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Magische Ebene 2 – Jetztzeit Nachtschattenwelt

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Das Mädchen, da war es doch! Er hatte sie aus dem Augenwinkel deutlich gesehen, diese kleine schlanke Gestalt mit den kurzen, zerzausten Haaren und den zerrissenen Kleidern. Sie war Richtung Dachbalken geklettert. Dachbalken?

Justus blickte nach oben. Aber das Licht war schwach. Er konnte nicht erkennen, ob sich dort etwas bewegte. Justus holte den Steinmond aus seiner Hosentasche. Er hatte die Reise unbeschadet überstanden und leuchtete ihm wie eine kleine, blaue Laterne.

War dies alles ein Traum? Justus schwebte, er ging, nein, Wirklichkeit! Wenn auch eine andere als die, die er kannte. Das war die aufregendste Reise, die er je unternommen hatte. Irgendjemand hatte Zeit und Raum in eine Schachtel gesteckt und durcheinandergewirbelt und ihn, Justus, gleich mit dazu.

Etwas pikste in seine Beine. Der Junge tastete um sich. Offensichtlich war er auf einem riesigen Berg aus Stroh gelandet. Justus nieste und erschrak über sich selbst. Es war so still hier. So eine Stille kannte er nicht. Sie hatte eine eigenartige Dominanz, als habe sie noch nie ein Laut durchdrungen. Justus erkundete die Umgebung mit dem Licht des Steins. Die Scheune hier musste zu einem reichen Hof gehören, einem aus dem vorigen Jahrhundert. Egge, Sense, Dreschflegel, Fuhrwagen. Justus kam sich vor wie in einem Museum. Nur, dass er sich hier eigenartig beklommen fühlte. Wahrscheinlich lag das an diesem diffusen Licht, eine Dunkelheit, die ganz anders war als in seiner Welt. In seiner Welt? Er drängte diesen komischen Gedanken beiseite und rutsche den Berg aus Stroh hinunter. Der Steinmond gab ihm den Mut.

Maschinen und Geräte waren sorgfältig gepflegt, soweit er es unter dem schwachen, blauen Lichtschein erkennen konnte. In die Scheune drangen nur wenige, diffuse Lichtstrahlen.

Justus leuchtete mit dem Steinmond in die Dachbalken. Er hoffte immer noch, die kleine Zerzauste zu finden, dieses Mädchen, das er nicht kannte. Sie war ihm so wichtig. Das blaue Licht schreckte ein paar Schwalben auf. Aufgeregt schlugen sie ihre Flügel. Ansonsten blieb alles still. Warum war sie ins Gebälk geklettert? Wohin war sie verschwunden?

„He, wenn du schon so schnell die Welt wechselst, dann warte wenigstens auf mich!", ertönte eine Stimme hinter ihm. Justus zuckte erschrocken zusammen. Aber nur für einen Moment. Nella wühlte sich aus dem Strohhaufen und pustete sich die piksenden Halme von den Armen. Da stand sie neben ihm, mit zerzausten Haaren, in denen Staubflocken schimmerten wie Raureif. Justus war froh, sie dabei zu haben. Er, der Schöne, der Steinmondträger, der keine Ahnung von den magischen Zeitebenen hatte.

Nella sprang ihm behände hinterher – das hätte er ihr bei diesem Gewicht gar nicht zugetraut – und zerrte ihn Richtung Scheunentor. „Wir dürfen keine Zeit verlieren!“, drängte sie. Doch Justus unterdrückte einen Schrei und wich zurück. Außer Nella war noch jemand aufgetaucht. Rot glühende Augen stachen ihnen aus der Dunkelheit entgegen. Böse, das waren sie, das spürt er. Sie schienen die Bosheit dieser Welt in sich zu vereinen. Ein Vogel schrie irgendwo im Gebälk. Es kam ihm vor wie eine Warnung. Stille, sein pochendes Herz, die Feueraugen in der Dunkelheit.

