Читать книгу Lash (Gefallener Engel 1) - L.G. Castillo, L. G. Castillo - Страница 6

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Naomi warf den letzten Müllsack in die Tonne und setzte sich ihrem Vater gegenüber auf die Vordertreppe. Er spielte mit einer roten Marke, seinem Einen-Monat-nüchtern-Abzeichen und ließ es zwischen seinen Fingern kreisen. Sie lehnte sich gegen das Geländer und sah hinauf zu den Sternen am wolkenlosen Himmel. Sie saßen in einvernehmlichem Schweigen, keiner von ihnen wollte die außergewöhnlich friedliche Stille der Nacht stören. Normal waren das ferne Krachen von Schüssen und das Heulen von Sirenen. Obwohl Naomi nur wenige Meilen entfernt wohnte, machte sie sich Sorgen, weil ihre Großmutter und Chuy in einer so gefährlichen Gegend lebten.

»Hat es dir gefallen, Mijita?«, fragte Javier.

»Es war großartig, Dad.« Naomi warf einen Seitenblick auf die braune Flasche, die er hielt.

»Das ist Limo«, sagte er als Antwort auf ihren Gesichtsausdruck. »Ich weiß, dass du Angst hast, ich könnte wieder zu trinken anfangen. Du hast mein Wort darauf, dass ich das nicht tun werde.«

»Bist noch in Kontakt mit deinem Sponsor?«

»Jeden Tag.«

»Gut.«

Ihr Vater blieb einen Moment lang still. Er verlagerte das Gewicht, bevor er sprach. »Es gibt etwas, das ich dir geben möchte.«

»Dad– «

»Bevor du nein sagst, lass es mich erklären.« Er klopfte auf die freie Stelle neben ihm. »Komm her.«

»Aber– «

»Bitte, das hier ist wichtig.«

Sie rutschte über die Stufe heran und Unbehagen überkam sie, als sie darauf wartete, dass ihr Vater zu sprechen anfing. Das letzte Mal, als er so ein Gesicht gemacht hatte wie jetzt, war, als er ihr hatte sagen müssen, dass ihre Mutter gestorben war.

Er griff in seine Tasche und zog ein filigranes Silberkettchen hervor. Als er es im Verandalicht baumeln ließ, strahlten blaue und weiße Lichtblitze von den winzigen Diamanten ab, die das Kreuz säumten. Die Halskette ihrer Mutter. Tränen verschleierten ihren Blick, als sie sich erinnerte, wie sie auf dem Krankenhausbett gesessen hatte, ihre Mutter blass vor Schmerzen, mit dunklen Ringen unter den Augen und hohlen Wangen. Immer, wenn sie das Kettchen mit dem Finger nachgezogen hatte, hatte Frieden in ihren Augen geleuchtet. Ihr Glaube war so stark gewesen; es war etwas, von dem Naomi wünschte, sie hätte es auch.

Sie ließ ihre Finger über den Anhänger gleiten und fühlte die kalte Berührung des Silbers. Seitdem ihre Mutter gestorben war, hatte ihr Vater das Kettchen in einem kleinen Samtbeutelchen aufbewahrt, das er immer bei sich trug. »Das kann ich nicht annehmen.«

»Es ist deins«, sagte er. Seine Stimme klang laut in der stillen Nacht, obwohl er flüsterte.

Naomi ließ ihre Hand herabfallen. »Sie gehört dir.«

Er hob ihre Hand auf und drehte sie um. Er ließ die Kette in ihre Handfläche fallen und starrte einen Moment lang darauf. »Nein, sie gehört dir.«

»Dad, ich –«

»Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?«

»Schon, aber –«

»Ich fühle mich besser, wenn ich weiß, dass du sie hast. Du bist erwachsen und hast ein ganzes Leben vor dir. Jetzt musst du losziehen. Jemand Besonderen treffen. Wann bist du das letzte Mal auf einem Date gewesen?«

Naomi schnitt eine Grimasse. Es war etwas daran gewesen, ihren Vater die Liebe seines Lebens verlieren zu sehen, das das Daten in neues Licht gerückt hatte. Sie dachte an all die Jungen, mit denen sie ausgegangen war. Sie konnte sich an niemanden erinnern, für den sie so tief empfunden hätte wie ihre Eltern für einander.

