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1.1Die Entmachtung des Lehrers (1. Teil: Die Entwicklung des Konflikts)
Оглавление"Trotz vieler Schwierigkeiten verlief der Unterricht in der BAS zunächst reibungslos. Auch das persönliche Verhältnis zu den Schülern, die bereits im Erwachsenenalter waren, war gut. Wir unternahmen neben dem regulären Unterricht gemeinsame Ausflüge in die nähere Umgebung, und ich gab an Wochenenden den 'Problemschülern' bei mir zu Hause kostenlos Nachhilfeunterricht.
Die ersten Unstimmigkeiten kamen nach einem halben Jahr auf. Sie entstanden durch sogenannte Kurzarbeiten, die ich in regelmäßigen Abständen in der Klasse schreiben ließ. Diese Prüfungsform - ein Ersatz für große Schulaufgaben - war vorher mit der Klasse vereinbart worden. Es war zunächst nicht die ganze Klasse, die gegen diese naturgemäß lästigen Kurzarbeiten protestierte. Es ergab sich zunächst nur eine kurze Auseinandersetzung mit dem Schüler Hans Scharfe, dem Klassensprecher der BAS A.
Bevor ich nun diese Auseinandersetzung näher schildere, möchte ich über Hans Scharfe einige Informationen geben. Der Schüler, etwa 1,70 m groß, hager, 23 Jahre alt, mit verkniffenem Gesichtsausdruck, fiel bereits durch sein schulterlanges, schütteres Haar auf. Wenn er sprach, klang seine Stimme gequetscht, und er wirkte auch auf andere Beobachter so, als ob er unter starken Spannungen stünde. Scharfe hatte, bevor er in die BAS A eintrat, seine Gymnasiallaufbahn abgebrochen und eine kaufmännische Lehre absolviert. In seiner Berufsschulzeit war er Schulsprecher. Wie aus seinen Schülerpapieren hervorging, war Scharfe etwa zu der Zeit vom Gymnasium abgegangen, als sein Vater (an Krebs, wie ich später erfuhr) gestorben war. Scharfes Englischkenntnisse waren gut bis sehr gut, und in meinem Unterricht war er einer der besten. Noch vor den im folgenden beschriebenen Auseinandersetzungen war mir aufgefallen, daß Scharfe immer eine Ausgabe der "Allgemeinen Schulordnung" mit sich führte und auch ab und zu während des Unterrichts in dieser blätterte.
Es begann damit, daß Scharfe wieder einmal, wie so häufig, den Unterricht versäumt hatte und bei dieser Gelegenheit auch eine der oben erwähnten Kurzarbeiten nicht mitgeschrieben hatte. Ich teilte ihm mit, daß dieser Leistungsnachweis nachzuholen sei und bat ihn, doch in Zukunft eine Entschuldigung für sein Fehlen vorzulegen. Hans Scharfe begegnete meiner Bitte mit einer grundsätzlichen Diskussion über die Anwesenheitspflicht in der Berufsaufbauschule Form III. Er argumentierte meiner Meinung nach geschickt. Ich gab ihm in vielen Punkten recht. Damit stellte ich mich auf seine Seite und distanzierte mich von den bürokratischen Maßnahmen der Schulleitung. Als ich ihn abschließend bat, dennoch eine Entschuldigung zu schreiben, warf er mir Heuchelei und Unaufrichtigkeit vor. Alle meine Versuche, Scharfe davon zu überzeugen, daß es keine Aufgabe der eigenen Gesinnung sei, wenn man einige Formalitäten erfülle, auch wenn einem diese nicht als sinnvoll erschienen, schlugen fehl. Er ereiferte sich zusehends und schwenkte dann auf ein anderes Thema über. Er stellte die Behauptung auf, ich wolle ihm schaden, indem ich absichtlich den Zeitpunkt, zu dem er die entsprechende Kurzarbeit nachholen sollte, für ihn ungünstig wähle. Außerdem, so behauptete er, sei der zu bearbeitende Text viel schwieriger als die Originalaufgaben. Es war mir nicht möglich, ihn davon zu überzeugen, daß ich für ihn Verständnis hätte und ihm nur helfen wolle. Selbst daß ich seine Kurzarbeit mit dem von ihm ersehnten 'sehr gut' beurteilte, überzeugte ihn nicht. Er meinte vielmehr, ich hätte zwar versucht, ihn 'aufs Kreuz zu legen', es sei mir aber eben nicht gelungen.
Die Klasse stand bei dieser Auseinandersetzung ganz auf meiner Seite und versuchte, durch Zwischenrufe wie 'Daß du nicht merkst, daß er dir nichts will!' oder 'Jetzt schreib doch noch die Entschuldigung' Scharfe umzustimmen. Auch bei einem privaten Gespräch, das ich mit dem Schüler suchte und von dem ich erhoffte, daß ich Hintergrundinformationen über sein Verhalten bekommen könnte, blieb Scharfe verschlossen. Er antwortete auf meine Fragen nur kurz und unverbindlich. Er trat dabei nervös von einem Bein aufs andere und steckte seine Hände mal in die Tasche oder hielt sie auf dem Rücken. Am Ende dieses Gespräches mußte ich ihm erklären, daß ich mich außerstande sähe, ihm zu helfen. Ich sagte: 'Sie fühlen sich von aller Welt angegriffen und ungerecht behandelt. Auch von mir. Ich kann Sie nicht erreichen und vom Gegenteil überzeugen. Also kann ich nur hoffen, daß wir den Rest der Zeit, die wir zusammen verbringen müssen, wenigstens halbwegs miteinander auskommen.' Mit einem steifen Kopfnicken gingen wir auseinander."
