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1.3Wechselwirkung zwischen der Gruppenstruktur einer Schulklasse und dem Schülerverhalten

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Die Mikroanalyse der Interaktionsverläufe einer innerlich zersplitterten Schulklasse bringt verheerende Mechanismen an den Tag. Im folgenden soll die Wirkung der Zersplitterung auf den Unterricht am Beispiel einer Berufsschulklasse dargestellt werden:

Eine Lehrerin in Ausbildung besuchte mich eines Tages im Pädagogischen Institut. Sie hatte große Probleme mit ihrer Klasse und war völlig verzweifelt. Sie gab folgenden Bericht:

"Die Klasse ist furchtbar faul und hört gar nicht auf mich. Ich stehe an der Tafel und muß gegen einen Geräuschpegel ankämpfen, der nicht niederzudrücken ist. Ich muß so laut schreien, manchmal tun mir die Stimmbänder weh. Einige Schülerinnen schlagen die Hefte gar nicht auf und lesen Zeitung. Bei der Besprechung einer Hausaufgabe sagte eine Schülerin provokativ: 'Sie werden so eine Matz sein'. Ein anderes Mal sagte ein Mädchen: 'So blöd wie Sie bin ich noch lange nicht!'"

Ich entschließe mich spontan, die Klasse während des Unterrichts zu besuchen:

Die Klasse besteht aus 11 Schwesternvorschülerinnen, die später die Schwesternschule besuchen werden, und 23 Hauswirtschaftslehrlingen. Zwischen den beiden Gruppen besteht ein relativ großer Bildungs- und Intelligenzunterschied. Der Notendurchschnitt in "Deutsch" und "Sozialkunde" beträgt bei den Schwesternvorschülerinnen 2,6 bzw. 2,7, bei den Hauswirtschaftslehrlingen 3,5 bzw. 4,1, wobei die 1 die beste und die 6 die schlechteste Note darstellen. Die Schwesternvorschülerinnen wohnen zusammen im Schwesternheim, die Hauswirtschaftslehrlinge sind auf einzelne Haushaltungen verteilt und sehen sich nur an einem Tag pro Woche.

Das Schulzimmer, das ich vorfinde, ist wie ein Schlauch gestaltet, mehr lang als breit. Die Fenster auf der Längsseite stehen weit offen. Von außen dringt Strassenlärm, von innen der Lärm eines Preßluftbohrers durch die Betonwände. Die Lehrerin unterrichtet von der Stirnseite des langen Zimmers aus. Sie steht vor der Wandtafel und versucht, sich mit lauter Stimme verständlich zu machen. Von den hintersten Bänken aus, wo vorwiegend die Lehrlinge sitzen, sind ihre Worte kaum zu verstehen. Einer der Lehrlinge ganz rechts hinten auf der Fensterseite ißt einen Apfel. Sie hat vor sich das Fenster weit geöffnet und kann die Lehrerin nur durch das Fensterglas sehen. Drei Lehrlinge links hinten unterhalten sich laut miteinander. Dabei dreht sich das Mädchen in der zweitletzten Reihe ganz nach hinten um und wendet der Lehrerin den Rücken zu. Überall herrscht emsiges Treiben, Bleistifte fallen, Papierzettel werden geworfen, Sandwichpapier raschelt, die Stühle scheppern, während die Lehrerin hilflos ihr Unterrichtsdrehbuch abzuspulen sucht. Hin und wieder verläßt eine Schülerin das Klassenzimmer, indem sie sich mit lauten Bemerkungen durch die Tischreihen zwängt und provokativ die Türe schlägt. Ruheappelle der konsternierten Lehrerin verhallen wirkungslos im Raum. Nur die Vorschülerinnen, die ganz vorne sitzen, folgen relativ interesselos dem Unterricht. Die Fragen der Lehrerin, die hinten kaum verstanden werden, werden vorne nicht einmal beantwortet. Es findet kaum ein Unterrichtsgespräch statt.

