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Der hohe Raum war dunkel, so gut wie leer und erfüllt von einem scharfen, atemlosen Flüstern. Es kam vom Halbrund gleich neben der Tür, wo wieder die verrückte Alte mit ihren Plastiktüten und dem wippenden Kopfputz saß, den sie sommers wie winters zu einem schmierigen, einstmals wohl lindgrünen Trench trug. Die andere Seite des Planetariums schien unbelebt. Erst nachdem sich ihre Augen allmählich an die Schwärze gewöhnt hatten, entdeckte sie das Mädchen, so tief im Sessel versunken, als versuche sie, sich unsichtbar zu machen. Sina V. Teufel ging die paar Schritte hinüber und setzte sich schräg hinter sie. Der dünne, beinahe kindlich anmutende Nacken vor ihr schimmerte hell; der Kopf mit dem sonst so störrischen Haar war nach vorn gebeugt, als zöge ihn eine unsichtbare Last zu Boden. Kopfhörer, zwei kreisrunde Ausbuchtungen, die die Frisur seitlich eindrückten und damit Ankes aparte Schädelform unterstrichen, erinnerten sie an altmodische Ohrenschützer. Reine Tarnung, keine Frage, nichts als eine weitere Schutzmaßnahme. Sina hätte schwören können, daß sie ausgeschaltet und damit vollkommen nutzlos waren. Warum fiel ihr ausgerechnet jetzt die Szene auf dem Maskenball ein, die jahrelang zurücklag?

»Meine kleine Ägypterin!« hatte Friederike Frey geflüstert, strahlend, mit blanken Augen und perfekt geschnittenem Rabenhaar, damals noch nicht betäubt von billigem Schnaps oder Wodka oder Gin, sondern mit einem Glas Selters in der Hand, aus dem sie damenhaft nervöse Schlucke trank. Anke, in einem blaugoldenen Gewand aus Faschingsseide, das geschminkte Gesicht beinahe mürrisch vor Konzentration, führte die kindliche Polonaise an. »Du siehst es auch, oder? Die Haltung! Der Hinterkopf! Und erst der Schwanenhals! Nichts, was sie von mir hätte, und von Robert erst recht nicht. Erinnerst du dich an Luxor? Das ist das alte Theben, wie es leibt und lebt! Sie könnte direkt einem Grab im Tal der Könige entstiegen sein, findest du nicht?«

Sina spürte, wie ihre Kehle eng wurde. Sie vermißte Friederike schon jetzt! Dabei hatte sie Ankes verzweifelter Anruf erst gestern aus dem Schlaf gerissen – eine Ewigkeit, wie ihr inzwischen vorkam. Danach war sie spurlos verschwunden gewesen, trotz aller Anstrengungen nirgendwo aufzutreiben, weder bei Niko noch bei einer ihrer zahlreichen Freundinnen. Sina hatte nach einiger Überwindung sogar Robert Frey angerufen, Ankes Vater, der seit Jahren jeden Kontakt zu seiner früheren Familie verweigerte. Alles ohne Erfolg.

Erst heute morgen wußte sie plötzlich, wo sie das Mädchen finden würde. Wie selbstverständlich war sie hierher gefahren, durch Regengüsse, kalt und fahl wie gehämmertes Zinn, auf der Flucht vor Schuldgefühlen, gegen die sie eine ganze Nacht vergeblich angekämpft hatte. Eigentlich hatte sie den Trost, den sie spenden wollte, mindestens ebenso nötig.

Sie lehnte sich zurück und schloß für einen Augenblick die Augen. Friederike hatte vor ein paar Monaten wieder zu trinken begonnen. Maßlos. Und natürlich heimlich. Hätte sie es dennoch bemerken müssen? Gab es untrügliche Anzeichen, die sie fahrlässigerweise übersehen hatte? Wieso hatte sie geglaubt, die Freundin würde es auch diesmal wieder schaffen, die Depression zu besiegen, wie die vielen Male davor?

