Читать книгу Zelenka - Trilogie Band 2 - Kurt Mühle - Страница 5
Der Todesbrief
ОглавлениеDie angekündigte Beschwerde aus Berlin ließ nicht lange auf sich warten. Gerichtet an den Duisburger Polizeipräsidenten landete sie mit dem üblichen Eil-Vermerk schließlich zur Exekution bei Kriminalrat Dr. Sowetzko. Der schwankte beim Lesen zwischen Ärger und Belustigung, wusste aber, dass er seine Hauptkommissarin mit den Anschuldigungen irgendwann konfrontieren musste. Schließlich dürfte der Präsident eine Antwort erwarten, aber das musste ja nicht unbedingt schon heute sein.
Drei Tage schob er die Vorladung Marions hinaus. Es ging ihm nicht nur gegen den Strich, seine hochgeschätzte und von ihm geförderte und oft auch mit viel Nachsicht behandelte Kommissarin zur Rede zu stellen, er fürchtete auch ihre spitzfindigen Gegenargumente. Dass die Zelenka sich in Berlin ungefragt in Ermittlungen eingemischt hatte, - daran hegte er keinen Zweifel. Und auch nicht daran, dass sie dort eine lockere Zunge riskiert hatte. Aber er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass es dafür irgendeinen Anlass gegeben haben musste, denn von allein gingen bei ihr die Kanonen nicht los. Und er hielt sie keineswegs für rechthaberisch, - es sei denn, sie hatte wirklich Recht, was bei ihr leider oft der Fall war. Also beschloss er, möglichst leger an die Sache heran zu gehen.
„Na, wie war’s denn so in Berlin?“, fragte er, - halb jovial, halb in wohlbekannter Weise knurrend. „Sie waren dort offenbar im Kino, wie ich nun erfahren habe. Muss ja wahnsinnig interessant gewesen sein.“
Marion schwante nichts Gutes und ging innerlich sogleich in Abwehrstellung. „Ja, so nebenbei auch das. Den Bundestag haben wir aber auch besichtigt“, ergänzte sie eilig. „Es war gerade Sitzungspause und da ...“
„... da haben Sie vermutlich mal eben einen Anschlag auf den Bundeskanzler verhindert“, unterbrach Dr. Sowetzko ironisch ihren Ablenkungsversuch. Und das klang nicht übermäßig freundlich. Er hielt einen roten Hefter hoch, als er brummig fortfuhr: „Danke für diesen famosen Erlebnisbericht. Der offizielle Charakter wäre aber wirklich nicht nötig gewesen.“
Aha. Der Bödecker hatte seine Drohung also wahr gemacht! – Diese Gewissheit versetzte sie augenblicklich zurück in genau jene Trotzhaltung, die sie in Berlin diesem unfreundlichen Kollegen entgegen gebracht hatte. „Was sollte ich machen? Der Knilch jaulte da ständig herum, wollte mich sogar zur Hauptverdächtigen abstempeln.“
Wieder fuhr ihr der Kriminalrat unwirsch ins Wort: „Das ist kein Knilch, sondern ein Kollege, der nur seiner Pflicht nachging. Sie hätten sich vernünftig mit ihm auseinandersetzen sollen.“
„Mit dem?! Der hat mich in einer Tour nur angebellt.“
„Hunde bellen. Und der Kollege Bödecker ist kein Hund – bitte schön!“
„Muss einem aber wirklich erst gesagt werden ...“
Dr. Sowetzko holte tief Luft und versuchte dann, zur Sachlichkeit zurück zu kehren. „Die Beschwerde lautet, dass er von Ihnen permanent ignoriert worden sei.“
„Na und? Hätte ich etwa zurückbellen sollen?“
