Читать книгу Hin und her und hinterher ... - Kurt Mühle - Страница 5
Falsch geparkt
ОглавлениеSommer 2005, und dahin sind sie, - die Träume von Gambas, Sonne, Sand und Meer auf Teneriffa! Aus zerplatzten Vorfreuden bleibt nur ein Trost: die Reiserücktrittsversicherung. Ach, die Lehmanns hatten alles schon bis ins Kleinste geplant und eingekauft: von der Sonnenmilch bis zum Reiseführer. Und nun das! Papa arbeitslos ... Firma pleite. Unsicherheit, Angst und Sorgen erfüllen die Eltern; doch die Kinder sollen nichts davon merken. Teneriffa muss halt verschoben werden, weil Papa „wichtige andere Termine hat“. Aber Oma und Opa würden sich bestimmt riesig freuen, wenn die süßen Enkelkinderchen die Ferien bei ihnen im Sauerland verbrächten. Immer wieder hatten sie dies angeboten, ja geradezu darum gebeten. Jetzt ist ein günstiger Zeitpunkt gekommen, die beiden Kinder für ein paar Wochen bei den Großeltern zu parken.
Und so kommt der letzte Schultag einer Berliner Klasse vor den Sommerferien. ’Es ist immer so gewesen: Am letzten Tag wird vorgelesen!’ steht wie üblich an der Tafel, doch stattdessen bietet die Lehrerin, Frau Hasenbein, eine Plauderstunde über die Ferienziele ihrer Zöglinge an. Portugal, Mallorca, Österreich, Malediven, Schweden, Italien, Spanien, Mexiko, - so hört man die Klasse in kindlicher Vorfreude durcheinander rufen, bis eine Mädchenstimme für allseitiges Erstaunen sorgt: Sauerland ...! Wie – was? Wie war das? – Sauerland?? - Das schreit nach Aufklärung. Und Zicke, wie diese kleine Sauerland-Exotin hier genannt wird, sagt, sie werde die Ferien mit ihrem kleinen Bruder bei „Omma und Oppa“ eben im Sauerland verbringen. Grund genug für Frau Hasenbein, zehn Minuten Erdkunde-Unterricht über das nahe und doch so ferne Sauerland zu erteilen, um dann zu fragen, wo denn Oma und Opa dort genau wohnen.
Zicke hebt bedauernd die Schultern, als wüsste sie es nicht. Dabei kennt sie den Namen des kleinen Ortes sehr genau, mag ihn aber nicht nennen, - mit gutem Grund. Denn Ingo, ihr derzeitiger Kinderlebensabschnittsgefährte, - also dieser Ingo hatte sie das auch gefragt, und sie hatte wahrheitsgemäß geantwortet: „Oberholzklau“. Da hatte Ingo ihr nur den Vogel gezeigt und gemeint: „He, verarschen kann ick mir alleene.“
Überhaupt dieser Ingo ... Der war Schuld daran, dass sie sich von allen widerspruchslos „Zicke“ rufen ließ. Immer noch besser, als mit richtigem Namen angeredet zu werden. Denn als sie Ingo nach langem Zögern verraten hatte, dass sie in Wahrheit „Paula“ hieße, da hatte der rotzfrech gegrinst und kopfschüttelnd gemeint: „Denn nenn ick dir doch lieber Zicke.“ – Zicke sei ja auch nicht so schlimm; erst Adjektive wie olle Zicke, blöde Zicke oder kleene süße Zicke drückten den Grad der Wertschätzung aus. Aber Paula? Nee, das wär’ für sich alleine schon ’ne Katastrophe!