Als Thema der Stunde steht groß "Mängelrüge" an der Tafel. Die Lehrerin schildert einen Fall: "Ein bei Neckermann bestelltes Tafelservice kommt zerbrochen beim Besteller an." Die Schülerinnen müssen eine Mängelrüge entwerfen. Ein Hauswirtschaftslehrling soll seine "Rüge" laut vorlesen und beginnt mit der Anrede: "Sehr geehrter Herr Neckermann …" Viele Mitschülerinnen, vor allem die Schwesternvorschülerinnen, lachen laut. Beschämt und mit rotem Kopf setzt sich die Schülerin auf den Stuhl. Sie wird in dieser Stunde nichts mehr sagen …

In diesem Augenblick wird mir die Wirkungsweise der Rivalität zwischen den Untergruppen klar. Die Beschämung der exponierten Schülerin stellt einen schweren aggressiven Akt dar, der die Spontaneität der Schülerinnen gegenseitig bremst. Ich überlege mir, wie ich die verborgene Gruppenstruktur der Schulklasse aufklären könnte, um die Interaktionsverläufe transparent zu machen. Gibt es eine Möglichkeit, unbewußte gruppendynamische Strukturen bewußt zu machen und gegebenenfalls grafisch darzustellen?

Tatsächlich steht dem Gruppendynamiker bzw. den Lehrpersonen mit dem Soziogramm nach MORENO (1954) ein Instrument zur Verfügung, das es erlaubt, gruppendynamische Konstellationen relativ zuverlässig aufzuzeichnen. Ich unterbreche den Unterricht kurz vor der Pause und stelle den Schülerinnen folgende Fragen:

A: "Neben wem möchtest du sitzen?" (2 Wahlen)

B: "Neben wem möchtest du nicht sitzen?" (2 Wahlen)

C: "Wen möchtest du zum Klassensprecher wählen?" (1 Wahl)

Die Auswertung der Soziogramme zeitigte folgende Ergebnisse:

Abbildung 5: Soziogramm A (positive Wahlen)


Legende:

Schwesternvorschülerinnen:
Hauswirtschaftslehrlinge:
Klassensprecherin:

Die Struktur des Soziogrammes, das anhand der Antworten auf die Frage A erstellt wurde, zeigt eine zersplitterte gruppendynamische Struktur. Die Klasse zerfällt in mehrere Untergruppen, obwohl die Schwesternvorschülerinnen einen kompakten Block bilden (I). Die Schwesternvorschülerinnen wählen keine Hauswirtschaftslehrlinge als Sitzplatznachbarn. In umgekehrter Richtung gibt es nur zwei Wahlen. Die Gruppe der Lehrlinge zerfällt in sieben Untergruppen (II-VIII), wovon eine besonders dominiert (V).

Abbildung 6: Soziogramm B (negative Wahlen)


Die Auswertung der Frage B zeigt, daß die Vorschülerinnen die Lehrlinge aus den Untergruppen III, V, VI, VII und VIII in Bausch und Bogen ablehnen. Die Vorschülerinnen lehnen sich untereinander nur in einem Falle ab. Bei den Lehrlingen stellt sich fast jede Untergruppe negativ gegen jede andere Untergruppe. Die Sündenbockfunktion übernehmen die Lehrlinge der Untergruppe VII. Jeder Lehrling von dieser Gruppe wird von mehr als der Hälfte der ganzen Klasse abgelehnt.

Wahl zur Klassensprecherin:

Bei der Wahl zur Klassensprecherin erhält eine Schwesternvorschülerin 13 Stimmen. Sie ist die wirkliche Sprecherin der Klasse. Die restlichen Wahlen verteilen sich auf andere Vorschülerinnen. Keine erhält aber mehr als drei Stimmen. Kein einziger Lehrling erhält eine Stimme als Klassensprecherin.

