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Es lief nicht gut für Doro Riedl, schon lange nicht mehr. Es lief sogar hundsmiserabel, wollte man präzise sein. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel und gab kräftig Gas, bevor der Hintermann zu einem weiteren Überholmanöver ansetzen konnte. Der Fahrgast auf der Rückbank zog die Luft scharf zwischen die Zähne und griff hektisch nach seinen Unterlagen, die ihm halb vom Schoß gerutscht waren.

Höchstens ein paar Pfennige Trinkgeld, wenn überhaupt, dachte sie resigniert. Sie erkannte diese Spezies schon von fern, die nur unwillig etwas herausrückte, aber ohne jedes Anzeichen von Scham zwei Quittungen verlangte. Früher, im Club Capri, war es für sie ab und an ein frivoles Spiel gewesen, Typen wie ihn gleich am Empfang so lange mit frechen Sprüchen zu traktieren, bis sie schließlich verunsichert wieder abzogen. Solche Extravaganzen konnte sie sich damals problemlos leisten, dank der Mund-Propaganda, der ihr aufstrebendes Unternehmen seinen Erfolg verdankte. Damals, vor der Säuberungswelle, als die Welt von Doro noch in Ordnung gewesen war und die Einnahmen des Clubs ihrem Festgeldkonto Monat für Monat erfreulichere Dimensionen verliehen hatten.

Jetzt rülpste er auch noch!

»Da brüllt der Löwe – Tschuldigung!« Sein Gesicht färbte sich rot. Er schien ihre stumme Mißbilligung gespürt zu haben.

»Aber nur ein ganz kleiner!«

Er sank, typisch Möchtegern-Macker, ein wenig in sich zusammen, wie sie mit leiser Schadenfreude registrierte.

Den Mund zur rechten Zeit zu halten, war noch nie ihre Spezialität gewesen. Einmal nur hatte sie geschwiegen, auf Empfehlung ihres Anwalts, neun endlose Monate lang. Was sich allerdings als ausgesprochene Fehlentscheidung entpuppt hatte. Wenn kein Wunder geschah – wovon sie als Realistin ausgehen mußte –, würden sich die fatalen Folgen nicht einmal bis zum Ende ihres Lebens wieder ausbügeln lassen. Denn Doro, wie sie von Kindheit an von allen genannt wurde, war nicht nur pleite, sie stand vor dem finanziellen Ruin.

Am liebsten hätte sie den lästigen Fahrgast auf der Stelle rausgesetzt, den Wagen zurückgebracht, sich in ihrem Zimmer eingeigelt und die Decke über den Kopf gezogen; aber das war leider unmöglich, jetzt, wo sie total unter Wasser war. Sie hatte ohnehin keinen Schimmer, wie es weitergehen sollte, ließ sich treiben, Tag für Tag, und steckte jedes neue Kuvert, das der Briefträger brachte, ungeöffnet zu den anderen Zahlungsaufforderungen in die Schublade. Bis in die Morgenstunden lag sie wach und träumte, wenn sie irgendwann doch einschlief, von den schleppenden Schritten vor ihrer Zelle. Auch nach einem halben Jahr in Freiheit waren die Erinnerungen an das »Wohnklo« unvermindert präsent, der Abort seitlich neben der Tür, die ganze Einrichtung nichts weiter als Tisch, Stuhl, Bett mit blaukariertem Bezug.

»Untersuchungsgefängnis? Daß ich nicht lache!« war Lilos treffender Kommentar gewesen, wegen Überbelegung für ein paar Wochen ihre Zellengenossin. Vorbei die Zeiten, in denen Knast Männersache gewesen war. Der Frauenanteil, früher konstant unter fünf Prozent, stieg langsam, aber unaufhaltsam. An erster Stelle standen Drogendelikte, draußen wie drinnen begangen. Lilo hatte nach wenigen Tagen raus, bei wem sie günstig an Stoff kommen konnte. »Früher mußte ich dafür drei Kilometer laufen, heute gehe ich zwei Türen weiter.« Ein rauhes, abschätziges Lachen.