Die nicht gerade überschäumende Fantasie ihrer Eltern bei der Namensgebung zeigte sich vollends bei der Taufe ihres kleinen Bruders, dem der Name „Paul“ aufgedrückt wurde; heute wird er nur „Paule“ gerufen. Ist von beiden Kindern die Rede, spricht man nur von PP oder von den Paulanern. Nur Oma und Opa reden in sauerländischer Korrektheit noch von Paul und Paula, - weil das ja so schöne christliche Namen sind. -
Zicke ist gerade elf geworden, Paule ist fünf und wartet sehnsüchtig auf seine Einschulung, um den ewigen Vorwurf los zu werden, eine vernünftigere, klügere Schwester zu haben. Doch nun sind erst mal Ferien. Am anderen Morgen verlädt Papa die beiden in sein Auto. Ab geht’s über die Autobahn in Richtung Westen. Und während andere Kinder sich schon im Landeanflug auf Mallorca befinden, nerven die PPs in schöner Regelmäßigkeit mit der Frage, wann sie denn nun endlich da seien. – Paule besteht schließlich darauf: „Ick will als erster bei Oppa auf seine Kuh reiten!“
Papa verbringt einen Teil der Fahrt damit, den Kindern die Realitäten des Sauerlandes näher zu bringen. Paule muss begreifen, dass sie zwar nach Westen, aber keinesfalls in den Wilden Westen fahren und dass das Sauerland nicht unmittelbar neben Texas liegt. Es gäbe bei Oma und Opa folglich keine Kühe, Pferde, Schweine, Ziegen oder Hühner, - nur „Molli“, den altersschwachen Chow-Chow. Eine Disco sei auch nicht am Ort, auch kein Kino, - aber Tropfsteinhöhlen und vor allem wunderschöne Wälder, die zu Wanderungen und Spaziergängen in frischer, gesunder Luft einlüden.
„Könn’ wa nich’ mit dir wieder nach Berlin zurück? – Bitte ...!“ In diesem Wunsch sind sich die beiden Paulaner angesichts solcher Aussichten sofort einig. Da es leider keine Autobahnausfahrt „Oberholzklau“ gibt und auch die Ausschilderungen auf den Landstraßen in dieser Hinsicht eher dürftig sind, macht Papa unfreiwillig eine kleine Sauerlandrundreise mit zahllosen Unterbrechungen, um unschuldige Passanten nach dem Weg nach „Oberholzklau“ zu befragen. „Oi – jei“, so beginnt meist die wenig hoffnungsvoll stimmende Antwort.
Ein Mopedfahrer schließlich zeigt sich kundig. Er wisse genau, wie man dahin kommt. „Aberrr“, fügt er mit dem rollenden R des Siegerländers hinzu, „eine Beschrrreibung nützt da nichts – das finden Sie nie!“ Und obwohl Zicke darob höchst unfein mit verdrehten Augen ein typisches Kotzgeräusch von sich gibt, bietet sich der Mann an, vorweg zu fahren. Der Vorschlag wird dankbar angenommen, und so zuckelt Papa hinter dem Moped her, stochert nervös zwischen dem ersten und zweiten Gang hin und her, als es durch Kurven und über Steigungen geht, die das Zweirad vor ihnen kaum zu schaffen scheint.
„Is man juut, wenn man so’n schnellen Schlitten hat“, lästert Paule, und Papa unterdrückt mühsam ein Wutgeheul. Doch irgendwann erreicht man Oberholzklau und das schmucke weiße Hanghäuschen von Oma und Opa. Vor dem Aussteigen erinnert Papa eindringlich an die getroffenen Benimm-Vereinbarungen, ehe die Paulaner die herzliche Begrüßung mit nassen Schmatzern – und eiligem Wegwischen – zwar leidend, aber tapfer schweigend über sich ergehen lassen. Der Rest des Tages verläuft in harmonischer Ruhe, die beiden Kinder sind hundemüde. Letzter karger Dialog des Tages, als beide schon in ihren Bettchen liegen: „Na, wie find’sten det hier?“, ertönt die traurige Frage.