„Nella!“, flüsterte der Junge. Doch die kicherte. „Keine Angst, in dieser Welt kann uns niemand sehen. Du musst nicht so vorsichtig ...“ Ihr souveräner Tonfall erstarb plötzlich. Denn die Augen, oder besser gesagt das Wesen, dem sie gehörten, bewegte sich auf sie zu. Es sah sie, eindeutig. Es kam näher. Ein schwarzer Körper zeichnete sich im Dämmerlicht ab. Behaarte Arme streckten sich nach ihnen aus. Justus umklammerte instinktiv den Steinmond. Das Wesen packte Nella am Arm. Sie versetzte ihm einen Tritt und beförderte es mehrere Meter weit weg. Justus staunte. Doch nicht lange. Das Wesen schien sich aufzurappeln, die Augen kamen erneut auf sie zu. Hinter ihnen raschelte es. Er dreht sich um. Rote Augen im Stroh. Sie kamen aus dem Stroh, überall! Es waren Dutzende. „Weg!“, befahl Nella. „Wir müssen raus hier!“ Sie rannten, irgendetwas umklammerte Justus' Bein, er strauchelte, trat um sich. Dem lang gezogenen Jaulen nach zu urteilen, hatte er getroffen. Justus sprang wieder auf die Füße. Das Scheunentor war nur angelehnt. Sie zwängten sich durch den Spalt und entkamen über den Hof.

Keuchend blieben die beiden stehen. Nella hustete. Justus blickte zur Scheune zurück. Niemand folgte ihnen. „Nachtmare, die kommen uns nicht nach. In der Dämmerung zerfallen sie zu Staub“, bemerkte Nella sachlich und ohne Angst in der Stimme. Justus staunte über ihren Mut. „Allerdings haben sie uns gesehen, anders als du dachtest“, wandte er ein. Das Mädchen mit dem roten Haar nickte nachdenklich. „Ich hatte auf dieser Ebene nicht mit ihnen gerechnet. Sie kommen normal nur in schwächeren Welten vor“, meinte sie.

Das Licht hier draußen war dumpf, kaum heller als in der Scheune. Er blinzelte in die trübe Suppe und hoffte, es handle sich dabei um das Morgengrauen an einem Regentag. Doch noch ehe Nella es ihm bestätigte, wusste er insgeheim, dass es hier nie heller werden würde. So sah sie also aus, diese Welt ohne Sonne. Nella blickte auf den Elfenreif an ihrem Handgelenk. Sie sah der blauen Perle zu, die schmolz und wie eine kleine Träne in den Schlamm tropfte.

„Nummer eins", sagte das Mädchen mit der porzellanfarbenen Haut trocken und musterte das Armband an ihrer Hand. Das Band schützte sie vor der lähmenden Traurigkeit dieser Ebene, das wusste Nella. Zwar war die Schwere dieser Welt immer noch spürbar, aber sie setzte sich nicht gleich wie ein schwarzer Klumpen in ihrer Seele fest. Nella schauderte. Diese Welt konnte gefährlich werden.

Sie berührte Justus sachte am Arm. „Komm", sagte sie, „lass uns zur Fest der Tränen gehen, dort irgendwo dieses Ding ablegen und so schnell wie möglich verschwinden. Ich mag es hier nicht."

Türen quietschten. Vom Wohnhaus, das gegenüber der Scheune lag, ertönten Stimmen. Sie klangen hell und freundlich, doch Justus zuckte zusammen. Sein Bedarf, Lebewesen in dieser Welt kennenzulernen, war gedeckt. Zwei Bauernkinder kamen diesmal auf die beiden zu. Sie trugen Hemden und Hosen aus grobem Leinen und liefen barfuß über den schlammigen Weg. Unter den Armen trugen sie Körbe. „Sicherlich bringen sie Essen aufs Feld, es wird Mittag sein“, meinte Nella fachmännisch. Sie schien ihre Souveränität von einer Sekunde auf die andere wiedergefunden zu haben. Die Kinder schienen sie tatsächlich nicht zu sehen. Ins Gespräch vertieft gingen sie an Justus und Nella vorbei und folgten dem Feldweg. „Wir gehen auch“, sagte Nella, nachdem die beiden verschwunden waren. Sie lief los, so zielsicher, als wandle sie täglich in dieser Welt. Ihr rotes Haar leuchtete in der Dämmerung wie ein Feuerring um ihren Kopf.