Quälend drehten sich ihre Gedanken um sinnlose Fragen, auf die es keine Antworten gab.

Als Sina wieder aufschaute, war der perfekt simulierte Sonnenuntergang schon vorüber; langsam tauchten am Nachthimmel die ersten Sterne auf. Die Show war in vollem Gange. Eine rauchige Frauenstimme sprach den Text dezent nasal, aber ohne Pathos.

»Einst waren es mutige Seeleute, die durch die Meere kreuzten, um neue Kontinente und neue Wesen zu finden – heute sind es die Teleskope der Astronomen, die die Leere durchdringen, um neue Welten zu finden. Unsere Reisen treten wir an auf dem Rücken eines Photons. Vor uns liegt die kosmische Landschaft, und unser Ziel ist nichts Geringeres als der Ursprung des Lebens, der Erde, der Sonne, der Sterne, der Galaxien, des Universums …«

Sina hätte nicht mit Bestimmtheit sagen können, ob der schmale Rücken vor ihr bebte. Ihre eigenen Tränen waren versiegt.

Im Laufe der durchwachten Nacht hatte sich der dicke Klumpen aus Kummer und Betroffenheit in ihrer Brust mehr und mehr in wütende Ratlosigkeit verwandelt, die einzige Möglichkeit für sie, das Unfaßbare halbwegs zu begreifen.

Was war Friederike nur eingefallen, sich auf solch bescheuerte Weise aus dem Staub zu machen?

Über ihnen erstrahlte der Sternenhimmel, wie man ihn in hiesigen Novembernächten betrachten konnte.

»König Winter regiert! Das Erscheinen des Himmelsjägers Orion mit seinen beiden Hunden belegt es unübersehbar …«

Das wußte sie längst – auch ohne planetarische Einführung! Seit Wochen schon war die Stadt in schweren grauen Nebel gehüllt, der die ohnehin kurzen Tage noch dunkler und trostloser erscheinen ließ. Ein Mosaiksteinchen mehr, das ihrer Freundin zugesetzt hatte, bis sie sich endgültig zum Aufgeben entschlossen hatte? Oder weshalb ausgerechnet jetzt?

»… im Altertum waren nur wenige Sternbilder der südlichen Halbkugel bekannt, Centaur, das Kreuz des Südens und das Schiff. Erst in der Folgezeit der großen Welt- und Entdeckungsreisen wurden verbindliche Benennungen eingesetzt …«

Man mußte aufpassen, um beim Hinaufschauen nicht schwindelig zu werden. Die komplizierte Apparatur über ihren Köpfen hatte sich gedreht; die Sternbilder der nördlichen Himmelshalbkugel verschwanden langsam, während die der südlichen auftauchten und immer höher stiegen. Sphärenmusik schwoll an.

»… die Orientierung am Südpol des Himmels ist nicht ganz einfach. Es fehlt ein Polarstern, es fehlen einprägsame Sternbilder. Deshalb gehen wir am besten vom Band der Milchstraße aus, das sich quer über den Himmel zieht. In den Mythen vieler alter Kulturen ist sie ein himmlischer Fluß, der Große Weg ins Jenseits oder eine kosmische Brücke, die Himmel und Erde verbindet …«

Die Gesichter der Kripobeamten kamen Sina in den Sinn, drei jüngere, gleichgültige Männer, die in Eile waren. Die ganze Angelegenheit schien ihnen ziemlich lästig zu sein. Ein paar gelangweilte Blicke in das Bad, wo die grünen Fliesen überall mit häßlichen dunklen Flecken besudelt waren, dann über die eher spärliche, abgewohnte Einrichtung. Im Institut für Rechtsmedizin in der Frauenlobstraße hatten sie das bestätigt, was sie ohnehin wußte – Selbstmord. Sie mußte dafür sorgen, daß wenigstens der Sargdeckel verschlossen blieb. Anke brauchte nicht zu erfahren, wie das Endergebnis einer Obduktion aussah: Leichen, deren Eingeweide man lustlos wieder nach innen gestopft hatte, schlampiger zugenäht als Weihnachtsgänse.