„Nun machen Sie mich nicht noch wahnsinnig! Sind Sie wenigstens bereit, sich persönlich bei dem Kollegen in aller Form ...“
Marion schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich? Bei dem Wauwau?! – Nein.“
„Frau Zelenka, ich will mit den Berliner Kollegen keinen Streit. Wenn nicht Sie, dann muss ich eben eine angemessene Entschuldigung formulieren. Darf ich’s bitte auch in Ihrem Namen tun?“
„Meinetwegen, wenn der Kläffer dann Ruhe gibt.“
„Kläffer ... Frau Zelenka, ich bitte Sie!“
„Na – Hund darf ich ja nicht mehr sagen.“
Da wurde es dem Kriminalrat doch zu bunt. Er schlug mit der Faust auf die Tischplatte und brüllte: „Nun reicht’s aber, Frau Zelenka! Schluss damit! Verdammt noch mal!!“
Marion blieb gelassen. Wenn sie einmal ihre patzige Tour drauf hatte, war sie kaum zu bremsen. „Sehe ich auch so. Darf ich dann jetzt den Zwinger verlassen? Ich habe noch zu arbeiten.“
Dr. Sowetzko sah sie ob dieser Frechheit entgeistert an – und gab auf. Er winkte mit dem Handrücken nur kurz zur Tür, nahm sich aber vor, von nun an strengere Saiten aufzuziehen, - nicht zum ersten Mal allerdings. Als er vor ein paar Jahren diese Frau zur Hauptkommissarin ernannte und ihr die Leitung des Kommissariats 21 übertrug, das für Kapitalverbrechen zuständig ist, da hatte er sich einen frischen Wind gegen den bürokratischen Schlendrian und gegen die verkrusteten Strukturen erhofft. Er bewunderte ihre Geradlinigkeit, ihre Offenheit, ihren Scharfsinn und ihr konsequentes Handeln und auch die souveräne Art, mit der sie als Frau ihr Kommissariat führte, in dem unter ihr nur Männer arbeiteten.
Dass sie es nie gelernt hatte, vor der Obrigkeit zu buckeln, hatte wohl mit dazu beigetragen, dass man sie einst von Düsseldorf nach Duisburg komplimentierte. Doch hier bekam ihre berufliche Karriere dank Dr. Sowetzko einen unerwarteten Schub, den sie bald im ihrem Privatleben bitter bezahlen musste: Henning, ihr Lebenspartner und Vater ihrer Tochter, konnte unter der Last ihrer Dominanz nicht leben. Er verschwand eines Abends klammheimlich und ohne Abschied. Vor einem Jahr erfuhr Marion dann, dass er gestorben war.
„Wer den Wind sät, wird Sturm ernten“, knurrte der Kriminalrat in einer literarischen Anwandlung vor sich hin und musste unwillkürlich lächeln. Verdammt! Warum nur konnte er dieser Frau nicht böse sein!? Lag es daran, dass er, der kinderlose Witwer, ihr gegenüber längst so etwas wie väterliche Gefühle empfand? Lag es daran, dass er trotz der oft heftigen Diskussionen mit ihr zu spüren glaubte, auch von ihr gemocht zu werden, - wenn sie das auch kaum einmal zeigte?
Ob die privat auch so ist?, fragte er sich und machte sich daran, eine offizielle Entschuldigung an die Berliner Kollegen zu formulieren, - mit Kopie für den Herrn Polizeipräsidenten. Ordnung musste ja sein!
Dass zur gleichen Zeit Kollege Roloff aus Berlin Marion anrief, konnte er freilich nicht ahnen. Wahrscheinlich hätte er weitaus weniger Gehirnschmalz auf eine angemessene Formulierung verschwendet, wäre er Zeuge dieses Gespräches geworden.
