Читать книгу Steinmondsaga 1 - Lana Fawall - Страница 5
Nella
Оглавление„Hubertus! Hubertus! He, du da, wach auf! Wach auf, Mann, was ist mit dir?" Nella schrie um Hilfe und versuchte gleichzeitig diesen Typen wieder zu Bewusstsein zu bringen. Wer war das überhaupt? Und was machte er mitten in der Nacht vor der Gartentür? „He!" verzweifelt rüttelte sie ihn an der Schulter, schlug mit der flachen Hand auf seine Wange „Hey, wach auf!" Aber der Typ rührte sich nicht.
Was war das nur für eine Nacht! Erst war Caissa verschwunden, die wilde Eule mit dem verletzten Flügel, die sie seit Tagen pflegte. Und beim Versuch sie wiederzufinden, hatte sie das schmiedeeiserne Gartentor zu stürmisch aufgestoßen. Anscheinend hatte sie den Jungen mit voller Wucht am Kopf getroffen. Hoffentlich lebte er noch. Gruselig, wie er da so auf dem Gehweg lag und sich nicht rührte. Hoffentlich war er nicht ... „Hubertus!" rief sie mit weinerlicher Stimme. Dann hörte sie zum Glück seine schlurfenden Schritte.
„Lass mal sehen!" Die tiefe Stimme ihres Großvaters beruhigte sie etwas. Hubertus blickte auf den bewusstlosen Jungen und legte ihm sacht die Hand auf den Bauch. Dann untersuchte er die Verletzung an Justus` rechter Hand.
„Krankenwagen?", fragte Nella.
Hubertus schüttelte den Kopf. „Den kriegen wir schon wieder hin. Lass uns erstmal reingehen."
Justus in das Haus zu tragen, kostete ihn kaum Kraft. Hubertus war groß und kräftig, eine gewaltige, Respekt einflößende Erscheinung mit seinem kantigen, zerfurchten Gesicht und dem struppigen, grauen Bart. Doch das Knie seines rechten Beines war steif und er zog es beim Laufen immer leicht hinter sich her. „Meine Kriegsverletzung", sagte Hubertus immer lachend, wenn er auf das Bein angesprochen wurde. Aber Nella, die ihn gut kannte, sah, dass das Lachen ihres Großvaters nur gespielt war. In seinen Augen lag in diesen Momenten ein Schatten, als würde sich ein großer, schwarzer, trauriger Vogel über ihn beugen. Was wirklich mit seinem Bein passiert war, sagte Hubertus niemals. Der Krieg konnte es nicht gewesen sein. Nella kannte Kriege nur aus Geschichtsbüchern und sie waren schon viel zu lange her. Hubertus konnte keinen erlebt haben.
Hubertus legte den bewusstlosen Jungen auf das Wohnzimmersofa. Nella blickte in den großen Spiegel, der gegenüber an der Wand hing. Müde umrahmten ihre kupferroten Locken ihr blasses und übernächtigtes Gesicht. Auf die Locken waren sie stolz. Ansonsten fand sie sich nicht besonders hübsch mit den runden Wangen und ihrer hellen Haut, die blass schimmerte, wie feines Porzellan und die sich auch in der Sonne nie bräunen ließ. Völlig übernächtigt, wie sie um diese Uhrzeit war, sah sie noch schlimmer aus. „Blasser Pummel", beschimpfte sie sich in Gedanken.
Im Spiegel beobachtete sie, wie ihr Großvater den bewusstlosen Jungen sorgsam auf das purpurfarbene Wohnzimmersofa bettete. Sie sah ihre Oma, Helen, im Bademantel, die mit kleinen schlaftrunkenen Augen Verbandszeug, eine Schüssel mit Wasser und schließlich noch eine Tasse dampfenden Tee hereinbrachte. Sie musste von den Geräuschen im Haus wach geworden sein. Dass sie den fremden Jungen versorgte, war typisch Oma; immer hilfsbereit und fleißig.
Früher war sie Model gewesen, das behauptete sie. Und sie liebte es, Nella von ihren Reisen nach Paris, Mailand und New York zu erzählen. Vom Model-Dasein war ihr Diätwahn übrig geblieben. Helen war fast siebzig. Da sie für ihr Leben gern Pralinen aß, war sie längst nicht mehr schlank und testete deswegen eine Diät nach der anderen. Nella und ihr Opa hatten sich den Mund fusselig geredet bei jeder neuen Idee von Helen: Fleischdiät, Essen ohne Kohlenhydrate, Salat-Diät, Fett-Diät, Fastenkur, Heilerde. Oma wurde von ihren Experimenten meistens schlecht, und wenn ihr nicht schlecht wurde, dann bekam sie üble Laune. Manchmal nahm sie auch tatsächlich ab. Einmal hatte sie sogar fünfzehn Kilo geschafft. Weil sie zur Belohnung aber sofort wieder Pralinen aß, hatte sie kurze Zeit später gleich wieder zwanzig Kilo zugenommen.