»Scheißegal! Wir sind ohnehin abgeschrieben, deshalb kümmert sich keiner drum. Wer hier reinkommt, ist doch längst verurteilt. Du wirst behandelt wie eine Idiotin. Außer dem Toilettenknopf kannst du nichts selbst betätigen. Hast du nicht gehört, wie die Wachteln mit uns reden? Als ob wir läufige Hündinnen wären! ›Ab!‹, ›Fort!‹, ›Geh!‹ Nur ›Platz!‹ fehlt noch.«

Längst vergessen war jener kurze Moment der Erleichterung, als sich die Pforten der JVA Neudeck hinter ihr geschlossen und sie mit ihrer Reisetasche in ein warmes, viel zu helles Vormittagslicht entlassen hatten. Damals, im frühen Sommer, als gerade die letzten Kastanienblüten abfielen, war sie noch überzeugt gewesen, es zu schaffen. Trotz allem. Weil sie Doro Riedl war.

Überwältigt durch die vielen Menschen, den Lärm und den Verkehr war sie in eine staubige Grünanlage geflüchtet und hatte sich dort bäuchlings auf den Boden gelegt. Von dem trockenen, leicht aufgesprungenen Erdreich fühlte sie sich getragen und spürte, wie Kraft und Vertrauen in sie zurückflossen. Sie hatte wirklich geglaubt, die Situation in den Griff zu kriegen. Mittlerweile aber wußte sie, daß sie ihre Situation damals ganz falsch eingeschätzt hatte.

Ihr blieb keine Chance. Die Lawine, die jeden Tag über sie hereinzubrechen drohte, war zu gewaltig.

Der Typ auf der Rückbank versuchte krampfhaft eine Unterhaltung in Gang zu bringen und ließ sich selbst durch knurrige Antworten nicht entmutigen. Fehlte nur noch, daß er sie nach ihrer Telefonnummer fragte!

Sie spürte seine bohrenden Blicke in ihrem Rücken und war froh, daß es kalt war und sie eine dicke Jacke trug. Der Spiegel offenbarte unbarmherzig erste feine Falten, aber das war längst nicht alles. Auch ihr Körper hatte sich seit der Haft verändert; schwerfällig und unförmig kam er ihr vor, ohne seine einstmals straffe Geschmeidigkeit. Trotzdem fand man sie offenbar noch immer attraktiv, wenngleich sie selbst an ihrem weichen offenen Gesicht mit den dunklen Brauen und den taubengrauen Augen wahrhaft nichts Besonderes finden konnte. Wahrscheinlich lag es vor allem an den Haaren, die aschblond, dicht und leicht gewellt über den Rücken fielen, und an dem großzügigen gekräuselten Mund, der, wie ein Freund einmal gesagt hatte, zum Küssen geradezu einlud. Und unverändert machten die meisten Männer Stielaugen angesichts ihres Busens, der sich exakt an der richtigen Stelle über den Rippen wölbte.

Kein Wunder in einer Zeit voller Kleiderbügel und massenweise heruntergehungerter Möchtegern-Models, dachte sie grimmig, wo Vollblutweiber immer mehr zur Mangelware werden! Zum Angeben, ja, da gieren sie alle nach etwas Schlankem, Vorzeigbarem, dazu gedacht, das eigene Prestige zu heben und den Neid der Mitbewerber zu erregen. Ist jedoch Tuchfühlung angesagt und die Tatsachen werden nackter, kommt der Augenblick der Wahrheit: Dann stehen die meisten eben doch auf üppige, lockende Fülle, die sie alles vergessen macht.

Darauf hatten Jutta und sie damals spekuliert – und ihre Rechnung war aufgegangen. Bei der Auswahl der Mädels hatten sie auf Kurven und pralle weibliche Erotik gesetzt. Natürlich hatte Club Capri auch etwas für die Liebhaber der schlanken Weiblichkeit im Angebot, Dolores und Rosemarie zum Beispiel, von den anderen halb spöttisch, halb liebevoll »Brett mit Warzen« genannt. Besonders gefragt aber waren die Spezialbehandlungen von Bambi, Ramona und Natascha, alle drei groß, stramm und ausgesprochen sexy.

