Читать книгу Vor Dem Fall - L.G. Castillo, L. G. Castillo - Страница 6
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ОглавлениеAls sie sich der Ansammlung von Zelten näherten, fiel Raphael eine junge Frau ins Auge, die sich damit abmühte, einen großen Topf über ein Feuer zu stellen. Ein kleiner Junge mit dichtem, dunklen Haar hing an ihrem Bein und erschwerte ihr die Arbeit. Sie trug ein langes Gewand, das zwar sauber war, aber kleine Risse aufwies, die eigentlich geflickt werden mussten. Sie trug einen Schleier, den sie um ihren Hals und über die untere Hälfte ihres Gesichts geschlungen hatte. Lebhafte braune Augen lugten über dem Schleier hervor. Als sie sich bewegte, rutschen die Ärmel ihres Gewandes nach oben und enthüllten die Geschwüre auf ihren Armen.
»Warte, ich helfe dir«, sagte Raphael und eilte zu ihr, um ihr zu helfen.
»Danke, guter Mann.«
»Du kannst mich Raphael nennen«, sagte er und stellte den Topf über das Feuer.
»Ich bin Miriam. Bitte glaub nicht, dass ich für deine Hilfe nicht dankbar wäre, aber du musst sofort von hier weg.« Sie sah ihn und Raguel an. »Wisst ihr nicht, was das für ein Ort ist?«
Raphael warf einen Blick auf den kleinen Jungen. »Doch, das wissen wir. Wir sind hier, um euch zu helfen und euch Trost zu spenden.«
»Welchen Trost könnt ihr schon spenden? Man wird euch auch ausstoßen wie uns andere, wenn die Menschen von Ai euch hier sehen.«
»Wir bringen euch die Botschaft, Seine Botschaft, dass ihr geliebt werdet und nicht verlassen seid.«
Miriam sah ihn traurig an. »Das ist schwer zu glauben, wenn alle sich von uns abwenden und es keine Rolle spielt, dass wir nichts Böses getan haben.« Sie schlang die Arme um ihren Sohn.
Raphael streckte die Hand aus. Bei seiner Berührung keuchte sie auf. Ein Ausdruck des Friedens breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Alle sind Seine Kinder. Hab Vertrauen.«
»Danke«, flüsterte sie.
»Und wer ist der stramme junge Mann, der sich an dich klammert?« Raphael lächelte dem kleinen Jungen zu. Große braune Augen lugten hinter Miriams Rock hervor.
»Das ist mein Sohn, Ethan.«
Rapahel hockte sich hin, so dass er sich auf einer Augenhöhe mit dem Jungen befand. »Hallo, Ethan.«
Ethan versteckte sein Gesicht erneut hinter dem Rock seiner Mutter.
»Ethan!«, rief die Frau aufgebracht. »Vergib meinem Sohn. Er ist sonst nicht so. Erst seitdem uns befohlen wurde, die Stadt zu verlassen, ist er Fremden gegenüber ängstlich.«
Raphael nickte. Bevor er und Raguel den Himmel verlassen hatten, hatte Michael ihnen gezeigt, wie die Kranken aus ihren Häusern getrieben und zu den Toren der Stadt hinausgejagt wurden.
»Meine Begleiterin und ich haben gehört, was geschehen ist. Wir sind für kurze Zeit hier, um euch alle Hilfe zu bringen, die wir geben können. Gibt es etwas, das wir für dich tun können?«
Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ja, das gibt es. Ich kann das Getreide schneller mahlen, wenn Ethan mir nicht am Rockzipfel hängt.«
»Ich glaube, ich kann einen Weg finden, ihn zu beschäftigen«, erwiderte er. Er sah hinab auf die Geschwüre an den Armen des Jungen. Er fragte sich, wo Ethans Vater war. Aber er fragte nicht laut danach. Er vermutete, dass der Vater seine Frau und seinen eigenen Sohn verstoßen hatte. Wie konnte jemand ein Mitglied seiner Familie verstoßen?
»Ethan, möchtest du eine Geschichte hören?« Er streckte dem Jungen seine Hand entgegen. »Es ist die Geschichte von einem Jungen, der von einem freundlichen, gutaussehenden Fremden geheilt wurde.«
Es war Raphael nur aufgetragen worden, den Ausgestoßenen Trost zu spenden. Es war schwer, die Menschen leiden zu sehen und nicht die Erlaubnis zu haben, sie zu heilen.
Ethan lugte vorsichtig hinter dem Rock seiner Mutter hervor. Seine Augen waren von dichten Wimpern umrahmt. Er blickte auf Raphaels ausgestreckte Hand. Dann sah er zu seiner Mutter auf.