»Ich bin nicht am Daten interessiert, zumindest jetzt nicht.«

Javier schüttelte den Kopf. »Schotte dich nicht vor der Liebe ab, Mijita. Wenn die Zeit reif ist, wird der Richtige dich finden. Alles, was du brauchst, ist Vertrauen.« Er nahm ihr das Kettchen aus der Hand und befestigte es um ihren Hals.

Naomi sah ihm aufmerksam ins Gesicht und fragte sich, weshalb er sich so merkwürdig verhielt. Er schien ihr noch mehr sagen zu wollen und sie wartete stumm ab in der Hoffnung, dass er fortfahren würde. Stattdessen seufzte er und stand auf.

»Wohin gehst du?«, fragte sie, überrascht, dass er jetzt los wollte.

»Zur Arbeit.« Er nahm den Autoschlüssel aus der Tasche. »Ich putze heute Nacht Büros.«

»Du hast zwei Teilzeitjobs?«

»Ich muss viele Rechnungen nachzahlen. Sieh mich nicht so an.« Er tippte ihr auf die gerunzelte Stirn. »Du kriegst noch Falten, bevor du dreißig bist.«

»Jetzt, wo es dir besser geht, könntest du vielleicht an einen IT-Job kommen.« Sie wandte den Blick ab, wohlwissend, dass selbst sein Abschluss in Computer Science die mehrfachen Verwarnungen seiner früheren Arbeitgeber nicht auslöschen konnte. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass in einer Großstadt wie Houston jemand ihm eine neue Chance geben würde und dass er einen Job fand, bevor die Welt der Technologie sich bereits viel weiter entwickelt hatte.

»Vielleicht.« Javier drehte den Schlüssel im Motor und die Lichter, die einen Kreis um den Mustang herum formten, erwachten blinkend zum Leben.

»Du und Chuy, ihr habt das wirklich gut hingekriegt.« Naomi trat zurück, um eine bessere Sicht zu haben. »Er ist wirklich cool. Ihr zwei solltet zusammen eine Firma aufmachen.«

»Das ist keine schlechte Idee. Obwohl, wie ich Chuy kenne, würde er die ganzen Gewinne verfressen.« Er legte den Rückwärtsgang ein. »Bis morgen. Vergiss nicht, deinen Helm aufzusetzen.«

»Mach ich doch immer.« Sie winkte.

Er war schon halb die Straße hinuntergefahren, als sie aus heiterem Himmel heraus das Bedürfnis hatte, ihm nachzulaufen. Sie schüttelte den Kopf schalt sich selbst für diesen Unsinn.

Ich sehe ihn morgen. Sie startete das Motorrad und fuhr in die entgegengesetzte Richtung davon.


Jane Sutherland lehnte sich an das Waschbecken und streifte ihre Jimmy Choos ab. Nach fünf Stunden voller Gespräche und Kontakteknüpfen mit den Reichen Houstons und den führenden Größen von Texas Oil schrien ihre Füße vor Schmerz. Sie wackelte mit den Zehen, während der Boden ihre gequälten Füße kühlte. Viel besser, dachte sie. Wenn sie doch bloß barfuß zu formellen Veranstaltungen gehen könnte, das würde sie um einiges erfreulicher machen.

Sie sah in den Spiegel und trug eine neue Schicht rubinroten Lippenstift auf. Ihr platinumblondes Haar, das zu einem Dutt aufgesteckt war, betonte ihre großen saphirfarbenen Augen. Siebenundvierzig Jahre, in denen sie die Sonne vermieden hatte – sie bekam leicht einen Sonnenbrand – hatten ihr Gesicht blass und faltenlos gelassen.

Es kopfte an der Tür. »Senatorin Sutherland? Mr. Prescott hat einen Gast, den er Ihnen gern vorstellen würde.«

»Ich bin gleich da.« Jane seufzte und legte den Lippenstift in ihr Gucci-Etui.

Noch ein Gast. Noch ein Drink.

Als sie ihre politische Karriere begonnen hatte, hatte sie keine Ahnung gehabt, dass sie die meiste Zeit mit der Beschaffung von Geldern verbringen würde. Sie hatte naiverweise geglaubt, sie sei anders als die anderen. Sie würde etwas bewegen. Mittlerweile war das Einzige, worüber sie entschied, ob ihre Geldgeber von ihren großzügigen Spenden für ihre Kampagne profitieren würden oder nicht.

Sie öffnete die Tür und fand im Flur einen wohlsituierten Mann vor.