„Jenau so“, lautet die noch traurigere Antwort. -
Am anderen Tag fährt Papa nach Berlin zurück; die Vorfreude auf einige ruhige Stunden Autofahrt ist ihm beim Frühstück überdeutlich anzumerken. Zicke besteht darauf, mit Oma zum Ortseingang zu wandern, um – zur Sicherheit gleich mehrmals – das Ortsschild „Oberholzklau“ zu fotografieren, - als Beweismaterial für Ingo und all die anderen Ignoranten in Berlin. Dann geht es zum Einkaufen im einzigen Laden am Ort. „O je“, stöhnt Paule, „so sah det früher bei Bolle aus.“ – Mit Süßigkeiten nach freier Wahl kann Oma die Stimmung erst mal retten.
Dann bricht für die Kinder die Hölle herein! Jedem menschlichen Wesen im Dorf, das ihnen begegnet, werden PP vorgestellt, müssen artig Händchen geben, während Oma voller Stolz Lobeshymnen über ihre braven intelligenten, fleißigen Enkel aus der Hauptstadt vom Stapel lässt. Zicke zieht eine immer längere Flappe, Paule jammert, er wolle nach Hause, und als das alles nichts fruchtet: „Oma, ich muss mal ...!“ – Zu Hause backt Oma Kuchen mit den Kindern, geht anschließend mit ihnen auf den Spielplatz, wieder zu Hause spielt man „Mensch ärgere dich nicht“, dann Mittagessen, und danach ist Ruhe angesagt, weil Opa sein Mittagsschläfchen hält. Nicht mal den Fernseher darf man zu dieser Stunde einschalten. Also betätigt sich Oma als flüsternde Geschichtenerzählerin. So schleichen die Stunden dahin. Am Abend ist Oma völlig abgeschlafft und verdonnert Opa, sich am nächsten Tag um die Kinder zu kümmern. „Fahr mit ihnen irgendwohin, an die Biggetalsperre oder zum Kölner Dom oder nach Wuppertal zur Schwebebahn, - ja das ist doch etwas, das es in Berlin nicht gibt – die Schwebebahn!“ – Opa nimmt seufzend ein Lexikon aus dem Schrank, um sich über die Geschichte der Schwebebahn zu informieren. Daraufhin studiert er eine Straßenkarte; er war selber noch nie in Wuppertal.
Am Morgen packt Oma für die Expedition der drei einen Verpflegungs-Rucksack mit Broten, Kartoffelsalat, hartgekochten Eiern und Getränken. Sie winkt noch, und schon geht’s los in Opas nagelneuem Opel quer durchs schöne Sauerland. Opa meidet Autobahnen; Raserei liegt ihm nicht. Nun kann er seinen gähnenden Enkeln in aller Ruhe Lüdenscheid, Hückeswagen, Wipperfürth und Remscheid zeigen. Paule aber lenkt vom heimatkundlichen Vortrag unvermittelt ab: „Bist du eigentlich Mamas Papa oder Papas Papa?“ – Opa ist Papas Papa. Da seufzt Paule: „Na, denn weeß ick ja, bei wem ick mir noch bedanken muss.“
„Wofür denn bedanken?“, möchte Opa wissen.
„Det mein Pa früh jenug hier ausjewandert is’“. Opa vermag nicht zu antworten, denn eine kleine Serpentine, die hinab ins Tal der Wupper führt, beansprucht seine ganze Aufmerksamkeit. Dann ist er in der Stadt; das Schicksal scheint ein Einsehen zu haben und schenkt ihm sogleich einen freien Platz am Straßenrand, der sich vortrefflich zum Parken eignet. Bald stehen die drei auf einer ganz normalen Stadtstraße. Links und rechts mehrstöckige Häuser. In der Mitte der Straße, in halber Höhe der Häuser, zieht sich ein stählernes Ungetüm dahin: das mächtige Gerüst der Schwebebahn. Donnernd und quietschend braust auch schon der erste Zug über ihnen vorbei.