Das Mädchen war nach hinten gekommen, setzte sich neben sie und tastete nach ihrer Hand.

»Friederike ist tot, ertrunken in einer Badewanne voller Blut.« Das ganze Entsetzen über das Unfaßbare schwang in ihrem Flüstern mit. Auch Sina würde dieses Schreckensbild niemals vergessen können. Weitaufgerissene Augen. Der bleiche leblose Körper ihrer Freundin, ein gestrandeter Wal inmitten hellroter Flüssigkeit. »Jetzt bin ich eine Art Waise, oder? Sozusagen nahtlos vom Joker ins Charakterfach gewechselt.«

»… Sturzbach aus Licht und Fluß der Lüfte,

entlang dessen Bett die funkelnden Sterne

zu sehen sind

wie Gold- und Silbersand in einer Schlucht …«

Die Stimme der Sprecherin vibrierte, als sie Long-fellows gefühlvolle Verse rezitierte.

Das Schluchzen wurde lauter. Immerhin ließ das Mädchen zu, daß Sina ihr die Kopfhörer abnahm und ihr sanft über den Kopf fuhr. Keine Spur von Gel oder Spray, die Hilfsmittel, mit denen Anke für gewöhnlich ihre provozierenden Frisuren stylte. Seidig und glatt fühlte sich ihr Haar an, fast wie früher, als sie noch dicke Zöpfe getragen hatte und ihre Mutter fest entschlossen gewesen war, ihr eine sichere, unbeschwerte Zukunft zu bieten.

Sina berührte die Stelle, die sie mehr als alles andere an die menschliche Sterblichkeit erinnerte. Friederike war ganz besonders stolz darauf gewesen, daß sich die Fontanelle bei ihrer Tochter so früh geschlossen hatte. »Die hat Biß, keine Frage«, sagte sie oft wie zu ihrer eigenen Beruhigung. »Die kommt ohne Abstürze durchs Leben! Die braucht niemanden, und Robert schon gar nicht!«

»Der Kopf tut mir so fürchterlich weh«, sagte das Mädchen neben ihr mit einer piepsigen, ganz fremden Stimme. Sie hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem selbstbewußten, unberechenbaren Girlie, der Rolle, die sie in letzter Zeit am liebsten spielte. »Schon die ganze Zeit! Als ob da drin rudelweise Salamander mit scharfen Krallen hin und her rennen würden. Meinst du, das hört jemals wieder auf?«

»Ich kann mir denken, wie dir zumute ist! Hier drinnen ist auch alles ganz wund.« Sina klopfte leicht auf ihr Brustbein. »Wie witzig sie sein konnte – trotz ihrer Traurigkeit! Und wie wunderbar es war, mit ihr zu lachen! Ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich ohne sie anfangen soll.« Noch während des Sprechens merkte sie, daß sie gerade etwas Falsches gesagt hatte.

»… der Skorpion, bei uns müde am Horizont herumkriechend, erhebt sich strahlend in die Höhe. Am Äquator der Erde hat der Nachthimmel für uns Mitteleuropäer ein ungewöhnliches Aussehen: Alle Sterne und Sternbilder gehen auf und unter, und zwar genau senkrecht zum Horizont. Führt uns nun unsere Reise noch weiter nach Süden …«

»Du? Wieso denn du? Du warst doch bloß ihre Freundin! Aber ich? Ihr ein und alles! Das hat sie doch immer gesagt … und dann so etwas – sich die Pulsadern aufschneiden!« Ankes Lippen zitterten. »Ohne Vorwarnung! Ohne ein einziges Wort! Als ob ich gar nicht vorhanden wäre! Verstehst du, ich konnte nicht dabei sein, wie sie sie fortgebracht haben – ich konnte es einfach nicht!« Ihre Stimme drohte zu kippen. Sina spürte, wie tief die Verletzung sein mußte. »Nicht einmal einen Brief hat sie mir hinterlassen! Und dabei hat sie mir immer gepredigt, daß ich um jeden Preis durchhalten muß!«

Anke klang so hilflos, daß Sina krampfhaft nach einem Trost suchte. Anke war sensibel und haßte unechte Zwischentöne. Vielleicht war Provokation das einzige, was das Mädchen aus dem schwarzen Loch locken konnte.