Wir verlassen an dieser Stelle die Darstellung der Konfliktentwicklung und machen eine erste Analyse:
Der Konflikt beginnt mit dem nicht sanktionierten Fehlen von Hans Scharfe im Unterricht. Schon hier versäumt der Lehrer, den Schüler wegen seines Fernbleibens zur Rechenschaft zu ziehen. In der Auseinandersetzung über die Kurzarbeiten kommt es zur Entscheidung, wer sich durchsetzen kann bzw. wer den Machtkampf um das Recht, "Normen" zu setzen, gewinnt, der Lehrer als Autoritätsperson oder der Schüler. In der Diskussion zu zweit gibt der Lehrer dem Schüler in vielen Punkten recht. Er schreibt in seinem Bericht: "Damit stellte ich mich auf seine Seite und distanzierte mich von den bürokratischen Maßnahmen der Schulleitung." In diesem Augenblick verweigert der Lehrer die Rolle als Repräsentant der gesamten Lehrerschaft. Dazu versucht er, mit dem widerspenstigen Schüler einen kumpelhaften Kompromiß auszuhandeln. Doch dieser will das Angebot nicht annehmen. Der Schüler sieht im Lehrer einen Feind, der ihn "aufs Kreuz legen" will. Er hat Angst, angegriffen und ungerecht behandelt zu werden.
Entsprechend seines Erlebnismusters erscheint die Lage des Schülers verzweifelt. Mit dem Rücken zur Wand versucht er sich zu wehren, indem er zum Angriff übergeht. Überleben scheint für ihn zu heißen: kämpfen, siegen oder untergehen.
Es ist offensichtlich, daß die Wahrnehmung des Schülers Scharfe verzerrt ist. Er nimmt beim Lehrer Wesensmerkmale wahr, die nicht oder nur in Ansätzen vorhanden sind. Selbst die Mitschüler erkennen die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung des Schülers und dem tatsächlichen Verhalten des Lehrers. Aus der Klasse kommen Zwischenrufe wie: "Daß du nicht merkst, daß er dir nichts will!" Doch die Rückmeldungen aus der Schulklasse überzeugen Scharfe nicht.
Wie kommt es zu dieser Differenz zwischen der Wahrnehmung des Schülers und der Wirklichkeit des Lehrers? Und warum kann der Lehrer nicht adäquat reagieren? Welche Bedeutung hat diese Auseinandersetzung im Rahmen der Gruppendynamik der Schulklasse?
Es wird deutlich, daß der Schüler Scharfe seinen Lehrer mit einer anderen Person verwechselt. Er überträgt unbewußt Charaktermerkmale eines anderen Menschen auf den Lehrer. Sigmund Freud nannte eine solche Verwechslung "Übertragung". Obwohl die Mitschüler diese Übertragung deutlich spüren, ist es unmöglich, diesen Mechanismus dem Schüler Scharfe bewußt zu machen.
Der Lehrer hat als Junglehrer wenig Erfahrung im Umgang mit "schwierigen Schülern". Er kann die Bedeutung des Übertragungsgeschehens weder verstehen noch entsprechend damit umgehen. Er verfängt sich in widersprüchlichen Verhaltensweisen, versucht, sich beim Schüler kumpelhaft anzubiedern, und stellt sich unbewußt gegen die eigene Lehrerschaft. Er will nicht Lehrer der "alten Schule" sein.
Schwierige Schüler gibt es in allen Schulklassen. Diesen fällt in der Regel unbewußt die Rolle zu, den Lehrer in seiner Persönlichkeit herauszufordern. Diese Herausforderung gehört zum gruppendynamischen Prozeß.
Der Schüler Scharfe ist streitsüchtig, unbelehrbar und gleichzeitig intelligent. Er versucht, mit Hilfe des "formellen Normenkatalogs", der "Allgemeinen Schulordnung", seine eigenen Normen bzw. Wertvorstellungen gegenüber den Verhaltenserwartungen des Lehrers durchzusetzen. Es liegt aber am Lehrer, zu diesem Schüler einen persönlichen Weg zu finden und die Situation in der Klasse zu beruhigen. Der Lehrer muß sich mit seinen Normen durchsetzen, indem er als Vermittler des Lehrstoffes überzeugt und indem es ihm mit seinen charakterlichen bzw. persönlichen Fähigkeiten gelingt, die Interessen der Schule und der Schüler zu vertreten. Hier ist es aber der Schüler Scharfe, der, umgekehrt, dem Lehrer das Verhalten aufzwingt.
Doch folgen wir erst noch dem Bericht des Lehrers:
"In der Folgezeit versuchte Scharfe, durch sein Verhalten während des Unterrichts die Klassenkameraden davon zu überzeugen, daß ich eigentlich nicht derjenige sei, für den sie mich hielten. Er versuchte aufzuzeigen, daß ich hinterhältig sei und nur ab und zu so täte, als ob ich nicht zu dem 'Laden' gehöre, womit er die Institution Schule mitsamt der ihr gesetzlich zugeteilten Autorität meinte.
Von jetzt ab verliefen die Englischstunden in dieser Klasse in gespannter Atmosphäre und waren für mich persönlich nicht mehr so erfrischend wie in der Parallelklasse, in der derselbe Unterricht zügig und erfolgreich voranschritt.
Diese Spannung steigerte sich, als nach einem halben Jahr zwei weitere Schüler, nennen wir sie Kühne und Müller, zu dieser Klasse stießen. Es waren Schüler, die die Abschlußprüfung der BAS nicht geschafft hatten und das letzte der eineinhalb Jahre wiederholen wollten. Kühne war ein persönlicher Freund von Hans Scharfe.
