Читать книгу Hin und her und hinterher ... - Kurt Mühle - Страница 4

Fast wäre ich Pianist geworden ...

Оглавление

“Sechsunddreissig Jahre für das gleiche Unternehmen tätig! Nee, ich weiß nicht, ob das ‘n Renommee ist“, frotzelte Freund Peter, als ich zufrieden mein Berufsleben an den Nagel hängte. Luise, zufällig ebenso lang seine bessere Ehehälfte - die ach so naheliegende rhetorische Retourkutsche verkniff ich mir jetzt - , meinte augenzwinkernd dazu: “Na, vielleicht war‘s ja nicht nur Beruf, sondern so etwas wie Berufung ...”

Elektro-Ingenieur aus Berufung ...? Ich?! – Luise liebte es halt theatralisch. Ich aber musste lachen; zwar hatte ich gern in meinem Fach gearbeitet, aber Berufung ...? Das war etwas zu hoch gegriffen.

Luise wollte es genauer wissen, pranzelte gekonnt so lange herum, bis ich mich widerstrebend bereit fand, trotz ihres siegbewussten Schmunzelns einige Begebenheiten aus meinem Schwanken zwischen Beruf und Berufung, zwischen Pflicht und Kür, preiszugeben.

Man schrieb das Jahr 1947. Der zweite Weltkrieg war seit zwei Jahren vorbei, und ich war stolze 10 Jahre alt - doppelt so alt wie mein jüngerer Bruder. Meine Eltern besaßen viele Reichsmark, mit denen man aber nichts Begehrenswertes kaufen konnte. - Zigaretten und echter Bohnenkaffee waren die weit wertvollere Schwarzmarktwährung; man kaufte nicht, man tauschte. Dabei durfte man sich tunlichst nicht erwischen lassen; denn Schwarzmarkt-Handel wurde hart bestraft, obwohl ein jeder ihn - der Not gehorchend - mehr oder weniger erfolgreich betrieb.

Jedoch, meine Eltern hatten weder eine Kaffee-Plantage noch eine Tabak-Farm. Mein Vater war Maschinenbau-Ingenieur und verdiente damit Reichsmark und eine Lebensmittelkarte, die zum Einkauf einer vorgegebenen Menge Nahrungsmittel berechtigte. Nebenbei malte er Ölbilder, meist Landschaften, Blumen und auch Portraits. Als Tauschware eigneten sich solche Barockrahmen-Bilder zunächst nicht; die Deutschen hatten damals wahrlich fundamentalere Bedürfnisse als Kunstwerke zum Verschönern der häuslichen Wände zu erwerben.

Wir wohnten in Düsseldorf in Flughafen-Nähe, wo eine britische Armee-Einheit stationiert war, die auch für Verwaltungs- und Versorgungs-Aufgaben Deutsche beschäftigte. Einer dieser Glücklichen war unser Nachbar. Und so ergab es sich, dass irgendwann aus dem Kreis der Briten ein nutzbringendes Interesse an Vaters Bildern entstand. Bei uns gab’s daher fortan des öfteren Weißbrot, Nescafé, Kekse, Schokolade, Kakao, Dosenmilch und ähnliche Kostbarkeiten.

Irgendwann führte der illegale Tauschhandel zu einer grotesken Situation: eines Tages stand unser ganzer Keller voll mit Blechdosen und Blecheimern mit eingelegten Heringen, Sellerie und Kürbis. - Wohl ein Gelegenheitstausch!? Oder musste das Zeug bei den Briten weg? Wer weiß? - Nach spätestens drei Wochen hing uns der Kram bis zum Erbrechen zum Halse heraus. Meine Eltern tauschten nun etliche der Konserven gegen andere Waren ein; so gab es jetzt oft Hasenbraten und Hasenpfeffer. Die Hasen stammten von einem “Jäger”, der nächtens mittels eines Frettchens auf dem Nordfriedhof nach Hasen jagte.