»Und? Hältst du durch?«

»Wie meinst du das?«

Kein schlechter Anfang! Der Kopf war schon einmal empört zu ihr herumgefahren.

»Es gibt sehr unterschiedliche Arten zu trauern, leise und laute, spektakuläre und solche, die andere kaum mitbekommen. Du mußt selbst herausfinden, welche die richtige für dich ist, wenn das jetzt vielleicht auch hart in deinen Ohren klingen mag. Manche kommen am besten damit klar, wenn äußerlich alles wie immer weiterläuft.«

»Wenn du damit andeuten willst, ich sollte heute in deiner Kanzlei rabatten, dann kannst du wieder abkeimen, und zwar auf der Stelle!« Wie immer, wenn sie sich angegriffen fühlte, verfiel Anke in den aufsässigen Teenagerslang, dem sie eigentlich schon längst entwachsen war.

»Mir zum Beispiel hat es in Krisen immer geholfen, wenn ich gearbeitet habe«, erwiderte Sina scheinbar gelassen. »Natürlich löst der Alltag keine Probleme. Und Trauer kann er erst recht nicht wegzaubern. Aber er relativiert sie, weil du spürst, daß das Leben trotz allem weitergeht.« Sie war nur halbwegs mit ihrer Antwort zufrieden, dachte aber nicht daran, das Feld zu räumen. Die Aggressivität in Ankes Stimme ließ sie hoffen.

»Hast du denn überhaupt keine Gefühle? Wenn man dich so reden hört, könnte man glauben, neben einem Zombie zu sitzen.«

Sina atmete kurz durch und blieb auf dem eingeschlagenen Kurs. »Du kannst natürlich auch weiter dramatisch in Selbstmitleid machen: dich im Bett verstecken und mit Cola und Popcorn betäuben, nicht ans Telefon gehen, dich tot stellen, wenn es an der Tür klingelt. Wieder lebendig wird Friederike deswegen allerdings auch nicht.«

»Oh, Universum des Lichts –

ein so kurzes Leben habe ich nur,

um deine Wunder zu sehen,

so wenige Tage, um die Welt zu durchwandern,

so wenige Atemzüge, bis das Herz stillsteht

und ich hinaus schwebe in jenes Dunkel

hinter dem Mond.«

Die geschulte Stimme verklang. Die Sternenformationen über ihnen verblaßten. Zum Glück, dachte Sina Teufel, genau im richtigen Moment. Ankes Kultstätte anzulaufen, war für sie schon Überwindung genug gewesen. Sie brauchte Zeit, um den schmerzhaften Knoten in ihrer eigenen Brust zu entwirren. Noch mehr Hymnisches hätte sie an diesem bleiernen Morgen nicht verkraftet.

»Du kannst ein richtiges Ekel sein, weißt du das eigentlich?« sagte Anke, als das Licht anging. »Extrafies. Echt zum Abgewöhnen.«

»Na klar. Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung.« Es half ihr, bei diesem spöttischen, beinahe kühlen Ton zu bleiben. Sie konnte nur hoffen, daß es Anke ähnlich ging.

Die Alte gegenüber hatte endlich zu brabbeln aufgehört, war schwerfällig mit ihrem windschiefen Gepäck nähergekommen und musterte sie neugierig.