Opa ist fasziniert von der Technik; zum ersten Mal erblickt er dieses sagenhafte Bauwerk. Zicke schaut misstrauisch drein und fragt respektlos: „Det is’ die Schwebebahn?! So so. Watt schwebt ’n da eigentlich?“
Paule hat die Lösung parat: „Mensch, det is’ doch nur ’ne uffgehängte U-Bahn, weiter nüscht.“
Zicke hat eine weitere Frage: „Fährt die ooch im Winter oder nur jezz im Sommer, weil Kirmes is’ oder sowat Ähnliches?“ Opa erklärt, dass die Schwebebahn ganzjährig fährt und das Hauptverkehrsmittel der Stadt Wuppertal ist. Wieder kreischt ein Zug über ihnen daher. Nun schaut Opa ganz genau zur Fahrgastkabine hinauf und ist nicht mehr so sicher, dass er da wirklich einsteigen möchte. Aber versprochen sei versprochen, mahnen die Kinder. Und während sie die Stufen zum Bahnhof Vohwinkel emporsteigen, verspürt Opa leichtes Unbehagen und Herzklopfen.
Jeder der drei hat einen Fensterplatz ergattert. Gerade steigen noch drei Schuljungen zu, dreizehn oder vierzehn Jahre alt mögen sie sein; zwei davon sitzen Zicke gegenüber und haben augenblicklich etwas zu tuscheln. Die Türen fallen zu. Der Schwebebahnzug fährt los. Opa hält Ausschau nach einem Haltegriff. Links und rechts jagen die Fenster der Häuser vorbei, während auf der Straße unter ihnen normaler Autoverkehr herrscht. Dann legt sich die Bahn etwas zur Seite, es quietscht, die erste Kurve wird durchfahren. Opa verspürt ein unangenehmes Gefühl im Magen; vielleicht sollte er etwas essen und kramt eines von Omas Broten aus dem Rucksack.
„Da unten ist ja plötzlich lauter Wasser“, bemerkt Zicke nach einer Weile erstaunt, worauf einer der Schüler sie belehrt: „Das ist die Wupper.“
„Menno! – Ick hätt’ dat glatt für die Havel gehalten ...“ – Die beiden Jungen grinsen nur, da sie mit der Antwort nichts anzufangen wissen. Havel? Wer oder was soll das denn sein? – Immerhin beäugen sie ihr Gegenüber jetzt etwas forscher; die Elfjährige ist für ihr Alter recht weit entwickelt. Zicke bemerkt das Fixieren und erneute Getuschel und weiß genau, dass sie der Anlass dazu ist.
Als die Bahn in der nächsten Kurve wieder bedenklich quietscht, meldet Paule Zweifel am zuvor Gelernten an: „Und det Hängeding hier soll wirklich die sicherste Bahn von die Welt sein!?“
„Ist sie gar nicht“, meldet sich einer der Schüler und zeigt nach unten. „Erst vor ein paar Jahren ist hier eine Bahn abgesegelt ... Da unten hat sie gelegen – mitten in der Wupper –viele Tote und Verletzte.“
Opas Gesicht wird kreideweiß. Der vorlaute Schüler bemerkt es und setzt noch einen drauf: „Immer nach oben gucken, wenn’s einem schlecht wird. Dort zu dem roten Griff. Aber nicht dran ziehen, sonst wird die Bahn ausgeklinkt und fällt runter. Das ist nämlich für den Notfall, wenn plötzlich mal eine Bahn entgegenkommt.“ – Im allgemeinen Gekicher nimmt Opa das zwar nicht ernst, schaut aber dennoch wie gebannt auf den roten Griff. Als eine Frau dem ominösen Griff sehr nahe kommt, entfährt es ihm ungewollt: „Vorsicht!!“ – Verlegen schaut er zu Boden, während alle um ihn herum spöttisch lachen.