Justus steckte den Steinmond in die Hosentasche und beeilte sich, ihr hinterherzukommen. Gleichzeitig nagte der Gedanke an das Mädchen mit den zerzausten Haaren in ihm. Sie war ganz in der Nähe und er hatte sie schon wieder verpasst. Vielleicht war sie ihm auch absichtlich entwischt, vielleicht wollte sie ihn nicht treffen. Hoffentlich wusste sie sich zu helfen, angesichts der dunklen Gestalten, die sich in der Scheune verbargen.

Während sie den steinigen Feldweg hinunterstolperten, löste sich ein weiterer Tropfen aus dem Reif. Die Zeit zerrann. Weiter nur, weiter zur Feste, den Abhang hinunter und nicht in diesem Dämmerlicht stolpern! Justus versuchte, sich an die Landkarte zu erinnern. Wo genau waren sie gelandet? Bauernhöfe waren auf dem Spielplan Dutzende eingezeichnet gewesen. Auch wenn alle Hauptwege auf die Burg zuführten: Wie konnten sie sicher sein, in die richtige Richtung zu laufen, der Burg entgegen anstatt von ihr weg? Justus beschloss, auf Nellas Orientierungssinn zu vertrauen. Sie war immerhin schon einmal hier gewesen und hatte das Spielbrett öfter gesehen als er.

Justus konzentrierte sich auf den Weg. Er führte holprig und steinig den Berg hinunter und machte eine scharfe Biegung. Den Reiter hörte er erst im letzten Moment. Er kam in vollem Galopp auf sie zu. Justus nahm ihn als schwarzen, rasenden Schemen in Ritterrüstung wahr, der sein Visier tief über die Nase gezogen hatte. Doch es wäre ohnehin zu dunkel gewesen, um seine Gesichtszüge zu erkennen.

Der Reiter sah Justus und Nella nicht. Er trieb sein Pferd an und preschte in vollem Tempo voran. Aus den Augenwinkeln registrierte Justus, dass der Weg in einer Art Rinne den Hügel hinunterführte, rechts und links wucherte Gestrüpp. Zum Ausweichen gab es keine Möglichkeit.

Justus spürte, wie die Erde unter den Huftritten des Tieres vibrierte. Gleich würde der Reiter sie erreicht haben. Gleich würden die Hufe des Pferdes über ihn hinweg wirbeln. Er konnte nicht ausweichen und machte sich auf einen Aufprall gefasst. Wie wohl die Überlebenschancen standen, wenn ein Pferd in vollem Tempo über einen walzte? Justus wurde übel vor Angst. Instinktiv spannte er seine Muskeln an. Er wartete auf den Schmerz. Die Arme hielt er wie einen schützenden Helm über seinem Kopf verschränkt.

Plötzlich scheute das Pferd. Irgendetwas gefiel ihm nicht. Es stieg unvermittelt und panisch. Justus glaubte, einen leisen Windhauch zu spüren, als die Hufe des Pferdes haarscharf an seinem Gesicht vorbeischrammten. Er duckte sich und hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Der Ritter fluchte, gab dem Tier die Sporen, und preschte in vollem Galopp weiter. Geradewegs durch Justus hindurch. Staub wirbelte auf und Justus spürte, wie der Boden vibrierte.

Starr vor Schreck und Verwunderung blickte der Junge dem Reiter nach, auch als dieser schon längst nicht mehr zu sehen war.

„He, aufwachen!" Nella rüttelte ihn. „Du musst dich nicht so aufregen, ein Pferd, das dich nicht wahrnimmt, kann dich auch nicht umrennen."

Justus blickte sie ärgerlich an. „Danke für die Info, das hättest du mir vielleicht etwas eher sagen können. Ich bin ganz schön erschrocken." Zornig schnappte er nach Luft:

„Aber vielleicht hätte ich ja einfach selbst darauf kommen können, dass das Pferd durch mich hindurchgaloppiert. Das passiert mir schließlich alle zwei Tage."

Oh, wie sie ihn anblickte! Sein schlechtes Gewissen war sofort da. „Nella, entschuldige!" Er versuchte, ihre Hand zu greifen, doch sie wich ihm aus. Gut, sie war beleidigt und sie hatte recht damit. Sie hatte ihm helfen wollen. Sie kannte sich auf den magischen Ebenen besser aus als er.

Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er so aggressiv war. Er war auf seine Gelassenheit, die ihn im normalen Leben auszeichnete, immer stolz gewesen. Hier gingen die Nerven offensichtlich mit ihm durch. Doch es gab noch einen anderen Grund, der ihm die Ruhe raubte, das spürte Justus. Der Steinmond tat ihm nicht gut. Schon in der Nacht am Brunnen war seine Ruhe weggefegt, nachdem er ihn berührt hatte. Sobald er ihn in der Hand hielt, schien er sich für den wichtigsten Menschen auf der Welt zu halten.

Er schluckte. „Ich bin an das alles nicht gewöhnt, Schattenwelten und so", versuchte er zu erklären und war froh, als er Nellas Lächeln sah.

„Du hast zum ersten Mal die Ebene gewechselt, da kann man etwas durch den Wind sein, verständlich", murmelte sie.

Sie liefen weiter und ließen den Abhang hinter sich, jetzt taten sich rechts und links des Weges Felder auf. Justus beobachtete die Menschen bei der Arbeit, Frauen und Männer in schlichter Tracht. Sie schnitten das Korn mit der Sense und luden ihre Ernte auf Fuhrwerke, die von kräftigen Pferden gezogen wurden.

Den Steinmond trug Justus tief in der Hosentasche. Der Stein, der Verräter. Zwar konnten ihn die Bewohner Maloriens nichts sehen, doch die Pferde schienen etwas zu wittern. Sie wurden unruhig, wenn Justus und Nella zu nahe an ihnen vorbeiliefen, blähten mit den Nüstern und legten die Ohren an.

Nella legte eine Pause ein, als der dritte Tropfen vom Armband rann, eine Träne, die sich mit der Erde vermischte, blau und braun in einem Farbkasten. Elfenhände hatten diesen Reif gefertigt, hatte Hubertus gesagt. Sie wusste nicht, ob es Elfen in dieser Schattenwelt gab. Auf anderen magischen Ebenen war sie schon welchen begegnet. Sie liebten das Licht und sie überließen ihr Kunsthandwerk nur jenen, die ihnen viel bedeuteten.

Hubertus musste die Elfen gut kennen. Ihr Großvater schien all die Jahre ein Geheimnis vor ihr verborgen zu haben. Sobald sie zurück waren, war er ihr eine Erklärung schuldig. Doch jetzt mussten sie weiter, es blieb nicht mehr viel Zeit.

Sie wollte loslaufen, doch sie zögerte. Vor ihnen lag ein Waldstück, das sie schon einmal durchquert hatte. Es gab keinen Zweifel: der kleine Hügel mit den drei Bäumen, dahinter dichter Wald. Hier war sie schon einmal gewesen. Diesen Ort würde sie unter Tausenden erkennen. Genau an dieser Stelle war sie beim letzten Mal gelandet, als sie die Nachtschattenwelt bereist hatte. Nella hatte das Abenteuer nur knapp überlebt. Was sie hinter dem Wald erwartete, war nichts Gutes. Sie mussten ungeheuer stark sein.

Vor ihnen lag das schwerste Stück des Weges, das war klar.

„Nun gut", dachte Nella, „wenigstens wissen wir nun mit Sicherheit, dass dieser Weg zur Burg führt. Ich bin ihn ja schon einmal gelaufen."

Sie schauderte, wenn sie daran dachte, was sie erwartete. Hinter den Bäumen entsprangen die weinenden Wasser, die mit ihrer Musik die Seelen umsponnen. Die Wasser waren ein gefährlicher Feind. Sie brauchten keine Bosheit. Sie lockten ihre Opfer durch ihre Klänge.

Doch sie mussten an ihnen vorbei. Die Perlen am Elfenreif tropften schnell zu Boden. Sie hatten keine Zeit für Umwege. Sie musste Justus warnen. Nella deutete auf die Bäume, die sich vor ihnen auftaten. „Wenn wir dieses Waldstück durchquert haben, müssen wir aufpassen. Egal was du fühlst und siehst, dreh' dich nicht um! Bleib nicht stehen! Geh einfach weiter! Du wirst die Wasser rauschen hören und den Wasserfall sehen. Aber es dies ist kein gewöhnlicher Ort, er ist ...", sie suchte nach Worten: „Betörend."

Justus fragte nicht nach. Nella war erstaunt, weil er einfach nickte. Seit dem Erlebnis mit dem Reiter hatte er sich geschworen, auf Nella zu hören. Sie kannte sich auf den magischen Ebenen aus. Und er würde von jetzt an alles tun, was sie ihm riet.