Die Idee mit den Namen aus den Fünfzigern stammte übrigens auch von Jutta, die zudem für die Ausstattung der Räume und die aufreizende Kleidung der Mädchen im Stil jener Zeit plädiert hatte. Von Getränken und der passenden Musik ganz zu schweigen. Es war immer wieder ein toller Anblick gewesen, wenn selbst die verklemmtesten Typen bei den ersten Takten der »Caprifischer« oder »Am Tag, als der Regen kam« mit ihren Jacketts, Hemden, Socken und Unterhosen auch alle Hemmungen fallen ließen!

Nein, um pfiffige Einfalle war Jutta Bengert nie verlegen, dachte Doro bitter. Und wie sie mich verladen hat – mit den geklauten Schecks, die angeblich ihre Schulden auf unserem Betriebskonto decken sollten! Als die Sache aufflog, war sie längst verschwunden und ich als einzige zu greifen und dafür haftbar. Was sie wohl gerade so treibt? Keine Frage! Jutta sitzt jetzt wahrscheinlich irgendwo mit einem neuen Kerl unter Palmen, brütet ein neues Projekt aus und erzählt amüsante Geschichten über meine Gutgläubigkeit.

»Halten Sie hier. Hier habe ich gesagt!«

Sie bremste hart. Der Fahrgast, trotz ihrer Aufforderung natürlich unangeschnallt, schoß dabei mit seinem parfümierten Haarkranz gefährlich weit nach vorn.

»Können Sie denn nicht aufpassen?« krächzte er.

»Achtzehnsiebzig.« Sie stellte die Uhr ab.

»Neunzehn.« Gönnerhaft klang er auch noch! »Mit Quittung, natürlich! Kann ruhig ein bißchen mehr draufstehen, schöne Frau!«

Sie schrieb exakt achtzehnsiebzig auf und zählte ihm boshaft sechs Fünf-Pfennig-Stücke als Wechselgeld in die Hand, als wäre sie schwerhörig. Als er kopfschüttelnd endlich draußen war, kurbelte sie das Fenster runter und streckte trotz Kälte und Regen den Kopf hinaus. Eisige Tropfen trafen ihre erhitzte Haut, beinahe ein Gefühl wie das Gesichtspeeling, das sie sich schon längst nicht mehr leisten konnte.

Zum erstenmal an diesem lausigen Montag fühlte sie sich ein bißchen besser. Finanziell mochte sie am Ende sein, von aufgeblasenen Männern heruntermachen ließ sie sich deshalb noch lange nicht! Doro beschloß, eine kurze Kaffeepause einzulegen und steuerte das freundliche Café am Kurfürstenplatz an. Sie mußte ihre Kräfte einteilen, denn die Arbeitsstunden, die vor ihr lagen, waren noch lang. Nach dem Taxifahren ging es mit kurzer Unterbrechung sofort weiter. Duschen, schminken, Haare eindrehen. Jeden zweiten Abend. Und selbstverständlich das ganze Wochenende.

Kein Grund zum Jammern. Sie konnte froh sein, daß sie den Job im Nikita überhaupt bekommen hatte. Obwohl sie laute Musik haßte und Rauch nur noch schlecht vertrug. Aber wo sonst als in der Gastronomie ließen sich in einer Schicht zweihundert Mark schwarz machen?

Den jungen verwöhnten Stammgästen, die Nacht für Nacht in den unbequemen roten Plüschsesseln saßen, viel zu warmen Wodka soffen, fettige Reibekuchen mit Kaviar-Ersatz oder versalzenen Borscht löffelten, schien ihre knappe, manchmal fast unfreundliche Art zu gefallen. Wahrscheinlich hielten sie sie in ihrer bestickten Kosakenbluse, dem kurzen Faltenrock und den roten Schaftstiefeln sogar für eine Russin, die kaum deutsch sprach. Ob sie diese Doppelbelastung noch lange durchstehen würde, war allerdings fraglich. Immer öfter war sie schon beim Aufstehen so ausgelaugt, daß sie kaum noch die Augen aufbekam. Dann schien die ganze Welt um sie herum in Watte verpackt und mit jedem Schritt, mit jedem Atemzug, immer weiter vor ihr zurückzuweichen.