Jetzt kam es noch häufiger vor, daß ein Teil der Unterrichtszeit mit Grundsatzdiskussionen verbracht wurde, die ich im wesentlichen mit Scharfe, unterstützt von seinem Freund Kühne, führte. Thema waren in den meisten Fällen die für die gesamte Klasse unangenehmen Kurzarbeiten. Es wurden Gesetzestexte zitiert. Es wurde in Frage gestellt, ob es sinnvoll sei, bestimmtes Vokabelwissen zu überprüfen. Es wurde angeführt, daß die Benotung dieser Kurzarbeiten für einige Schüler deprimierend sei, da sie immer wieder nachgewiesen bekämen, daß ihre Leistungen nicht ausreichten. Es wurde behauptet, daß ich neue psychologische Methoden ausprobieren wolle, die Unsinn seien, und vieles andere mehr. Bei diesen Diskussionen zwang mich Scharfe durch immer extremere Forderungen und Behauptungen, gegen ihn Stellung zu beziehen. Ich versuchte meinerseits, der Klasse deutlich zu machen, daß Scharfes Argumentation für sie sehr gefährlich sei. Er lieferte nämlich in seinen Diskussionen all denen genügend Material zur Rationalisierung, die in meinem Unterrichtsfach schlechte Leistungen erbrachten. Nicht ihre Leistungen waren schlecht, laut Scharfe, sondern meine unzumutbaren Forderungen an die Schüler. Diese seien schuld an ihren schlechten Noten. Die schwachen Schüler, die das Problem hauptsächlich betraf, waren größtenteils nicht in der Lage, sich an dieser Diskussion adäquat zu beteiligen. Und die guten Schüler schienen mir in erster Linie nicht daran interessiert zu sein, eine solche Diskussion zu führen.
Nur in einem Fall hatte Scharfe offensichtlich Erfolg: Der nach meiner Meinung recht intelligente Schüler Franz Keller schwenkte auf die Seite von Hans Scharfe ein. Das tat mir besonders leid, da ich mich mit Keller im ersten Halbjahr sehr gut verstanden hatte. Keller, so kann man verallgemeinernd sagen, hatte wegen zunehmender Probleme in Mathematik für das Fach Englisch nichts mehr gearbeitet, was natürlich dazu führte, daß seine Leistungen im Laufe der Zeit immer schlechter wurden. Als er zur Zeit der Zwischenzeugnisse zwischen 'befriedigend' und 'ausreichend' stand, gab ich ihm die Note 'ausreichend', um ihm zu signalisieren, daß es ohne Einsatz nicht mehr gehe. Das war, wie ich später erfuhr, der Anlaß für Keller, auf Scharfes Argumentation zu hören und ihm zu folgen.
Damit bildete sich nach und nach in der Klasse eine Gruppe von vier Schülern (Scharfe, Keller, Kühne und Müller), die entschlossen versuchten, den Unterricht zu zersetzen. Auch die Sitzordnung spiegelte die Situation wider. Die vier saßen am Fenster in der hinteren rechten Ecke des Schulzimmers."
Der weitere Verlauf der Fallstudie zeitigt für den Lehrer eine verheerende Entwicklung. Tatsächlich gelingt es Scharfe, weitere Mitschüler um sich zu scharen und eine gegen den Lehrer eingestellte Kerngruppe zu bilden. Gegen diesen Block kann sich der Lehrer nicht mehr durchsetzen. Zwar ist er Träger einer Amtsmacht, die ihm aufgrund von Gesetzen, Regeln, Qualifizierung und Ausführungsbestimmungen zuwächst. Macht ist aber keine Eigenschaft von Systemen oder Strukturen (KÖNIG, 1996). Sie bleibt immer an ein Netz sozialer Beziehungen gebunden und muß sich in diesem Netz manifestieren. Nachdem der Lehrer anfangs noch versuchte, durch Argumente zu überzeugen, mußte er schließlich kapitulieren. Der Lehrer hat den Kampf verloren. Scharfe hat sich zum "gruppendynamischen Leiter" aufgeschwungen und bestimmt, ob der Unterricht geordnet verläuft oder nicht. Von seinem Widerstand bzw. von seiner Zustimmung hängt es jetzt ab, welche Unterrichtsmethoden der Lehrer erfolgreich einsetzen kann.
Da der Schüler im Rahmen der formalen Schulorganisation immer der Schwächere ist, muß Scharfe nun versuchen, seine Macht von Zeit zu Zeit zu testen und zu demonstrieren. Mit Hilfe seiner Kenntnisse über das Schulgesetz fordert er den Lehrer immer neu heraus. Dieses Ränkespiel kann auf Dauer nicht gutgehen, denn schließlich ist es der Lehrer, der die Noten verteilt, die Zeugnisse schreibt und über den weiteren Werdegang mitentscheidet.
Aus diesen Gründen pflegen, wie die Fallstudie weiter zeigen wird, solche Konflikte zu eskalieren:
"Der Unterricht in dieser Klasse wurde immer unerfreulicher. Ich registrierte, daß ich mich massiv bedroht fühlte, wenn ich diese Klasse betrat, daß ich unsicher war, wenn ich Anweisungen gab, speziell an einen der vier Schüler. Als ich darüber hinaus feststellen mußte, daß ich mit meinem Unterrichtsstoff in dieser Klasse immer schlechter vorankam als in der Parallelklasse, brach ich eines Tages eine Diskussion mit Scharfe ab und erklärte, daß ich nicht mehr bereit sei, mich in der Klasse mit ihm auseinanderzusetzen. Wenn er etwas mit mir diskutieren wolle, soll er in der Pause zu mir kommen.
Das geschah nicht! Dafür geschah allerdings etwas, was den Höhepunkt dieser Auseinandersetzung markierte:
Ich wurde, einen Tag nachdem ich mir jede Diskussion verbeten hatte, zum Direktor der Schule gerufen. Dieser eröffnete mir, daß vom Klassensprecher der BAS A Beschwerde über den Englischunterricht eingegangen sei. Insbesondere sei beanstandet worden, daß man im Stoff zu langsam vorwärtskomme und daß im Unterricht Dinge behandelt würden, die nicht im Lehrbuch stünden, so z.B. englische Gedichte, Lieder oder ähnliches.
