Читать книгу Petermanns Verkehr - Lara Stern - Страница 7
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ОглавлениеEr war viel zu spät dran, ungewohnt blaß und hippelig. Tilly Malorny, mit dicken mascaraverweinten Augen, Zeichen ihrer unerschütterlichen Solidarität mit Anke, brachte Peter Pösl herein. Taft raschelte, als sie ihn bat, am Besprechungstisch Platz zu nehmen. Sie servierte Kaffee, Zucker und Sahne und rückte den Aschenbecher unerreicht anmutig vor ihm zurecht. Nach einem tiefen letzten Seufzer verließ die schwergewichtige Bürochefin der Kanzlei Teufel & Bromberger ungewohnt schweigsam wieder das Zimmer.
Sina unterzog ihren Mandanten einer kritischen Musterung. Keine Spur mehr von dem braungebrannten, stets zu Scherzen aufgelegten Studenten, der sein Examen hinauszögerte, weil Papas großzügige Apanage weiterlief und er seine Zeit lieber vor abstrakter Kunst als hinter betriebswirtschaftlichen Skripten verbrachte! Inzwischen gab es reichlich Probleme in seinem Leben. Seitdem ein Schlaganfall das Familienoberhaupt Reginald an den Rollstuhl gefesselt hatte, hielt die Frau Mama das Geld eisern zusammen. Sein eigenes Söhnchen Jonathan war kein dickes freundliches Baby mehr, sondern ein hyperaktiver Schreihals, den kein Kindergarten freiwillig behielt; Julia, seine kapriziöse Gattin, konnte und wollte ihre Ansprüche nicht reduzieren.
Und zu alledem schien sich nun auch noch sein erster Job als Fiasko zu entpuppen.
Sina Teufel hatte seine weitschweifigen Ausführungen immer wieder durch knappe Fragen unterbrochen. Als er endlich geendet hatte, standen winzige Schweißtröpfchen auf seiner Stirn. Sogar der mausbraune Haaransatz, merklich lichter als noch im letzten Jahr, war feucht. Er lehnte sich zurück und angelte nach dem Aschenbecher. Zumindest sein Hang zu teuren Zigarillos schien ungebrochen.
Sina warf einen Blick auf ihre Notizen.
»Sie sind also seit fast zwei Monaten als Geschäftsführer angestellt?«
»Richtig«, sagte er matt. »In der Galerie Jason Henrik del Mestre. De facto allerdings eher als gehobener Privatsekretär«, er machte eine wirkungsvolle Pause, »der bis heute nicht eine Mark Gehalt gesehen hat.«
»Kündigen Sie, Herr Pösl!«
»Ist das Ihr Ernst?« Runde blaßblaue Augen starrten sie überrascht an.
»Allerdings. Der Mann ist ein Betrüger, wenn Sie mich fragen.«
»Weshalb sind Sie so sicher?«
»Sie nicht?« konterte Sina und spielte mit ihrem neuen dunkelroten Füller, der sich perfekt in ihre Hand schmiegte. Edles Schreibgerät war eines ihrer Laster, dem sie immer wieder gern erlag.
»Doch«, sagte er belegt. »Eigentlich kamen mir schon Zweifel, als ich zum ersten Mal seine Bilder sah.«
»Klagen können wir natürlich. Wenngleich ich Ihnen keine übertriebenen Hoffnungen machen möchte, nach allem, was Sie erzählt haben. Sind Sie noch rechtsschutzversichert?«
Keine Schonung! Er mußte wissen, was ihn erwartete. Und sie, ob mit Honorar zu rechnen war.
Pösl nickte.
