ Der Kriminalrat erhob sich, womit er die Besprechung wohl als beendet betrachtete. „Wenn Sie klug sind, dann entscheiden Sie einzig nach dem Gesichtspunkt, ob Sie künftig im K20 unter Hasenbach arbeiten möchten oder im K21 unter Frau Zelenka.“

Detering horchte auf. „Hasenbach“ oder „Frau Zelenka“ ? Wieder einmal bestätigte sich sein Verdacht, dass sein jetziger Chef Hasenbach bei der Obrigkeit nicht sonderlich gut gelitten war. Drohte gar seine Ablösung? – Vielleicht, aber was dann? Das K20 müsste eine neue Führung erhalten. Wäre das nicht seine große Chance? Es lag doch im Trend, jüngere Leute in Führungspositionen zu bringen.

Und was wäre, wenn er nun zurück ins K21 ginge? Die Zelenka war auch nicht unumstritten, saß aber verdammt fest im Sattel. Würde sie trotzdem abgelöst, vielleicht um sie mittels Beförderung unschädlich zu machen, käme garantiert Petzold an ihre Stelle. Dr. Sowetzkos wohlgemeinter Ratschlag wandelte sich so bei Detering schnell in berechnendes Karrieredenken. Zugleich befriedigte ihn der Gedanke, seiner ehemaligen Chefin, die ihn anscheinend zurück haben wollte, nun seinerseits einen Korb geben zu können. Ich bin nicht Ihr Hampelmann, gnädige Frau! dachte er und beschloss, im K20 bei Kommissar Hasenbach zu bleiben.

Als er diesem vertraulich von dem Angebot berichtete, zurück „zur Zelenka“ gehen zu dürfen, bestärkte Hasenbach ihn in seinem Entschluss, dieses Angebot abzulehnen, mit der vagen Prophezeiung, es stünde im Zuge der zu erwartenden PMM-Ergebnisse eine Zusammenlegung von K20 und K21 im Raume. Da K20 jetzt die größere Abteilung sei, werde ihm wohl die künftige Führungsrolle zufallen. Dr. Kämmereit habe so etwas schon mal leise angedeutet. –

„Der Rest der Familie Rutkowsky wohnt immer noch drüben in Rheinhausen“, erklärte Laubitz, als sie ihr Telefonat mit Dr. Sowetzko beendet hatte. „Die müssen wir uns mal vorknöpfen. Nur ...“

„Was?“, fragte Marion ungeduldig.

„Die Befragung wird nicht einfach werden. Es leben noch der Vater und eine Schwester. Der Vater, früher mal im Hüttenwerk beschäftigt, ist heute Alkoholiker, vorbestraft wegen etlicher Gewalttaten. Gisa, die Schwester von unserem Messer-Schützen, ist geistig behindert. Die Mutter starb vor einem Jahr an einer Überdosis Heroin. Sie hatte zuletzt das Geld beschafft, - auf dem Strich.“

„Traumhafte Familie. Bis wann hat der Karel Rutkowsky dort im Hause gelebt?“

„Konnte ich nicht genau ermitteln. Vermutlich aber bis zum Tod der Mutter. Telefonisch sind die übrigens nicht erreichbar, der Anschluss ist gesperrt.“

„Okay.“ Marion räumte ein paar Akten beiseite, nahm ihre Dienstwaffe aus der Schublade und sagte: „Kommen Sie! Schauen wir uns das mal aus der Nähe an.“

Sie kamen in eine ehemalige Bergmannssiedlung mit alten Backsteinhäusern, die früher mal von den Zechenbetreibern für bevorzugte Kumpels erbaut worden waren. Das Haus Nr. 18 fiel auf durch plumpe Graffiti-Schmierereien. Von der grün gestrichenen Haustür platzte überall der Lack ab. Der Klingelknopf hing nur noch an zwei Drähten, die aus einem Loch in dem schäbigen Mauerwerk ragten. Als die Tür geöffnet wurde, drang ihnen ein unangenehmer Geruch von gekochtem Kohl entgegen. Ein hoffnungslos übersteuertes Kofferradio kreischte dazu irgendwelche Popmusik.

