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Blutlettern

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„Boaaaa, Uäng, Pffffff" - komische Töne brachten Justus' Bewusstsein zurück. Schief und scheußlich bohrten sie sich in seinen Kopf. Ein Prusten, ein Schnaufen, ein Kreischen. Sie taten ihm weh, streiften die pulsierende Wunde an seiner Wange, weckten den tickenden Schmerz in seiner Hand.

„Er wacht auf", sagte eine Stimme, die er kannte. Im Vergleich zu dem schrecklichen Husten und Prusten kam sie Justus äußerst freundlich vor. Aber auch etwas dünn. Als würde ein Vogel gegen einen Tornado ansingen. „Uääng, booong, pfiiiiiiiii.“

Justus blinzelte und blickte in das Gesicht eines Mädchens: grüne Augen, dunkelrote Locken, etwas pummelig und blass. Sie sah ihn besorgt an.

„Alles klar?", fragte sie.

„Nella, lass mich mal!" Das Mädchengesicht verschwand aus seinem Blickfeld. „Ich bin Hubertus, Nellas Opa", stellte sich der Mann mit dem Bart vor. Sein knorriges Gesicht erinnerte Justus an einen alten Baum.

„Steinmondträger, du warst vorhin schon einmal wach. Kannst du dich erinnern?", fragte Hubertus.

Justus wollte beherzt mit dem Kopf schütteln. Doch der heftige Schmerz, der ihn durchzuckte, sorgte dafür, dass er es nur ganz leicht tat. Steinmondträger hatte der Mann ihn genannt und ihn dabei angesehen, als wolle er ihn prüfen.

„Wie geht's dir jetzt?" Hubertus zauberte ein Lächeln in sein knorriges Gesicht. „Meine Enkelin hat dich tatsächlich mit unserem Gartentor niedergestreckt. Ich habe ihr schon hundert Mal gesagt, sie soll nicht so aus der Tür stürmen." Es klang wie eine Entschuldigung.

Uääääng, buoong, töööööööt – da war es wieder, dieses scheußliche Geräusch. Justus verzog schmerzhaft das Gesicht.

„Mein Vater und seine Schüler", sagte Nella.

Den Beruf ihres Vaters zu erklären, war eine weitere Peinlichkeit in ihrem Leben. Marian Marzipan spielte Trompete und hatte einst großen Erfolg als Straßenmusiker gehabt. Irgendwann hatte er das Herumreisen satt und folgte stattdessen seiner Passion: Er wollte musikalisch unbegabten Menschen die Musik näher bringen. Dazu hatte er das Label „Schiefe Töne" gegründet. An drei Tagen in der Woche gab er zu Hause in der Sommerstraße Musikunterricht für Menschen ohne Ton- und Taktgefühl.

Nella war sich sicher: Spätestens nach dieser Erklärung würde der verletzte Junge wissen, in welchem Irrenhaus er hier gelandet war. Wahrscheinlich würde er so schnell wie möglich Reißaus nehmen, egal wie wackelig er noch auf den Beinen war. Hier in dieser Familie war wirklich nichts normal. Aber Justus ging nicht weg. Er lachte sie angesichts ihres Geständnisses nicht einmal aus. Offensichtlich hatte er andere Probleme, als sich Gedanken über Marian Marzipan und seine Musik zu machen. Justus wechselte sogar das Thema:

„Ich suche ein Mädchen mit zerzausten kurzen Haaren und zerrissener Kleidung", begann er. Die Kleine vom Brunnen war ihm wieder eingefallen. Er wollte sie sofort suchen. Er hatte Angst um sie, obwohl er sie nicht kannte. Vielleicht wussten Hubertus und Nella etwas über sie. Wenn sie hier in der Gegend wohnte, musste sie ihnen aufgefallen sein. Das Mädchen war wichtig. Justus wusste nicht, warum. Er wusste nur, dass es so war, dass er sie unbedingt finden musste.

„Nein, so eine habe ich noch nie gesehen." Nella schüttelte den Kopf und Justus spürte, wie die Enttäuschung in ihm brannte.

„Ich werde uns ein Frühstück machen. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich hab' einen Bärenhunger." Hubertus, der dem Gespräch der beiden wortlos zugehört hatte, schlurfte in Richtung Küche.

Nella sah Justus an und versuchte, ihre Stimme nicht zittern zu lassen. Der Typ sah gut aus. Sie kam sich in seiner Gegenwart so klein vor, so hässlich. Das verschwundene Mädchen, nachdem er so fieberhaft suchte, war garantiert wesentlich hübscher als sie. Es hatte bestimmt keine Hautfarbe, die an helles Porzellan erinnerte.