»Weshalb haben Sie mich eigentlich nicht schon früher informiert?«
»Schließlich lief die Stellenanzeige über Kienbaum. Und del Mestre hat mir versichert, es handle sich nur um einen momentanen Engpaß. Mein Entgegenkommen solle belohnt werden; Oktober- und Novembergehalt plus tausend Mark extra. Das wären dann rund zehntausend netto.« Er ließ ein freudloses Lachen hören. »Allerdings glaube ich nicht, daß er das bezahlen kann, es sei denn, er hätte noch irgendwo ein Geheimdepot. Aber das ist mehr als unwahrscheinlich. Sonst wären wohl kaum noch etliche Monatsmieten für die Galerie offen, Druckereirechnungen für diverse Kataloge und Einladungen, die Leasingraten für den Kopierer, und so weiter, und so weiter, und so weiter.«
»Aber wie hat er sich denn bislang finanziert?«
»Über die Bank!«
»Und wer hat dafür gebürgt? Nach einer soliden Ausgangsbasis klingt das ja nicht gerade.«
»Ein Ehepaar, Ira und Kilian Blum, Pächter des Schwabinger Künstlertreffs. Komischer Laden, scheint aber ganz gut zu laufen. Ich glaube, sie arbeitet auch noch in ihrem Beruf als Logopädin.«
»Und die haben plötzlich keine Lust mehr? Weshalb?«
»Oder keine Sicherheiten mehr, keine Ahnung!« Er legte den Kopf schief und schaute sie beinahe treuherzig an. »Del Mestres Kasse ist jedenfalls total leer. Können Sie sich vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich beim Durchgehen der Bücher zwar immense Verbindlichkeiten, aber keine Mark Umsatz feststellen konnte? Nicht ein einziges verkauftes Bild! Dabei hat er, abgesehen von seinem eigenen Geschmiere, durchaus Geschmack und Stil.« Pösl zog heftig an seinem Zigarillo. »Sie müßten nur mal den Aufwand sehen, den er betreibt! Feinste Champagnersorten, Armani-Anzüge, Designerschmuck. Im Parterre die Galerie, dicker Teppichboden, Leinentapete, vergoldete Türbeschläge. Und oben unsere edlen Büros. Da sitze ich nun in einem Chefsessel, der schlappe dreitausend wert sein dürfte, Auge in Auge mit einer sündteuren Eiscrashmaschine, und weiß nicht, wie ich meine nächste Miete bezahlen soll. An Weihnachtsgeschenke für die Familie gar nicht zu denken!«
»Was malt er denn?« fragte Sina. So unauffällig wie möglich zog sie die Schultern bis zu den Ohren, um sie ruckartig wieder sinken zu lassen. Keine große Besserung, leider! Der Nacken blieb unverändert hart und steif. Die furchtbare Nacht steckte ihr in den Knochen. Draußen im Sekretariat hörte sie ihre Sozia Hanne Bromberger ein paar knappe Anweisungen geben. Zuerst antwortete Thilo Grimm, der neue Azubi, der sie mit seinen unbeholfenen Bewegungen, den staunenden Augen und rundlichen Gliedmaßen an einen Neufundländer im Wachstum erinnerte. Was ihn freilich nicht hinderte, seine unbeholfene Männlichkeit schon am ersten Tag herauszukehren. Und jetzt Anke. Wie spröde und traurig ihre Stimme klang! Vielleicht sollte sie die Kleine doch ein bißchen früher nach Hause schicken und sich nach Möglichkeit etwas halbwegs Intelligentes für heute abend einfallen lassen. Allerdings stand ihr der Sinn nicht gerade nach verkrampfter Aktivität. Auf der anderen Seite hatte sie ebensowenig Lust, bedrückt neben Anke auf dem Sofa zu sitzen. Wieso nur waren die modernen Menschen so hilflos und ungeschickt, was Tod und Trauer betraf? Besonders weit hatte es die Menschheit wirklich nicht gebracht, auch wenn sie oftmals vom Gegenteil überzeugt war. Jede archaische Gesellschaft hätte dafür ein passendes Ritual gehabt.
»Madonnen.«
»Madonnen?« wiederholte sie ungläubig.
»Madonnen«, bekräftigte er. »In Öl, neorealistisch, überdimensional und vorzugsweise auf violetten Samt gehängt. Eindrucksvollere Scheußlichkeiten können Sie sich kaum vorstellen.«
»Ach, unterschätzen Sie mich bloß nicht! Ich hab’ jede Menge Phantasie.« Ihr kurzes Lächeln verschwand wieder. »Nein, ganz im Ernst, Herr Pösl, wir müssen etwas tun. Allerdings kommt es jetzt auf ein paar Tage auch nicht mehr an. Sie kündigen – aber erst am Monatsende. Bis dahin wissen wir definitiv, ob er zahlt oder nicht. Nehmen Sie schon mal Kontakt mit diesen Blums auf und versuchen Sie, mehr über del Mestres finanziellen Hintergrund herauszufinden. Denn was nützt uns der schönste Prozeßgewinn, wenn der Gegner vollkommen blank ist?«
Pösl verabschiedete sich wortkarg. Sina brachte ihn selbst zur Tür, weil sie Bewegung und eine neue Flasche Mineralwasser brauchte. Noch immer empfand sie die Luft in ihrem Büro als unangenehm trocken, trotz des neuen Befeuchters, der seit heute morgen seinen Kampf gegen die Heizung aufgenommen hatte.