„Das klingt nicht schwer. Einfach an einem Wasser vorbeizugehen, das schaffe ich leicht", sagte er, um ihr Mut zu machen – und vielleicht auch sich selbst. Doch Nellas Blick zeigte ihm ihre Zweifel. Er beruhigte sich selbst. Immer weitergehen, egal was passierte, das würde er doch hinbekommen. Er hatte sowieso keine Lust, stehen zu bleiben. Besser sie brächten den Stein so schnell wie möglich zum König und könnten aus dieser Düsternis wieder verschwinden.

Justus tastete mit der Hand nach dem Steinmond. Irgendwie fühlte er sich sicherer in dem Wissen, ihn bei sich zu tragen. Er zog ihn aus seiner Hosentasche und erschrak: Der kleine Stein leuchtete nicht mehr. Er war totenschwarz. Das heftige Pulsieren hatte aufgehört. Es war, als lebe der Stein nicht mehr.

„Quatsch", flüsterte ihm sein Verstand, „Steine leben nie. Mach dir nicht in die Hose vor Angst! Lauf' Nella einfach hinterher. Was soll schon passieren?!" Und Justus glaubte seinem Verstand so gerne, auch wenn sein Herz etwas anderes erzählte.

„Ist was? Fürchtest du dich doch?" Nella war vorausgeeilt. Sie blieb stehen und drehte sich fragend zu ihm um. Sie hatte sein Zögern bemerkt.

Justus schüttelte den Kopf. Er wollte sich keine Blöße geben, nicht vor Nella und auch nicht vor sich selbst. „Nicht durchdrehen", sagte er sich in Gedanken. Der Stein veränderte sich wahrscheinlich immer mal. Von Blau nach Weiß hatte er schließlich auch gewechselt. Er verstaute ihn wieder in der Hosentasche und hastete Nella hinterher.

Sie wanderte sicher durch diese Welt. Auch als die Bäume das Licht gänzlich schluckten verlor sie nie den Weg. Wie ein schützender, dunkler Schatten lief sie vor Justus her und wies ihm die Richtung.

Beklemmend still war es hier. Eine Stille, die Justus Seele beschwerte. Diese Welt war nicht schön. Sie war erfüllt von Düsternis und einer Traurigkeit, gegen die er sich nur schwer durchzusetzen vermochte.

Eine Eule rief. Hin und wieder knackten Zweige. Welche Lebewesen hausten hier im Dunklen? Schließlich hörte Justus das Rauschen in weiter Ferne. Anfangs klang es wie ein gewöhnlicher Wasserfall, doch es schwoll zu einem Klagelied an. Als sie das Ende des Waldstücks erreicht hatten, war es Justus, als zittere die Luft von Seufzen und Wehklagen.

Der riesige Wasserfall wirkte im Halbdunkel dieser Welt besonders imposant. Aus mehreren Metern Höhe stürzten die Wassermassen in die Tiefe, sammelten sich in einem Becken, sprudelten, gurgelten und setzten dann zwischen dunklen, glänzenden Kieseln in einem Flussbett ihren Weg fort. Faszinierend.

Justus musste sich zwingen, den Blick abzuwenden. „Nicht hinsehen, nicht umdrehen, immer weiter gehen", hatte Nella gesagt. Er blickte ihr hinterher. Sie war weit vorausgeeilt. Ein wenig wollte er noch bleiben und diesen wundervollen Wassern zusehen. Der Gesang ergriff ihn, machte ihn melancholisch, tröstete ihn. Es war, als fände er hier endlich Antworten auf all die Fragen, die ihn seit Jahren quälten, ihn, das Findelkind. Wer war er? Woher kam er? Wer waren seine Eltern? Die Wasser gaben ihm Antwort, verstanden seine Traurigkeit, sangen für ihn. Nur noch ein wenig hier verweilen! Ein bisschen nur.

„Justus! Justus, lauf weiter!" Von weiter Ferne hörte er Nellas Stimme. Sie klang so aufgeregt.

Justus wusste nicht weshalb, es war doch alles gut, hier. Noch nie hatte er sich so gut gefühlt. Dann hörte noch ein Rufen, viel näher, viel deutlicher.