Doch sie dachte an seine Worte aus der vergangenen Nacht. Er hatte im Schlaf nicht nur von dem Mädchen gesprochen, sondern auch von einer Eule. Caissa? Nella riss sich zusammen: „Ich such' auch jemanden, ein Tier, eine Eule. Sie ist seit gestern Abend verschwunden", sagte sie.

Unwillkürlich tastete Justus nach dem blutverkrusteten Striemen in seinem Gesicht. „Da war so ein wild gewordenes Vieh. Es hat mich angegriffen. Ich hatte etwas im Brunnen gefunden, so einen kleinen Stein. Den hat sie mir gestohlen. Dann ist sie zu dem Haus hier geflogen und ich hinterher." Seine Worte klangen wie die eines trotzigen Kindes, dem das Lieblingsspielzeug entrissen worden war und zugleich so müde, so unendlich müde und erschöpft.

Nella vergaß ihre Schüchternheit. Sie griff zum Beistelltisch und legte Justus den halbmondförmigen Stein in die Hand. „Dieser hier lag vor der Haustür. Wahrscheinlich hat die Eule ihn fallen lassen. Dann ist sie vielleicht ganz in der Nähe", sagte sie. Caissa, warum versteckst du dich?

Justus wog den Stein in seinen Händen. Wie in der vergangenen Nacht spürte er die seltsame Schwere und diese Anziehungskraft, gegen die er sich nicht wehren konnte. Der Halbmond schmiegte sich in seine Hand, als sei er ein Teil von ihm. Doch diesmal leuchtete sein Fundstück nicht. Es blieb grauer, lebloser Stein. Er fühlte sich kalt an und glatt.

„Ich hab auch so einen." Nellas Worte klangen schlicht. Doch Justus Herz schlug schneller. Nella legte ihm den zweiten Stein in die Hand, jenen aus dem Päckchen ihrer Mutter. Das Gegenstück, wie Justus feststellte. Die beiden Teile fügten sich wie zwei Puzzlehälften zusammen. Der entzweigerissene Mond vereinigte sich auf seiner Handfläche zu einem Ganzen. Flach wie ein Kiesel lag er in seiner Hand.

Sacht strich Justus mit dem Finger über die Bruchstelle. Als sei sie eine Wunde und der Stein ein verletztes Lebewesen, das er trösten musste. Da pulsierte der Steinmond wie in der vergangenen Nacht. Und wieder war es dem Jungen, als atme ein lebendiges Wesen zwischen seinen Fingern. Auch den blauen Lichtschein kannte Justus bereits. Der Steinmond leuchtete stärker und stärker. Er flimmerte, strahlte für einige Sekunden in den Farben des Regenbogens und wurde schließlich weiß. Gleißend weiß, sodass Justus und Nella die Augen beim Hinsehen brannten. Das alles kannte der Junge bereits. Und er kannte auch die Buchstaben, die auf der Oberfläche des Steinmonds erschienen. Sie waren tiefrot, als habe sie jemand mit seinem eigenen Blut geschrieben.

Diesmal wurde Justus nicht gestört. Leise formte er mit den Lippen Wort für Wort: „Dies Kleinod hat verloren der Herrscher Maloriens; erwartet zurück die wertvolle Fracht. Der Dieb wird bezahlen mit seinem Blut." Die Buchstaben wurden kleiner und verschwammen.

„Der Herrscher Maloriens!" Dem Mädchen, dessen Gesichtsfarbe so hell war, wie feines Porzellan, sah man die Blässe nicht an, die sich in seinem Herzen ausbreitete. Nella hatte die Worte leise mitgesprochen. Nun starrte sie stumm auf Justus. Was war das nur für ein seltsamer Junge? Was hatte ausgerechnet dieser Typ mit Malorien zu schaffen? Er sah so normal aus, einer, der sein Leben im Griff hatte, ganz anders als sie.

Malorien war eine der magischen Ebenen, die sie auf ihren Reisen besucht hatte, genau genommen handelte es sich um die schlimmste aller Welten, in der sie bislang gelandet war. Malorien war düster, eine Welt zwischen Leben und Tod. Sie kannte das Schloss und den malorischen Herrscher mit dem verwundeten Herzen. Er herrschte gütig, doch verbreitete er eine Trauer, die sich wie eine schwere schwarze Decke über sein Reich legte und alles erstickte. Malorien war die Welt einer alles abstoßenden Traurigkeit und Nella hatte sich geschworen, nie mehr einen Fuß dorthin zu setzen. Ohnehin hatte sie damals Glück gehabt, dass sie nicht vor lauter Traurigkeit in dieser Welt hängen geblieben war. Pures Glück. Sie hing ihren Gedanken nach.