„Sie hatten Recht mit Ihrem Verdacht gegen den Filmvorführer. Der Mann arbeitete in dem Kino erst seit ein paar Tagen zur Aushilfe“, erklärte Roloff. Aber es klang nicht sonderlich erleichtert. „Doch bevor ich es vergesse: Von meinem Kollegen Boedecker soll ich Ihnen ausrichten, er hätte das alles nicht so gemeint. Es täte ihm Leid. Er hat wohl momentan familiäre Probleme und ...“
Marion unterbrach ihn forsch: „Hätte mir der Wadenbeißer das persönlich gesagt, könnte ich’s fast glauben.“
„Na, Frau Zelenka, seien Sie nicht so streng. Dem Kollegen Bödecker geht’s zur Zeit wirklich nicht sehr gut. Aber deshalb rufe ich eigentlich gar nicht an.“
„Sondern?“
Roloff war es hörbar peinlich, als er bekannte: „Wir fahnden nach diesem Vorführer, aber leider fehlt uns bis jetzt eine heiße Spur.“
Marion konnte ein spöttisches Lachen kaum unterdrücken. „Wie bitte?! Habt ihr diesen hoch begabten Kunstschützen etwa wieder laufen gelassen?“
„Mussten wir. Wir konnten ihm nichts eindeutig beweisen. Zwei Tage später war der Mann spurlos verschwunden, und wir erkundeten sein Umfeld genauer. Dabei kam heraus: Der Kerl hatte kürzlich erst eine Art Schrebergarten angemietet. In dem darauf errichteten Gebäude fanden wir eine gut ausgestattete Bastlerwerkstatt und darin Steinschleuder, Pfeilschussgeräte, Messerklingen aller Art und auch eine Dose mit schwarzer Farbe, - eindeutig die gleiche Farbe, mit der das Tatmesser geschwärzt worden war. Und damit steht fest: Das ist unser Mann.“
„Und nun ist er flüchtig. So’n Pech aber auch.“
Roloff schwieg. Er schwieg so lange, bis Marion vorsichtig nachfragte, ob er noch am Apparat sei. Hatte sie ihn gar beleidigt? Nein, er war nicht beleidigt. Es war ihm nur peinlich, nun endlich sein Hauptanliegen vortragen zu müssen: „Der Mann, den wir suchen, heißt Karel Rutkowsky. Er stammt aus Rheinhausen. Das liegt wohl irgendwo in Ihrer Nähe ...“
„Muss das sein!“, unterbrach Marion ihn mit leisem Stöhnen. „Rheinhausen ist heute ein linksrheinischer Stadtteil von Duisburg. Damit hängt ihr auch uns euern Wilhelm Tell an den Hals, - wenn ich das richtig interpretiere.“
„Kleine Amtshilfe, liebe Kollegin“, beschwichtige Roloff. „Ich stelle Ihnen alle bisher bekannten Daten ins Netz. Da Sie uns in der Sache schon einmal so brillant weitergeholfen haben, könnten Sie die örtliche Ermittlung doch auch übernehmen, oder?“
„Ich sag’s ja immer: Tue nichts Gutes, so widerfährt dir nichts Böses. Also gut, für euch Hauptstädter machen wir fast alles. Mailen Sie mir den ganzen Krempel zu. Unterlagen als Anhang. Ihre konkreten Fragen bitte an den Anfang gestellt und alle Daten dazu jeweils sortiert und gekennzeichnet. Seiten nummerieren, damit ich mir das gleich geordnet ausdrucken kann, Alle Fakten bitte in Grün und alle Vermutungen in Rot. Fotos von der Tatwaffe und von der Bastlerwerkstatt beifügen sowie eine Liste der dort sichergestellten Werkzeuge und deren Hersteller.“
„Oh, da muss ich noch einiges zusammenstellen.“
„Tun Sie das! Ich bin es gewohnt, komplette und geordnete Unterlagen vorgelegt zu bekommen“, erklärte Marion dienstlich streng.
„Jawohl.“
Als sie den Hörer auflegte, bemerkte sie, dass Kommissar Berger neben ihr stand. Er schmunzelte vergnügt vor sich hin, da er sich soeben das Gesicht seines Berliner Kollegen vorgestellt hatte. Ja, die Chefin hatte hier im K21 von Anfang an ein strenges Regiment geführt, für Ordnung und zielgerichtete Arbeitsmethoden gesorgt. Niemand aus den anderen Kommissariaten hätte daher freiwillig ins K21 wechseln und unter der Zelenka arbeiten mögen; andererseits hätte sich jeder Mitarbeiter im K21 gegen einen Wechsel mit Händen und Füßen gewehrt. Kriminalrat Dr. Sowetzko machte sich über diesen merkwürdigen Sachverhalt schon lange seine Gedanken. Sicherlich hätte er längst Konsequenzen daraus gezogen, aber er nahm bisher Rücksicht auf die Meinung des Oberstaatsanwaltes Dr. Kämmereit, mit dem er privat befreundet war und der leider eine ganz andere Einschätzung der Personalsituation hatte, der Marions Erfolge und Fähigkeiten zwar widerwillig anerkennen musste, ihr Wesen, ihre vermeintliche Respektlosigkeit und ihre ganze Art zu kommunizieren aber überhaupt nicht akzeptieren konnte.