Passanten blieben auf der Straße stehen, starrten voll Neugier zu ihnen herüber und riefen so etwas wie: „Seid ihr vom Sozialamt? Wird auch Zeit, dass ihr den Stall mal ausmistet!“

„Watt is’? Bringen Sie endlich den Fernseher zurück?“ Im Türrahmen stand ein glatzköpfiger, hagerer alter Mann, der schmuddelig aussah und nach Kneipe roch. Mit rot-unterlaufenen Augen blickte er fragend zwischen Laubitz und Marion hin und her. „Wird auch Zeit! Der Kasten ist seit zwei Wochen in Reparatur.“

Laubitz hielt dem Mann seinen Dienstausweis entgegen. „Herr Rutkowsky? Dürfen wir mal ’rein kommen?“

„Polizei? Ah - das ist gut. Die Betrüger wollen sich meinen Fernseher untern Nagel reißen.“ Der Alte schlürfte einen schmalen Flur entlang in einen Raum mit klobigen verschrammten Möbeln. „Da hatter gestanden, mein schöner Fernseher“, sagte er und zeigte auf ein leeres Tischchen.

„Traurige Sache“, erwiderte Laubitz. „Ist denn Ihr Sohn Karel zu Hause?“

„Der Karel? – Nein, der is’ wieder in Berlin. Hat der den Fernseher mitgenommen?“

„Könnte sein.“ Marion, die sich ungeniert im Zimmer umsah und dabei auch einige Gegenstände zwecks genauerer Betrachtung in die Hand nahm, warf ihrem Kollegen einen anerkennenden Blick zu. „Seit wann ist er denn fort?“

„Der Karel wohnt dort. War nur zu Besuch hier, bis der Fernseher kaputt ging. Dann isser abgereist.“

„Wo hat Ihr Sohn denn hier geschlafen?“

Der Alte zeigte nach oben. „Da hatter noch sein eigenes Zimmer.“ Und als Laubitz den Wunsch äußerte, sich gern dort mal umzusehen, ging er in den Flur und rief: „Gisa – Gisa – Gisa, komm zeigt den Bullen – äh – Leuten hier mal Karels Zimmer! Die denken, dass der da den Fernseher versteckt hat. Glaub’ ich aber nicht, Sie etwa?“

„Möglich ist alles.“

Nach einer Weile erschien eine mittelgroße Frau, der man eine schwere Behinderung sofort ansah. Sie lallte ein paar Silben, es sollte wohl eine Begrüßung sein. Der Alte erklärte, sie könne nicht sprechen, würde aber alles verstehen, das gute Kind. Während Laubitz weiter versuchte, den Alten nach Karel auszufragen und ihn dabei in dem Glauben ließ, alles drehe sich nur um den defekten Fernsehapparat, ging Marion mit Gisa nach oben.

Mitten in dem Raum stand ein Billardtisch. An der hinteren Wand war eine Couch, rechts ein Sideboard mit einer heraushängenden Tür und links ein Bücherregal, in dem zwar keine Bücher standen, aber aller möglicher Kleinkram herumlag. Gisa zog die dicken Fenster-Vorhänge beiseite, um etwas Licht in den völlig überladenen Raum zu lassen.

Marion musste niesen, wahrscheinlich von dem Staub, der vom Aufziehen der Vorhänge durchs Zimmer gewirbelt wurde. Unauffällig zog sie ein Paar Plastikhandschuhe über und betrachtete genauer die Gegenstände in dem Regal. „Gehört Karel diese Mundharmonika?“, fragte sie plötzlich.