Die Wasser riefen ihn: „Komm, komm nach Hause!" „Ja!" rief Justus, „gleich bin ich bei euch!" Seine Suche hatte endlich ein Ende. Hier bei den Wassern war seine Heimat, das wusste er, das sangen sie ihm. Nur ein paar Schritte noch.

„Wartet!", rief er den Wassern zu. Endlich frei, endlich daheim, bestimmt würde auch sie da sein. Die kleine Zerzauste, das Mädchen vom Brunnen, nach dem er schon so lange suchte. Sie würde ihn diesmal nicht im Stich lassen.

Irgendetwas hielt ihn am Arm fest, unwirsch und mit aller Kraft versuchte er, sich zu befreien. Sie hatte ihn gepackt, das Mädchen mit den roten Haaren. Was wollte sie? Nella, er hatte sie einmal gekannt, aber das war lange her. Sie verstand ihn nicht. Er wollte nach Hause. Er gehörte nicht zu ihr. Hier bei den weinenden Wassern war sein Platz!

Nella gab nicht auf, sie zog und zerrte an Justus. „Komm, bitte, wach auf, du musst weg hier, das hier ist eine Falle!" Sie flehte ihn an.

Warum?! Was redete sie da? Sie sollte ihn in Ruhe lassen! Was bildete sie sich ein?!

Mit voller Kraft schlug Justus ihr ins Gesicht. Blut schoss aus ihrer Nase, sie taumelte zurück und blickte ihn einen Moment entsetzt an, aber sie gab nicht auf. Im Gegenteil. Mit ihrem ganzen Gewicht klammerte sich Nella an Justus.

„Geh nicht. Komm mit! Wir müssen weiter! Das überlebst du nicht!"

Die Wasser sangen so schön. So schön! Er hörte Nellas Stimme nur noch aus weiter Ferne. Auch seine Bewegung, mit der er sich aus ihrer Umklammerung wand, und der kräftige Schlag, mit dem sie zu Boden fiel, erschienen ihm unwirklich. Er sah noch, dass das Mädchen - wie hieß sie überhaupt? - sich aufrappelte und verschwand.

Wohin? Egal! Das ging ihn alles nichts an. Er musste sich schleunigst auf den Weg machen, zu den Wassern, die ihn riefen. Seine Schuhe wurden nass, seine Beine, sein Bauch, aber das störte Justus nicht. Im Gegenteil, er liebte die Wasser, die ihn einhüllten wie in einen wohlig warmen Kokon, die für ihn sangen, die ihn nach Hause bringen würden. Bis zum Hals stand er im Fluss.

„Justus, komm weiter! Bald bist du zu Hause!"

Und er rief ihnen entgegen: „Wartet! Lasst mich nie mehr allein!"

Die Wogen des strudelnden Falls schlossen sich über seinem Kopf zusammen und raubten ihm den Atem. Gleich, gleich hatte er es geschafft, gleich war er daheim. Er, das Findelkind, daheim. Endlich!

Dann plötzlich spürte Justus diesen Sog. Irgendetwas zog ihn fort. Wohin? Er bewegte sich nicht, er wurde bewegt. Eine Kraft, gegen die er sich nicht wehren konnte, zerrte ihn mit sich, zog seinen Kopf aus den Tiefen des Flusses, zog ihn an Land, den Weg entlang, immer weiter, immer weiter.

Justus hustete und spuckte. Er japste nach Luft. Gleichzeitig zerriss ihm die Sehnsucht nach dem Wasser das Herz. Doch er konnte nicht stehen bleiben. Diese seltsame Kraft ließ ihn nicht los. Er wollte rufen, aber er brachte keinen Ton über die Lippen. Er kämpfte gegen die Kraft, die ihn mit sich zog. Er wollte hier bleiben! Er musste zurück ins Wasser! Justus legte seine ganze Energie in seine Schritte. Doch die Kraft drängte ihn ab wie ein starker Wind, gegen den er nicht ankam. Justus kämpfte bis zur Erschöpfung. Tränen liefen ihm über die Wangen, er schmeckte das Salz. Wie sollte er ohne diese Melodie leben? Ohne Zuhause?

Die Sehnsucht verschwand, denn das Rauschen wurde leiser. Es war nur noch als Gurgeln zu hören und vermischte sich schließlich mit den Geräuschen der Umgebung. Dann war alles still. Die weinenden Wasser lagen hinter ihm.