Direkt nach dieser Unterredung mit dem Direktor hatte ich in der BAS A meine Unterrichtsstunde. Ich stürmte zutiefst entrüstet und wutschnaubend in die Klasse, knallte meine Tasche auf das Pult und fauchte etwas atemlos in die Klasse, daß hier der Spaß ja wohl aufhöre, 'das ist nicht der Stil, in dem ich mit Ihnen geredet habe, und jetzt möchte ich wissen, wer hinter diesen Vorwürfen steht.'
Ich merkte an der Reaktion der Klasse, daß der größte Teil der Schüler gar nicht wußte, warum ich so aufgeregt war. Wie sich herausstellte, war Scharfe zwar als Klassensprecher zur Schulleitung gegangen, er hatte aber versäumt, darauf hinzuweisen, daß er nicht im Namen der Klasse spreche. Aus einzelnen halblauten Bemerkungen war zu spüren, daß die Klasse dieses Vorgehen nicht billigte. Es fand sich jedoch niemand, der sich als Sprecher gegen Scharfe hervortat.
Ich verlangte nach der anschließenden Diskussion, bei der ich Scharfe und seine drei Mitstreiter ausschloß, daß die Klasse bis zur nächsten Stunde schriftlich niederlege, wer an diesem Unterricht etwas auszusetzen habe und wer speziell die Kurzarbeiten nicht mehr schreiben wolle. Das Ergebnis zeigte, daß etwa die Hälfte, durchwegs die besseren Schüler, die Arbeiten weiter schreiben wollte, während die andere Hälfte die Kurzarbeiten abgesetzt haben wollte. Später kam es diesbezüglich zu einer Einigung: Die Kurzarbeiten sollten in größeren Abständen nach vorheriger Ankündigung durchgeführt werden.
Obwohl ich die Klasse mit diesem Vorschlag gezwungen hatte, gegen Scharfe Stellung zu nehmen, änderte sich an der gesamten Situation nichts. Scharfe versuchte noch mehrmals, mit mir eine Diskussion zu beginnen. Dies schnitt ich von vornherein ab. Scharfe beteiligte sich daraufhin nicht mehr am Unterricht, obwohl es ihn offensichtlich stark reizte, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.
Die Störungen nahmen jetzt eine andere Form an. Die vier redeten oft laut und ungeniert miteinander, verließen das Klassenzimmer mehrfach während des Unterrichts. Keller arbeitete demonstrativ nicht mehr mit, beschäftigte sich mit Unterlagen anderer Fächer oder begann ausführlich und langatmig zu frühstücken. Besonders Scharfe und Kühne standen häufig auf und starrten aus dem Fenster hinaus. Scharfe fehlte immer häufiger in der Schule."
Nun hatte es Scharfe beinahe geschafft, die Klassengemeinschaft zu zerstören. Nachdem er drei aktive Mitstreiter um sich zu scharen vermochte, brachte er anhand der Kurzaufgabenfrage fast die Hälfte der Schüler auf seine Seite. Selbst vor der offiziellen Beschwerde scheute er nicht zurück. Erst diese provozierte den Lehrer zu einer empörten Reaktion, was diesem Luft und gewisse Anerkennung brachte. Schließlich war die Situation fürs erste nicht zu retten. Die "Viererbande" genoß Narrenfreiheit. Niemand mehr setzte ihnen Grenzen, niemand konnte die Außenseiter integrieren, der Lehrer reagierte hilflos und ließ die Zügel schleifen.
Es erstaunt nun wenig, daß die verfahrene Situation auch auf andere Unterrichtsfächer abfärbte. Da die Schulklasse gruppendynamisch vollends entgleist war, übertrug sich der Klassenkonflikt auf die ganze Schulsituation:
"Auch andere Kollegen, die in dieser Klasse unterrichteten und mit denen ich diesen Fall diskutierte, beklagten sich über diese Klasse. Die Arbeitshaltung sei miserabel. Scharfe arbeitete z.B. in Mathematik, seinem 'Horrorfach', wie er mir später erklärte, auch nicht mehr mit. Bei all diesen Provokationen blieb es auf meiner Seite bei harmlosen Ermahnungen, die nur kurzzeitig Erfolg hatten oder auf Reaktionen stießen wie: 'Was haben Sie denn, andere Lehrer haben überhaupt nichts dagegen, wenn wir das machen!'
Einmal entdeckte Scharfe, daß ich ihn ca. drei Monate zuvor als fehlend ins Klassenbuch eingetragen hatte. 'Haben Sie das etwa eingetragen? Die eine Stunde, in der sowieso nichts los war! Den Ton von dem vergammelten Film hat sowieso keiner verstanden. Jetzt stinkt's mir, ich geh' ein Weißbier trinken!' Er verließ die Klasse. Als er ging, war ich unsicher. Ich vermerkte sein Verlassen des Unterrichts lediglich im Klassenbuch.
