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Zug I | Waggon 2

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Es ist ein lauter Dreiklang, der im Zug ertönt, wenn der Lokführer etwas von seinem Zugbegleiter möchte. Dieser Klang riss Horst aus seinen Träumen. Er griff zum Hörer der Bordsprechanlage und fragte seinen Kollegen, warum er störe. Was der ihm zu sagen hatte, verschlug Horst die Sprache:

»Heute ist in Lunden Feierabend!«

Vor diesem Augenblick hatte sich Horst seit 13 Jahren gefürchtet – ein Totalausfall. Und dann fiel ihm wieder dieser Gedanke vom Morgen ein - »dieser Tag geht schief«. Jetzt hatte er die Bestätigung, wobei »schiefgehen« definitiv untertrieben war. Ausgerechnet im Bahnhof von Lunden sollte er stranden, wobei Horst das Wort Bahnsteig viel treffender findet. Lunden ist für ihn ein Kuh-Kaff mit drei Häusern und vier Spitzbuben. Horst hat keinen blassen Schimmer, warum sein Zug hier regelmäßig halten muss.

»Meine sehr verehrten Fahrgäste«, fing Horst mit zitternder Stimme an in sein Mikrofon zu sprechen, »aufgrund einer Störung auf dem Hindenburgdamm können wir unsere Fahrt nach Westerland leider auf unbestimmte Zeit nicht fortsetzen. Ich darf Sie daher alle bitten, den Zug an unserer nächsten Haltestelle in Lunden zu verlassen. Ein Busersatzverkehr wird derzeit für Sie eingerichtet. Ob die Fahrgäste, die bis nach Sylt möchten, heute tatsächlich noch auf die Insel gelangen können, kann ich Ihnen nicht sagen. Ein Kriseninterventionsteam der Deutschen Bahn ist bereits auf dem Weg nach Lunden und wird Ihnen vor Ort für all Ihre Fragen zur Verfügung stehen. Die Kollegen kümmern sich dann auch um gegebenenfalls notwendige Nachtquartiere, bis Sie Ihre Reise fortsetzen können. Ich bitte im Namen der Deutschen Bahn um Ihr Verständnis.«

Vom Lokführer wusste Horst nur, dass der Damm für Stunden gesperrt sein würde, den Rest seiner Ansage hatte er aus aus dem Kapitel »Notfälle« seines Bordhandbuches vorgetragen. Als der Regionalexpress 11002 in den Bahnhof einfuhr, musste die Lokomotive hinter dem Bahnsteigende halten, damit die Reisenden aus dem letzten Waggon gerade noch aussteigen konnten. Horst wartete einige Minuten, bis er durch den nahezu leeren Zug ging, um sich das Gemecker der Fahrgäste so gut es ging zu ersparen.

»Was ist denn los?«, wollte ein älteres Ehepaar verunsichert wissen.

»Ich kann es Ihnen im Moment leider noch nicht sagen«, antwortete Horst so freundlich es ihm möglich war, »bitte steigen Sie aus, alles Weitere erfahren Sie so schnell wie möglich. Immerhin hat es aufgehört zu regnen ...«

»Ey, Meister, wat ist dat denn schon wieder fürn Scheiß hier mit der Bahn?«, pöbelte ein junger Mann einen Waggon weiter. Horst ignorierte ihn. Nur zu gern hätte auch er gewußt, was los war.

Nachdem er die letzten Passagiere samt Gepäck auf den schmalen Bahnsteig geschickt hatte, ging er zurück in den rückwärtigen Führerstand und rief seinen zuständigen Fahrdienstleister vom Mobiltelefon aus an.

»Tatsache ist«, so der Fahrdienstleiter, »Ihr könnt nicht weiterfahren. Entweder ist irgendwas mit dem Gleisbett oder den Gleisen selbst. Bis morgen früh fährt mir keiner von Euch über den Damm. Punkt.«

Über die Hintergründe gab es bislang offenbar noch keine Fakten, aber genug Anlass für Spekulationen. So wußte Horsts Vorgesetzter zu berichten, dass Bahnmitarbeiter schon seit einigen Wochen immer wieder verdächtige Spuren entlang des Damms entdeckt hatten, von Fahrrädern und Bollerwagen zumeist. In der vergangenen Woche dann der Fund einer beschädigten Metallsäge und eines abgebrochenen Vorschlaghammers nahe des Gleisbettes. Satellitenaufnahmen der NASA und durch die Bundespolizei im Zuge ihrer grenznahen Schleierfahndung erstellten Wärmebildaufnahmen belegten zudem eine intensive Wanderbewegung zwischen dem dänischen Tønder und dem Damm. Die Antwort des Innenministeriums auf eine Kleine Anfrage der schleswig-holsteinischen FDP-Landtagsfraktion bezüglich staatsgefährdender Kontakte zwischen der AfD in Flensburg und dänischen Separatisten in Tønder stünde derweil noch aus.

Horst erinnerte sich plötzlich an einen Fernsehbericht von N24, wonach die »Dänische Volkspartei« die Rückgabe Sylts an Dänemark gefordert hatte, dafür jedoch auf deutscher Seite nur milde belächelt worden war. Tatsächlich war Sylt einst dänisch, gilt seit langem aber als ur-preußisch und wurde vor knapp 100 Jahren mit dem Hindenburgdamm ans Festland angeschlossen. Für alle teutonischen A-, B- und C-Promis, RTL II sowie Strandbudenbesitzer mit gekreuzten Schwertern und Fischbudenmagnaten ist eine Rückgabe an das nördliche Königreich deshalb ein völlig verwegener Gedanke. Bis heute.

Horst schaute auf sein Smartphone, strich den Startbildschirm nach rechts, um die »News« zu sehen, und wurde bombardiert – von »BILD« und »Focus«, »Spiegel online« und dem »Flensburger Tageblatt«:

»Dänische Separatisten sprengen Hindenburgdamm«

»Späte Rache am Reichskanzler«

»Bahnverkehr nach Sylt eingestellt«

»Berufspendlern droht teure Nacht unter Promis«

Und nun? Der Gegenzug aus Husum würde ihn wieder mit nach Hamburg nehmen, soviel war klar. Doch es war gerade erst halb acht. Weder hatte er eines seiner beiden Brote gegessen, noch den Apfel. Er würde viel zu früh wieder zuhause sein, ganz außerhalb des Fahrplanes.

Eine SMS seines Fahrdienstleisters gab ihm die nötige Struktur zurück: »Bitte zügig Erstattungsanträge an die Fahrgäste verteilen. Viel Glück!«

Als Horst den in zaghaftes Sonnenlicht getunkten Bahnsteig betrat, wurde er gelöchert mit Fragen:

»Wann geht es weiter?«

»Was ist passiert?«

»Wer zahlt mir meinen Verdienstausfall?«

Das war Horsts Stichwort.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren«, versuchte er sich Gehör zu verschaffen, »selbstverständlich kommt die Deutsche Bahn für alle Unannehmlichkeiten auf. Bitte füllen Sie dazu einen Erstattungsantrag aus. Sofern meine Exemplare nicht ausreichen sollten, erhalten Sie weitere am Schalter im Bahnhofsgebäude.«

Die Antwort der Reisenden ging unter im Quietschen der Räder des aus Husum einlaufenden Gegenzuges. Horst war völlig verschwitzt und mit seinen Nerven am Ende. Ein Albtraum.

Die schönsten Wochen des Jahres

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