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Zug I | Waggon 1

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Der Regionalexpress 11002 von Hamburg nach Sylt sieht heute aus wie – Horst fehlen die Worte. »Das ist kein Zug, das ist eine Leichenschau«, flucht er leise vor sich hin, damit die Reisenden auf dem Bahnsteig neben ihm ihn nicht hören können. Lauter uralte Waggons, kreuz und quer durcheinandergewürfelt, die meisten von ihnen mit Graffiti beschmiert. Fast wäre Horst wieder nach Hause gegangen, hätte sich krank gemeldet, als »sein« Zug gegen viertel nach fünf Uhr auf Gleis sechs bereitgestellt wird und langsam an ihm vorbeirollt – aber »blau machen« kam für Horst noch nie in Frage, das gehört sich nicht. Es ist bereits hell. Jenseits der Bahnsteigüberdachung fallen Regentropfen ins Gleisbett. Nachdem die wenigen Passagiere, die meisten in T-Shirts und Shorts, eingestiegen sind, lässt Horst pünktlich um 5.29 Uhr abfahren.

»Sehr verehrte Fahrgäste der Regionalbahn Schleswig-Holstein, wir begrüßen Sie auf unserer Fahrt von Hamburg-Altona nach Westerland!« Horst klingt über die Zuglautsprecher wie immer, verzichtet auf einen Hinweis bezüglich der alten Waggons. Die unzählbaren Aufkleber an den Scheiben sprechen für sich. Mit launigen Sprüchen bittet die Marketingabteilung darauf um Verständnis für die »eingesetzten Fahrzeuge, die nicht dem gewohnten Standard entsprechen«.

Schnell hat Horst seinen ersten Kontrollgang erledigt, bis er am Ende des Zuges ein junges übernächtigtes Mädchen antrifft, das sich augenscheinlich deshalb so tief in seinen Sitz verkrochen hat, um übersehen zu werden.

»Die Fahrkarte, bitte«, sagt Horst.

»Ich habe keine«, antwortet die Kleine flüsternd.

»Wo wollen Sie hin?«, fragt Horst in strengem Ton nach.

»Nach Hause«, lautet die weinerliche Antwort.

»Und wo ist das?« Horst muss sich zusammenreißen. Wenn er etwas hasst, dann sind es Schwarzfahrer.

»Mein Freund hat mich betrogen!«, erklärt die Jugendliche nun unter Tränen ihre Situation. »Ich wollte ihn überraschen und bin gestern von Lunden nach Hamburg gefahren. Als ich bei ihm war, hat er mit einer anderen rumgemacht.«

»Also wollen Sie nach Lunden zurück«, fasst Horst die Situation zusammen. »Das macht 25,80 Euro! Oder haben Sie eine BahnCard?«

»Ich habe meinem Ex meine ganze Handtasche an den Kopf geknallt und bin weggerannt – und in der Handtasche war auch mein Portemonnaie«, schluchzt das Mädchen und zieht die Nase hoch. An die Scheiben des Abteils prasseln Regentropfen.

»Können Sie sich ausweisen?, fragt Horst unbeeindruckt nach. »Ansonsten muss ich Sie in Elmshorn der Bahnpolizei übergeben.«

Horst ist 43 Jahre alt, verheiratet und ein freundlicher Mann. Aber er hat seine Prinzipien. »Ohne Regeln würde das ganze Land im Chaos versinken«, hatte sein Großvater ihm schon als Kind eingeschärft.

Nachdem die Beamten der Bundespolizei die junge Frau von Horst übernommen haben, winkt der Lokführer kopfschüttelnd Horst heran. Der muss mit seinen 1,69 Meter deutlich nach oben gucken, um seinen Kollegen anschauen zu können.

»Musste das schon wieder sein?«, will der wissen.

»So sind nun einmal die Vorschriften!«, antwortet Horst knapp vom Bahnsteig aus, als verstünde er das Unverständnis seines Kollegen nicht. Es nieselt noch immer.

»Ich verstehe etwas ganz anderes nicht«, wechselt Horst kurzerhand das Thema. »Sind die ,da oben’ eigentlich völlig bescheuert? Ich kann so jedenfalls nicht arbeiten! Das ist Schrott, den du da hinter dir herziehst – und ich stehe mittendrin. Jede zweite Toilette funktioniert nicht, die Polster sind zum Teil zerfleddert, und dreckig ist das rollende Altmetall auch noch.«

»Ach, Horst, reg’ dich ab«, lautet die nun wenig emotionale Antwort aus dem Führerstand, »Hauptsache Geld sparen – das kennst du doch!«

Horst schaut auf seine Armbanduhr, nimmt seine Schaffnerkelle in die Hand, zeigt seinem Kollegen in der E-Lok neben ihm die grüne Seite und pustet einmal kräftig in seine Trillerpfeife. »Mann, Horst, was soll der Mist?«, will der von ihm wissen, und schüttelt sich den schrillen Pfeifton aus dem Mittelohr. Natürlich hätte Horst auch einfach sagen können, »dann gib mal wieder Gas«, aber Vorschrift ist Vorschrift. Langsam rollt der Zug an, Horst steigt in den ersten Waggon und durchstreift wieder sein Revier. »Noch jemand in Elmshorn zugestiegen? Die Fahrkarten, bitte!«


»Dieser Tag geht schief!« Das war das erste, was Horst heute morgen nach dem Aufwachen in den Sinn gekommen war, warum, wusste er nicht. Aber: »Dieser Tag geht schief!« Dabei ist es sein letzter Arbeitstag vor dem Sommerurlaub – zwei Wochen im Ferienhaus auf der dänischen Insel Rømø, zusammen mit Frau und Freunden. Sonne, Strand, Meer … Nicht, dass Horst sich sonderlich auf diese Art Urlaub freuen würde, aber er wurde nicht gefragt.