Dennoch, der Dosen-Vorrat wollte und wollte nicht kleiner werden. Er hätte vermutlich hundert Jahre gereicht, wäre da nicht ein Gastwirt mit mehreren Kneipen gewesen, der sich anbot, den ganzen Bestand zu übernehmen, um damit künftig seine Gäste zu beglücken. Das Problem war nur, dass er zunächst dafür außer praktisch wertloser Reichsmark kein Äquivalent anzubieten hatte, bis ... ja, da war das Staunen groß!

Eines Tages war der Keller leer, aber dafür schleppten vier stämmige Männer einen riesigen Holzkasten in unser Wohnzimmer und platzierten das Ungetüm sorgsam an einer Wand. Mutter rief uns verdutzten Kindern freudig zu: “Da staunt ihr, was?! - Wir haben jetzt ein echtes Klavier!”

In den folgenden Tagen quälten wir unsere Eltern mit sehr freiem Zwölfton-Geklimper, was zwangsläufig die Frage nach dem tieferen Sinn dieser Anschaffung aufwarf. Die Antwort schien ganz einfach und wurde fern allen Demokratieverständnisses gefunden. Ich wurde auserkoren, Klavierunterricht nehmen zu müssen. Um mir die Sache schmackhaft zu machen, wurde ich mit allerlei Namen von angeblich berühmten Konzertpianisten konfrontiert, und wenn aus dem krächzenden Mittelwellen-Röhrenradio Klaviermusik ertönte, hieß es gleich: “Hör doch mal - wie schön ...” - Es schien klar, mich würde eine große musikalische Zukunft erwarten.

Die raue Wirklichkeit sah allerdings anders aus: Schule, Schularbeiten und dann drei Mal in der Woche mit der Straßenbahn zur Klavierstunde fahren, während sich meine Freunde auf der Straße mit allerlei Spielen und Streichen vergnügten. Meine Klavierlehrerin, ein Fräulein R., erzählte mir von einem gewissen Mozart, der bereits mit vier Jahren öffentlich auftrat. - Gut, dachte ich, dann ist für mich der Zug ohnehin abgefahren, - mein kleiner Bruder könnte es hingegen noch so eben packen. Dieser Logik versagten meine Eltern aber jegliche Einsicht, doch mit meiner Klavier-Begeisterung war es erst mal vorbei. Widerwilliges Üben ohne Fortschritt, - Fräulein R. erkannte es und mahnte und schimpfte, und ich lernte, sie dafür zu hassen.

Hin und wieder veranstaltete sie “Musikabende”, zu denen alle ihre Schülerinnen und Schüler und auch deren Eltern eingeladen wurden. Jeder ihrer Zöglinge musste irgendetwas auf den schwarzen und weißen Tasten zum Besten geben. Ein grausames Unterfangen; denn für mich war dies stets ein erzwungener Blamage-Akt.

Fräulein R. betätigte sich dabei auch als Musik-Pädagogin und berichtete salbungsvoll von großen deutschen Komponisten. Irgendwann fiel mal der Name “Chopin”. Fräulein R. reagierte ärgerlich, sprach von verklemmten Fingersätzen, unerlaubten Dehnungen und slawisch “undeutscher” Melodik. Das tausendjährige Reich ließ hier offenbar grüßen. Dieser Chopin – so schien es mir - musste jedenfalls ein ganz schlimmer Finger gewesen sein. Zufällig erfuhr ich wenig später durch Lange-Ohren-Machen bei einer Unterhaltung Erwachsener, dass Fräulein R. Klavierlehrerin wurde, nachdem sie ihr Konzert-Examen nicht geschafft hatte. Als Pflichtteil hatte auf dem Programm die erste Etüden-Reihe op. 10 von Frederik Chopin gestanden.

Klasse, dieser Chopin!, dachte ich. Ist man selbst ein Versager, - gibt’s dann Erhebenderes als zu erfahren, dass die große Klavierquälerin selbst eine Versagerin war? - Und so eine Versagerin sollte mir etwas beibringen?! - War ja wohl ‘n Witz! Immerhin, mit dieser Motivation und zähem Ringen schaffte ich es, dass mich meine Eltern vom Klavier-Stress schließlich erlösten. Ein Fortschritt war ja weder zu erkennen noch zu erwarten.