»Senatorin.« Er lächelte strahlend. »Ich wollte gerade nachsehen kommen, ob ich dir behilflich sein kann.«

»Ich meine mich zu erinnern, dass ich dir das letzte Mal, als du mir behilflich sein wolltest und mir in die Damentoilette gefolgt bist, Wasser über deine Seidenkrawatte gekippt habe.« Jane lächelte Luke Prescott an.

Er bot ihr seinen Arm an und sie hängte sich bei ihm ein. »Ich habe dir einen Gefallen getan und dich hochgehoben, damit du dir die Hände waschen konntest. Ich hatte keine Ahnung, dass du meine Lieblingskrawatte zerstören würdest.«

»Das ist das Risiko, dass die Gesellschaft einer Fünfjährigen mit sich bringt.« Jane drückte zärtlich seinen Arm.

Ihr Vater hatte für Luke Prescott gearbeitet und er war ein enger Freund der Familie. In ihrer Kindheit und Jugend war Luke bei den wichtigen Ereignissen in ihrem Leben immer dabei gewesen – als sie die Hauptrolle in der Theateraufführung der Schule innehatte, beim Abschlussball, bei der Abschlusszeremonie – selbst, als ihr Vater es nicht gewesen war. Als dann ihre Mutter gestorben war, hatte er darauf geachtet, wenigstens einmal am Tag vorbeizuschauen. Er war ihr engster Vertrauter geworden. Es war seine Idee gewesen, dass sie die rechtswissenschaftliche Fakultät besuchen sollte und danach hatte er sie darin bestärkt und unterstützt, sich zur Senatorenwahl aufstellen zu lassen.

»Zum Glück hatte ich ein ganzes Dutzend mehr davon.« Seine grauen Augen funkelten.

»Und wieso auch nicht? I würde davon ausgehen, dass ein Milliardär zumindest einige hat.«

»Aber, aber, Jane. Sei nett zu den Superreichen. Wir haben auch Gefühle.«

Jane hielt vor dem Eingang zum Festsaal an. Im Raum wimmelte es von Unterstützern der American Federation Party und alle erwarteten sie Großes von ihr. Alles, was sie je gewollt hatte, war, daran mitzuwirken, dass Menschen ein besseres Leben hatten. Wann hatte sich das in das Tragen eines Designerkleids verwandelt und in Gespräche mit Leuten, die den Preis für einen Kleinwagen zahlten, nur um mit ihr im selben Raum zu sein? Wenn Luke sie nicht ständig zu dem, was er für eine notwendige Uniformierung hielt, gedrängt und ihre Garderobe gekauft hätte, hätte sie etwas weniger Pompöses getragen.

»Ich bin ein bisschen müde, Luke. Lass uns Schluss machen.«

»Noch eine letzte Person«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Die Conoleys wollen dich unbedingt persönlich kennenlernen. Sie sind extra von Oklahoma hergeflogen.«

»Zweifellos in ihrem Privatjet.«

»Es ist ein kleiner!«

»Oh, Verzeihung.« Jane täuschte Anteilnahme vor. »Ich wusste ja nicht, welche Strapazen sie auf sich genommen haben. Lernen wir sie also kennen.« Sie konnte es ebenso gut hinter sich bringen. So sehr sie die Spendenaktionen auch hasste, die American Federation Party war ihre Leidenschaft, denn sie glaubte daran, dass ihre Grundwerte in Hinblick auf steuerliche und gemeinschaftliche Verantwortung gut für das Land waren.

Nachdem Jane mit den Conoleys einen Drink eingenommen hatte, führte Luke sie zu einer anderen Gruppe von Leuten, die sie treffen sollte. Jedes Mal, wenn sie verschwinden wollte, fand Luke für sie einen Vorwand zum Bleiben. Es war merkwürdig, dass sie mit zunehmendem Abend das Gefühl hatte, betrunken zu sein, obwohl sie nur ein klein wenig an einem Glas Wein genippt hatte. Sie warf einen Blick auf ihr Glas und fragte sich, wie es immer noch halbvoll sein konnte. Es war, als hätte sie überhaupt nichts getrunken.

»Mir reicht’s, Luke«, sagte sie.