Justus stand auf einer Wiese. Seine Kleider tropften und er zitterte vor Kälte. Auf einem Felsen in der Nähe sah er Nella. Er ging zu ihr.

Er blickte auf den schmutzigen Ärmel ihres Pullovers. Sie hatte versucht, sich damit das Blut aus ihrem Gesicht zu wischen. Das war ihr nur mäßig gelungen. Der Ärmel war verschmiert, und der blassbraune Fleck in ihrem Gesicht sah aus wie eine schlechte Kriegsbemalung.

Blut? Woher? Die Erinnerungen verdrängten die Trance, in der er sich befand. Justus schämte sich. Sein Schlag hatte Nella voll auf der Nase getroffen. Sie sah den Blutstropfen zu, die über den Stein rannen. Und mit ihnen rann die blaue Farbe vom Armband aus Elfenzeit. Ihre Blicke trafen sich und Justus merkte: Auch diesmal war Nella nicht sauer, sie war auch nicht wütend. Sie schien erschöpft und unendlich erleichtert. Minutenlang schwiegen sie.

„Was war das?", fragte Justus leise und wagte nicht, den Gedanken weiter zu denken.

Nella sah ihn an und versuchte ein Grinsen: „Du wolltest dich eben mal ertränken."

Sie wurde ernst. „Ich war mir irgendwann sicher, dass ich das nicht schaffe. Ich hatte keine Kraft, deinen Körper zu retten. Du hast mich weggestoßen und warst drauf und dran in den weinenden Wassern zu ertrinken. Dann fielen mir Hubertus' Worte ein: 'Hört auf euer Herz, nicht auf euren Verstand.' Klingt kitschig, nicht wahr? Aber als ich daran dachte, ist irgendetwas passiert. Es war wie in meinem Traum. Ich hatte plötzlich Macht über die Schatten. Ich hatte nicht die Kraft deinen Körper zu retten, aber deinen Schatten konnte ich mitnehmen. Er gehorchte mir.“ Sie macht eine kurze Pause und sagte dann nachdenklich: „Deinem Schatten musste dein Körper wohl folgen, auch wenn noch ganz andere Kräfte an ihm zerrten."

Nella schwieg. Sie musste das Gesagte selbst erst einmal verdauen. Eine Schattenfängerin. Sie hatte davon gehört. Es gab Geschichten von Schattenfängern, von Schattenwebern, Hubertus selbst erzählte gerne davon. Offensichtlich besaß auch sie diese Gabe.

Justus hörte ihren Worten zu. Und auch diesmal erklärte er das Mädchen mit der porzellanfarbenen Haut nicht für verrückt. Er hatte in den vergangenen Stunden so viel erlebt. Ohne Zweifel: Es gab mehr als nur eine Wirklichkeit. Schattenfängerin. Schattenweberin. Wie auch immer.

„Du hast mir das Leben gerettet und das werde ich dir nie vergessen!" Er gab Nella einen Kuss auf die Wange. Sie sah ihn an, ohne verlegen zu werden.

„Übertreib's mal nicht, Steinmondträger. Das war pures Glück. Ich habe mit dem Schattenfangen erst angefangen. Ich bin noch gar nicht gut darin."

Sie blickte besorgt auf den Elfenreif. Perlen tropften. Das Armband sah abgegrast aus wie ein leerer Beerenstrauch. Die Zeit drängte.

„Lass uns den Stein zurück bringen und dann endlich von hier verschwinden. Ich hab' diese Welt so satt", sagte sie.

Justus kramte aus der Tasche seiner klammen Hose den Stein hervor. Er war zum Glück noch da. Jetzt leuchtete er wieder und pulsierte ruhig vor sich hin wie ein kleines, schlafendes Tier. Im Nachhinein erschien es ihm, als habe der Steinmond ihn gewarnt. Oh ja, er musste noch viel lernen, wenn er zukünftig auf magischen Ebenen überleben wollte.

Sie brachen auf. Soweit sie sich an den Spielplan der Nachtschattenwelt erinnerten, konnte es zur Burg nicht mehr weit sein. Seine nasse Kleidung behielt Justus am Körper. Im Dämmerlicht dieser Welt würde sie ohnehin nicht trocknen.

Steinmondsaga 1

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