„He hörst du mir überhaupt zu?!" Justus Stimme zerrte sie in die Wirklichkeit. „Was machen wir jetzt mit diesem Dings? Warum fängt es bei mir immer zu Leuchten an? Und wer ist dieser König von Malorien?" Er quengelte wie ein kleines Kind.

Nella schnaubte. Dieser arrogante Kerl stellte sich das so einfach vor. Woher sollte sie wissen, was er mit dieser Sache zu tun hatte und warum dieses Teil Buchstaben spuckte, sobald er es in die Finger bekam. Irgendwie war es auch gerecht, dass mal jemand anderem komische Dinge passierten, nicht immer nur ihr. Doch als sie in Justus' Gesicht blickte, bekam sie Mitleid. Der Typ wirkte völlig hilflos und das war nur verständlich, augenscheinlich waren der zerrissene Mond und die Blutlettern seine erste Begegnung mit einer magischen Ebene. „Naja", meinte sie versöhnlich. „Wenn es dir sagt, du sollst es zurückbringen, dann musst du es wohl zurückbringen."

Justus sah nicht so aus als kapiere er, was sie da sagte.

„Warte!" Nella verschwand auf der Treppe, Justus hörte ein Rascheln, ein Rumpeln, dann kam sie mit einem königsblauen Metallkistchen zurück. „Nachtschattenreise" stand in goldenen Lettern darauf. Mit einem Klicken ließ das Mädchen mit der porzellanfarbenen Haut den Metallverschluss aufschnappen. Dann baute sie den Spielplan vor ihm auf, eine Landkarte, in deren Mitte sich eine graue, stattliche Festung befand, auf die Wege aus allen Himmelsrichtungen zuliefen. Ansonsten verzeichnete die Karte vor allem Wald und Ackerland, im Westen markierte ein kleiner Kreis eine Stadt.

„Malorien", sagte Nella und deutete auf den Spielplan. „Im Westen siehst du die Stadt der Trümmer, ansonsten besteht es aus Ackerland und den traurigen Wäldern. Zentrum ist die Feste der Tränen, dort residiert der König mit seinem Gefolge. Er ist milde, aber äußerst bedrückt. Keine schöne Ebene, die du dir da ausgesucht hast, es gibt bessere Welten."

Justus wusste nicht, was er davon halten sollte. Diese Nella schien irre zu sein. Er hatte ein Riesenproblem und sie kam mit einem Brettspiel an. Obwohl – sein Problem war alles andere als normal. Justus dachte an das Mädchen vom Brunnen. Wo war sie nur? Hoffentlich ging es ihr gut. Er wusste nicht einmal ihren Namen, trotzdem hatte er Angst um sie. Dies alles war wirklich das Verrückteste, was er jemals erlebt hatte. Der Stein in seiner Hand leuchtete immer noch in ruhig und blau. Gedankenverloren drehte er ihn hin und her.

„Los!" sagte Nella und drückte ihm einen Würfel in die freie Hand. Justus nahm in zögernd.

Jemand hielt ihn auf. „Halt!" rief Hubertus. Unbemerkt war der alte Mann ins Wohnzimmer getreten und fischte Justus mit einer schnellen Bewegung den Würfel aus der Hand. „Du kannst nicht gefahrlos in diese Ebene wechseln! Malorien ist eine Schattenwelt, sie ist die Kopie eines anderen Reiches, ein Ausschnitt, eine traurige Version. So etwas sollte niemand alleine betreten, vor allem du nicht, Justus, du hast keine Erfahrung."

Nella blickte ihren Opa an. Sie hatte es gewusst! Hubertus hielt sie nicht für verrückt! Er hatte zwar zu ihren Abenteuern geschwiegen, aber er hatte ihr die ganze Zeit geglaubt und sie niemals für verrückt gehalten. „Hubertus! Was weißt du?" drängte sie ihn.

„Kommt! Bevor ihr loszieht, solltet ihr über einige Dinge Bescheid wissen." Der alte Mann bedeutete Justus und Nella, am schweren, hölzernen Esstisch Platz zu nehmen. Er setzte sich zu ihnen.

Prüfend blickte er den Jungen an. „Verrate mir doch bitte eines: Wer sind deine Eltern? Du kommst aus Kanada sagst du?"

Justus' Lippen brannten, als er es dem alten Mann sagte, sein Geheimnis, das er den engsten Freunden nicht erzählte, das er ganz tief in sich verschlossen hielt zusammen mit allen unbeantworteten Fragen, die er sich tausend Male in seinem Leben dazu gestellt hatte. Wer bin ich? Woher komme ich? So einfach und doch so schmerzend. „Ich bin ein Findelkind", sagte er. Und der alte Mann nickte schlicht als bestätigte er ihm eine Ahnung.