»Na, geh schon. Ich bin gleich da drüben.« Sie deute auf zwei Mahlsteine in der Nähe. »Und wenn du brav bist, kannst du nachher beim Essen ein paar Datteln haben.«
Ethans Augen leuchteten auf. »Ja, Mutter.« Dann ergriff er Raphaels Hand.
»Danke«, wandte sich Miriam an Raphael und eilte zu den Steinen hinüber. »Ich werde nicht lange brauchen.«
»Raphael«, flüsterte Raguel, als sie zusah, wie die Frau sich über die Steine kauerte und einen von ihnen auf dem anderen bewegte. Sie rieb ihn vor und zurück erhielt so eine Art Pulver. »Was macht sie da?«
»Sie mahlt das Korn zu Mehl.« Raphael führte Ethan zur Vorderseite eines kleinen Zeltes. »Ist das eures?«, fragte er den Jungen.
Ethan nickte.
Raphael ließ sich nieder und zog den Jungen auf seinen Schoß. Er berührte den Arm des Jungen und zuckte zusammen beim Anblick der rundlichen Hände, die von der Krankheit gezeichnet waren. Der arme Junge. Jemand, der so schön und so unschuldig war wie dieser Kleine sollte nicht mit einem solchen Gebrechen leben müssen.
Der Junge sah ihn ehrfürchtig an und Raphaels Herz schmolz dahin. Er wusste, dass er Ethan heilen konnte. Er war vor kurzem zum Erzengel des Heilens befördert worden. Ihm war die Gabe des Heilens verliehen worden und er konnte die Krankheit mühelos von dem Jungen nehmen. Er war sich sicher, das ihm vergeben werden würde, wenn er es tat. Das Kind war zu klein, um so zu leiden.
»Halt still, Ethan«, sagte er und strich mit einer Hand über Ethans Arm.
»Was machst du da?«, fragte Raguel in überraschtem Flüsterton.
»Ich heile ihn.«
»Das verstößt gegen Michaels Anordnungen!«
Raphael hielt inne und sah zu Raguel auf. Sie hatte recht. So gern er Ethan auch helfen wollte, er würde bei Raguels erstem Auftrag kein gutes Beispiel abgeben.
Er seufzte und ließ die Hand sinken. »Ja. Wir sind hier, um Trost zu spenden und Worte des Glaubens zu den Menschen hier zu bringen.« Er tätschelte Ethans Arm.
»Ich bin mir nicht sicher, wie.« Ihr Gesicht hatte einen besorgten Ausdruck angenommen.
Raphael sah sich um und sah die Menschen vor den umliegenden Zelten. Sein Blick fiel auf einen alten Mann, dessen Haut vom nachlassenden Licht der Sonne beschienen wurde. Neben ihm befand sich ein Wasserschlauch aus Ziegenleder. »Dort drüben.« Er deutete auf den alten Mann. »Biete ihm an, ihm etwas Wasser vom Bach zu holen. Der Schlauch sieht leer aus.«
Raphael sah Raguel interessiert zu. Er erinnerte sich an das erste Mal, als er mit einem Menschen in Kontakt gekommen war. Sie hatten so viele Empfindungen, Leidenschaften, die oft ins Extrem gehen konnten: Glück, Kummer, Wut, Liebe. Sie waren erfüllt vom Strahlen einer Energie, die tief in ihrer Seele ruhte. Engel unterschieden sich nicht so sehr von Menschen. Aber er hatte das Gefühl, dass die Engel ihre Empfindungen in Schach hielten. Es schien fast, als hätten sie Angst, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen und nicht ganz vollkommen zu erscheinen.
Als er zum ersten Mal einen Menschen berührt hatte, hatte er sofort eine Verbindung gespürt. In diesem Augenblick war ihm auch klargeworden, dass Menschen ihn für ein göttliches Wesen hielten. Das Interessante daran war, dass er ihnen gegenüber dasselbe empfunden hatte. Er sehnte sich danach, anderen von seiner Erfahrung zu erzählen. Er war sich nicht sicher, ob die anderen Engel es verstehen würden. Selbst sein guter Freund Luzifer hielt es für Unsinn und riet ihm davon ab, den anderen Engeln davon zu erzählen.
»Guter Mann«, hörte Raphael Raguel zu dem alten Mann sagen. »Ich werde dir Wasser vom Bach holen.«
Der Alte hob den Kopf. Seine Lippen begannen zu zittern, als sich sein Blick auf Raguel richtete. »Rachel?«
Raguel sah verwirrt zu Raphael hinüber.
Er zuckte mit den Schultern.
»Mein Name ist Raguel«, wandte sie sich an den alten Mann.