„Schauen Sie sich das mal an.“ Berger legte ihr zwei Protokolle einer Polizei-Dienststelle vor. „Diese Postzustellerin ist gestern zum zweiten Mal auf der Wache erschienen, weil sie sich von einem ihr unbekannten Mann bedroht fühlt.“
Marion nahm das erste Protokoll zur Hand, begann zu lesen und schimpfte gleich los: „Wann lernen die endlich mal, ordentliches Deutsch zu schreiben!? Das ist ja erschreckend. Lauter Fehler und nur geschraubtes Zeug! Nicht ein Wort über den Eindruck, den diese Petra Menzenbach hinterließ. - Hach, und auf dem zweiten Blatt heißt sie plötzlich Menzenberg!“
„Die Kollegen auf der Wache sind überlastet. Und ihnen wird immer Sachlichkeit gepredigt. Persönliche Meinungen sind da verpönt“, versuchte Berger, den Protokoll-Ersteller in Schutz zu nehmen.
Marion schüttelte ärgerlich den Kopf. „Und was – bitteschön – sollen wir jetzt mit diesem Scheiß anfangen? Die Kollegen auf der Wache sind fein ’raus, wenn der Zustellerin wirklich etwas passiert, - sie haben ja ein Protokoll gemacht. Wie ernst das zu alles zu nehmen ist, dürfen wir nun selber herausfinden. Also, was bleibt uns anderes übrig ... Berger, kümmern Sie sich drum.“
Berger ging auf seinen Platz zurück, um sich mit Petra Menzenbach in Verbindung zu setzen. Nach dem dritten Anruf erreichte er die Frau, die am Telefon einen so verstörten Eindruck hinterließ, dass er spontan beschloss, sie aufzusuchen, um sich von der Situation ein genaueres Bild machen zu können.
Kaum hatte er den Raum verlassen, als Dr. Sowetzko das Großraumbüro des K21 betrat. Alle schauten erstaunt auf, denn es war höchst ungewöhnlich, dass sich der Boss hier sehen ließ. Meist zitierte er seine Leute zu sich. Jetzt nickte der Kriminalrat allen betont freundlich zu und setzte sich dann – einen rot-blau karierten Hefter in der Hand - lächelnd vor Marions Schreibtisch.
Au weia, dachte sie sogleich, da ist etwas Größeres im Busch Und bestimmt nichts Angenehmes. Sie sollte mit ihrer Vermutung Recht behalten. Das wurde ihr schon klar, als sie den goldfarbenen Aufdruck auf dem Hefter las: PMM - Power Management Marketing. Sie hatte davon gehört, dass diese Firma PMM durch diverse Behörden geschleust wurde, um Studien für effektivere und kostengünstigere Arbeitsabläufe zu erstellen. Die Ergebnisse gefielen den Auftraggebern im Innenministerium, bekamen sie doch komplizierte und wissenschaftlich verbrämte Berechnungen vorgelegt, welch horrende Summen eingespart werden könnten, wenn ...
Aber jenes Wenn gefiel denjenigen, die es direkt betraf, in den meisten Fällen überhaupt nicht. Angestellte nannten die Leute von PMM Schnüffler und Jobkiller. Abteilungsleiter verfassten mühsam Gegendarstellungen, schimpften über die verlorene Zeit und versuchten, sich an den empfohlenen Organisations-Änderungen irgendwie vorbei zu mogeln.