„Dir kann man auch jeden Scheiß inne Birne kloppen, wa’...?“, lästert Zicke, während sich Opas Gesicht ob dieser Ausdrucksweise versteinert. Die Solidarität im Gespött ermutigt einen der Jungen, mit seinem Fuß in Kontakt zu ihrem Fuß zu treten. Als sich seine Fußspitze auf halber Höhe ihrer Wade befindet, tritt sie ihm sehr unsanft gegen das Schienbein. Der alte Abstand ist wieder hergestellt. Bevor der so abgewiesene Knabe jedoch an der nächsten Station aussteigt, meint er mit weltmännischer Überheblichkeit: „Dir entgeht noch ’ne Menge Spaß im Leben, wenn du weiter so auf verklemmt mimst.“
Zicke ruft daraufhin laut und ärgerlich: „Mensch, haste sonne Probleme?! Koof dir doch ’n Magazin von unterm Ladentisch und schließ dir damit im Klo een!“ – Gelächter, Entsetzen, fragendes Aufhorchen, Kopfschütteln. Opa blickt in die Runde der Fahrgäste; langsam dämmert ihm der Sinn dieser Worte. Die Blässe in seinem Gesicht weicht tiefer Schamesröte. Er will weg vom Ort dieser Peinlichkeit. „Darüber reden wir noch“, faucht er erbost. „Und gleich steigen wir aus. Schluss jetzt!“
Der nächste Halt ist ‚Zoo’. Opa schubst - innerlich kochend vor Zorn - seine Enkelin auf den Bahnsteig, um ihr eine gehörige Standpauke zu halten. Sie aber schaut ihn nur verwundert an und fragt unbekümmert: „Kann ick mal dein Handy haben. Ick muss unbedingt janz dringend mal telefonieren.“ Handy?! Opa hat kein Handy, und so etwas braucht Opa auch nicht. Was soll diese Göre wohl auch Wichtiges zu telefonieren haben!? Die Ohren möchte er ihr lang ziehen!
„He – wo is’ ’n der Paule?“, fragt Zicke plötzlich. Und dann schauen beide ratlos der davonfahrenden Schwebebahn nach. Opa wechselt erneut die Gesichtsfarbe, nun in ein blasses Grauweiß, taumelt zu einer Bank und sinkt wie ein geschlagener Krieger darauf nieder. Ein kleiner Junge aus dem fernen Berlin in einer völlig fremden Stadt, allein gelassen fünfzehn Meter über der Wupper in einer hängenden Bahn ... Und das alles, weil er einen Augenblick nicht aufgepasst hat! Opa schlägt die Hände vors Gesicht und wäre am liebsten gestorben.
„Menno, Oppa“, versucht Zicke ihn zu trösten, „der Paule ist schon alleene mi’m Flieger jeflogen. Der kommt janz von selber wieder an Land.“
Nein, so schnell ist Opa nicht zu beruhigen. Als er endlich wieder einen klaren Gedanken fassen kann, verkündet er eine Strategie: „Du bleibst hier und rührst dich nicht von der Stelle! Und halt die Augen offen, falls dein Brüderchen zurückkehrt. Ist das klar?“ Zicke nickt. „Ich gehe jetzt zur Polizei.“ Schon macht sich Opa auf den Weg. Auf der Straße lässt er sich von Passanten erklären, wo die nächstgelegene Wache ist. Eine Antwort scheint nicht so einfach, denn die Passanten bilden zu dem Thema erst mal eine eifrige Diskussionsgruppe. Schließlich erfährt Opa: der schnellste Weg geht nach links, aber noch schneller geht’s eigentlich rechts herum. –
Eine halbe Stunde irrt der alte Mann vergebens durch die Stadt, geplagt von schrecklichen Vorstellungen über das Schicksal des armen kleinen Paule. Schließlich sieht er einen Streifenwagen der Polizei, springt wild gestikulierend auf die Fahrbahn und schmeißt sich dem Auto geradezu entgegen. Nach einer Vollbremsung bringt ihn die aufgebrachte Besatzung zwecks Aufnahme eines Protokolls erst mal zur Wache.