»Du siehst aus wie Rachel.«
»Wer ist Rachel?«
»Es ist der Name meiner Tochter. Ich habe dich für sie gehalten. Ich dachte, der Herr hätte meine Gebete erhört und sie zu mir zurückgeschickt. Sie war zu jung, um von mir genommen zu werden.« Seine Hand zitterte, als er sie nach ihr ausstreckte.
»Du siehst genauso aus wie sie, so wunderschön.« Er hielt inne, bevor seine Hand ihre Wange erreichte und zog sie zurück. »Genauso wie sie.«
Rachel kniete sich vor ihm hin. »Was ist deiner Tochter zugestoßen?«
»Sie haben mich verfolgt, als ich mit Lepra geschlagen wurde. Die Soldaten befahlen mir, zu verschwinden und ich war bereit zu gehen. Ich habe mein Leben gelebt. Aber Rachel – sie wollte mich nicht gehen lassen. Sie flehte die Soldaten an, mich zu verschonen und als sie es nicht taten, hielt sie einen der Soldaten fest und er… er hat sie mit seinem Schwert erschlagen.«
Raphael hörte, wie sie ein leises Schluchzen ausstieß. Er beobachtete sie, als sie ihre Hand dem alten Mann entgegenstreckte. Sie hielt inne und warf Raphael einen Blick zu.
Er nickte ermutigend. »Nur zu«, flüsterte er.
Sie schluckte und legte ihre makellose Hand auf seine faltige.
Raphael lächelte angesichts ihres Gesichtsausdrucks und wusste, dass sie es fühlte – die bedingungslose Liebe zu Seinem herrlichsten Geschöpf. Wie konnte man es nicht spüren? Er wusste, wenn die anderen Engel nur erst Kontakt mit Menschen hätten, wären sie in der Lage zu spüren, was er gefühlt hatte. Vielleicht war es das, was Luzifer brauchte. Wenn er unter ihnen wandelte und sie kennenlernte, wäre er sicher in der Lage, Liebe zu ihnen zu entwickeln. Vielleicht würde er nach seiner Rückkehr mit Michael darüber sprechen.
»Du erinnerst mich an sie«, fuhr der alte Mann fort. »Ragu – was hast du gesagt, wie war dein Name?«
»Du kannst mich Rachel nennen. Es wäre mir eine Ehre, den Namen einer so furchtlosen Frau zu tragen, wie deine Tochter es war.« Sie warf Raphael einen Blick zu. »Von jetzt an bin ich Rachel.«
Er nickte ihr zu. Es überraschte ihn nicht, dass Raguel… Rachel dazu bereit war, so etwas zu tun. Sie liebte innig. Sie war ein junger Engel und in vielerlei Hinsicht unerfahren, wenn es darum ging wie Himmel und Erde funktionierten. Sie war das Gegenteil von Uriel, der nur an sich selbst dachte. Wenn Uriel wüsste, wie sehr er ihr am Herzen lag, könnte ihr das gefährlich werden. Raphael hoffte um Rachels willen, dass Uriel nie von ihren Gefühlen für ihn erfuhr.
»Also, Ethan. Wie sieht es aus mit der Geschichte?« Er wollte gerade beginnen, als er in einiger Entfernung den Lärm wütender Stimmen vernahm. Er sah in die Richtung, in der Ai lag und sah eine Schar von Leuten in der Nähe des Stadttors, die in ihre Richtung marschierten.
Raphael erhob sich und nahm Ethan auf den Arm. Der Mob, der sich ihnen näherte, schien aus Männern der Stadt zu bestehen. Die meisten von ihnen trugen bunte Umhänge über ihren Gewändern – etwas, das sich nur die Reichen leisten konnten. Er nutzte seine Gabe des verbesserten Sehvermögens und konnte die Angst hinter der Wut in ihren Blicken erkennen. Es war verständlich, dass sie Angst hatten, dass sich die Krankheit in der Stadt ausbreiten könnte. Genau diese Angst war es, die auch den gottesfürchtigsten aller Männer gegen seinen Bruder wenden konnte.
Raphael sah zu den Menschen der Zeltgemeinschaft. Sie waren schon einmal aus ihrem Zuhause vertrieben worden. Wohin sonst sollten sie sich wenden?
Wenn man ihre Ängste zerstreuen konnte, war er sich sicher, dass die Menschen in Ai ihre Mitbürger wieder bei sich willkommen heißen würden. Alles, was er tun musste, war, sie zu beruhigen. Er traute sich zu, dass er das schaffen konnte. Er musste nur mit ihnen sprechen.
Dann fiel ihm mitten im Mob ein Schimmern auf – dann ein weiteres, und noch eines.
Die Menge teilte sich und machte den Soldaten Platz, deren Schwerter im Licht der Sonne glänzten. Raphael sank der Mut. Er wusste, dass die Soldaten der Vernunft kein Gehör schenken würden.
