Читать книгу der verstellte Ursprung - L. Theodor Donat - Страница 35
Оглавление— Geheimnis des Lebens, Geheimnis der Macht
Ich habe Deinen Freunden einige Beispiele der Komplementarität im religiösen und gesundheitlichen Bereich beschrieben. In der Tradition ist die Komplementarität von Mann und Frau an erster Stelle zu erwähnen. Die Frau besitzt gleichsam das Geheimnis des Lebens, der Mann das Geheimnis der Macht. Alles was der Förderung des Lebens direkt zugeordnet ist wie das Säen, die Zubereitung der Nahrung – dazu gehört das bisweilen schwere Holzschlagen zur Beschaffung des Brennmaterials – das Erziehen kleiner Kinder, das erwähnte Herrichten des Bodens der Innenhöfe usw. ist Sache der Frau. Die Komplementarität zeigt sich also nicht in der Unterscheidung von schwereren und leichteren Arbeiten. Das Roden neuer Felder, ihre Organisation, das Umgraben der Erde, die Häufung der kleinen Kegel, damit die Yamsknollen in der Regenzeit nicht faulen, das Bauen, das Beerdigen, das Ausgeben der Nahrung aus dem Speicher usw. ist eine Frage der Macht und gehört demnach in den Zuständigkeitsbereich des Mannes.
In den Initiationsriten der jungen Frau kommt zum Ausdruck, wie wichtig es ist, dass sie gutes Leben weitergibt. Mit ihren Kameradinnen der gleichen Altersklasse geht sie am letzten Tag ihrer Initiation nackt an den Ursprungsort ihrer Familie zurück und nimmt von dort etwas Erde mit. Dann begeben sich die jungen Frauen zu den versammelten Repräsentanten der Gründungsahnen der entsprechenden Dörfer. Dort setzt sich jede auf einen besonderen Stein, als Beweis, dass sie noch Jungfrau ist. Mit der Rückkehr zum Ursprung, mit ihrem nackten schönen Leib und dem Attest als Jungfrau, zeigt die junge Frau, dass sie das empfangene, gute Leben weitergeben kann und will. Der nackte Mensch verstellt sich nicht, er altert auf normale Weise, er ist ehrlich gegenüber "Vater-Gott".
In der Stadt mit ihren Halb-Traditionen hat sich die Unsitte eingebürgert, dass sich die Mädchen mit Büstenhalter und Höschen zeigen!
Kinder und ihre Mütter sind im Allgemeinen bei Gesprächen unter Männern abwesend. Kinder können die harte Welt der Männer und der Macht noch nicht ertragen. Kinder sind ja erst auf dem Weg zur Menschwerdung. Erst die junge Frau oder der junge Mann, der die Initiationsriten vor der ganzen Gemeinschaft bestanden hat, ist im eigentlichen Sinne Mensch.
Die Onkel mütterlicherseits spielen eine sehr wichtige Rolle. Der älteste lebende Bruder der Mutter bestimmt in vielen Belangen über das Leben ihrer Kinder, so über den Zeitpunkt der Initiation und die Modalitäten der Grablegung. Auf diese Weise wird die Autorität des Vaters relativiert und in den Rahmen der Gesellschaft gestellt. So scheint die Tradition das Leben mütterlicherseits vorzuziehen. Stuft sie damit das Leben nicht höher ein als die Macht? Einfache Gesten, wie z.B. das Verteilen des Hirsebiers, bei dem man zuerst die Frauen bedient, zeigt auch sehr schön die Prioritäten der Tradition: Leben kommt vor Macht.
In meiner Gastkultur war ein polygamer Haushalt durchaus möglich, aber nicht die Regel. Mehrere nicht christliche Ehepaare, die ich kannte, lebten monogam. Die Monogamie existiert in der Tradition und ich meine, dass es die ursprünglichere Form der Ehe war. Vielleicht ist das ebenfalls eine Frage der Harmonie.
In der polygamen Familie gibt es notwendigerweise Eifersucht und Misstrauen. Polygamie ist an den Reichtum des Mannes gebunden, so sind die meisten modernen Chefs polygam. Ich kannte aber zwei sehr weise moderne, monogame Chefs.
Die Erziehung der Kinder ist eine gemeinsame Verantwortung der Eltern. Kleine Kinder sind eher mit der Mutter, grössere mit anderen Kindern oder mit dem Vater anzutreffen. In Vollmondnächten wird später zu Bett gegangen, die ganze Familie ist versammelt. Und zwar nur sie. In der Nacht wird das eigene Haus nur in Notfällen verlassen. Vollmondnächte bieten die Gelegenheiten, Geschichten zu erzählen, von Erlebnissen zu berichten, Märchen weiterzugeben, Denksportaufgaben vorzuschlagen u.v.a.m. Die Gemeinschaft des Quartiers nimmt sehr oft an der Erziehung teil. Es gibt keine Augen, die wegsehen. Was ich in diesem Abschnitt geschildert habe, gilt natürlich nur in den Dörfern, die Stadt ändert so vieles in diesem Bereich. Komplementarität wiederum ist Voraussetzung für die Harmonie und garantiert die Gleichheit in der Würde der Personen. Echte Komplementarität bedeutet, dass es nicht möglich ist, die Aufgaben des Anderen zu übernehmen. Nur der Geisteskranke ist von dieser Komplementarität ausgenommen.