Die Spannungen in der Klasse wuchsen zusehends. Ich fühlte mich unwohl, unsicher und sehr häufig provoziert, zumal ich solche Differenzen mit Schülern seit meiner Ausbildungszeit nicht erlebt hatte. Die Auseinandersetzungen eskalierten, ich wollte den Störenfrieden mit dem Rausschmiß drohen. Aber das, was dabei herauskam, hörte sich etwa so an: 'Wenn Sie am Unterricht nicht interessiert sind, dann verlassen Sie doch die Klasse. Es gibt hier Leute, die was lernen möchten und die sich gestört fühlen!' Scharfes Reaktion auf dieses Angebot: 'Tragen Sie's dann wieder ein, damit wir Schwierigkeiten bekommen? Wenn nicht, dann is' o.k., dann gehen wir!' Ich war wiederum unsicher und sagte, daß ich es mir überlegen würde. Scharfe zu Kühne: 'Also, gehen wir.' Er und Kühne verließen die Klasse …
Ich hatte mich in dieser Zeit sehr genau beobachtet und dabei festgestellt, daß ich beim Unterricht in der BAS A sehr verkrampft war und permanent das Verhalten der vier Störenden im Auge hatte, obwohl diese am Unterricht nicht teilnahmen. Meine Gereiztheit und Unsicherheit nahm ich auch mit in den Unterricht in die anderen Klassen. Auch dort fühlte ich mich jetzt schneller provoziert und bedroht als früher."
Es ist interessant, festzustellen, daß sich nicht nur ein Transfer des destruktiven Verhaltens der vier Schüler bzw. der ganzen Klasse auf Schulstunden bei anderen Lehrern vollzieht, sondern daß sich die Unsicherheit des Lehrers auf seine ganze Unterrichtstätigkeit ausbreitet. Er fühlt sich auch gegenüber anderen Schulklassen, gegenüber den Kollegen und letztlich in seiner ganzen Lebenssituation unsicher, bedroht und provoziert.
Doch kehren wir zurück zur Kernfrage: Warum konnte der Lehrer nicht konfliktadäquat reagieren? Der Schüler Scharfe hat ihn zunehmend aggressiv provoziert, erst durch das Zuspätkommen, dann durch die Diskussionen über die Kurzarbeiten und schließlich durch die Beschwerde beim Direktor. Welche Gründe hatten den Lehrer daran gehindert, sich als Leiter der Klasse durchzusetzen? Der Lehrer nimmt zu dieser Frage wie folgt Stellung:
"Meine Ausbildung für die Lehrbefähigung im Fach Englisch hatte ich während meines Studiums an der Universität erhalten. Sie war weder umfangreich und gründlich noch auf die Praxis ausgerichtet. Außerdem lag die Zeit der Ausbildung bereits fünf Jahre zurück. Das bedeutete, daß meine Kenntnisse in diesem Fach kaum ausreichend waren. In den meisten Fällen war ich meinen Schülern nur um ein bis zwei Kapitel des Lehrbuchs voraus.
Die zweite Schwierigkeit bestand darin, daß ich keinerlei Erfahrungen im Unterricht mit Erwachsenen hatte. Meine Schüler waren 20 bis 26 Jahre alt und stellten verständlicherweise den Anspruch, in der Schule wie Erwachsene behandelt zu werden. Sie sollten selber entscheiden, wieviel Kraft sie in den Unterricht investieren wollten. Auch der Schulbesuch war bei vielen unregelmäßig. Andererseits wurde an mich von seiten der Schulleitung die Forderung gestellt, auf Ordnung und regelmäßigen Schulbesuch zu achten. Der Schulleiter: 'Wir haben hier keinen Unibetrieb!'
Ein weiteres großes Problem waren die unterschiedlichen Vorkenntnisse, die meine Schüler mitbrachten. Es gab solche, die ihre Ausbildung am Gymnasium abgebrochen hatten. Deren Englischkenntnisse reichten ohne weiteres heute schon zum Bestehen der Abschlußprüfung. Auf der anderen Seite waren in meiner Klasse Schüler, die noch nie an einem Englischunterricht teilgenommen hatten."
Diese Gründe mögen sicher schwerwiegend sein. Man spürt aber deutlich, daß sich der Lehrer auf einer rationalen Ebene zu rechtfertigen sucht, ohne tiefere gruppendynamische bzw. gefühlsbezogene Beweggründe zu berücksichtigen. Schließlich erzählte er mir, seinem Freund, seine Geschichte nach einer Sitzung am Institut der Technischen Universität:
"Es war sicherlich kein Zufall, daß ich auf mein Problem zu sprechen kam, als ich mich mit meinem Kollegen (gemeint ist der Verfasser) am pädagogischen Institut der Technischen Universität unterhielt. Dieser befaßte sich seit einiger Zeit mit gruppendynamischen Vorgängen in der Schulklasse. Er war sofort sehr interessiert und bat, meinen Unterricht besuchen zu dürfen.
Ich zögerte zunächst aus zwei Gründen:
Welcher Lehrer gibt schon gerne zu, daß er mit seiner Klasse Schwierigkeiten hat? Und wer möchte darüber hinaus sein Mißgeschick auch noch zur Schau stellen, anstatt eine Klasse vorzuführen, in der der Unterricht Spaß macht?
Vor allen Dingen wurde mir eines schlagartig klar:
Würde ich die Zustände in der BAS A zusammen mit meinem Kollegen analysieren, müßte ich mich meinem persönlichen Problem stellen und könnte mich nicht, wie bisher, damit herausreden, daß der Unterricht mit den anderen Klassen durchaus erfolgreich war.
Ausschlaggebend dafür, daß ich schließlich doch einwilligte, den Konflikt näher zu untersuchen, war die Frage des Kollegen, an wen mich der Schüler Scharfe erinnere. Meine Assoziation war spontan und überraschend. Nur mühsam konnte ich eingestehen, daß mir auf diese Frage sofort mein Vater einfiel. Und das, obwohl äußerlich keine Ähnlichkeit vorlag. Hier, so empfand ich, waren Dinge im Spiel, die ich vermutlich nicht allein lösen konnte.