„An welcher Station haben Sie denn das Kind verloren?“, möchte der Polizeibeamte hinter der Schreibmaschine wissen. Opa hat nicht drauf geachtet. Er weiß nur, dass tief unten die Wupper fließt und muss sich belehren lassen, dass dies fast auf der ganzen Strecke der Fall ist. -
Paule ist den Tränen nahe. Ihm gegenüber sitzt noch der dritte von den Jungen, die mit ihnen in Vohwinkel eingestiegen waren. Er hat das ganze Drama miterlebt und fühlt sich nun als Einheimischer zur Hilfe berufen. „Ich bin der Jens“, sagt er. „Wir finden die anderen schon wieder. – An der nächsten Station steigen wir aus und fahren zurück. Man muss nämlich immer zu dem Punkt zurückkehren, an dem man sich verloren hat, woll. Alte Pfadfinder-Regel.“
Gesagt – getan. Auf der Rückfahrt ist Paule bald wieder voller Zuversicht und erklärt stolz, aus Berlin zu sein und das sei sogar die Hauptstadt von ganz Deutschland. „Aber ein Bundespräsident stammte hier aus Wuppertal“, entgegnet Jens voller Stolz. „Und der ist der Allerhöchste in Berlin und so.“
„Ne, der Größte is’ der Adenauer, sagt Papa immer“, wirft Paule ein. Da Jens mit dem Begriff ‚Adenauer’ nichts anzufangen weiß, wechselt er das Thema und erkundigt sich –nebenbei, aber doch recht detailliert – nach Paules Schwester.
Freudiges Wiedersehen am Bahnhof Zoo in Wuppertal. Zicke hat hier brav ausgeharrt. Nun sitzen die Kinder zu dritt auf der Bank und warten nur noch auf Opa. Aber Opa kommt und kommt nicht.
Jens zückt sein Handy und sagt zu Hause Bescheid, dass er wegen eines wichtigen Hilfsprojektes erst später komme. Zicke zögert eine Weile, ehe sie zu fragen wagt, ob sie wohl auch mal telefonieren dürfe. Klar darf sie, obwohl Jens bald sauer dreinschaut, da das Mädchen offenbar mit einem sehr guten Freund namens Ingo plaudert. Aber bald ist die Welt für ihn wieder in Ordnung, für Zicke hingegen wohl kaum, als er sie sagen hört: „Wie - ihr liegt am Strand - in Dänemark? Was – mit wem? Mit Pernille? Soll det ’n Name sein oder wat is’ det für ’n Kraut? ... Neue Freundin? Dänische Superfrau?! ... Hör mal! ... Wie – aus? Wat is’ aus? Det mit uns? Nach all die Zeit? ... Und du mir schon lange!“ Sie beendet das Gespräch, um wütend sofort eine SMS an die gleiche Adresse abzusetzen. „Du Arsch!“, steht auf dem Display.
Jens findet diese Ausgangsposition für sich gar nicht so übel, um nach einer Weile behutsam mit ein paar netten Worten ein Gespräch zu beginnen. Schließlich darf er sogar Zickes Telefonnummer in seinem Handy abspeichern. Der zarte Small-talk lässt die Zeit wie im Fluge verstreichen. Nur Paule langweilt sich und gähnt fortwährend. Wo nur der Opa bleibt?
Zur gleichen Zeit rät ein Polizeibeamter dem verzweifelt wartenden Opa, nach Vohwinkel zurückzufahren und mit seinem Auto die Heimreise anzutreten. Man werde die Kinder schon finden und nach Hause bringen. – Der dritten Aufforderung dieser Art folgt der alte Mann schließlich sorgenvoll. Ein Beamter geleitet ihn zur Schwebebahn. „Fahren Sie einfach bis zur Endstation. Dann sind sie dort, wo sie auch eingestiegen sind“, sagt er noch, als sich der Zug auch schon in Bewegung setzt. –
Am Endbahnhof Vohwinkel angekommen, schlürft er abgespannt und zerknirscht zu seinem ... Ja, wo ist denn das Auto? – Hier hat es doch gestanden! – Nun ist es weg. Hilfesuchend reckt er die Hände gen Himmel und flucht unchristliche Worte.