»Carlo hat gerade angerufen«, rief ihr Hanne Bromberger zu, als sie die kleine Teeküche wieder verließ. »Der ist vielleicht mies drauf!«
Täuschte sie sich, oder war Hannes Miene ebenfalls umwölkt? Die kurzen fuchsroten Haare standen frech um ihren schmalen Kopf wie immer; die grünlichen Augen aber wichen Sinas Blick aus. Sie hatte in letzter Zeit auffallend wenig von Bill Bergis erzählt, ihrem ebenso launischen wie anspruchsvollen Geliebten, der ihr mit seinen Kapriolen oft genug das Leben schwermachte. Wollte er nicht dieser Tage nach Lettland fahren, um in seiner Heimat an einem Kongreß über nordische Filme teilzunehmen?
»Immerhin ist er noch am Leben«, fuhr Hanne fort. Sie war bedrückt, keine Frage, sogar sehr. Sina erkannte es an der steilen Unmutsfalte zwischen den Brauen. »Trotz Fieber, Halsschmerzen und fürchterlichem Bronchialasthma … also sozusagen in den vorletzten Zügen. Wenn du heute nicht bei ihm vorbeikommst, kann er für nichts garantieren.«
»Alter Hypochonder!« knurrte Sina. »Beim ersten Hustenanflug denkt er schon, die Welt geht im nächsten Augenblick unter!«
Ihre Sozia war bereits wieder in ihrem Büro verschwunden. So leid es ihr um Hanne tat, sie mußte leider noch ein Weilchen im eigenen Saft weiterschmoren. Sinas Kapazitäten als Florence Nightingale waren für heute deutlich überstrapaziert.
Carlo van Rees war Psychoanalytiker mit gutgehender Praxis und ein paar Unterrichtslehrstunden an der Uni; in den vergangenen Jahren hatte sie mit seiner Hilfe eine Reihe aufregender Kriminalfälle gelöst. Sina war stolz auf diese ungewöhnliche Beziehung, die sich von einer für beide Seiten unbefriedigenden Affäre nach und nach in eine echte Freundschaft gewandelt hatte. Der einzige Mann, der sich auf Dauer in meinem Leben hält, dachte sie mit leiser Bitterkeit.
Sie zuckte mit den Achseln und verbat sich jeden Gedanken, der in Richtung eines gewissen Journalisten abdriften wollte. Zum Teufel mit Pit Klein, der für sie noch vor kurzem Redford und die Verheißung neuen Glücks gewesen war! Auch keinen Deut besser als seine unseligen Vorgänger. Sollte er doch ersticken an seinem frischgebackenen Vaterglück!
Klar, daß sie Carlo auf dem Nachhauseweg besuchen würde! Ihr Umgangston war zwar mitunter rauh, nichtsdestotrotz akzeptierte Sina Carlos Eigenheiten ebenso wie er die ihren. Jetzt, nach Friederikes Selbstmord, gab es ein paar wichtige Dinge, die sie gern von ihm erfahren hätte, ein nicht nur eigennütziger Wunsch. Carlo zum Reden zu animieren war die garantiert wirksamste Methode, ihn schnell wieder auf die Beine zu bringen – von hauchdünn geschnittenem Parmaschinken und Chianti einmal abgesehen.
»Kann ich zwischendrin mal ganz kurz in eigener Sache?« Marina König stand mit einer dicken Akte in der Tür. »Neuigkeiten! Aber ausnahmsweise mal vielversprechende. Sie scheinen diesen Barth endgültig weichgeklopft zu haben. Meine Hochachtung.« Ihre braunen Augen leuchteten. »Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne Sie gemacht hätte!«
»Danke«, murmelte Sina. »Zu irgend etwas müssen Anwälte ja gut sein!«
Sie gingen das Schreiben zusammen durch, ganz das eingespielte Team, zu dem sie im Laufe von Marinas wechselvoller Entschuldung geworden waren. Nach zähem Ringen war die Rückversicherung nun endlich dazu bereit, siebentausend Mark der Gesamtschuld zu erlassen. Vorausgesetzt, Marina König zahlte den Rest pünktlich in vereinbarten Monatsraten.