Er setzte Ethan ab. »Lauf in dein Zelt, Kleiner«, trug er ihm auf. »Bleib drinnen. Deine Mutter wird gleich zu dir kommen.« Dann, als Ethan im Zelt verschwunden war, rief er: »Miriam, komm schnell!«
»Was ist los?« Miriam wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn.
»Geh zu Ethan. Kommt nicht heraus, bis ich euch sage, dass es sicher ist.«
»Warum? Was ist – «
Miriams Hand flog an ihren Hals und ihre Augen weiteten sich. »Nein«, keuchte sie.
Raphael berührte sie am Arm. »Miriam?«
»Die anderen! Wir müssen die anderen warnen.« Sie riss sich von Raphael los. Ihr Gewand bauschte sich hinter ihr, als sie zu den anderen Zelten stürzte. »Rahab, Bithia! Sie kommen! Die Soldaten kommen!«
Raphael wollte ihr nacheilen, als dutzende von Menschen durch die Zeltgemeinschaft zu stürzten und ihre Habseligkeiten an sich zu reißen begannen. Er sah zurück zum Zelt, in dem Ethan wartete. Er konnte ihn nicht allein lassen.
Voller Trauer sah er die Angst in den Gesichtern der Menschen. Viele von denen, die dazu in der Lage waren, liefen auf das Tal zu und verschwanden in den Hügeln. Die anderen, zumeist Frauen mit ihren Kindern und die, die alt oder sehr krank waren, blieben hilflos sitzen. Er hörte ihre flehenden Stimmen.
»Wir haben nichts getan.«
»Wohin sollen wir denn gehen?«
»Wir sind von Gott verlassen. Gott hat uns alle verlassen!«
Miriam bahnte sich ihren Weg durch die Menge und eilte auf den alten Mann zu. »Obadiah, komm mit mir.«
»Was ist los?«, fragte Rachel.
»Die Soldaten. Sie sind auf dem Weg hierher. Du und Raphael, ihr müsst verschwinden.«
Rachel sah Raphael mit einer Frage im Blick an, auf die er nicht antworten wollte. Wenn die Männer hier waren, um die Zeltgemeinschaft zu zerschlagen und mit ihr die Menschen, die in ihr lebten, gab es nichts, was sie tun konnten. Genauer gesagt, sie hatten nicht die Erlaubnis irgendetwas zu tun, was über das hinausging, das ihnen aufgetragen worden war. Sie konnten nicht eingreifen. Rachel wollte das Unvorstellbare verhindern.
Als er den Kopf schüttelte, schoss ihr Blick zu dem Zelt, in dem sich Ethan versteckte, und dann zu Obadiah. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht.
»Nein«, formten ihre Lippen.
Ein lautes Ächzen erklang und eine verwitterte Hand streckte sich Rachel entgegen, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.
»Rachel, gib mir meinen Stab«, bat Obadiah.
»Was hast du vor?« Sie keuchte auf, als er sein Gewicht verlagerte und Anstalten machte, sich zu erheben. Sie eilte zur Zeltöffnung und ergriff einen langen, dunklen Stab. Dann eilte sie wieder zu ihm und reichte ihn ihm.
An seinen knochigen Armen traten die Muskeln hervor, als er sich hochzog. Als er stand, zitterten ihm die Beine. »Ich werde den Soldaten entgegengehen. Bring Ethan und die anderen von hier weg.«
Rachel blieb der Mund offen stehen, als sie zusah, wie Obadiah von ihr fortschlurfte.
»Nein, bitte tu das nicht«, bat sie und ging ihm nach.
Obadiah ging weiter. Seine Füße wirbelten Staub auf, als er durch den Sand schlurfte. »Beeil dich, Frau. Ich kann sie nur für kurze Zeit aufhalten.«
»Ich werde mit dir gehen«, beharrte Rachel.
Obadiah hielt an. Er sah zurück zu Raphael, dann wandte er sich ihr zu. Seine Hand zitterte, als er sie ausstreckte, um sie an der Wange zu berühren. »Ich habe viele Jahre gelebt. Ich habe dem Allmächtigen treu gedient, selbst als ich aus meinem eigenen Haus verstoßen wurde… selbst, als meine Tochter erschlagen wurde. Jetzt, am letzten Tag meines Lebens, hat Er dich und deinen Begleiter geschickt. Ich hätte nie geglaubt, dass ich bei meinem letzten Atemzug einen Engel berühren würde, eine Tochter des Allerhöchsten.«
Rachel schnappte nach Luft und blinzelte. »Ich… ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
Obadiah schenkte ihr ein wissendes Lächeln. »Geh und hilf den anderen, Rachel. Vielleicht begegnen wir uns eines Tages wieder.«