Dr. Sowetzko sah es an Marions Gesicht, dass sie sein Anliegen längst durchschaut hatte. „Unser Land Nordrhein-Westfalen muss einen harten Sparkurs fahren“, begann er daher erst mal so allgemein wie möglich. „Die Landesregierung und in diesem speziellen Fall der Herr Innenminister haben daher beschlossen, den Apparat aller Landesbediensteten ...“
„Und warum fangen Sie dann ausgerechnet hier bei uns im K21 an?“, unterbrach ihn Marion und ging forsch zum Gegenangriff über: „Sie wissen, dass unsere Mannschaft hier an Unterbesetzung leidet. Kommissar Detering ist immer noch nicht ersetzt worden. Man hat mir bis heute nicht mal einen einzigen Vorschlag unterbreitet.“
„Das wird man auch nicht tun.“ Die aufgesetzte gute Laune des Kriminalrates war dahin. Die Suppe, die er ihr löffelweise schmackhaft machen wollte, hatte sie mit einem Schlag vom Tisch gefegt. „Die Studie der PMM dient unter anderem dazu, Personal-Einspar-Möglichkeiten zu prüfen. Vorher kriegen Sie hier keinen einzigen Mann dazu!“
„Ach, das ist ja interessant. Da verlässt einer unser K21 und wandert zu Kommissar Blitzlösung ins K20, das damit einen Mann mehr hat als Planstellen, und wir hier sollen auf Personal-Einsparungen überprüft werden. Verstehen muss ich das ja wohl nicht, oder?!“
„Vergessen Sie nicht, dass Sie es selber waren, die Detering in die Wüste geschickt hat.“
„Irrtum, Euer Ehren! Ich habe Detering vor die Wahl gestellt, sein unangebrachtes Liebeswerben zu unterlassen oder zu gehen. Er zog es vor zu gehen.“
„Wie dem auch sei“, erwiderte Dr. Sowetzko unwirsch. „Wären Sie denn bereit, Detering zurück zu nehmen, wenn er sich bei Ihnen entschuldigt.“
Marion lachte laut auf. „Jetzt soll ich es honorieren, dass sich jemand dafür entschuldigt, sich in mich verliebt zu haben. Hach, das hat was! – Aber gut: Wenn er versichert, sich künftig im Zaum zu halten und meine Anordnungen zu befolgen, kann er meinetwegen hier wieder mitarbeiten. Ist ja fachlich ein guter Mann. Aber ich rede deshalb nicht mit ihm.“
Mein Gott, sind Frauen kompliziert, dachte Dr. Sowetzko. „Gut, ich rede mit ihm. Aber das ändert ansonsten gar nichts: Ab nächsten Montag wird hier ein Mitarbeiter von PMM seine Arbeit tun. Deterings Schreibtisch ist ja zunächst noch frei. Da kann er sich erst mal etablieren. Und Sie alle hier fordere ich auf, ihn nach Kräften zu unterstützen.“
„Sofern es unsere Zeit erlaubt“, ergänzte Marion mürrisch. „Der Schlaumeier soll nur nicht glauben, er könnte uns in unserer Arbeit behindern oder hier herumschnüffeln. Ich beziehe mich eiskalt auf den Datenschutz: Von uns bearbeitete Fälle und wie wir sie behandeln gehen den guten Mann nämlich nichts an!“
„Ich vertraue trotzdem darauf, dass Sie das Richtige tun. Schlafen Sie noch mal drüber.“ Damit trat Dr. Sowetzko resignierend den Rückzug an. Diese Frau war für ihn heute wahrlich der reinste Albtraum.
Ehe Marion für heute Feierabend machte, beauftragte sie ihren Kollegen Laubitz, auf ihren Mail-Eingang zu achten. Wenn Unterlagen aus Berlin einträfen, möge er sie bitte ausdrucken und in einem Hefter geordnet zusammenstellen. Laubitz nickte; er wusste aus Erfahrung, wie die Chefin so etwas wünschte. -
Peter und Luise waren ihre engste Freunde, seitdem Marion vor vielen Jahren, als sie in Düsseldorf noch ihren Streifendienst absolvierte, Luise von dem unberechtigten Vorwurf eines Ladendiebstahls befreien konnte. Am Abend waren sie und Sven bei ihren Freunden eingeladen. Deshalb musste sie sich beeilen, nach Hause zu kommen. Peter und Luise waren an diesem Tag nämlich von einem Kurzurlaub an der Nordsee zurückgekehrt, zu dem sie Svenja mitgenommen hatten.
