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1.2Die innere Struktur von Gruppen
ОглавлениеNachdem wir im Rahmen unserer ersten Fallstudie bereits die Begriffe "Gruppendynamik", "Gruppennorm", "Gruppenrolle", "Leitungsfunktion" und "Übertragung" kennengelernt haben, werden wir in diesem Kapitel einen neuen und wichtigen Begriff einführen: Gruppen-"Dynamik" bedeutet ja, daß sich in der Gruppe etwas "bewegt" bzw. verändert. Die Bewegungen vollziehen sich in der Regel zwischen einem "Zustand A" und einem "Zustand B". Aber was verändert sich zwischen den beiden Zuständen tatsächlich? Ich meine, daß sich diese Veränderung am besten durch die Veränderung der inneren "Strukturen" der Gruppe charakterisieren läßt.
Die Schulklassen werden anfänglich nach äußeren Kriterien wie Wohnort, Alter, Geschlecht, Berufsrichtung usw. zusammengestellt. Diese äußeren Kriterien induzieren eine "formelle" Struktur der Klasse.
Vom Beginn der Schulzeit an sitzen die SchülerInnen aber in denselben Räumen zusammen, werden von den gleichen LehrerInnen unterrichtet, haben gleichzeitig Pausen und verlassen nach Schulschluß gleichzeitig das Schulhaus. Durch die Interaktionen, die während dieser Gleichzeitigkeit entstehen, entwickeln und vertiefen sich die Beziehungen untereinander. Die Schüler bzw. Schülerinnen lernen sich im Rahmen dieser gruppeninternen Kommunikation besser kennen, sie setzen sich miteinander auseinander, entwickeln zueinander Gefühle, nehmen untereinander Beziehungen auf, finden Vertrauen und bilden Untergruppen. Diese Interaktionen führen zu einer zunehmenden Differenzierung der wachsenden "informellen" gruppendynamischen (Beziehungs-)Strukturen. Diese lassen sich als typische "Muster", "Konstellationen", "Felder", "Netzwerke", "Pläne", "Algorithmen", "Handlungstendenzen" usw. beschreiben, wobei die ersteren eher komplexe, mehrdimensionale Verknüpfungen und die letzteren, z.B. die Algorithmen, eindimensionale, immer wiederkehrende schematische Folgen darstellen.
Neben den relativ einfachen "formellen" Strukturen einer Schulklasse bilden sich also nach und nach komplexe "informelle" gruppendynamische Strukturen, die sich in der Regel beträchtlich von den ersteren unterscheiden.
Man kann nun mehrere Formen "informeller" gruppendynamischer Strukturen und vielfältige strukturbildende Parameter unterscheiden, die sich unterschiedlich auf das Klassenklima, auf den Unterrichtsverlauf und auf den Unterrichtserfolg auswirken. Neben den Beziehungsstrukturen sind es z.B. Sprachstrukturen, Wertstrukturen, Lernstrukturen, Kommunikationsstrukturen, Denkstrukturen, Gefühlsstrukturen usw., die in der Schule verhaltenswirksam sein können.
Es gibt Schulklassen, die sich dabei trotz der heterogenen Zusammensetzung zu einem einheitlichen bzw. homogenen gruppendynamischen Ganzen zusammenfinden (Abbildung 1). Diese Klassen haben in der Regel einen bzw. zwei Schüler als sog. "Zentrale Figuren" bzw. als "gruppendynamische Leiter bzw. Leiterinnen" organisiert. Die "informelle Rolle" der Zentralen Figur (Alpha) bekleidet nicht selten die "formelle Rolle" des Klassensprechers. In diesem Falle decken sich die "formelle" und "informelle" Führungsrolle.
Abbildung 1: Homogene geschlossene Klassenstruktur
Die Schüler, die die Nebenrollen ausfüllen, ordnen sich in der Regel freiwillig der "Zentralen Person" unter. Die "Zentrale Person" zeichnet sich meist durch besondere Fähigkeiten aus, die sie zum Leiter bzw. zur Leiterin prädestinieren.
Die Leitungsfunktion kann sich hin und wieder auf zwei Schüler aufteilen. Die eine Person verkörpert dann mehr den "Beliebtheitspol", die andere den "Leistungspol". Dieses sogenannte "Führungsdual" (HOFSTÄTTER, 1957) muß die Einheit der Klasse nicht gefährden. Im Gegenteil, die Sozialstruktur der Klasse ist dann besonders stabil, wenn die beiden Leiter bzw. Leiterinnen gleichzeitig Freunde bzw. Freundinnen sind (Abbildung 2).
Abbildung 2: Heterogene geschlossene Klassenstruktur
Wenn sich in einer Schulklasse die beiden dominierenden Schüler aber gegenseitig ablehnen, zerfällt die Klasse in zwei Untergruppen. Die beiden Fraktionen stehen sich dann rivalisierend gegenüber (Abbildung 3). Das Resultat einer solchen Spaltung sind dann starke Spannungen, die sich negativ auf das Klassenklima und den Unterricht auswirken können.
Abbildung 3: Gespaltene Klassenstruktur
Die Spaltung ist meist die Folge einer nicht überbrückbaren Heterogenität in der Klasse. Die Trennungslinie kann zwischen den Geschlechtern, zwischen SchülerInnen mit unterschiedlichen Berufszielen, zwischen Sprachgruppen, zwischen SchülerInnen unterschiedlicher Intelligenz oder Vorbildung verlaufen.
Wenn sich in einer Schulklasse keine "Zentrale Figur" herausbildet, zerfällt die Klasse in mehrere Untergruppen, die miteinander rivalisierend um Macht und Einfluß ringen (Abbildung 4).
Abbildung 4: Zersplitterte Klassenstruktur
Jede Untergruppe kämpft mit jeder anderen Gruppe um die Macht. Diese Konstellation hat in der Regel unüberbrückbare Spannungen zur Folge. Diese können weder aufgefangen noch ausgetragen werden. Aus diesen Gründen führt die Zersplitterung einer Klasse nicht selten zur Herausbildung von "Sündenböcken" (Omega-Position). Erst diese Strategie, die zum Beiseitedrängen immer neuer sich anbietender "Sündenböcke" führt, reduziert die Spannungen auf ein erträgliches Maß. Wenigstens in der Ablehnung eines Außenseiters ist man sich einig.
Im Gegensatz zu homogenen bzw. gespaltenen Klassen kann sich in zersplitterten Gruppen kein einheitlicher "Normenkodex" herauskristallisieren. Integrierende Verhaltensmuster sind nur rudimentär vorhanden.
Es stellt sich nun die interessante Frage, wie sich eine bestimmte Klassenstruktur auf den Unterricht konkret auswirkt. Gibt es überhaupt einen handlungsrelevanten Einfluß, der sich in der Klasse beobachten läßt? Schlägt sich die Zersplitterung einer Klasse tatsächlich in den Schulleistungen nieder?