Wie jeden Morgen ist Horst heute pünktlich um vier Uhr aufgestanden, nachdem ihn der Wecker seines Mobiltelefons mit dem lauten Zischen einer Dampflokomotive geweckt hatte. Seine Ehefrau Gaby störte das nicht. Horst übernachtet seit zehn Jahren im Gästezimmer, »weil Horst schnarcht und immer so früh raus muss«, wie sie sagt. Anschließend hat er geduscht, sich die Zähne geputzt und mit Zahnseide die Zahnzwischenräume gereinigt. Danach hat er seine Uniform angezogen: Die sorgfältig aufgehängte dunkelblaue Stoffhose mit korrekter Bügelfalte und die auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhe, dazu ein frisches hellblaues Hemd mit der leuchtend roten Krawatte und schließlich das dunkelblaue Jackett mit den drei roten Ärmelstreifen. Als er vor seinem großen »IKEA«-Spiegel die Krawatte zurechtrückte, huschte ein melancholisches Lächeln über sein Gesicht. »Das macht schon etwas her!«, hatte Gaby früher in diesem Moment gern gesagt.

Wie immer trank Horst noch ein Glas Milch mit Erdbeergeschmack, schmierte sich zwei Stullen Schwarzbrot, eine mit Wilstermarsch-Käse, eine mit Salami. Zusammen mit einer PET-Flasche Mineralwasser und einem Apfel aus dem »Alten Land« landete alles in seinem dunkelblauen DB-Rucksack. Bevor Horst sein Haus verließ, stellte er seiner Frau aber noch ein Frühstücksgedeck auf den Küchentisch und räumte sein schmutziges Geschirr in die Spülmaschine. Das Milchglas spülte er kurz aus, bevor er es in den oberen Schub stellte. Der kleine Teller kommt unten nach hinten links, das Messer in den Besteckkorb – und zwar vorne rechts – während der Milchlöffel vorne links seinen Platz hat. Dort stand wieder eine Gabel von Gaby, obwohl die Gabeln hinter die Messer auf die rechte Seite gehören … Horst nahm die Gabel und beförderte sie kopfschüttelnd an ihren korrekten Platz in der Spülmaschine.

Mit dem jahrelang geübten Griff nahm er seine Schaffnermütze von der Hutablage der Garderobe ohne hinzuschauen, setzte sie auf den Kopf mit den kurzen leicht ergrauten Haaren, schloss die Haustür auf und danach zweifach wieder zu. Mit dem alten Damenfahrrad seiner Frau ging es dann wie jeden Morgen aus der Reihenhaussiedlung in Schenefeld nach Altona zum Bahnhof. Trotz dieser ganzjährigen Bewegung spannte die neue Uniform schon wieder über dem unaufhaltsam wachsenden Bäuchlein, und die dunkelblaue Kunststoffbrille von »Fielmann« rutschte Horst wegen der kleinen Schweißtropfen langsam die schmale Nase herab.


Eineinhalb Stunden später. Es ist zwanzig Minuten nach sechs, als der Regionalexpress 11002 in den Bahnhof von Itzehoe einfährt. Neun Minuten zu spät! Die Übergabe der Schwarzfahrerin an die Bundespolizei hat Horst nicht nur endgültig die Laune verdorben, sondern auch seinen Zeitplan durcheinandergebracht. Mit etwas Glück können sie hier allerdings ein paar Minuten gut machen, da in Itzehoe planmäßig die Lokomotiven getauscht werden müssen. Ab hier gibt es nämlich keinen Strom mehr. Die Züge fahren wie früher zwar nicht mit Dampf, aber mit Diesel.

Während Horst sich auf dem tristen Bahnsteig die Beine vertritt, versucht er nach wie vor herauszufinden, warum ihn immer noch dieses merkwürdige Gefühl beschleicht, dass heute irgendetwas gründlich schief gehen wird. Alles ist wie immer, wie seit 13 Jahren, als er erstmals als Schaffner eingesetzt worden war. Selbst das Wetter ist wie immer im Sommer: mittelwarmer Nieselregen. Auch Schwarzfahrer bescheren ihm keine Magenschmerzen. Aber Horst hat Magenschmerzen. »Dieser Tag geht schief!«, wieso, weiß Horst nicht. Er weiß es instinktiv.

Der Zug rollt weiter, unaufhaltsam. Vielleicht sind auch wegen der trüben Aussichten, die erneut mit 120 Stundenkilometern an ihm vorbeiziehen, so wenige Menschen in seinem Zug, denkt Horst. Als es über den Nord-Ostsee-Kanal geht, kann er vor lauter Regengrau kaum ein Schiff ausmachen, und nun liegt schon Heide hinter ihnen. Da dort kein Fahrgast zugestiegen ist, braucht Horst keine Fahrkarten zu kontrollieren und legt stattdessen im abgetrennten Führerstand des rückwärtigen Triebwagens bis zum nächsten Halt in zehn Minuten die Füße hoch. Horst schließt die Augen und schläft sofort ein, das erste Mal in seiner inzwischen 24-jährigen Dienstzeit.

Die schönsten Wochen des Jahres

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