Gisa nickte, und Marion wollte wissen, ob er auch bei seinem letzten Besuch darauf gespielt habe. Als Gisa wiederum nickte, steckte sie die Mundharmonika heimlich in einen Beutel und ließ ihn in die Innentasche ihrer Jacke verschwinden. Eine Zigarettenschachtel, in der außer zwei ganzen auch eine angerauchte und wohl eilig wieder ausgedrückte Zigarette waren, nahm sie ebenfalls mit. „Spielt Ihr Bruder Billard?“

Gisa nickte eifrig. Aha! Der scheint sich für Präzisionstechnik zu interessieren, dachte Marion und ließ sich in den Keller führen. Dort fand sie unter vielen anderen Werkzeugen auch eine kleine Drehbank. An einer Wand waren mit Magnetklötzen Detailzeichnungen alter Waffen befestigt. Es überraschte sie nicht; Ähnliches hatte sie erwartet. Einige Male blitzte es. Gisa stieß einen Schreckenslaut aus; Marion deutete auf ihre kleine Digitalkamera, mit der sie soeben ein paar Bilder geschossen hatte. „Hat Ihr Bruder ein Handy?“

Als Gisa nur mit den Schultern zuckte, ging sie mit ihr wieder nach oben ins Wohnzimmer, wo Laubitz dem Alten gerade die gleiche Frage stellte. Der schien nun allmählich doch misstrauisch zu werden. Erst als der Kommissar ihm wiederholt versicherte, er wolle das nur wissen, um nach dem Verbleib des Fernsehers zu forschen, begann er zuerst zwischen Zeitschriften, Pornoheften und billigen Krimischmökern und danach in diversen Schubladen nach dem Zettel zu suchen, auf dem er Karels Handy-Nummer notiert hatte. Währenddessen fragte ihn Marion nach dem Beruf seines Sohnes.

„Ich war ja früher auf der Hütte, aber er ist Bergmann geworden. Hattes da sogar bis zum Steiger gebracht.“

„Aber es gibt hier in Rheinhausen keine Zeche mehr“, warf Laubitz ein.

„Alles hamm die hier dichtgemacht, - die Hütte – die Zeche – dat Kino ...“

„Karel war zuletzt Filmvorführer, nicht wahr?“, fragte Marion. „Hat er das gern gemacht?“

Der Alte hatte plötzlich ein Glas in der Hand. Als er den Schnaps heruntergekippt hatte, meinte er mit glänzend leuchtenden Augen. „Ja. Das war etwas für ihn. Da war er glücklich. Über jeden Krimi hat er Buch geführt und auch, watt die alles darin falsch gemacht haben und ... – Warum is’ denn die Schranktür hier abgeschlossen?“

„Die klemmt vielleicht nur ein wenig. Lassen Sie mich mal.“ Laubitz stellte sich so vor den Schrank, dass der Alte nicht sehen konnte, wie er routiniert mit einem kleinen Werkzeug das einfache Schloss öffnete. „Na bitte, war nur etwas verklemmt.“

In dem Schrank lagen etliche Briefe, eine leere Plastikbrieftasche und drei bunte Kladden. Marion nahm davon gleich eine zur Hand und blätterte darin herum. „Das sind wohl die Filmnotizen?“, wollte sie wissen.

Der Alte riss ihr die Kladde aus der Hand und legte sie eilig wieder in das Schrankfach zurück. Das dürfe niemand anfassen, habe Karel befohlen. Marion gab Laubitz einen versteckten Wink. Der ließ sich die Telefonnummer des Fernsehreparaturdienstes geben, um von seinem Handy dort anzurufen, tat dann aber so, als sei im Wohnzimmer kein Empfang. Also versuchte er es im Flur. „Ja – hier klappt es!“

Der Alte folgte ihm, während Marion flugs die drei Kladden unter ihrem Pullover verstaute und die Schranktür wieder schloss.

Laubitz erfuhr inzwischen, dass der Fernseher zurückbehalten wurde, weil eine frühere Reparatur-Rechnung noch nicht bezahlt sei. „So geht’s nicht, mein Herr“, sagte er streng, „Sie haben kein Recht, das Gerät zum Schein zur Reparatur abzuholen, um es dann einzubehalten. Also – bringen Sie es unverzüglich zurück, - meinetwegen unrepariert.“

„Wieso sollte ich? Wer sind Sie überhaupt?“

„Laubitz – Kriminalpolizei – K21 – Mordkommission.“

„Wa... ?!“

„Mordkommission?“, rief nun auch der Alte entsetzt.