Ich verabredete mit meinem Kollegen einen Mittwoch nachmittag zum Schulbesuch. Ich war gespannt und bereitete mich innerlich sorgsam auf die Begegnung vor. Als er am nächsten Mittwoch in meinen Unterricht kam, hatte ich bewußt keine besonderen Vorbereitungen getroffen. Lediglich die Tatsache, daß ich vier Schüler mündlich prüfen wollte, weil sie bei der letzten Kurzprobe gefehlt hatten, war bewußt für diesen Besuch geplant. Da unter diesen vier Schülern auch Keller und Kühne waren, versprach die Situation spannend zu werden."
Der Lehrer spürt nun, daß sich die Situation für ihn zuspitzt und daß auch seine persönlichen Probleme tangiert werden. Er ist sich bewußt geworden, daß ihn Scharfe an seinen Vater erinnert. Es handelt sich hier also um eine sogenannte "Gegenübertragung". Der Lehrer projiziert Charaktereigenschaften seines Vaters auf den Schüler und reagiert deshalb unangemessen auf das Agieren des Schülers. Es ist also nicht nur so, daß der Schüler das innere Bild einer anderen Person auf den Lehrer überträgt, sondern auch so, daß der Lehrer, vorerst ohne es zu ahnen, sein eigenes Vaterbild dem Schüler überstülpte. Wir wollen nun verfolgen, wie sich die Fallstudie weiterentwickelt, wobei sich hier die Frage erhebt, wie ein Lehrer mit solchen Übertragungen und Gegenübertragungen umgehen kann:
"Der Kollege berichtete mir anschließend, daß er den Schüler Scharfe beim Betreten des Klassenzimmers sofort erkannt habe. Er notierte u.a.: langhaarig, verbissen, neurotisch, aggressiv …
Ich legte zu Beginn der Stunde eine Folie auf den Tageslichtprojektor, damit die ganze Klasse die Fragen, die ich an die Prüflinge stellte, mitlesen konnte. Ich stellte einen Stuhl neben den Projektor, damit der jeweilige Schüler das Bild gut sehen konnte und ich mich mit ihm zwanglos unterhalten konnte. Da Keller auf meiner Liste ganz oben stand, forderte ich ihn auf, auf diesem Stuhl Platz zu nehmen. Er lehnte sich aber in seinem Stuhl zurück und sagte: 'Ich bleibe hier sitzen.' - 'Nein, bitte nehmen Sie hier Platz, damit ich feststellen kann, ob das, was Sie sagen, auch wirklich Ihr eigenes Gedankengut ist.' - 'Ich tue nur das, was ich einsehe, und ich bleibe hier.' Darauf ging ich zu meinem Pult und schrieb etwas in meine Akten.
Mein Kollege notierte in sein Heft: Keller sucht Hilfestellung bei Scharfe.
Scharfe rief in die Klasse: 'Schreiben Sie etwa eine "Sechs" ins Klassenbuch?' - Ich: 'Herr Keller verweigert eine Leistungsmessung. Sie wissen ja, was das bedeutet.' Scharfe stand auf und begab sich zur Tür. Ich rief ihm nach: 'Laufen Sie nur zum Direktor, Sie wissen ja, wie man das macht!'
Kühne stand als nächster auf der Liste. Als ich ihn aufrief, sagte er: 'Ich kann nicht, ich muß so furchtbar lachen.' Sein Lachen klang gequält und seine Stimme etwas geknickt. Ich: 'Sie wollen sich also auch nicht prüfen lassen?' - 'Ich muß nur so furchtbar lachen,' Kühne blieb auf seinem Stuhl sitzen. Ich schrieb wieder etwas in meine Akten und prüfte anschließend die beiden anderen Schüler, die zwar widerwillig aber doch umgehend den Platz beim Projektor einnahmen.
Der sich anschließende Unterricht lief nach Aufzeichnung meines Kollegen reibungslos fort, da die anderen Schüler relativ willig mitarbeiteten. Er notierte weiter, daß die Spannung in der Klasse sehr groß sei. Sie sei so groß, daß es Scharfe in der Klasse nicht ausgehalten und den Raum nach kurzer Zeit verlassen habe.
Ursprünglich hatte mein Kollege die Absicht, von der Klasse ein 'Soziogramm' zu erstellen. Er stellte aber schnell fest, daß sich dies im Augenblick nicht durchführen ließ. Außerdem meinte er anschließend, daß sich das erübrige, denn die Situation in der Klasse lasse sich allein durch Beobachtung erahnen: 'Die vier widerspenstigen Schüler stehen in der Klasse allein.'
Er bestätigte damit meine Vermutung, die ich in dieser Stunde durch meine Beobachtung gewonnen hatte. Ich hatte mich zeitweise in die Rolle eines Beobachters versetzt und zum ersten Mal darauf geachtet, wie weit die übrigen Schüler das Verhalten der vier 'Störenfriede' unterstützen. Dazu kamen Notizen, die der Kollege über ein Gespräch angefertigt hatte, das er während des Unterrichts mit einer Schülerin führte, die in seiner Nähe saß.
Er schrieb: 'Die Schülerin sagt, daß das Klassenklima schlecht ist und daß sich <die vier dahinten> nicht anpassen wollen. Der Unterricht kommt deswegen nicht richtig vorwärts. Es werden immer die gleichen Probleme diskutiert, und der Lehrer ist zu gutmütig. Bei anderen Lehrern geht es besser. Der Unterricht gefällt sonst allen gut, er arbeitet mit Songs, Gedichten usw. Nur die <vier> haben immer was zu meckern. Er sollte denen nicht soviel durchgehen lassen. Er scheint aber in letzter Zeit etwas strenger zu werden.'"