Ich brauchte künftig auch weder Bekannten noch Verwandten, die zu uns zu Besuch kamen, auf dem Pianoforte etwas vorzustümpern. Allerdings geisterte da immer eine ganz andere Frage durch den Raum: „Wie macht sich der Junge denn in der Schule, und was soll er eigentlich später mal werden?“

Was soll er mal werden ... Selten, dass ich mal gefragt wurde, was ich denn mal werden möchte. Mein Vater hatte längst beschlossen, ich müsse ins Kaufmännische gehen. Kaufleute würden immer gebraucht, und ich sei ja auch ganz gut im Rechnen.

Mit dem Kaufmännischen verband ich das Feilbieten von Gurken, Stangeneis, Postwertzeichen, Maisbrot, Schnittblumen und Schulartikeln. Wahrhaft wenig aufregende Tätigkeiten! Auf der Penne war damals neben Latein mein schwächstes Fach ausgerechnet Deutsch. Zwar rettete ich meine Zensur durch nahezu fehlerfreie Diktate immer über die kritische Grenze, erlebte mit meinen Aufsätzen aber meist ein Desaster, - dank Studienassessor Fleischhauer. Von ihm soll später noch die Rede sein. Ihm missfiel damals die unkonventionelle Art, in der ich die von ihm gestellten trivialen Aufsatzthemen abhandelte.

Eines Tages dann die Götterdämmerung: Im neuen Schuljahr wurde der alte Fleischhauer durch den jungen Deutschlehrer Körber abgelöst, der die ganze Klasse mit neuartigen Aufsatzthemen irritierte. „Glas“, schrieb er einmal an die Tafel, und wir sollten schreiben, was uns dazu einfiel. Nachdem ich in den folgenden Wochen und Monaten meist den besten Aufsatz schrieb, meinte Körber irgendwann mal – vermutlich nur scherzhaft – zu mir: „Du könntest glatt Schriftsteller werden.“

Jawohl! Das war’s doch, - Schriftsteller! Der Vorschlag wurde von mir sofort akzeptiert und stolz meinen Eltern unterbreitet. Doch welch eine himmelschreiende Ignoranz! Wovon ich denn leben wollte? Am Hungertuch würde ich nagen und im Armenhaus landen. Auf dem nackten Fußboden müsste ich schlafen zwischen Ratten und Trunkenbolden. Nein, erst was Ordentliches lernen! Schreiben könnte ich ja nebenbei immer noch ... Und so geschah es auch. -

„Eigentlich schade“, bedauerte Luise. „Ich wollte früher zum Film. Durfte ich auch nicht. Musste stattdessen Psychologie studieren. C’est la vie.“

Peter konnte sich dazu eine Bemerkung nicht verkneifen: „Und darunter hab’ ich heute zu leiden. Die Psychologin durchschaut mich, und die Schauspielerin macht mir währenddessen was vor.“

„Kondolenz beim nächsten Mal“, erwiderte ich lachend. „Alles halb so schlimm: Schriftsteller wollte ich werden und wäre beinahe Pianist geworden. Kaufmann sollte ich werden und wurde schlussendlich Elektro-Ingenieur. Nun bin ich Ruheständler und fang noch mal ganz von vorne an, - eben als Schriftsteller. Man muss sich im Leben halt durchsetzen, früher oder notfalls auch später ...“

„Dann lies uns mal was vor aus deinen Werken, - diese neue Wuppertal-Geschichte zum Beispiel.“ Vorlesen? War ich etwa hier der Märchenonkel? Doch Luises strenger Blick erstickte in mir jedes Widerwort; denn ich erinnerte mich zugleich an das letzte Mal, als ich Luise irgendwie mit irgendetwas geärgert hatte. Die vorzügliche Köchin kredenzte mir nämlich bei der nächsten Einladung zu einem köstlichen Schweinerollbraten feines Gemüse, diese schaurig schleimige Mischung aus Erbsen, Möhren und Dosenspargel – bösartigerweise Leipziger Allerlei genannt -, und als Beigabe servierte sie quietschsauren Gurkensalat. Damit hatte sie voll ins Schwarze getroffen. Solche Qualen wollte ich nicht noch einmal erleben, also las ich lieber ...

Hin und her und hinterher ...

Подняться наверх