„Allerdings“, meldete sich jetzt Marion zu Wort. „Und nun möchte ich von Ihnen wissen, mit wem Ihr Sohn hier Umgang pflegte. Also bitte: Freunde – Bekannte – Freundin.“ Sie kramte einen kleinen Notizblock hervor. „Wie heißt denn seine Freundin? – Haben Sie mich verstanden?! – Den Namen bitte.“

„Mit der isser nicht mehr zusammen, glaub’ ich. Die hieß Sandra. Wohnte in Düsseldorf. War’ne Tänzerin oder so was. Aber da läuft wohl nichts mehr.“ Der Alte zuckte hilflos die Schultern. „Karel hat ja nie viel erzählt.“

„Anschrift? – Fotos? – Nun lassen Sie sich die Würmer nicht einzeln aus der Nase ziehen, Mann!“ Marion wurde ungehalten. Ihre Verhörmethoden waren ohnehin selten von subtilerer Art, - schon gar nicht, wenn sie den Delinquenten nicht mochte, wie es jetzt der Fall war. Den moderateren Ton überließ sie bei Verhören gern ihren männlichen Kollegen. Das war so abgesprochen und eingeübt. Wer vom Kripo-Beamten die sachliche, strenge und von der Beamtin die einfühlsame, empathische Behandlung erwartete, der sah sich bald getäuscht. Und genau dies hatte oft schon zur Verwirrung von Befragten beigetragen; Widersprüche oder Ansatzpunkte zum Nachhaken wurden dadurch nicht selten provoziert.

Der Alte wurde zwar sichtlich nervös, gab sich aber nach wie vor ahnungslos. „Der Karel – mein Gott – was hat der denn mit Mord zu tun?“, fragte er und sah die Beamten dabei besorgt mit den wässerig-trüben Augen eines Alkoholikers an.

„Das wird sich herausstellen. Vielleicht können ihn seine Kumpels ja entlasten,“ startete Laubitz eine neue Finte. „Wer sind die?“

„Weiß nicht. Früher auf dem Pütt hatte er Freunde. Hat sich oft mit denen inne Kneipe unten „Bei Irmchen“ getroffen. Aber seitdem er da weg ist ... Und erst recht, seitdem er in Berlin ist ... Heiliger Strohsack!“ Dem Alten wurde schwindelig. Er schlürfte zurück ins Wohnzimmer und ließ sich in einen Sessel fallen. „Was hat der Junge bloß angestellt?“

„Dann dürfen wir jetzt hier weiter nach dem Zettel mit der Handy-Nummer suchen?“, fragte Marion. Der Alte starrte sie an, wartete auf eine Erklärung, sie aber nahm sein Schweigen als Zustimmung, und schon begann sie mit Laubitz, gründlich das Zimmer zu durchsuchen, während Gisa sich leise nach oben schlich, still vor sich hin weinend.

Auf der Rückfahrt zum Präsidium rief Marion ihren Kollegen und Stellvertreter Petzold an. Sie gab ihm die Handy-Nummer durch, die sie zuletzt doch noch gefunden hatten. „Provider ermitteln und Bewegungs-Protokoll erstellen. Daten bitte auch umgehend nach Berlin mailen. Könnte uns weiterhelfen, wenn das Ding noch eingeschaltet ist. Alles klar?“

Nun zog sie unter ihrem Pullover die Kladden hervor und begann darin zu lesen. Laubitz, der am Steuer saß, schaute kurz zu ihr hinüber und meinte scherzhaft: „Oh, siehe da! Die Chefin hat geklaut.“

„I wo! Das nehme ich nur in Verwahrung. Kriegt er garantiert alles zurück. Würde mich sogar riesig freuen, wenn er käme, um es bei mir abzuholen. Ich bezahle ihm sogar das Fahrgeld.“