Die Klasse als Ganzes ist nicht integriert. Sie bildet keine Einheit. Es stellt sich nun die Frage, wie sich die Zersplitterung auf den Unterricht auswirkt:

Die Folgen der Zersplitterung sind während der Stunde gut zu beobachten. Die Untergruppen, wie sie im Soziogramm erscheinen, sitzen auch im Klassenzimmer in räumlicher Nähe. Die vier Mädchen, die ganz hinten rechts sitzen, bilden die Untergruppe VI im Soziogramm. Die Vorschülerinnen, die den Unterricht nur wenig stören, sitzen allesamt ganz vorne hinter dem Lehrerpult. Sie bilden die Gruppe I.

Wenn ein Lehrling der einen Untergruppe eine richtige Antwort gibt, ist in der Klasse keine Reaktion festzustellen. Wenn sie aber falsch antwortet, wird sie sowohl von allen Lehrlingen der anderen Untergruppen als auch von den Vorschülerinnen ausgelacht. Wortmeldungen werden insgesamt negativ kommentiert. Die Vorschülerinnen wirken wie eine verschworene Gemeinschaft. Sie tuscheln und lachen und helfen sich gegenseitig durch Einflüsterung.

Schließlich geben die Schülerinnen keine Antworten mehr, da sie Hohn, Beschämung und Schadenfreude ihrer Mitschülerinnen mehr fürchten als den Tadel der Lehrerin. Sie sitzen stumm und teilnahmslos in ihren Stühlen, während die Lehrerin wie an eine Mauer des Schweigens redet. Ihr Bemühen verpufft ins Leere. Auch durch Drohen und Strafen kann sie die Mitarbeit nicht erzwingen.

Im Gegenteil, es entwickelt sich ein teuflischer Zirkelschluß, indem die Schülerinnen versuchen, sich durch passiven Widerstand oder offene Provokation zu übertreffen. Zum Beispiel wird die Hauswirtschaftslehrtochter, die sich hinter der Glasscheibe des offenen Fensters "bedeckt" hält, von allen Seiten mit anerkennenden Blicken bedacht.

In zersplitterten Klassen können sich keine klassenübergreifenden konstruktiven Verhaltensmuster entwickeln. In jeder Untergruppe herrschen eigene Normen bzw. Verhaltensvorschriften vor. Deshalb kann diese Klasse kaum koordiniert agieren. Jede konstruktive Initiative einer Untergruppe wird von den Mitgliedern anderer Untergruppen sabotiert. Einigkeit besteht nur in der destruktiven Provokation der Lehrerin und in der Ablehnung klasseninterner Sündenböcke.

Die Ursachen für die Zersplitterung dieser Klasse lassen sich auf mehrere Faktoren zurückführen:

1. Die Klasse ist heterogen zusammengesetzt. Die Unterschiede in der Leistungsmotivation, den Berufszielen, den Interessen, der Intelligenz und der Schulleistung sind groß.

2. Die Klasse ist relativ groß. Die gruppendynamische Integration wird durch die Größe einer Klasse erschwert. Je größer die Gruppe, desto schwieriger verläuft der Prozeß der Integration, desto schwieriger ist auch die Führung der Gruppe und desto größer ist die Neigung zu Spaltung bzw. Zersplitterung in Untergruppen.

3. Die Lehrerin ist jung und unerfahren. Sie steht noch in Ausbildung. Sie verfügt nicht über genügend Handlungskompetenz im Umgang mit schwierigen Klassen. Ihre Stellung schwankt zwischen der Position des Lehrkörpers, in den sie noch nicht ganz integriert ist, und den Schülerinnen, mit denen sie sich teilweise noch identifiziert. Sie hat es nicht geschafft, sich als gruppendynamische Leiterin der Klasse durchzusetzen.

4. Die Räumlichkeiten sind ausgesprochen ungeeignet und die Abmessungen bzw. die räumliche Aufteilung des Schulzimmers einem geregelten Unterricht abträglich. Zudem finden sowohl außerhalb als auch innerhalb des Schulgebäudes Bauarbeiten statt, die zu einer großen Lärmbelästigung führen.

Der gruppendynamische Prozeß

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