»Ihre Tochter?« krächzte sie. »Schönes Mädchen!«

»Sozusagen.«

Nicht einmal gelogen, dachte Sina, wenngleich sie die Vorstellung eines erwachsenen Nachkommen mit leisem Grauen erfüllte. Redfords zweite Vaterschaft hatte dieses für sie ohnehin schwierige Thema weiter belastet. Und trotzdem gab es in ihr eine ausgesprochen mütterliche Seite, was Anke betraf. Seit Friederikes Trinkerei in die erste ihrer zahlreichen Hochphasen getreten war, hatte sie sich verantwortlich für das Mädchen gefühlt, lange bevor sie die Ausbildung in ihrer Kanzlei angetreten hatte, die inzwischen erfolgreich abgeschlossen war. Hätte sie sich um Friederike noch intensiver kümmern müssen, als sie es ohnehin getan hatte? Merken müssen, daß sie wieder ihre nächtlichen Autofahrten durch den Wald aufgenommen hatte, nie länger als drei Stunden am Stück schlief und nichts mehr essen mochte?

»Wieso hast du nicht einfach ja gesagt?«

Sina erhob sich mit steifen Beinen. Zu weiche Sitzflächen rangierten ganz oben auf ihrer persönlichen Minusliste.

»Ach, auf einmal? Obwohl ich gerade noch so ein ekliges Scheusal war?«

»Kann ich bei dir wohnen? Natürlich nur, bis alles vorüber ist?« Ankes Unterlippe begann schon wieder ein verräterisches Eigenleben.

»Wo hast du eigentlich heute nacht gesteckt? Ich hab’ mir ganz schön Sorgen um dich gemacht!«

Ankes Handbewegung war unmißverständlich. Sie hatte nicht vor, diese Frage zu beantworten.

»Darf ich?« beharrte sie statt dessen.

»Und was sagt Niko dazu?«

»Hör bloß mit dem auf!« Dunkle Augenbrauen stießen über der Nasenwurzel unmutig aneinander. »Der Typ nervt mit seinem Depri-Dackelblick und dem ultrabesorgten Getue, nicht zum Aushalten! Er führt sich auf, als wären wir mindestens dreißig Jahre verheiratet. Außerdem …«, sie hielt inne, schniefte, fischte nach einem Taschentuch und schneuzte sich geräuschvoll, »wenn ich nach dieser Scheißparty am Samstag abend nicht bei ihm, sondern zu Hause geschlafen hätte, dann hätte Friederike womöglich nicht … Verdammt, Sina, ich weiß überhaupt nichts mehr!«

Ihre Augen waren ratlos und fragend zugleich.

»Diesen Schuh brauchst du dir gar nicht erst anzuziehen«, erwiderte Sina streng und merkte, daß sie sich selbst damit meinte. »Und verschon gefälligst Niko damit! Friederike hat dir seit Jahren geradezu tonnenweise Verantwortung aufgeladen, viel mehr, als du verkraften konntest. Dafür kannst du nun wirklich nichts. Ist das klar, ja?«

»Wahrscheinlich hast du sogar recht«, sagte Anke nach einer Weile. »Nur, es hilft mir leider nichts. Ich muß trotzdem ununterbrochen daran denken.« In diesem Augenblick ähnelte sie Friederike so sehr, daß Sina es kaum ertragen konnte. »Außerdem gibt es noch ein kleines Problem. Paula.«

»Du liebe Güte, das Ungetüm!« stieß Sina hervor. »Wo steckt sie denn jetzt?«

Es war Ankes Idee gewesen, die Hündin vor einem knappen Jahr aus dem Tierheim zu holen, damals noch ein verspielter Welpe, der jeden ansprang und sich darauf spezialisiert hatte, alles zu zerfetzen, was nur im entferntesten einem Schuh ähnelte. Friederike, die zu Hause für ein Übersetzungsbüro arbeitete, sollte in ihrer Einsiedelei Gesellschaft haben. Niemand konnte ahnen, daß die niedliche schwarz-weiß-gefleckte Paula mit den tapsigen Pfoten schon bald Größe und Umfang eines mittleren Kalbs annehmen würde. Sie hatte einen friedlichen Charakter, war jedoch unersättlich, was menschliche Zuwendung betraf.