„Na ja, - ’n Rückfahrschein wäre wohl kaum erforderlich.“

Sie zeigte ihm noch die Zigarettenschachtel und die Mundharmonika. „Da haben wir Material für einen DNA-Abgleich. Und was ich hier in den Kladden lese, das scheint recht brauchbare Hinweise auf das Motiv für den Berliner Kinomord zu liefern: Rutkowsky wollte es besser machen als die Filmbösewichte, er wollte den perfekten Mord begehen und es diesen unbegabten Filmmördern mal so richtig zeigen. Einfach irre.“

„Und dafür tötet der einen Menschen, - so mal eben. Das ist wirklich krank!“

Marion nickte. „Das ist wie der Herpes in uns. Jeder ist ein bisschen krank und ein bisschen irrsinnig. Ist nur die Frage, was davon nach außen dringt und wie viel uns schließlich mal davon beherrschen könnte. Wenn Sie ein wenig in sich gehen, lieber Kollege, und sich alle bösen Gedanken und Fantasien, alle spontanen Empfindungen, die je durch ihren Kopf schwirrten, in Erinnerung rufen ... Welch ein gefährliches Monster könnte theoretisch daraus entstehen?! Stimmt’s?“

„Hm - da haben Sie wahrscheinlich Recht.“ Laubitz musste nach einer Weile doch plötzlich lachen. „Und da sucht sich dieses Möchtegern-Genie für sein Experiment ausgerechnet eine Kinovorstellung aus, in der auch unsere Chefin sitzt. Na, so ein Pech aber auch!“

Kaum waren Marion und Laubitz davongefahren und außer Sichtweite, da stieg aus einem zerbeulten Kombi eine dunkel gekleidete schwarzhaarige Frau in Minirock, Netzstrümpfen und Pelzjäckchen aus, ging schnurstracks auf das Backsteinhaus der Familie Rutkowsky zu und trommelte mit den Fäusten ungeduldig gegen die Tür.

Der Alte öffnete und wich sogleich erschrocken einen Schritt zurück. Ängstlich schaute er nach draußen, ob die Polizeibeamten weg waren. „Sandra“, flüsterte er. „Komm schnell ’rein.“

„Wer war die blonde Schlampe da eben?“, rief Sandra wütend. „Und was wollte die hier?“

Der Alte bedeutete ihr, leiser zu sein. „Bullen! Die gehörte auch dazu. Schreckliches Biest! Wollte wissen, wo Karel ist. Die haben hier alles durchsucht und ...“

Sandra stieß ihn wütend beiseite und eilte in die gute Stube zum Wohnzimmerschrank. Hastig schloss sie die Tür auf, hinter der jene Kladden gelegen hatten, die Marion soeben nicht ganz legal konfisziert hatte. Die Fächer waren leer.

„Scheiße!“, schrie Sandra und knallte voller Zorn die Schranktür zu. „Konntet ihr Vollidioten nicht einen Moment besser aufpassen! Zum Kotzen ist das! – Wie sah die blonde Bulette aus?“

Der verstörte Alte versuchte sich stotternd in einer Beschreibung, bis Sandra ärgerlich abwinkte. „Hatte die etwa so einen stechenden Blick?“

Der Alte nickte. „Ja, die hatte eigentlich schöne blaue Augen. Die glitzerten richtig.“

Sandra sank in einen Sessel. Ihr Gesicht war bleich geworden. „Das darf nicht wahr sein“, murmelte sie fassungslos. „Das darf doch alles nicht wahr sein.“

„Was hat der Karel denn angestellt?“

Sandra hörte die Frage nicht. Sie schüttelte voller Wut und Verzweiflung heftig den Kopf und fauchte vor sich hin: „Geistert dieses verfluchte Weib denn überall herum?! Erst in Berlin, jetzt hier. Abknallen müsste man die neugierige Ratte!“

Zelenka - Trilogie Band 2

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