Als Marion das Gartentor öffnete und über den mit Bruchstein gepflasterten Weg zur Haustür ging, wurde ihr wieder ein innerer Zwiespalt bewusst: Ich gehe nach Hause – gehe dorthin, wo ich mich von Tag zu Tag mehr zuhause fühle. Dennoch – ich vergesse es immer so leicht - es ist Svens Haus. Er hat Svenja und mich hier nur aufgenommen. Und in diesem Augenblick fiel ihr wieder ein, dass Sven sie heiraten wollte, dass er in einer neuen Familie seine Heimat zu finden glaubte. Habe ich eine Heimat? – Habe ich jemals solch eine innere Heimat gehabt - sie empfunden - sie wenigstens gesucht?
Sven kam ihr im Flur entgegen. „Rio – da bist du ja endlich.“ Er nahm sie in den Arm, sie aber schlang beide Arme um seinen Hals, legte ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Eine ganze Weile standen sie so stumm und unbeweglich da, bis er besorgt fragte: „He, alles in Ordnung, Liebling?“
Sie sah zu ihm auf und lächelte. „Alles bestens. Komm, ist schon spät. Wir müssen uns ’ranhalten.“ –
Peter und Luise waren mit Svenja erst am Nachmittag in ihr Haus im Düsseldorfer Norden zurückgekehrt. Zwei größere Staus auf der Autobahn hatten ihre Zeitplanung etwas durcheinander geworfen. Da es das Wetter erlaubte, beschlossen sie, am Abend mit Marion und Sven im Garten zu grillen, denn das bedurfte keiner großen Vorbereitung. Während Peter Gartenmöbel und Grill aufbaute, kauften Luise und Svenja noch rasch ein wenig Grillgut beim Metzger und beim Gemüsehändler ein. Brot und Grillsoßen waren noch im Kühlschrank.
Wie waren denn die Tage an der Nordsee? – Klar, dass Peter, Luise und Svenja darüber ausführlich berichten mussten. Man hatte viel unternehmen können, weil das Wetter meist trocken blieb, wenn es auch zum Baden ein paar Grad zu kühl war. Svenja hatte eifrig Beachball-Spielen geübt und sich mit einer ihrer Mitspielerinnen angefreundet, einer Halbamerikanerin namens Roberta, von allen jedoch nur „Robby“ genannt. Durch Robby hatte sie in einer Disco noch jemanden kennen gelernt, bei dessen Erwähnung das blonde Mädchen mit den haselnussbraunen Augen nun einen puterroten Kopf bekam: Lars. Nein, zu Lars mochte Svenja jetzt überhaupt nichts sagen.
Von Luise erfuhr Marion später beim Aufräumen unter vier Augen, dass es wegen dieses Lars in den letzten Tagen einige Reibereien mit Svenja gegeben hatte. Peter und Luise hatten verantwortungsvolle Strenge walten lassen, und dafür zeigte das junge Mädchen, das gerade vierzehn Jahre alt geworden war, wenig Verständnis, zumal der zwei Jahre ältere Lars von Hause aus eben „alles durfte“ und mit dieser seiner Freiheit großartig anzugeben vermochte. „Wir haben Svenja nie so bockig erlebt“, klagte Luise. „Ich fürchte, es kommen ein paar harte Jahre auf dich zu. Geht sie noch zum Reiten?“
Marion nickte. „Sven hat ihr mal die Reitstunden geschenkt und bezahlt sie auch immer noch.“
„Das ist gut. Versucht, mit dem Kind so viel wie möglich Gemeinsames zu unternehmen, - aber ohne Zwang!“ Wieder einmal spürte Marion sehr deutlich, dass ihre Freundin mal eine pädagogische Ausbildung genossen hatte. „Ich habe so das Gefühl, dass Sven für das Kind momentan immens wichtig ist, - die bisher fehlende Vaterfigur, - verstehst du?“
„Hm. Und da kommt schon das nächste Problem“, bekannte Marion kleinlaut.