»Und Sie kommen nicht mit?« Manchmal wirkte Marina sehr viel jünger als sechsundzwanzig. »Wirklich nicht?«
»Ich kann, wenn Sie unbedingt wollen. Allein wirken Sie allerdings glaubhafter. Die Reue in Person … und hoffentlich die wandelnde Bescheidenheit!« Sina betrachtete gedankenvoll Marinas wollweißen Hosenanzug, der ihr hübsches Hinterteil und die schlanken, langen Beine vorteilhaft zur Geltung brachte. »Ziehen Sie sich ruhig nett an, aber nicht zu teuer. Sonst fliegt unsere hübsche Legende von der verzweifelten jungen Mama am Rand des Existenzminimums noch auf.«
Niemand mußte etwas von den diskreten Arrangements wissen, die sie einvernehmlich getroffen hatten und die sogar Marinas kleinen Wagen einschlossen. Schließlich hatte die junge Frau nicht nur sich, sondern auch ihren fünfjährigen Sohn Raffael zu versorgen.
»Hoffentlich ist Barths Chef nicht dabei.« Marina zog einen Flunsch. »Dieser Widerling! Was’n Glück, daß ich mit diesem Petermann nichts Näheres zu tun haben muß!«
Halb im Gehen blieb sie noch einmal stehen.
»Ja?« sagte Sina, die Hand schon wieder am Diktiergerät.
»Noch etwas, Frau Teufel.« Ihr Ton wurde bittend.
»Es geht um Doro, eine Kollegin aus dem Nikita. Sie wissen schon, die Kneipe, in der ich manchmal abends aushelfe. Sie steckt in ganz ähnlichen Schwierigkeiten wie ich damals …«
»Sie hat doch nicht etwa auch Abonnentenzahlungen auf das eigene Konto umgeleitet und jetzt die Kripo am Hals?«
»Nein«, sagte Marina König belegt.
Noch immer reagierte sie empfindlich, wenn man sie auf das Kapitel in ihrer Vergangenheit ansprach, das sie am liebsten ungeschehen gemacht hätte. Das aber ließ Sina Teufel nicht zu. Schon aus Prinzip. Es nützte nichts, den Kopf in den Sand zu stecken, so die Dauerpredigt, im Freundeskreis wie gegenüber ihren Mandanten. Man mußte sich aktiv mit dem auseinandersetzen, was passiert war, die einzige Chance, künftige Fehler zu vermeiden.
»Das nicht. Sie hatte so eine Art Club …«
»Und wo liegt das Problem?«
»Na ja, es war wohl eher ein Massagesalon, Sie wissen schon! Nicht legal natürlich, aber profitabel. Vornehme Kundschaft! Bis eines Tages eine Razzia kam und sie immense Steuern nachzahlen mußte. Zu allem Übel wurde sie auch noch von ihrer Partnerin reingelegt. Sie war sogar ein paar Monate in Untersuchungshaft, hat aber nur Bewährung bekommen. Jetzt ist sie wieder draußen und weiß nicht, wie sie die ganzen Schulden bezahlen soll. Und deshalb dachte ich, vielleicht …«
»… am besten schicken Sie sie gleich vorbei. Wie heißt die Dame?«
»Doro. Dorothea Riedl.« Marina nickte mehrmals.
»Ich hab’ sie morgen nachmittag dazwischen geschoben, in die Megaron-Lücke. Frau Leuthaus hat abgesagt, weil sie nach Berlin muß. Sie kommt dafür am Freitag. Ich hoffe, es ist Ihnen recht! Doro arbeitet Tag und Nacht, fahrt Taxi, kellnert und spart jeden Pfennig, aber bei diesen Schulden nützt es natürlich weder vorn noch hinten …«
»Schon gut, schon gut.« Ihr Blick glitt über das Büro, hell und sparsam mit ausgesucht schönen funktionalen Möbeln eingerichtet. Plexiregale. Moderne Fotokunst an den Wänden, eine afrikanische Plastik neben dem Besprechungstisch. Eine kleine chinesische Seidenbrücke. Nichts Pompöses. Der ideale Ort, um kreativ und effektiv zu arbeiten – zumindest für eine Frau wie Sina V. Teufel. »Wir werden ihren Schuldenberg nicht durch überzogene Honorarforderungen vergrößern – ist es das, was Sie meinen?«
Marina errötete leicht, nickte und ging.