Es ist offensichtlich, daß sich der Lehrer gegen die vier Schüler nicht mehr durchsetzen kann, obwohl diese in der Klasse isoliert sind. Er kann die wahre gruppendynamische Konstellation nicht realistisch wahrnehmen. Zudem fühlt er sich durch die vier Schüler sehr bedroht. Er überschätzt die destruktive Macht von Scharfe und unterschätzt seine eigenen Möglichkeiten als Lehrer. Diese Verzerrung der Wahrnehmung realer Handlungsmöglichkeiten ist die Folge der Gegenübertragung. Der Lehrer unterstellt dem Schüler Scharfe Handlungskompetenzen, die eigentlich nicht Scharfe, sondern seinem Vater während der eigenen Kindheit zukamen. Diese phantasierte Umkehrung der Machtverhältnisse blockieren die Aktivität des Lehrers und zerstören einen situationsgerechten bzw. konstruktiven Unterricht.
"Nach dieser Unterrichtsstunde redeten mein Kollege und ich mit einem befreundeten Lehrer, der zur Zeit Klassenlehrer der BAS A war. Wir schilderten dem Klassenlehrer die Situation der vergangenen Stunde. Der Kollege fragte ihn anschließend, wie er das Problem mit Keller lösen würde, wobei er vorschlug, den Fall in einem Rollenspiel darzustellen. Der Klassenlehrer spielte den Lehrer, und mein Kollege übernahm die Rolle von Keller: Dabei ging der Klassenlehrer burschikos auf Kollege/Keller zu, packte ihn schwungvoll an den Schultern und zog ihn aus dem Sessel hoch: 'Komm Mensch, stell dich nicht so an, da vorne geht das alles viel besser.' Der Kollege/Keller folgte, wenn auch widerwillig und schimpfend …
Ich gebe zu, daß dieses Vorgehen genau meinem normalen Handeln entsprechen würde, mußte aber eingestehen, daß ich in diesem Fall nicht dazu in der Lage war. Ich erwartete, daß sich Keller einfach vom Stuhl fallen lassen oder aggressiv Widerstand leisten würde. Da ich vom Mißerfolg eines solchen Vorgehens überzeugt war, fühlte ich mich vollständig machtlos.
Mein Kollege gab zu bedenken, daß ich Härte zeigen und mich auf die Amtsautorität verlassen sollte. Gegebenenfalls sollte ich mich mit der Androhung einer 'Verweisung von der Schule' durchsetzen. Ich begegnete diesem Rat spontan mit Ausreden wie: 'Die treiben das so weit, daß sie wirklich von der Schule gehen müssen, nur um zu beweisen, daß ich wirklich dieser widerliche Typ bin, für den sie mich halten. Die nehmen eher die Märtyrerrolle auf sich, als klein beizugeben.' Nach einigem Nachdenken war es mir klar: 'Das kann ich nicht, das ist einfach nicht mein Stil, mich hinter dem Chef der Schule zu verstecken! Das ist unmöglich.'
Während des anschließenden Spazierganges überredete mich mein Kollege zu einem weiteren Rollenspiel. Ich fand auch da keinen überzeugenden Weg, den Störenfrieden mit autoritärer Stärke zu begegnen. Ich versuchte, den Kollegen/Scharfe dadurch aus dem Klassenzimmer zu weisen, indem ich mich neben ihm aufbaute und sagte, der Unterricht gehe nicht weiter, solange Scharfe das Zimmer nicht verlassen habe. Damit versuchte ich vermutlich, die Aufgabe an die
Klasse zu delegieren, Scharfe zu überreden, meinen Anweisungen zu folgen. So wollte ich mein eigenes aggressives Vorgehen vermeiden.
Insgesamt schien der Besuch meines Kollegen von der Universität nicht viel gebracht zu haben. Seinen Empfehlungen konnte ich nicht Folge leisten, die Situation schien mir jetzt noch bedrohlicher als zuvor.
Zwei Dinge waren mir allerdings klargeworden:
1. Ich würde das Problem nur auf meine Art und Weise anpacken können. Ich wollte die Situation mit der Klasse offen besprechen. Die Androhung von Disziplinarmaßnahmen der Schulaufsichtsbehörde lag für mich nicht drin.
2. Die vier Störenfriede waren in der Klasse allein. Der Rest der Schüler stand hinter mir."
Wir verlassen den Bericht des Lehrers an dieser Stelle, denn die Lage scheint ausweglos und festgefahren. Wir wollen uns deshalb die Zeit nehmen, uns Fragen zu stellen und zu überlegen, was wir aus den Fehlern des Lehrers lernen können.
Wir haben z.B. festgestellt, daß sich der Lehrer in der Schulklasse und insbesondere gegenüber einigen Schülern nicht durchsetzen kann. Wir haben auch gesehen, daß das Problem mit oberflächlichen Ratschlägen nicht gelöst werden kann. Wir folgern also, daß Faktoren eine Rolle spielen, die entweder in der Persönlichkeit des Lehrers bzw. der Schüler, in der Geschichte dieser Schule oder im gruppendynamischen Prozeß der Lehrer-Schüler-Interaktion begründet liegen.
Wir haben weiter festgestellt, daß das Verhalten des Lehrers als auch des widerspenstigen Schülers Scharfe durch die persönliche Lebensgeschichte beeinflußt wird. Wir haben aber keinen Weg gefunden, wie das Problem in der Schule bzw. das Verhalten sowohl des Lehrers als auch des Schülers korrigiert werden könnte. Wir wissen auch nicht, wie man als Lehrer mit lösbaren bzw. unlösbaren Konfliktkonstellationen umgehen könnte und warum sich dieser Konflikt gerade in diesem Augenblick in dieser Weise entwickelt hat.
Sind es vielleicht Relikte aus der unbewältigten Vergangenheit der Schulgeschichte, die ihr verheerendes Unwesen treiben, oder sind es gruppendynamische Gesetzmäßigkeiten, über die der Lehrer gestolpert ist? Aber was heißt denn hier eigentlich "gruppendynamisch"? Wo ist in diesem Beispiel das "Gruppendynamische" zu identifizieren?