»Geh und gönn dir deinen Schönheitsschlaf.« Er winkte einem hochgewachsenen Mann zu, der am Rand des Raums stand. »Ich werde Sal sagen, dass er dir nach Hause folgen soll.«

»Das ist nicht nötig«, sagte sie. Sal war Lukes persönlicher Assistent und Bodyguard. Wo auch immer Luke hinging, Sal war immer dicht hinter ihm und lauerte im Schatten. Er versuchte, sich unauffällig unter die anderen zu mischen, was schwierig war für einen schwerfälligen, fast zwei Meter großen Muskelberg. Die Krokodillederstiefel, die er immer trug, halfen dabei auch nicht.

Sal stand mit ausdruckslosem Gesicht neben Luke. Seine schwarzen Augen glitten über Jane und für einen Moment spannte sich sein Blick an und er musterte sie, als sei sie unter seiner Würde. Ein eiskaltes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. So hatte er sie noch nie angesehen; und Jane fragte sich, was sie getan hatte, um einen solchen Blick zu verdienen.

Luke nickte ihm kaum merklich zu und Sal warf einen letzten Blick auf Jane, bevor er sich seinen Weg durch die Menge bahnte und den Festsaal verließ. »Ich werde dich für heute gehen lassen, aber du wirst dich daran gewöhnen müssen, ständig Leute an deiner Seite zu haben, wenn du Präsidentin bist.« Luke ergriff ihren Ellbogen und führte sie zur Lobby.

Jane lachte. »Du bist voreilig. Lass uns erstmal abwarten und sehen, ob ich meine Amtszeit überstehe. Ich habe ja kaum meinen Platz im Senat gewonnen.« Als Luke und seine Freunde vorgeschlagen hatten, sie solle sich als Senatorin der American Federation Party aufstellen lassen, hätte sie nie geglaubt, dass sie die Wahl tatsächlich gewinnen könnte, weil die Partei neu war und wenige Unterstützer hatte. Luke hingegen hatte nie daran gezweifelt.

»Ich habe mich noch nie in Situationen wie dieser geirrt. Merk dir meine Worte, Jane. Du wirst noch Präsidentin der Vereinigten Staaten.«

Bei diesen Worten überlief Jane ein Frösteln. Sie hätte sich beschwingt fühlen sollen. Wieso fühlte sich das Frösteln an, als rührte es eher von Angst her als von Aufregung?

Ein safter Regen fiel, als sie in ihrem silbernen Jaguar XF – einem Geschenk von Luke, als sie vor langer Zeit ihr Studium der Rechtswissenschaften abgeschlossen hatte – durch die Außenbezirke Houstons in die Vororte nachhause fuhr. Weil ihr ein wenig schwindelig war, drehte sie die Klimaanlage auf und richtete die kühle Luft auf ihr Gesicht. Sie ergriff ihr Smartphone, presste einen Knopf und wartete auf den vertrauten Piepton.

»Spiel Mozart«, wies sie an.

»Eine kleine Nachtmusik« ertönte aus den Lautsprechern, während sie eine kurvenreiche Straße entlangfuhr. Das Scheinwerferlicht des Autos wurde von der Glasfassade eines Bürogebäudes reflektiert, an dem sie vorbeifuhr. Als sie, darum kämpfend, wachzubleiben, auf den Highway vor sich starrte, sah sie, wie in einiger Entfernung eine Straßenlaterne flackerte. Als sie daran vorbeifuhr, wurde das Licht stärker und normalisierte sich dann. Dann beobachtete sie dasselbe an einer anderen Laterne, als sie daran vorbeifuhr– sie flackerte, wurde heller und leuchtete dann normal.

Ich muss mehr getrunken haben, als ich dachte. Sie schlug sich leicht auf die Wangen.

Das Handy klingelte und sie fuhr erschrocken zusammen. Als sie einen Blick nach unten warf, erkannte sie den Namen »Luke Prescott« auf dem Bildschirm.

Es schien alles gleichzeitig zu geschehen. Ein gewaltiger Druck lag schwer auf ihrer Brust und eine Sekunde lan glaubte sie, sie hätte einen Herzinfarkt. Der Druck breitete sich aus, als ob er ihren ganzen Körper mit einem Kokon umgäbe, der sie schützte. Es war das gleiche Gefühl, dass sie vor fünfunddreißig Jahren gehabt hatte, kurz bevor das Flugzeug abgestürzt war. Da war das Quietschen von Reifen und ein Adrenalinrausch durchfuhr sie. Das Letzte, was sie sah, bevor sie ohnmächtig wurde, war ein galloppierendes Pferd, das auf sie zuraste.

Lash (Gefallener Engel 1)

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