Es war nicht einfach, Carlo mit sanfter Gewalt zum Inhalieren zu bewegen, aber schließlich gelang es ihr doch. Als er wieder unter dem Handtuch auftauchte, hatte sie bereits das Bett neu bezogen, das Zimmer gelüftet und den Rotwein entkorkt.
Auf einem kleinen Tischchen standen Schinken, Weißbrot, eingelegte Meeresfrüchte und ein paar Oliven.
»Ich wußte gar nicht, daß du so fürsorglich sein kannst.« Carlo räusperte sich mehrmals, ein untrügliches Zeichen seiner Rührung. Mit seinen hellen Haaren, den blauen Augen und dem kurzen graumelierten Bart, den er sich in den letzten Wochen zugelegt hatte, erinnerte er Sina an einen pfiffigen, leicht heruntergekommenen Seeräuber.
»Habt ihr euch eigentlich alle abgesprochen? Anke hält mich für ein Ekel, du für eine kalte, hartherzige Ziege, und was Friederike betrifft …« Sie brach ab.
»Jetzt aber ins Bett und zwar sofort! Sonst wirst du wirklich noch so krank, wie du tust.«
Mit einem wohligen Seufzer streckte er sich unter der Decke aus. Dann veränderte sich sein Blick.
»Zwei Gläser. Und nur ein Teller? Willst du nicht mit mir essen? Das ist unverantwortlich. Nichts wird meine Heilung so effektiv beschleunigen wie deine charmante Gegenwart.«
Er klang eigentlich wie immer, aber da war ein seltsamer Ausdruck in seinen Augen, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Begehren? Hoffnung? Anspannung? Nein, sie waren alte Freunde, nichts weiter! Sie mußte sich täuschen. Das war unmöglich! Oder rechnete sich Carlo tatsächlich neue Chancen aus, seitdem sie Pit den Laufpaß gegeben hatte?
»Keinen Appetit!« sagte sie eine Spur zu schnell.
»Und außerdem kann ich Anke an unserem ersten Abend nicht zu lange allein lassen. Ja, du hast richtig gehört. Sie wohnt für ein paar Tage bei mir.«
Carlos Gesichtsausdruck verriet tiefe Skepsis.
»Nur bis alles vorbei ist! Sie hat so gebettelt. Da konnte ich schlecht nein sagen, oder?« Nachdenklich trank sie einen Schluck. »Was ich dich noch fragen wollte: Meinst du eigentlich, ich hätte merken müssen, wie mies Friederike drauf war? Ich hatte so verdammt viel zu tun in letzter Zeit!«
»Wir Modernen haben eine merkwürdige Art, mit Depressionen umzugehen«, erwiderte Carlo, der nicht ganz glücklich über den abrupten Themenwechsel schien. »Allein das Wort versetzt uns schon in Unruhe. Deshalb versuchen wir diesen Zustand so schnell wie möglich zu verdrängen. Dabei ist er an sich weder gut noch schlecht. Sondern nur etwas, das die Seele zur rechten Zeit und mit gutem Grund tut. Selbst wenn wir es nicht auf Anhieb verstehen.«
»Und Sterben? Was ist damit?« Sina erschrak, wie scharf ihr Ton geworden war.
»Wir alle sind die seinen … Jeder von uns schuldet dem Tod ein Leben …«
»Werd bloß nicht lyrisch auf deine alten Tage. Immerhin hat sie sich umgebracht!«
»Es gibt Kurzschlußhandlungen. Racheakte. Abrechnungen. Fluchten. Lang geplante Abschiede und was weiß ich noch alles.« Sein Mund verzog sich leicht.