„Parken verboten“, erklärt ein Passant hämisch. „Nach zwei Stunden schleppen die hier ab. Gnadenlos.“ -
Alle Zugführer der Schwebebahnen sind inzwischen von der Polizei per Funk aufgefordert worden, an den Haltepunkten Ausschau nach den beiden Kindern zu halten. Tatsächlich meldet sich gegen Abend ein Fahrer: „Am Zoo sitzen schon seit Stunden drei Kinder herum.“ – Mit Blaulicht und Martinshorn jagt eine Polizeistreife heran und sammelt die verloren gegangenen Paulaner ein. Jens darf allein nach Hause gehen, nicht ohne sich von Zicke ausgedehnt zu verabschieden. Eigentlich ist der Jens viel netter als dieser blöde Ingo, sinniert sie, als sie im Polizeiwagen zur Wache fahren. Paule ist wieder hellwach; schließlich wollte er immer schon mal in einem richtigen Polizeiauto mitfahren. –
„Ach Herrjeh, den alten Herrn haben wir vor einer Stunde nach Hause geschickt“, stöhnt ein Beamter auf der Wache, als ihm ein Kollege die beiden Kinder präsentiert. „Wo wohnt ihr beiden denn?“
„Bei Omma und Oppa in Oberholzklau.“
„Na, nun werdet mal nicht noch frech!“
„Moment mal, - das habe ich wirklich mal gehört“, beschwichtigt ein anderer, väterlich aussehender Beamter. Er geht hinaus zu einem Fahrzeug mit Navigationssystem. Nach einer Weile kommt er zurück und nickt: „Gibt’s wirklich. Siegerland/Sauerland, in dieser Ecke. Etwas über eine Stunde Fahrt. – Was machen wir nun mit euch Ausreißern?“
Zicke begehrt auf: „Wat heißt denn hier Ausreißer?! – Ham wir uns etwa von der Platte jemacht?! Oder war det der Alte?“
Der väterlich aussehende Polizist schluckt und betrachtet eine Zeit lang nachdenklich die beiden Kinder. Dann erhebt er sich mit einem Ruck und sagt zu seinem Kollegen: „In einer Stunde hätte ich sowieso Feierabend. – Ich bringe die beiden nach Hause.“
Paule jubelt, weil er nun wieder Polizeiauto fahren darf. Zicke träumt während der Fahrt vor sich hin und hadert zugleich mit ihrem Pa, weil der ihr bisher kein eigenes Handy erlaubt hat; sonst hätte sie Jens nun eine SMS schicken können. Und dem blöden Ingo mit seiner dämlichen Petersilie oder Pernille hätte sie auch noch gern ein paar verbale Spezialitäten gefunkt.
Zu Hause in Oberholzklau trifft Oma beinahe der Schlag, als ihre Enkel von der Polizei abgeliefert werden. „Was ist passiert? – Wo ist mein Mann?“, ruft sie ängstlich. Der väterliche Polizist versucht, sie zu beruhigen. Ihr Mann käme etwas später mit dem Auto. Es sei so weit alles in Ordnung. –
Die Kinder schlafen friedlich seit Stunden. Oma wartet verzweifelt auf ihren Mann. Aber Opa kommt nicht. In Wuppertal wird derweil eine orientierungslose, hilflose Person mit einem Rucksack aufgegriffen. –
Omas Telefon klingelt. Die Wuppertaler Polizei teilt ihr mit, man habe ihren Mann für die Nacht in einem Hotel untergebracht. Sein Zustand ließe dies ratsam erscheinen, und seinen Wagen könne er ohnehin erst morgen früh zurückbekommen. „ Um Himmels Willen! Was hat er denn Schlimmes angestellt?“
„Ach, eigentlich nur falsch geparkt“, lautet die Antwort des Gesetzeshüter.
Oma ist erleichtert. Sie hat jetzt wenigstens Gewissheit. Nun gilt es, rasch noch ein paar Stunden Schlaf zu finden; denn morgen ist sie wieder dran, sich um die lieben Kinderchen zu kümmern und diesen Hauptstädtern etwas Interessantes zu bieten.