Nellas Blick fiel auf den großen, gepolsterten Briefumschlag, der auf der Konsole neben dem Spiegel lag. Wut schäumte in ihr auf. Klar, dass dieser Tag in einer Katastrophe endete. Er hatte auch schrecklich angefangen. Vollmond war außerdem und das verhieß nichts Gutes. Nella hasste Vollmondnächte. Vollmond fanden alle romantisch. Aber romantisch war in ihrem Pummel-Leben nichts. Wutschnaubend fischte sie den Brief aus dem Umschlag.
Seit Wochen hatte sie sich auf ihre Mutter gefreut. Mit ihr zusammen wollte sie ihren Geburtstag feiern. Die Archäologin Felicitas Marzipan war oft in fernen Ländern unterwegs, um Ausgrabungen zu leiten. Das kannte Nella nicht anders. Sie war es mittlerweile gewohnt, die meiste Zeit zusammen mit ihren Großeltern Hubertus und Helen und ihrem Vater Marian zu sein. Als kleines Mädchen hatte sie sich nach ihrer Mutter gesehnt, wenn diese wieder einmal freudestrahlend aus dem Haus gestürzt war, um das nächste Flugzeug zu einer neuen Ausgrabungsstätte zu erwischen. Nella war oft im Hausflur sitzen geblieben, um den Duft ihrer Mutter so lange wie möglich riechen zu können.
Seit sie denken konnte, trug ihre Mutter dasselbe Parfüm „Bon Voyage Nr.7“, ein Duft, der sich über lange Zeit im Raum hielt, auch wenn Felicitas Marzipan längst weg war. Wenn Nella so traurig im Flur saß, kam irgendwann einer der Erwachsenen, um sie zu trösten. Meistens Helen mit einer Tasse Kakao. Doch diese Zeiten waren vorbei. Mittlerweile hatte sich Nella in einem Leben mit wenig Mutter eingerichtet. Heute Morgen, nachdem dieser fiese Brief ins Haus geflattert war, hatte sie Helens Trost seit Langem wieder gebraucht. Der Brief besagte eindeutig: Felicitas Marzipan würde zu ihrem Geburtstag nicht kommen: Und sie schien auch nicht die leiseste Ahnung zu haben, dass dies für ihre Tochter wichtig sein könnte. Wie immer dachte Felicitas Marzipan als erstes an sich. Nella blickte mit finsterer Miene auf den Brief:
Liebste Nella,
wir sind hier von der Zivilisation abgeschnitten. Den Brief schicke ich einem Kollegen mit, der in die Stadt reist. Ich gratuliere dir ganz herzlich zu deinem Geburtstag! Eigentlich wollte ich ja schon wieder zu Hause sein. Aber unsere Ausgrabungen machen große Fortschritte, sodass wir unmöglich an dieser Stelle abbrechen können.
Ich weiß, du verstehst, dass ich etwas länger bleiben muss. Deinen Geburtstag holen wir beide nach, versprochen! Anbei schicke ich dir einen Spielstein. Er sieht süß aus. Wie ein kleiner Halbmond, den eine Maus angefressen hat ;-). Irgendwie ist er mir versehentlich in mein Gepäck gerutscht. Ich kenne ja deine Leidenschaft für Spiele und hoffe, du hast ihn nicht vermisst. Nun muss ich aber weiter machen. Die Arbeit ruft. Mach es gut und grüße alle. Bis ganz bald! 1000 Küsse.
Deine Mama.
Nella zerknüllte den Brief. Sie hätte heulen können, so elend fühlte sie sich. Bei all den mysteriösen Dingen, die in letzter Zeit passiert waren, sehnte sie sich ihre kühl denkende Mutter herbei. Vielleicht wüsste sie eine sachliche Erklärung auf alles.
Irgendetwas passierte in Nellas Leben. Etwas veränderte sich. Tagsüber war sie wie immer der blasse Pummel, der im Sportunterricht keinen Fuß vor den anderen setzen konnte und sich darüber mit Kakao und viel Sahne tröstete. Aber nachts, da war plötzlich dieser Traum, der immer wiederkehrte und ihr keine Ruhe ließ. Der Wald, die Schreie, Menschen in Todesangst.