»Bei Niko.«

»Da ist sie vorerst auch am besten aufgehoben, würde ich mal sagen. Du mußt dir ohnehin eine mittelfristige Lösung einfallen lassen. In die Kanzlei kannst du Paula nicht mitbringen, das siehst du doch ein, oder? Und Taifun dürfte auch nicht gerade die ideale Gesellschaft für sie sein.«

Anke nickte, schien aber nicht besonders überzeugt. Als sie weitersprach, änderte sich ihr Tonfall, wurde kindlich und fordernd. »Versprich mir wenigstens, daß du mit mir zu dieser ausgeflippten Bestatterin gehst, bitte, Sina, du mußt einfach! Ich ertrage es nicht, wenn sie meine Mama ganz normal unter die Erde bringen! Sie braucht wenigstens ihre Musik, ihre Bilder und Blumen, ihr Lieblingsparfum!«

Sina seufzte halblaut. Schließlich vertrieb sie die verlockende Vision ihrer anheimelnd leeren Wohnung, in der es nach Redfords Hinauswurf schon seit Monaten nur ein Wesen gab, das seinen angestammten Platz in ihrem Bett beanspruchen durfte: Taifun, ihr schwarzer Kater.

»Okay«, sagte sie schließlich, »du kannst vorübergehend bei mir wohnen, und natürlich begleite ich dich zu Frau Pfeffer! Aber jetzt gönnen wir uns erst einmal im Baader eine kleine Stärkung, weil Weinen zehrt, auch wenn man es nicht gleich bemerkt. Anschließend muß ich allerdings in die Kanzlei, sonst erschlagen mich die Aktenmassen. Außerdem habe ich heute nachmittag einen Termin mit Pösl, deinem Verehrer.«

»Ach, und worum geht’s diesmal? Hat er einen von Papas Schlitten schrottreif gefahren?«

»Eher eine Art Betriebsschaden. Inzwischen hat er einen Job ergattert und in der Kunstszene noch dazu. Aber es scheint Probleme zu geben.«

»Kannst du mir mal verraten, wie ich von der Kanzlei aus meinen ganzen Organisationsscheiß in die Wege leiten soll?« Anke war schon wieder bei ihren eigenen Sorgen.

»Na, per Telefon, wie denn sonst? Außerdem gibt’s zum Händchenhalten Tilly, Marina, Hanne und, falls alle Stricke reißen, sogar mich, das alte Ekel.« Sina grinste. »Hast du wirklich keine Lust, unserem neuen Azubi gleich von Anfang an klarzumachen, daß es nicht klappen wird mit seiner Macho-Idee vom ›Hecht im Karpfenteich‹?«

»Ganz schön bingo für dein Alter«, murmelte Anke.

»Muß man dir lassen. Respekt!«

»Sag’ ich doch!«

»Mußt du eigentlich immer das letzte Wort haben?«

Schon halb in der Glastür blieb Sina Teufel stehen. Halblanges Haar, von der Nässe gekräuselt, umgab das schmale Gesicht wie eine dunkle Aureole. Ihre Augen, nicht nur von Redford als mandelförmig und nachtschwarz besungen, funkelten im Augenblick eher boshaft. Ein korrekt gekleideter Herr in Grau mit Hut, Schirm und Aktentasche, sicherlich auf dem Weg ins nahegelegene Patentamt, verlangsamte unwillkürlich seinen Schritt, blieb schließlich ganz stehen und brachte ein schiefes, erwartungsvolles Lächeln zustande.

Die beiden Frauen würdigten ihn keines Blicks. Resigniert zog er weiter.

»Schon aus Prinzip!« versicherte sie und spannte schwungvoll das alte löchrige Schirmungetüm auf, ein reizvoller Gegensatz zu dem eleganten zimtfarbenen Mantel, der ihre schlanke Gestalt bis zu den Knöcheln umspielte. Sie zog die Nase kraus. »Sag bloß, du hast bis jetzt gebraucht, um das rauszufinden?«

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