Langsam fuhr er dann fort und seine Worte klangen rätselhaft, Nella und Justus hatten Mühe, sie zu verstehen. „Wie gesagt, die Welt, die ihr betreten wollt, ist eine Kopie. Nella, du warst schon einmal dort und die Traurigkeit hat dich so gelähmt, dass du fast nicht wieder nach Hause gefunden hättest. Gleichwohl. Es ist ungeheuer wichtig, den Stein zurück zu bringen."

Nella nickte. So etwas wie damals würde ihr nicht mehr passieren, jetzt hatte sie Erfahrung, wusste, wie sie sich auf dieser Ebene verhalten musste.

„Wenn ihr in Gefahr geratet solltet ihr euch auf euer Herz verlassen, denkt nicht nach, tut im Moment größter Gefahr das, was euer Innerstes euch sagt. Die magischen Ebenen setzen mitunter Kräfte in einem frei, die man nicht gekannt und niemals bei sich vermutet hätte."

„Hubertus, woher weißt du das alles? Bist du auch ein Weltenwanderer? Was beutet die Sache mit dem Steinmond?" Nella fragte und war enttäuscht, als ihr Großvater ihr auswich.

„Ja, Nella, ich kenne mich aus, besser als mir lieb ist. Doch bitte versteht, ich kann euch zu diesem Zeitpunkt nicht mehr sagen als dies: Es gibt einige, wenige Auserwählte, die die Steinmonde tragen können. Ihr beiden, du und Justus, gehört offensichtlich dazu. Und es ist von ungeheurer Wichtigkeit, dem wahren Herrscher die Monde zu bringen, so wie es die Blutlettern befehlen."

Justus hätte die Worte der beiden zu gerne als Unsinn abgetan. Magische Ebenen, Steinmonde – was sollte dieser Quatsch? „Geh nach Hause, lass den Stein auf dem Tisch liegen und komm nie mehr hierher zurück", sagte ihm sein Verstand.

Doch Justus konnte nicht auf ihn hören. Nella und Hubertus waren nicht verrückt, er selbst hatte die Blutlettern auf dem Stein gesehen, da war sein seltsamer Traum, der immer wieder kam, das Mädchen mit dem zerzausten Haar, das er unbedingt wieder finden musste, seine ungeklärte Herkunft. So viele Fragen.

„Vielleicht findest du Antworten hier, hier an diesem Ort, auf dieser Reise", flüsterte die Hoffnung in ihm. Und Justus blieb. Blieb am Tisch sitzen und hörte sich die Worte des alten Mannes an.

„Das Spielbrett zeigt eine Landkarte. Prägt sie euch gut ein, es ist nicht schwer. Die Burg liegt im Zentrum, nahezu jeder Weg führt euch dorthin."

Justus und Nella starrten auf das Spielbrett, sahen im Westen eine Stadt, dazwischen Felder, Wald, Wasserfälle und ein Fluss. Und in der Mitte die Burg, umgeben von Felsen und Bäumen. Der Steinmond leuchtete dunkelblau.

Hubertus sprach weiter: „Ihr dürft euch nicht zu lange in dieser Welt aufhalten, sie frisst eure Seele. Ich werde euch einen Schutz mitgeben, ein Zeitmaß."

Der alte Mann ging zur Wohnzimmerkommode und zog aus der Schublade ein kleines elfenbeinfarbenes Kästchen. Darin lag auf rotem Samt ein schlichtes Schmuckstück, ein Armband, auf dem eine Reihe tiefblauer Perlen glänzten.

Hubertus zögerte für einen Augenblick, niemals zuvor hatte er mit seiner Enkelin so gesprochen. Doch sie wechselte seit Monaten die Ebenen, hatte dort viel erlebt und würde ihn verstehen. Er erklärte: „Dies ist ein einzigartiger Reif, eine Tränentropfen-Kette, ein Schmuckstück gefertigt von Elfenhand. Sie bietet euch Schutz. Doch vor allem dient sie euch als Zeitmaß: Zu jeder Mondhalbstunde wird sich ein Tropfen lösen. Haltet euch nur solange in der Welt auf wie Perlen auf der Kette sind."

Und Nella verstand in diesem Moment: Ihr Großvater glaubte ihr nicht nur all die Ereignisse, von denen sie ihm in letzter Zeit erzählt hatte. Vielmehr: Er konnte selbst in den Welten wandern. Wie sonst käme er an ein Armband gefertigt von Elfenhand?

Sie wollte fragen, doch Hubertus' Blick gebot, es sei genug. Für weitere Erklärungen sei keine Zeit.

„Ihr müsst los", drängte er plötzlich. Nella streifte sich den Elfenreif um ihr Handgelenk, Justus verstaute den Steinmond in seiner Hosentasche. Dann nahm er ihre Hand und würfelte.

Steinmondsaga 1

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