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Klerikale Flegeljahre

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„Ich finde die beiden Paulaner einfach klasse“, meinte Luise. „Aber dieser Opa stammt wohl aus dem Mittelalter. Hoffentlich hat er die armen Kinder nicht im Nachhinein noch geohrfeigt!“

Nein, hat er nicht! Aber mich erinnerten ihre Worte an längst Vergangenes aus meiner Schülerzeit ...

Patsch! Eine Ohrfeige links. Klatsch! Eine weitere rechts. Unser Herr Kaplan, der Chorleiter, wies mit Arm und Zeigefinger drohend in Richtung Tür. "Raus!", brüllte er mich an. "Aber 'n bisschen dalli! Wird's bald!" Dies geschah am 13. September 1951. Es war zugleich das unrühmliche Ende meiner Mitgliedschaft im Kirchenchor von St. Bruno. Es war für mich überhaupt das Ende katholisch-kirchlicher Karriere-Chancen; denn damals schon war ich quasi einschlägig vorbestraft und wurde folglich bis dato im Kirchenchor nur auf Bewährung geduldet. Zuvor hatte man mich nämlich wegen meines missverstandenen, ansonsten eher schmunzelnd betrachteten Unterhaltungsdrangs von meiner Messdiener-Funktion ziemlich lautstark entbunden. Und das kam so:

Spielzeug war rar in dieser Nachkriegszeit; aber wir entbehrten nichts, weil wir - der Not gehorchend - uns unser Spielzeug selber anfertigten wie beispielsweise aus leeren KonservenDosen. Daraus bastelten wir die bald sehr berüchtigten "Räucher-Pöttchen". Dazu wurde eine Konservendose rundum und unten mit unzähligen kleinen Löchern versehen; am oberen Rand wurde an zwei Stellen eine Kordel befestigt, so dass man daran das ganze Gebilde in kreisenden Bewegungen bequem durch die Luft schwingen konnte. In die Dosen kam trockenes Laub und etwas Papier hinein. Sodann wurde der Inhalt angezündet und die Pöttchen eifrig herumgeschleudert, bis sie deutlich sichtbare, kreisförmige Rauchfahnen hinterließen. Ein tolles Vergnügen!

Obwohl damals noch niemand an die Partei der Grünen dachte, nahmen doch Anwohner oft Anstoß an einer angeblichen Geruchsbelästigung, was wir - angesichts der Art ihrer Aufregung - mehr als Geruchsbelustigung empfanden und unseren Spaß umso fleißiger weiter betrieben. Vor offenen Fenstern machte dieses Spiel besondere Freude, namentlich dann, wenn die Hausfrau gerade die Bettwäsche zum Lüften über die Fensterbank gelegt hatte. -

Es war zu jener Zeit noch weniger üblich als heute, mit Heranwachsenden wegen solcher Streiche ein halbwegs vernünftiges Gespräch zu suchen. Da wurde gleich gebrüllt, getobt und wüst gedroht, alles werde den Eltern und den Lehrern gemeldet. So manch einer machte sich da in unseren Augen unfreiwillig zur blanken Witzfigur, der wir fortan mit unseren Streichen vergnüglich die Treue hielten. Für sie war uns nichts zu schade; so reicherten wir schließlich unsere Mixtur für die Räucherpöttchen mit feingeschnittenen Gummistreifen aus alten Fahrradschläuchen an, was ganz erbärmlich stank. - Irgendeine massive Intervention bei meinen Eltern führte darob zur Requirierung meines Pöttchens und zu drei Tagen Hausarrest, den ich mit Schularbeiten und Klavierüben zu verbringen hatte. Außerdem wurde mir klar gemacht, dass ich solcherlei Schandtaten auch am nächsten Samstag in der Kirche zu beichten habe.

Ja, zu dieser Zeit ging ich noch regelmäßig zur Beichte, und ich bekannte tatsächlich mit klopfendem Herzen im Beichtstuhl dem Herrn Pastor von St. Bruno meine Missetat. Der Pastor war damals ein gemütlicher, älterer Herr, dem man unter anderem auch Humor nachsagte. Ich höre ihn noch heute durch das hölzerne Gitter im Beichtstuhl sagen: "Jung, Jung, datt mit dem Gummi musste aber auch wirklich nitt sein!"

Diese milde Wertung durch die Geistlichkeit gab mir Mut, zeigte sie mir doch, dass die Kirche überhaupt nicht kleinlich in solchen Dingen schien. Im übrigen mochte mich der Herr Pastor, denn noch stand ich ja als Messdiener in seinen Diensten. Außerdem war ich Mitglied im Kirchenchor, - Sopran. Zwei Versuche meinerseits auf Stimmbruch-Suspension waren nach Probesingen abschlägig beschieden worden. Pech!

Messdiener sind Schulkinder in Kirchengewändern, die dem Priester während der Heiligen Messe Hilfsdienste leisten. In der Regel kniet jeweils einer links und einer rechts auf der unteren Stufe vor dem Altar. Zu den Aufgaben gehören beispielsweise das Tragen des schweren Messbuches von rechts nach links und wieder zurück, zu bestimmten Zeiten Glöckchen erklingen zu lassen und mit Weihrauch-Schwenkern für feierlich frommen Geruch in der Kirche zu sorgen.

Mein Mitmessdiener hieß Herbert und war mein damaliger Räucherpöttchen-Kumpel. Es kam also, wie es kommen musste ... Wer von uns beiden würde es wagen, den Weihrauch-Schwenker während der Heiligen Messe wie ein Räucherpöttchen kreisen zu lassen, statt ihn nur sanft hin und her zu wiegen. - Keiner! Oder doch? - Herbert oder ich? - Tagelang plagte uns das Problem, bis wir beschlossen, es gemeinsam zu tun.