Luise blickte erschrocken auf. „Mit Sven? – Gibt’s Probleme zwischen euch?“
„Er möchte, dass wir heiraten. Er sagt, das gäbe ihm so etwas wie eine innere Heimat, - Familie und so. Dieser ganze romantische Quatsch! Heimat – Heimat ... Was für’n Wort! Kann das ein Grund sein, zum Standesamt zu rennen? – Wie ist das denn bei euch? Ist Peter etwa deine Heimat?“
Luise schüttelte nachdenklich den Kopf. „Nein, Peter ist nicht meine Heimat. Aber unser gemeinsames Leben, - das ist unsere gemeinsame Heimat.“
Peter rief ins Zimmer: „Hier draußen vermissen zwei einsame Herren schmerzlich ihre Frauen!“
„Heuchler!“, rief Luise zurück, ging dann aber mit ihrer Freundin zu den anderen zurück in den Garten. Svenja gähnte, auch Peter und Luise ließen bald Spuren von Müdigkeit erkennen. Der Tag hatte früh begonnen und war recht anstrengend gewesen. Daher brachen Marion, Sven und Svenja recht bald auf.
Zu Hause angekommen, zog Svenja sich eiligst auf ihr Zimmer zurück. Das Kind muss ja hundemüde sein, dachte Marion. Doch nach etwa einer Stunde – sie hatten es sich gerade bei einer Flasche Rioja gemütlich gemacht – kam Svenja die Treppe herunter gehetzt mit einem Brief in der Hand. „Den bringe ich eben in den Kasten. Der muss heute noch weg!“
Der Briefkasten werde heute ohnehin nicht mehr geleert, gab Sven zu bedenken, aber das Mädchen ließ sich nicht beeinflussen. Marion ahnte, dass ihre Tochter mit dem Brief, der mit einiger Sicherheit für jenen Lars bestimmt sein dürfte, nicht zum nahen Briefkasten sondern zum weiter entfernten Postamt laufen wollte. Jetzt, nach 23 Uhr und bei völliger Dunkelheit! „Ich komme mit“, sagte sie spontan. „Ein paar Schritte tun mir auch noch ganz gut.“
„Allein hab’ ich hier Angst.“ Sven zog seine Schuhe an und erhob sich. „Ich schließe mich der nächtlichen Expedition an, - als euer Beschützer.“
Unterwegs gab Svenja zu, dass ihr Brief für Lars bestimmt war. Der sei sehr, sehr nett und würde bestimmt schon auf den Brief warten. Damit war ihre Auskunftsfreudigkeit für heute allerdings erschöpft.
Bis zur Post waren es vielleicht noch fünfzig Meter, da hörten sie von hinten laute Schritte wie von Eisen beschlagenen Schuhen: „Klack – klack – klack.“
Rasch kam das Klacken näher, und schon überholte sie ein dunkel gekleideter Mann mit einer grauen Pudelmütze. Warum trug er in dieser Dunkelheit eine Sonnenbrille? Verwundert schaute Marion genauer hin. Und warum trug der Mann zudem dicke Lederhandschuhe? Es war doch selbst zu dieser späten Stunde noch recht warm.
Der Mann eilte schnurstracks auf den Postbriefkasten zu, nahm seine Sonnenbrille ab, kramte hastig aus der Innentasche seiner dunklen Jacke einen Brief hervor und warf ihn ein.
Dann machte er augenblicklich kehrt und kam ihnen nun ebenso hastig wieder entgegen. Den Kopf hielt er abgewandt zur Straße, als wollte er nicht erkannt werden. Dennoch, im Lichtkegel eines abbiegenden Autos blickte Marion für den Bruchteil einer Sekunde in sein kantiges Gesicht mit den kleinen, weit auseinander stehenden Augen und den schmalen, nach unten gezogenen Lippen. Eilig setzte der Mann seine dunkle Brille wieder auf.
Woher kenne ich dieses Gesicht?, fragte sich Marion, blieb einen Augenblick stehen, als könne sie so besser nachdenken, während der Fremde in der Dunkelheit verschwand. Wozu die Sonnenbrille? Wozu die Handschuhe? Wo habe ich den Mann schon mal gesehen, der jetzt offenbar nicht erkannt werden will?
„He – was ist?“, rief Svenja belustigt und warf ihren Brief an Lars in den Postkasten. „Hast du schon wieder einen Mörder im Visier?“
„Ich bin halt immer im Dienst“, erwiderte Marion leise, mehr zu sich selber. Ein ungutes Gefühl beschlich sie und ließ sie frösteln. War es die böse Vorahnung auf schreckliche Ereignisse, die auch ihr Leben verändern würden?