Im Traum hechtete Nella Nacht für Nacht durch das Dickicht, flüchtete vor den Schreien, dem Gemetzel. Sie roch den Geruch verbrannten Fleisches, hörte das Klirren der Schwerter ganz nahe. Plötzlich lichtete sich das Unterholz und sie stand auf einer Anhöhe. Der Vollmond schien. Und dann kamen immer die Schatten. Anfangs fürchtete sie sich. Doch da der Traum immer wieder kehrte, wusste Nella inzwischen, dass die Schatten ihr nichts taten. Im Gegenteil, sie halfen ihr, gehorchten ihr. Nella hatte Macht über die Schatten, die sie umschlossen wie ein schützender Ring. Sie retteten sie vor den Angreifern, die das Unterholz plötzlich auf die Anhöhe spie. Dunkle Gestalten mit flammenden Schwertern. Sie suchten ihre Augen, wollten sie töten. Die Schatten hoben Nella in die Höhe, trugen sie, ließen sie fliegen. Ja sie konnte fliegen in ihrem Traum, entwischte dank der Schatten, ließ die Todesbringer mit ihren Feuerschwertern auf der Anhöhe zurück und schwebte davon, Nacht für Nacht.
Nella drehte sich um. Der Fremde auf dem Sofa hatte einen leisen wimmernden Laut von sich gegeben. Doch er schlug die Augen nicht auf. Helen, ihre Großmutter, tupfte ihm mit einem feuchten Tuch die Schweißperlen von der Stirn. Sie blickte Nella an und legte einen Finger auf ihre Lippen. Ruhe, das braucht der Junge, bedeutete sie.
Der Vollmond schien zum Fenster herein. Es war dasselbe Licht wie im Traum, wenn sie auf der Anhöhe stand und in die Visiere der dunklen Ritter blickte. Der Mond war Freund und Feind gleichermaßen. Er machte sie sichtbar für ihre Gegner und holte gleichzeitig ihre Retter herbei, die Schatten. Ohne das Mondlicht würden die Schatten des Nachts unsichtbar bleiben.
Wenigstens war sie seit einiger Zeit nicht mehr allein, wenn sie aufwachte. Caissa, die Eule, war bei ihr. Sie verließ auch in der Nacht das Zimmer nicht, obwohl Nella das Fenster beim Schlafen immer offen ließ. Wahrscheinlich fühlte sich Caissa mit dem verletzten Flügel noch nicht sicher genug für Ausflüge. Doch in dieser Nacht war sie plötzlich verschwunden. Nella machte sich Sorgen um sie. Wo sie wohl steckte?
„Schschsch!" Der Junge auf dem Sofa stöhnte im Schlaf laut auf. Helen strich ihm behutsam mit der Hand über den Arm und beruhigte ihn wie ein kleines Kind. Nella betrachtete den schlanken Jungen mit dem blonden zerzausten Haar und dem ebenmäßigen Gesicht, in dem sich die blutige Schramme wie ein Feuermal abzeichnete. Athletisch sah er aus in dem gelben T-Shirt und der braunen Jeans. Einer von denen, die unter normalen Umständen nie mit ihr sprechen würden. Kein Wunder, sie war ja auch hässlich - und komisch. Alles was ihr passierte, war total bescheuert, besonders das, was sie in den vergangenen Wochen erlebt hatte.
Vielleicht war es gut, dass Felicitas Marzipan nicht kam. Sie hatte ihrer Tochter schon vor Wochen geraten, einen Psychiater aufzusuchen. Und Hubertus hatte Felicitas Marzipan nur mit Mühe davon abhalten können, umgehend selbst bei einem Facharzt anzurufen. Wenn sie ihrer Mutter nun auch noch von den Träumen erzählte, würde sie sie wahrscheinlich gleich in eine Klinik einweisen lassen. Die Sache mit den Spielen hatte wirklich für genug Aufregung gesorgt. Nella seufzte. Es klang wirklich zu komisch.
Die Marzipans liebten Brettspiele. Jeder in der Familie sammelte sie. Sogar Felicitas Marzipan brachte von jeder Reise mindestens ein neues mit. Hubertus hatte die Regale in den Hausfluren bis zur Decke verlängert, um alle unterbringen zu können.
Zum Zeitvertreib hatte Nella vor einigen Monaten eine der bunten Kisten aus dem Regal gezogen und die Figuren aufgestellt. „Zwergenreise" hieß das Spiel. Weil niemand Zeit hatte, beschloss sie, eine Partie gegen sich selbst zu spielen. Und dann musste sie irgendwie die Kontrolle verloren haben. Anstatt in ihrem Zimmer stand sie plötzlich auf dieser Wiese, auf der die Grashalme ihren Kopf überragten. Und dann kam der Riesenkäfer. Nella schüttelte sich beim Gedanken daran. Das behäbige Tier hatte sie übersehen und hätte sie mit seinem großen schwarzen Körper fast zerquetscht.