So kam der auserwählte Sonntag, die Kirche war voll. Es kam unser Augenblick. Wir taten es, als der Herr Pastor uns und der Gemeinde den Rücken zuwandte. Nach einer Schrecksekunde ertönte hinter uns aus der Christengemeinde ein merkwürdiges Gewirr aus Entsetzen, Empörung, Gekicher und Gemurmel, als wäre bei einem Konzert urplötzlich dem Dirigenten die Hose heruntergerutscht.

Herbert war der zaghaftere von uns beiden; er hatte den Weihrauch-Schwenker nur einmal kreisen lassen. Bei mir waren es mindestens drei Umdrehungen gewesen. Als der Herr Pastor sich samt seiner ausladenden Messgewänder nun verdutzt umwandte, hatte mein "Pöttchen" noch genügend Schwung für eine weitere Umdrehung ... In flagranti erwischt unter den entsetzten Augen des Pastors.

Einige Male schon hatte der Herr Pastor uns zu Hause besucht, zu meiner ersten Heiligen Kommunion und auch immer dann, wenn er eine persönliche Haussammlung abhielt für die Reparatur des Kirchendaches von St. Bruno. Bei seinem nun allerletzten Besuch in meinem Elternhaus sagte er zur Begrüßung mit Grabesernst : "Ich komme diesmal in einer anderen Angelegenheit ..." Fortan brauchte ich nicht mehr zu messdienern. Herbert wurde nur verwarnt, doch zu Hause war für ihn die Hölle los; er hatte das strengere Elternhaus. Sein Vater war Lehrer, sein älterer Bruder studierte Theologie. Ich glaube, in diesem Haus wurde nie gelacht, und ich ward hier fortan nicht mehr gern gesehen. -

Im Kirchenchor - natürlich damals ein geschlechtsreiner Knabenchor - sorgte meine Missetat für erhebende Erheiterung. Besonders die älteren Knaben mit den tieferen Stimmen waren davon so angetan, als habe ich irgendwie etwas Heldenhaftes vollbracht. Das brachte mich ein wenig näher an deren Clique heran. Ältere protzen bekanntlich gern vor Jüngeren mit ihren vermeintlichen Lebenserfahrungen. Und so erfuhr ich auch von einem ganz tollen Film mit irgendwie ganz tollen Frauen und ganz tollen Schlagern.

Dieser Wunderfilm hieß "Die verschleierte Maja", ein Schwarz-Weiß-Film von 1951, einer jener Revue- oder Tanzfilme, die damals massenhaft aufkamen. Trotz nackter Frauenbeine bis oben hin war der Film als "jugendfrei" deklariert worden, und war dadurch für viele meiner Altersgenossen das Tor zum Leben, - endlich mal jugendfreier Anschauungs-Unterricht. Es handelte sich um die Geschichte einer Tänzerin, gespielt von Maria Litto. Michael Jary schrieb die Musik, und einer der singenden Darsteller war Gerhard Wendland.

Den Chorknaben mit den tieferen Stimmen hatte es besonders der Schlager "Das machen nur die Beine von Dolores" angetan. Was diese sagenumwobenen Beine bewirkten, wurde altersbedingt von uns zwar noch unterschiedlich interpretiert, aber jede Vorstellung daran schien ihren Reiz zu haben.

Die Sangesfreude im Chor war mir schon seit einiger Zeit vergangen, leider konnte ich bisher nicht mit Stimmbruch-Argumenten überzeugen. Ich musste also bleiben. Kirche und die gleichgeschaltete Schule, aber auch meine Eltern verlangten es so. Um die Sache erträglicher zu gestalten, spielte ich bald bei jedem Jux, der hier veranstaltet wurde, gern in vorderster Reihe mit. Gerade die Herren mit den schon tieferen Stimmen produzierten hin und wieder Ideen, von denen ich leicht Bauchschmerzen vor Lachen bekam. Und so zog mich bald der Ulk statt die Sangeslust zum Chortreffen.

Und dann kam jener Schicksalstag, der die endgültige Trennung zwischen St. Bruno und mir bedeutete. Der Chor hatte Aufstellung genommen, jeder hielt sein Notenblatt mit dem ehrwürdigen Kirchenlied "Großer Gott, wir loben Dich" vor sich, und der junge, aber gestrenge Herr Kaplan gab den Einsatz.

Der Notensatz war zweistimmig. Die erste Stimme, zu der auch ich gehörte, intonierte also textgetreu. Die zweite Stimme, vornehmlich die tiefere Stimmlage, schien da etwas zu verwechseln. Von dort tönte es nämlich sonor und unüberhörbar: "Das ma-hachen nu-hur die Ba-heine von - Dolores, dass die - Senores nicht scha-lafen geh'n ..."

Weiter im Text kamen sie nicht. Ich hatte mich mit frechem Grinsen sofort zur Zweitstimme geschlagen. Eine kräftige Hand riss mich aus der Gruppe heraus, und ich sah den Sternenhimmel, bevor ich betreten die hehre Räumlichkeit auf Nimmerwiedersehen verließ. Es war der 13. September 1951.

In den folgenden Tagen hatte ich doch Bammel, wie wohl meine Eltern reagierten, wenn die Kirche sie über meine erneute unschamhafte Schandtat informieren würde. Doch zu meiner Verwunderung geschah nichts. Heute ist es mir klar: Der zeitbedingt verklemmte Kaplan hätte bei seiner Erklärung die Beine von Dolores "in den Mund nehmen" müssen. Rote Ohren hätte er bekommen ... Wie sündig! Und wie unsäglich peinlich! Solch sündige Texte bestrafte man damals lieber mit konsequentem Totschweigen.

Nun, mir war’s recht.

Hin und her und hinterher ...

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