Wie unter Wasser, dachte Doro, stieg aus und schloß die Autotüre ab. Sie spürte, wie der Kloß in ihrem Hals anschwoll. Vermutlich würde sie wieder kaum etwas hinunterbekommen, obwohl ein hungriges Tier in ihrem Magen lauerte. Das Sodbrennen wurde stärker. So kann es nicht weitergehen, dachte sie und studierte lustlos die Speisekarte, es muß etwas passieren!

Am Nebentisch quengelten zwei kleine Jungen nach einem Eis, bis die Mutter seufzend nachgab. Einer von ihnen hatte dichte dunkle Locken, gebogene Wimpern und Grübchen, Vorzüge, die er schon im Vorschulalter geschickt einzusetzen wußte. Fast wie Raffi, der Kleine von Marina König, die ebenfalls zwei Abende die Woche im Nikita jobbte, um ihren immensen Schuldenberg abzutragen. Vor ein paar Wochen waren sie nach der Arbeit ins Gespräch gekommen und hatten festgestellt, daß sie sich mit ähnlichen Problemen herumschlagen mußten. Allerdings stand Marina unvergleichlich besser da als sie. An ihrem finanziellen Horizont zeigten sich bereits kräftige Silberstreifen.

Eine aufgedonnerte Brünette ging vorbei, ließ den Pelzmantel filmreif über die Stuhllehne gleiten und bestellte Sekt und Räucherlachs. Juttas Lieblingsgericht in allen Lebenslagen.

Die grenzenlose Wut, die Doro so lange nicht mehr gespürt hatte, meldete sich schlagartig zurück. Sie dachte an ihren roten Ferrari, den sie hatte verkaufen müssen. Beinahe hundertdreißigtausend Mark miese mit Zins und Zinseszinsen, die ständig stiegen, Wohnung und Auto verloren, horrende Anwalts- und Gerichtskosten, die Rückversicherung im Nacken, von der sich die geschädigte Bank alles zurückgeholt hatte – das hatte sie jetzt von ihrer gottverdammten Gutgläubigkeit! Damit war der Traum von der Selbständigkeit erst einmal ausgeträumt, der Wunsch nach einem Kind in unerreichbare Ferne gerückt. Natürlich hatte sie keinen Pfennig mehr auf dem Konto. Wozu auch? Jede offizielle Mark würden sie ihr gnadenlos bis auf das lächerliche Existenzminimum von tausendzweihundert wegpfänden.

Sie warf den Kopf in den Nacken und schaute sich herausfordernd um. Plötzlich schien selbst der Dauerregen draußen nicht mehr so trist und grau. Verdammt noch mal, sie war doch kein feiger, passiver Opfertyp, der sich duckte und klein beigab, obwohl sich anscheinend alle nach Kräften bemühten, sie dazu zu machen!

Doro zog die Visitenkarte, die Marina König ihr beinahe aufgedrängt hatte, aus ihrer Brieftasche.

Dr. Sina V. Teufel, Rechtsanwältin, Maximiliansplatz 7.

Eigentlich hatte sie von Anwälten die Nase gestrichen voll und sich geschworen, niemals mehr einen Fuß in eine Kanzlei zu setzen. Leisten konnte sie sich juristischen Rat ja ohnehin nicht. Sie zögerte einen Augenblick.

Natürlich hatte sie noch die stark zusammengeschmolzene Reserve im Ausland, von der niemand etwas wußte, das letzte bißchen, daß sie von ihrem einstigen Vermögen in Sicherheit gebracht hatte. Ob sie ihre Meinung nicht doch ändern und etwas davon in eigener Sache investieren sollte? Vorausgesetzt natürlich, die Anwältin gefiel ihr. Immerhin bestand die Chance, daß eine energische Frau ihren verkorksten Fall ganz anders anpacken würde als das Gros ihrer männlich-überheblichen Kollegen.

Und außerdem: Was hatte sie schon zu verlieren? Viel schlimmer konnte es nicht mehr werden.

Petermanns Verkehr

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