War es Traum oder Wirklichkeit? Nella war sich zuerst nicht sicher und testete verschiedene Spiele. Beim „Mensch ärgere dich nicht!" geriet sie in eine Prügelei. Das blaue Auge schimmerte noch tagelang in ihrem Gesicht. Der Staub, den ihr die Feen bei ihrer Wanderung durch das „Bergland Catanoia" auf die Arme pusteten, ließ sich mit Seife nicht abwaschen und glitzerte mehrere Wochen auf ihrer Haut.
Da hatte Nella Gewissheit: Ihre Reisen auf die magischen Ebenen, so nannte sie die Spielewelten, waren real. Doch wieso sie die Welten wechseln konnte, wusste sie nicht. Sie hatte ihre Mutter eingeweiht, Professorin Felicitas Marzipan, in der Hoffnung, sie hätte eine Erklärung für alles. Aber für ihre Mutter war sie einfach die Verrückte.
„Zuviel Fantasie, Nella. Du bist zu oft alleine. Niemand verschwindet in einem Spiel", hatte Felicitas Marzipan gesagt. Dann hatte sie Nella seufzend und geistesabwesend über den Kopf gestrichen. Was sollte sie bloß machen mit dem Kind? Therapie, das war das Einzige, was Felicitas Marzipan zu Nellas Problem einfiel.
Hubertus hatte sie ebenfalls lange und besorgt angesehen. Wenn auch auf eine andere Art. Hätte Nella es nicht besser gewusst, hätte sie schwören können, Angst in seinem Gesicht zu lesen. „Wenn du schon zwischen den Welten wanderst, dann meide bitte diese", hatte er zu ihr gesagt und einen kleinen Holzkasten in der hintersten Ecke des großen Regals verstaut.
In jenem unscheinbaren braunen Kasten befand sich Hubertus' Heiligtum. Er hütete und hegte es, als handle es sich bei den Spielfiguren um echte Lebewesen, die seinen Schutz und seine Pflege brauchten. Das Spiel und Hubertus gehörten zusammen. Instinktiv akzeptierten alle im Haus diese unausgesprochene Regel. Hubertus hätte das Kistchen also nicht extra verstecken müssen. Doch für Nella war sein Handeln ein Zeichen dafür, wie ernst ihr Großvater ihre Geschichte nahm. Mehr noch, sie spürte den Schrecken, der ihn gepackt hatte.
Er glaubte ihr und schien äußerst besorgt, wenn auch auf völlig andere Art und Weise als ihre Mutter. Nella lächelte. Spielewelten, magische Zeitebenen. Mittlerweile kannte sie Hunderte davon. Auch dieser Spielstein aus Mutters Päckchen kam ihr bekannt vor. Ein Halbmond, der in der Mitte ausgefranst war. Er weckte keine guten Erinnerungen in ihr. Beklommen drehte sie ihn in den Händen.
In diesem Moment schlug der Verletzte auf dem Sofa die Augen auf. Er hustete und holte Nella aus ihren Gedanken zurück in die Wirklichkeit.
„He", sie eilte zu ihm, setzte sich neben Helen, die das Handgelenk des fremden Jungen umfasst hatte und seinen Puls fühlte.
Benommen blickte Justus die beiden an. „Das Mädchen, die Eule", flüsterte er.
„Caissa", dachte Nella, „die Eule. Hat er Caissa gesehen?"
„Trink!" Hubertus war herangetreten und hielt dem Jungen die Tasse mit süßem, warmem Tee an die Lippen. Der Fremde trank einen Schluck und schloss dann wieder die Augen. Hubertus betupfte den blutigen Striemen auf seiner Wange.
„Wer bist du?", fragte Nella schüchtern.
„Justus, Toronto", flüsterte der Fremde leise. Dann schloss er die Augen wieder und atmete ruhig.
Das Holz auf dem Beistelltisch klackte kurz, als Hubertus einen kleinen Stein darauf legte. „Er lag auf dem Weg zum Gartentor. Ich schätze, er gehört dem Jungen", murmelte er.
Wortlos blickte Nella auf den Stein. Die Form kannte sie. Ein Halbmond, der an der Innenseite ausgefranst war. Das Gegenstück zum Fund, der im Päckchen ihrer Mutter gesteckt hatte. Ein Spielstein, der eigentlich in eine andere Welt gehörte, zu einer anderen magischen Ebene. Nella wusste das besser als ihr lieb war. Aber wie kam der Typ an den Stein? Darüber zermarterte sie sich den Kopf.
„Lasst ihn schlafen. Er erholt sich schon wieder. Ihr solltet euch auch noch ein wenig aufs Ohr hauen. Es dämmert bald." Helen schickte Hubertus und Nella nach oben. Sie breitete eine Decke über Justus und setzte sich neben ihn. Höchstpersönlich würde sie den Genesungsschlaf dieses Jungen bewachen.