»Für mich war die Welt schon immer ein seltsamer Ort, an dem ständig unerklärliche Ereignisse passieren. Damit stehe ich übrigens in bester Tradition. Die Alten brachten die Melancholie in Verbindung mit dem Gott Saturn. Für sie ist er der Herrscher der Zeit und der große Schnitter in einer Person. Vielleicht sollten wir uns diese Vorstellung ab und zu wieder bewußt machen. Wir wissen nur, daß sich Friederike für den Tod entschieden hat. Ihre Gründe kennen wir nicht. Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als ihre Entscheidung zu akzeptieren.«
»Das kann ich nicht.« Sie stand auf. »Jedenfalls nicht so. Weißt du, was ich die ganze Zeit denke? Daß sie nicht mehr weiter wußte und unsere Hilfe gebraucht hätte. Niemals hätte sie sonst auf diese Weise ihre Tochter zurückgelassen …«
»… eine erwachsene junge Frau, die längst ein eigenes Leben hat. Schön, daß du dich um sie kümmerst, Sina. Aber übertreib’s nicht. Was Anke jetzt dringend braucht, sind sicherlich Mitgefühl und Anteilnahme, aber keine Ersatzmutter, die sich wild engagiert, um von ihren eigenen Problemen abzulenken. Hand aufs Herz: Noch vor ein paar Monaten hättest du dich garantiert anders verhalten. Jede Wette sogar! Weil du damals deine Abende und Nächte viel lieber in den Armen eines gewissen Herrn …«
»Wirklich erstaunlich, wie fit du schon wieder bist!« Sie griff nach ihrer Handtasche. »Das ist kein Thema, ja! Merk dir das endlich! Wie oft soll ich es dir noch sagen?«
»Zum schnellen Rückzug geblasen, die Seele voller stolzer Narben? Weil ich, anstatt dir Absolution zu erteilen, lieber ein bißchen in deiner Psyche herumgestochert habe?«
Er lächelte süffisant, eigentlich wie immer. Sina war trotzdem irritiert. Keine Frage, er schaute sie anders an als sonst!
Seine nächsten Worte verstärkten ihr Unbehagen.
»Wahrscheinlich liebe ich dich gerade deshalb, meine schöne, wilde Unverbesserliche! Ich kann nur hoffen, du ahnst, wie sehr!«
»Quatschkopf!« murmelte sie und knöpfte ihren Mantel zu. Der Saum war im Straßendreck ganz schmutzig geworden. Sie mußte das gute Stück unbedingt in die Reinigung bringen. Dinge, die ihr ausgesprochen lästig waren und trotzdem erledigt werden mußten. Die treusorgende Perle, die solche Dienste diskret und zuverlässig für sie übernehmen würde, blieb nach wie vor ein unerreichbarer Wunschtraum. Frau Jacobescu, die seit ein paar Jahren bei ihr putzte, entsprach ihm allenfalls ansatzweise. Sie war überempfindlich, was Kritik betraf, und tat ohnehin, was sie wollte.
Carlo hüstelte leise. Dieser waidwunde Blick – zum Davonlaufen. Der alte Freund in neuer Liebe entflammt, das hätte ihr gerade noch gefehlt!
»Und ruf gefälligst morgen bei mir an«, sagte sie eine Spur ruppiger als nötig, »aber rechtzeitig! Nicht erst wieder abends, wenn alle Läden längst zu sind und es eine Riesenaktion ist, irgendwo solche Spinnereien wie Wildschweinsalami oder original toskanisches Olivenbrot aufzutreiben. Falls es dir dann wirklich noch nicht besser geht, komme ich wieder!«
»Das klingt ja fast wie eine Drohung.«
Seine Augen suchten ihren Blick. Sehnsuchtsvoll? Hoffnungsschwer? Auf jeden Fall mit einem vielsagenden Funkeln, das sie nicht zu deuten wußte.
Sina lenkte ihre gesammelte Konzentration auf die viel zu breite Ritze zwischen Wand und Boden, in der sich fettiger, schwarzer Staub von Jahrzehnten gesammelt haben mußte. Paßte gar nicht zu Carlo und seinen ästhetischen Ansprüchen!
»Genauso ist es auch gemeint«, erwiderte sie kratzbürstig.
Er lauschte dem entschlossenen Stakkato ihrer Stiefel im Flur. Dann hörte er, wie die Tür ins Schloß fiel, und grinste.
Endlich konnte er seinen Neffen anrufen.