Einen ersten wichtigen Gesichtspunkt im Hinblick auf die Gruppendynamik können wir schon jetzt herausarbeiten. Wir haben festgestellt, daß der Lehrer durch seine Schüler in einen Machtkampf um "Normen" verwickelt wurde. Ein solcher Machtkampf scheint auf den ersten Blick der Schule wesensfremd zu sein, er hat aber für die Schulklasse als gruppendynamische Gruppe eine große Bedeutung. Er zeigt, daß die Schulklasse nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung und die Lehrer bzw. Lehrerinnen nicht nur Wissensvermittler bzw. -vermittlerinnen sind, sondern daß die Schule als Ganzes ein komplexes, verschachteltes und lebendiges gruppendynamisches Feld darstellt, in dem die Macht des Menschen über Menschen eine große Rolle spielt. Aus dem Konflikt zwischen zwei Menschen ist anfangs ein Konflikt zwischen dem Lehrer und einer kleinen Untergruppe geworden und durch die Einbettung dieser Untergruppe in eine "schweigende" Schulklasse dehnte sich dieser Konflikt aus. Somit ist aus dem individuellen Problem des Lehrers ein gruppendynamisches geworden.
Wir haben weiter festgestellt, daß sich der konkrete Konflikt an der Interpretation der "Normen" bzw. "Verhaltensregeln" entzündete. Der Schüler Scharfe erkämpfte seinen "Sieg" gegen die "Normen" des Lehrers mit dem offiziellen "Normenkatalog" der "Allgemeinen Schulordnung" im Rücken. Anscheinend spielen "Normen", "Werte" oder "Gruppennormen" bzw. deren Definition und Interpretation in Gruppen eine große Rolle.
In solchen gruppendynamischen Feldern nehmen die Lehrpersonen eine wichtige Funktion wahr. Diese läßt sich allgemein als "Leitungsfunktion" umschreiben. Lehrer und Lehrerinnen sind aufgrund ihres Erwachsenseins und im Rahmen ihrer Qualifikation als ErzieherInnen bzw. WissensvermittlerInnen sowohl formale als auch gruppendynamische Leiter bzw. Leiterinnen der Schulklassen. Sie besetzen die formale "Rolle" der Leiterfunktion.
Damit sind wir auf einen neuen Begriff gestoßen, der uns durch das ganze Buch begleiten wird: Jedem Gruppenmitglied wächst in einer Gruppe eine "Rolle" zu, eine "Rolle", die mit spezifischen Funktionen ausgestattet ist und die seinen psychologischen Ort in der Gruppe beschreibt.
Mit diesem Begriff verbinden sich viele Fragen. Wer bestimmt die Rolle eines Menschen in einer Gruppe, und wer definiert ihre Funktionen? Sind die Rollen festgeschrieben, oder lassen sie sich verändern? Wer kürt den Leiter bzw. die Leiterin in einer Gruppe zur zentralen gruppendynamischen Person. Damit stellen
sich gleich neue Fragen: Was bedeutet "gruppendynamischer Leiter"? Welchen Anforderungen muß ein gruppendynamischer Leiter genügen und welche Aufgaben beinhaltet diese Funktion? Beinhaltet dieser Begriff, daß der gruppendynamische Leiter immer im Zentrum stehen muß? Welcher Führungsstil ist effizient bzw. der Führungsaufgabe adäquat?
Alle diese Fragen werde ich in einem späteren Kapitel ausführlich erläutern. Hier soll der Hinweis genügen, daß den Lehrkräften in dieser Funktion eine besondere Verantwortung nicht nur für das Erreichen der Lernziele, sondern auch für ein effizientes Funktionieren der Schulklasse als "gruppendynamische Gruppe" zuwächst.
Weiter haben wir festgestellt, daß die Beziehungen zwischen den Lehrern bzw. Lehrerinnen und den Schülern bzw. Schülerinnen wesentlich von Vorgängen bestimmt werden, z. B. von "Übertragungen" bzw. "Gegenübertragungen", die den beteiligten Personen meistens nicht bewußt sind. Diese Umstände machen es besonders schwer, gruppendynamische Prozesse zu verstehen und deren Wirkungen gegebenenfalls zu korrigieren.
Eine Konfliktsituation, wie ich sie eben geschildert habe, kann trotzdem korrigiert werden, wenn der Lehrer bereit ist, aus der Situation zu lernen und sich zu verändern. Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn wir die Gesetzmäßigkeiten der Gruppendynamik umfassend kennengelernt haben, werde ich die Schilderung der Fallstudie wieder aufnehmen und berichten, wie sich der Lehrer aus der unangenehmen Situation befreien konnte.
Zum Abschluß dieses Kapitels möchte ich auf ein besonderes Charakteristikum gruppendynamischer Konflikte hinweisen: Wir haben die Leiden des Lehrers und die Provokationen der Schüler mitfühlend miterlebt. Wir haben die Emotionen gespürt, den Haß von Scharfe, die Angst der Mitstreiter, den Unwillen der Mitschüler und den verzweifelten Wutausbruch des Lehrers. Nicht nur hier, sondern in allen unseren Beispielen werden wir bestätigt finden, daß gruppendynamische Veränderungen starke Gefühlsreaktionen mit sich bringen.
Schulprobleme müssen aber nicht immer die Folge von persönlichen Schwierigkeiten sowohl der LehrerInnen als auch der SchülerInnen sein. Oft sind es z.B. schulstrukturelle Bedingungen, die die Gruppendynamik der Klassen positiv oder negativ beeinflussen. Damit begegnen wir einem neuen gruppendynamischen Begriff, dem ich ein eigenes Kapitel widmen möchte: