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Kapitel 1

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Die größte Freude im Leben ist es, seine Feinde erbarmungslos zu schlagen und zu töten, ihre Pferde zu reiten und ihre Frauen und Töchter zu schänden.

Dschingis Khan

1. Kapitel

Die Haut seines Gesichts hing schlaff an den Knochen herunter, seine Muskeln waren lasch und weich wie ein nasser Waschlappen, und von einer Sekunde auf die andere wechselte seine Farbe von rosig-gesund zu aschfahl-kalkweiß. Ausdruckslos blickten seine Augen ins Leere.

Es war noch keine fünf Minuten her, da war seine Welt noch in Ordnung gewesen. Nicht perfekt, aber wer konnte das schon behaupten? Aber er hatte sein Einkommen, zwei wundervolle Kinder, die ihn vergötterten und für die er der Größte war, einen Beruf, den er liebte und natürlich eine Frau, die ihn liebte. Bis gerade eben dachte er das zumindest. Umso überraschender war es, dass sie ihm eröffnete, dass sie die Kinder schnappen und ihn verlassen würde.

Die Worte brannten noch nach in seinem Kopf, schnitten sich scharf wie ein Skalpell in sein Hirn, tiefer und tiefer. Sie ließen auch nicht locker, als sie schon längst das Haus verlassen hatte und er allein im Arbeitszimmer saß.

Sie ist weg. Sie ist weg.

Jetzt, da er allein war, bemerkte er erst, dass sie noch nicht einmal versucht hatte schonend zu sein. Sie war einfach mit der Nachricht herausgeplatzt, so wie ein Wasserhahn losspritzt, bei dem die Dichtungen spröde sind. Sie hatte es nicht für nötig gehalten, ihn vorzuwarnen, ihn auf das, was kommen sollte, vorzubereiten. Sie hatte einfach damit losgedonnert, als würde sie beim Italiener um die Ecke eine Pizza bestellen – aber bitte mit einer Extraportion Käse! Oder als hätte sie ihren Friseur wissen lassen, wie sie sich ihre Frisur vorstellte: Mein Lieber, es kann ruhig ein bisschen frech sein. Sie wissen schon, so richtig schön jung und peppig. Aber auf keinen Fall zu kurz, hören Sie, um Himmels Willen nicht zu viel weg!

Warum hatte sie das getan? Wie konnte sie nur einfach so gehen und ihrer beider Leben so drastisch ändern? Hatte sie es angedeutet? Und wenn ja, wie hatte ihm das entgehen können? Wie hatte er so blind sein können?

Er wusste es nicht. Aber er wusste: Es war nicht seine Schuld. Aber er gab auch nicht ihr die Schuld, jedenfalls noch nicht. Er war sicher, dass das noch früh genug geschehen würde.

Aber jetzt noch nicht. Momentan wollte er nur dasitzen, einfach nur dasitzen und nachdenken. Nahdenken über das, was geschehen war.

Ihre Augen waren das einzige, woran er sich noch genau erinnern konnte, der Rest lag irgendwo in einer nebelhaften Vergangenheit. Sie waren traurig gewesen (war nicht sogar eine kleine Träne die Wange hinuntergerollt?), hatten gleichzeitig aber auch so etwas ausgedrückt wie Hoffnung.

Er war irritiert. Schon als sie sein Zimmer betrat, spürte er, dass etwas nicht stimmte, ganz und gar nicht. Und schon zu diesem Zeitpunkt, als er noch nichts von dem ahnte, was da alles auf ihn zukommen sollte, wäre es ihm lieber gewesen, sie hätte kehrtgemacht und alles beim Alten belassen. Es einfach so belassen, wie es war. Der einzige Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss, war: die Kinder. Was ist mit ihnen? Was ist mit den Kindern?

Jeannine schien seine Gedanken zu erraten.

„Nein, nein, nicht die Kinder.“

Da das so ziemlich alles war, was ihm einfallen wollte, entspannte er sich etwas und atmete aus. Doch ihr Blick, der jetzt noch bekümmerter wirkte, verriet ihm, dass die traurige Nachricht (und um eine solche handelte es sich zweifellos) noch keineswegs aufgedeckt war. Er sah sie an mit großen, fragenden Augen und war sich nicht mehr sicher, ob er es überhaupt noch wissen wollte.

Ihre Augen hatten noch immer diesen todtraurigen Ausdruck. Doch obwohl sich zu der Träne noch eine zweite gesellt hatte, drückten sie noch immer eine gewisse Hoffnung aus. Was, zum Teufel, will sie mir sagen, fragte er sich. Ihm wurde immer unbehaglicher in seiner Haut, und nervös rutschte er auf seinem Stuhl herum, als hätte er ein übles Brennen zwischen den Arschbacken.

Paul fragte noch einmal, was los war. Sie räusperte sich und machte Anstalten zu sprechen. Jetzt wäre er am liebsten aufgesprungen und hinausgerannt. Er wollte es gar nicht wissen. Aber ihr Blick fesselte ihn an seinen Platz.

„Paul“, begann sie mit stotternder und zugleich weinerlicher Stimme, bei der ihm schlecht wurde, „wir müssen reden.“

Sein Körper verkrampfte sich, aber sein Gesicht strahlte sie dümmlich an. Er wollte dieses Grinsen abstellen, konnte aber nichts dagegen tun. Es blieb wie in sein Gesicht gemeißelt, also grinste er weiter. Seine Hände waren schweißnass, und da sie auf den Oberschenkeln ruhten, war die Hose schon ein wenig klamm.

„Nun sag schon! Was bedrückt dich? Du kannst mir alles sagen, das weißt du.“

In ihren Augen blitzte kurz etwas auf.

„Paul, ich … ich werde dich verlassen.“

Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Und war auch mindestens ebenso verheerend. Vor Überraschung erschlaffte sein Körper wie Butter in der Sonne. Seine Beine waren plötzlich weich wie zu lange gekochte Spaghetti. Er wollte sich an den Armlehnen festhalten, aber er war zu keiner Bewegung imstande. Er konnte nur hoffen, nicht wie ein Kartoffelsack zu Boden zu sinken. Sogar das blöde Grinsen war von seinen Lippen verschwunden. Was hat sie da eben gesagt? Wir lieben uns doch! Wie kann sie so etwas sagen? Weiß sie denn nicht, wie weh sie mir damit tut?

Sein Gesicht musste eine Sekunde abwesend gewirkt haben, denn sie fragte jetzt: „Paul, hörst du mir überhaupt zu? Hast du verstanden, was ich gesagt habe?“ Die Stimme klang wütend, und Paul konnte es nachvollziehen. Sie konfrontierte ihn mit der Wahrheit, mit etwas, was sie beide anging. Und ihm schien es gar nicht zu interessieren. Aber was sollte er tun? Er stand unter Schock, wie ein Mann, der gerade einen schweren Verkehrsunfall überstanden hat und der über die Straße irrt ohne zu wissen, wer er ist und wo er ist.

Er hob schwach den Arm; er wusste nicht, was er antworten sollte. Er schien zehn Tonnen zu wiegen. Was sollte man in so einer Situation sagen? Und selbst wenn er etwas hätte sagen wollen: Er war außerstande, auch nur ein Wort zu sprechen. Sein Mund war so trocken wie Wüstenstaub.

Jeannine, die davon nichts bemerkte, sagte schließlich mit einem so ernsten Ton, dass man meinen konnte, sie verläse einen Exekutionsbefehl: „Ich nehme die Kinder mit. Und gehe. Unter diesem Dach ist kein Platz mehr für mich. Versuch bitte nicht, mich aufzuhalten. Es wäre sinnlos. Erspar uns diese peinliche Szene.“

Mit diesen Worten drehte sie sich um, verließ das Zimmer und das Haus, ging, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen, zu ihrem Wagen und fuhr davon, die Kinder auf der Rückbank. Während sie das tat, hätte Paul Zeit gehabt, aufzuspringen, hinter ihr herzujagen, sie nach dem verdammten Grund zu fragen. Er hätte versuchen können, sie aufzuhalten. Aber er tat nichts dergleichen. Seine Knochen waren noch immer weich wie warmer Gummi, und bewegungslos blieb er auf dem Stuhl.

Es war still. Nur hin und wieder fuhr draußen ein Wagen vorbei, was klang wie das Summen einer Mücke. Deshalb hatten sie damals dieses Grundstück gekauft: wegen der Ruhe. Weil es hier am Wald so schön abseits der Straße lag, dass man sie fast vergessen konnte.

Beim ersten Motorgeräusch hatte er noch geglaubt, sie käme zurück, wäre wieder zur Besinnung gekommen. Als der Fahrer aber keine Anstalten machte, langsamer zu werden und der Motor nicht lauter wurde, sondern leiser, begriff er allmählich, was geschehen war. Sie hatte ihn verlassen. Sie war weg, endgültig weg. Mit den Kindern.

Jetzt war es, als reiße ein Knoten in ihm, und er begann zu weinen. Die Tränen rannen ihm nur so die Wangen hinunter, brannten auf seiner Haut und schmeckten scheußlich. Er wollte sie wegwischen, wagte es nicht, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Noch immer war er außerstande, sich zu bewegen. Stattdessen schniefte er nur und blieb sitzen wie ein Angeklagter, über den ein unbarmherziges Urteil gesprochen worden ist.

Eine Mücke summte heran. Er konnte ihre Flugbahn mit den Augen verfolgen, aber es war ihm unmöglich, auch nur den kleinen Finger zu rühren, geschweige denn, den Arm, um sie wegzuscheuchen. Das Mistvieh schwirrte noch eine Weile um seinen Kopf, als überlege es, ob Gefahr bestand. Schließlich ließ es sich auf seiner Unterlippe nieder. Anscheinend war es zu dem Ergebnis gekommen, dass es ungefährlich war. Dann bohrte es seinen Saugrüssel in seine dünne, von Tränen aufgeweichte Haut. Paul konnte es spüren, aber er konnte nichts dagegen tun. Die Mücke blieb, bis sie sich vollgesogen hatte. Dann flog sie davon, deutlich träger als zuvor. Ihr Bauch war rot und fett.

Nach und nach löste sich seine Starre. Zuerst spürte er in den Zehen und Fingern, dass Leben in ihn zurückkehrte. Er begrüßte diese Empfindung und wackelte mit ihnen. Und während er das tat, löste sich auch die Starre im Rest seines Körpers. Endlich konnte er aufstehen. Wie ein Blitz rannte er zum Fenster und sah auf die Straße. Doch es war zu spät. Sie war schon weit weg.

Arme und Beine kribbelten noch, als wären sie gerade eben erst erwacht, während er noch am Fenster stand und hilflos hinausschaute. Die Straße war, abgesehen war von wenigen Autos, leer und trostlos. Er schwitzte plötzlich, obwohl es gar nicht warm war. Dennoch lief ihm die Brühe nur so runter, als wäre er ein Gewichtheber, der in der zwölften Wiederholung eine Zweihundertkilo-Hantel stemmt.

Gedankenverloren starrte er in den Garten, beobachtete, wie der Wind mit den Blättern spielte, sie ausgelassen umhertrieb. Wie schnell die Dinge sich verändern konnten. Gerade eben noch hatte er an seinem Schreibtisch gesessen und seine Welt war in Ordnung gewesen, und jetzt, nur Minuten später, musste er mit ansehen, wie sein Leben vor seinen Augen zu Trümmern zerfiel. Hastig drehte er sich um und verließ das Zimmer, wobei er sich immer noch an allem, was er erreichen konnte, festhielt.

Auf einmal war seine Kehle trocken und rau wie Sandpapier. Er begrüßte dieses Gefühl fast, denn es lenkte ihn ab von den seelischen Schmerzen. Mit jeder Sekunde wurde es unangenehmer, und er befürchtete schon, jämmerlich zu verdursten, wenn er nicht bald etwas zu trinken bekam. Also stürmte er in die Küche, öffnete den Kühlschrank, glotzte hinein und griff schließlich nach dem erstbestem, was ihm in die Finger kam – eine Flasche Cola. Die Kohlensäure kribbelte in seiner Kehle, und er trank gierig. Er spürte Schmerzen wie spitze Dolche hinter seiner Stirn. Es war eindeutig zu kalt, aber er konnte nicht mit dem Trinken aufhören. Das Ziehen und Stechen hinter seiner Stirn wurde stärker, aber es war einfach zu köstlich, fühlte sich zu gut an, um aufzuhören. Leider verging dieses Wohlgefühl schnell, und zurück blieb nur eine quälende, dunkle Leere.

Paul sah noch einmal in den Kühlschrank. Diesmal wollte er etwas Härteres, etwas, das seine Stimmung hob. Zuerst übersah er es und wollte schon lautstark fluchen. Es war aber auch schwer zu finden – vor allem hinter tonnenweise Pudding und halbleeren Punica-Flaschen. Dann, auf den zweiten Blick, sah er es endlich. Als ob die Flasche Jack Daniels sich vor ihm verstecken könnte, ha, da lachten ja die Hühner! Mit einer einzigen Bewegung war der Verschluss abgeschraubt, die Flasche zum Mund geführt und ein langer Schluck genommen. Obwohl der Whiskey eiskalt war, brannte er im Hals, und als er endlich in seinen Magen schwappte, glaubte er, ein Buschfeuer brodele in ihm. Wärme durchströmte seinen Körper, und bevor sie nachlassen konnte, schüttete er noch etwas hinterher.

Obwohl er wusste, dass es eine bescheuerte Idee war, wollte er sich hemmungslos besaufen. Er wollte die ganze Flasche trinken. Und, falls er dann noch aufrecht stehen konnte, eine zweite.

Ohne darüber nachzudenken, was er tat und warum, schlich er durchs Haus. Es war ein großes Haus, zu groß für ihn allein. Aber so war es ja auch nie gedacht gewesen. Sie hatten es damals mit der Absicht bauen lassen, den Kindern Platz zum Spielen zu geben. Jetzt waren sie alle weg: Jeannine, die Kinder. Alle waren verschwunden, und das Haus war ebenso verlassen wie er selbst.

Die Schritte hallten in den großen Räumen – ein seltsames Geräusch, eines von der Sorte, das nicht hierhergehörte. Hier sollte fröhliches Kinderlachen ertönen, ausgelassenes Quietschen und Kreischen, aber nicht die schlurfenden Schritte eines verlassenen Mannes. Er lief durch das ganze Haus. Überall stieß er auf Splitter, schmerzende Bruchstücke seines Lebens. Seines zerstörten Lebens.

Der Anblick der großzügigen Küche (Jeannine hatte sie immer als ihr Revier bezeichnet) schmerzte, als würde ihm ein rotglühender Stab ins Herz getrieben werden. Auf dem großen Tisch hatte sie immer das Essen serviert. Sie hatte es geliebt, für ihn zu kochen, und ihm hatte es immer geschmeckt. Wann hatte er ihr das zum letzten Mal gesagt? Er hatte nicht die Spur einer Ahnung.

Jetzt stand er im Flur, nicht weit vom Schlafzimmer. Wollte er hineingehen? Paul schauerte vor dieser Tollkühnheit. Aber wovor hatte er Angst? Es war doch nur ein Schlafzimmer, das Zimmer, in dem er die Nächte mit Jeannine verbracht hatte. In dem sie sich geliebt hatten, in dem aber auch schon mal die Fetzen geflogen waren. Es war nur ein Zimmer, weiter nichts. Dennoch hatte er mehr als nur Angst vor dem, was ihn dort erwartete.

Der Raum war dunkel und angenehm kühl. Die Vorhänge waren zugezogen. Eine neue Welle aus Schmerzen sauste heran wie eine Dampflok, zischend und fauchend. Sie warf ihn fast zu Boden. Seine Tränen, schon fast getrocknet, flossen abermals. Sein Herz hämmerte und drohte zu explodieren. Er wollte zurück, wollte den Raum verlassen, zu groß, zu gewaltig waren die Erinnerungen, die auf ihn einstürzten. Aber er biss die Zähne zusammen und blieb.

Seine Augen durchstreiften das Zimmer. Alles, alles hier erinnerte ihn an den Verlust: Die schneeweißen Gardinen. Sie hatte sie ausgesucht und eigenhändig angebracht. Er erinnerte sich genau. Er hatte ihr helfen wollen, und sie hatte ihn davongejagt wie einen tollwütigen Hund. Ja, so war sie, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Ist schon komisch, was einem so einfällt, wenn das eigene Leben den Bach runtergeht. Das bequeme Wasserbett, das mitten im Zimmer stand, links und rechts am Kopfende gesäumt von einer künstlichen Palme: Hier hatten sie sich geliebt. Hier war ihre Spielwiese gewesen.

Langsam näherte er sich dem Bett, wobei er darauf achtete, dem Kleiderschrank nicht zu nahe zu kommen. Dabei fragte er sich, warum seine Türen offen standen. Einen Augenblick später wusste er es: Sie hatte ihre Kleider mitgenommen. Alles. Von den Socken bis zu den T-Shirts, von den Hosen bis zu den innig geliebten Hüten. Sogar den BH, den er ihr vor Jahren geschenkt hatte, der ihr aber viel zu groß war.

Paul überlegte kurz sinnlos, ob sie eine Tasche bei sich hatte, gab es aber schnell wieder auf, weil er sich beim besten Willen nicht daran erinnern konnte. Mit hängenden Schultern ging er weiter, vorbei an den Zeugen ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Plötzlich drehte er sich einmal um seine Achse, und das Zimmer rauschte an ihm vorbei. Dann ein zweites Mal, diesmal schneller. Es war wie ein Rausch, wie das Eintauchen in eine fremde, eigentümliche Welt, wo alle Umrisse zu geisterhaften Schemen verschwammen. Dann verlor er das Gleichgewicht, stürzte der Länge nach aufs Bett und blieb reglos liegen. Die Matratze unter ihm schwippte und schwappte, und er genoss das Gefühl des Treibens. Er dachte an das letzte Mal, als sie miteinander geschlafen hatten. Wann war das gewesen? Vor sechs Tagen? Vor sechs Wochen? Paul musste sich eingestehen, dass auch diesmal seine Chancen schlecht standen. Was denn, sollte es schon sechs Monate her sein? Das traf es schon eher. Aber, um ehrlich zu sein: Es lag noch ein Stück weiter zurück in der Vergangenheit. Mit Entsetzen erkannte er, dass es ihm nicht möglich war, sich zu erinnern. Nur so viel war sicher: Es war schon viel zu lang her. Und nun formte ein Gedanke sich hinter seiner Stirn. Ein Gedanke, den zu denken er bis vor kurzem nie imstande gewesen wäre: Hatte es sich durch etwas angekündigt? Eine berechtigte Frage. Schließlich geschah so etwas nicht von heute auf morgen. Und wenn es sich angekündigt hatte, warum hatte er es nicht gespürt? Er drehte sich um, vergrub das Gesicht in dem Kissen, das einmal ihres gewesen war und heulte wie ein Schlosshund. Ihr Duft kroch ihm in die Nase, und er wollte schon vor Freude aufspringen (Gott sei Dank, nun würde alles wieder gut werden!), als er begriff, dass der süßlich-angenehme Duft nur aus dem verdammten Kissen kam.

Dann kam ihm noch etwas in den Sinn. Etwas, das ausreichte, noch das letzte bisschen Beherrschung zu verlieren. Voller Wut auf sich selbst und auf alles um sich herum schmiss er die halbleere Flasche an die Wand, wo sie scheppernd zerbrach. Hätte er es verhindern können? Hätte er es verhindern können, wenn er es nur geahnt hätte? Wenn er es hätte kommen sehen?

Sie hatte ihm stumme Signale gesendet, da war er sich sicher. Aber erst jetzt, da es zu spät war, verstand er sie. Sie hatte es im Sanften versucht, hatte mit ihm reden wollen, über die Probleme, die sie beschäftigten und die sie oft nachts wach liegen ließen. Schließlich, nachdem es auf die sanfte Tour nicht funktionierte, hatte sie die Holzhammermethode angewandt. Sie verweigerte ihm den Sex und war sogar allein in den Urlaub gefahren. Hatte er ihr je gesagt, dass er sie vermisste? Dass er die ganze Zeit an sie denken musste? Sie war abends öfter ausgegangen und jedes Mal später nach Hause gekommen. Aber hatte er sie je gefragt, wo sie gewesen war? Mit wem? Und ob sie sich amüsiert hatte? Nein, kein einziges Mal.

„Ich war so ein Arschloch“, hörte er sich laut sagen, „ich war so vertieft in meine verdammte Scheißarbeit, dass ich gar nicht merkte, wie meine Ehe zerbrach. Ich war ja so ein egoistisches Arschloch!“ Er jaulte wie ein Hund. „Ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass ich gar nicht merkte, wie meine Frau sich mehr und mehr von mir entfernte,“ Und während er das sagte, begriff er den Sinn der Worte. Er begriff ihn mit aller Grausamkeit.

Ihm lag noch so viel auf der Zunge. Er wollte sich beschimpfen, sich einen Hurensohn nennen, weil er so ein verdammter Idiot war. Aber so weit kam er nicht. Aus seinem Mund drang nur ein unverständliches Krächzen und Wimmern. Diesmal versuchte er gar nicht erst, sich zu beruhigen. Es waren Tränen, die geweint werden mussten. Außerdem hegte er die vage Hoffnung, dass mit ihnen auch ein Teil des Schmerzes herausgespült würde.

Doch irgendwann waren auch diese Tränen versiegt, und langsam trottete er aus dem Schlafzimmer. Er ging in die Küche, steuerte in Richtung Kühlschrank, öffnete die Tür und erschauerte kurz, als die kalte Luft die Haare an seinen Beinen berührte. Dann nahm er die zweite Flasche Whiskey. Die darf ich nicht zerdeppern, sonst sitze ich auf dem Trockenen.

Wenige Minuten später stand Paul im Arbeitszimmer und starrte auf den Schreibtisch. Das Notebook war aufgeklappt, aber am liebsten hätte er es gegen die Wand gefeuert. Er konnte nicht mehr verstehen, dass er so viele Stunden, in denen seine Ehe den Bach hinuntergegangen war, vor ihm gesessen und wie ein Besessener gearbeitet hatte. Er nahm einen tiefen Schluck, genoss das Brennen und klappte den Bildschirm mit einer einzigen Bewegung herunter. Dabei kam ihm in den Sinn, dass das zu spät war, dass er es schon früher hätte tun sollen. Er kläffte sein Gewissen an, dass das unwichtig sei und es gefälligst sein dämliches Maul halten sollte. Arschloch, verdammtes, fügte er in Gedanken hinzu. Paul stockte eine Sekunde und fing wie irrsinnig an zu lachen. Wow, dem hast du’s aber gegeben, das muss dieser verdammte Schweinehund erstmal verdauen, was?

Er ließ sich rücklings auf den Drehsessel fallen, warf die Beine auf den Tisch, kickte das Notebook weg und starrte ihm hinterher, als hätte er noch nie in seinem Leben ein solches Ding zu Gesicht bekommen. Was kann das nur sein? Man kann es auf- und zuklappen, und dann hat es auch noch so viele Knöpfe mit so komischen Zeichen darauf. Oh, das ist aber ungeheuer spannend, ist es. Ja, du verdammtes Mistding, du bist an allem schuld! Wegen dir ist mein Leben jetzt ein Trauermarsch!

Das ging ihm durch den Kopf, als es scheppernd auf dem Boden aufschlug. Ob es dabei demoliert wurde, ging ihm am Arsch vorbei. Und auch über diese Gleichgültigkeit meinte er sich fast kaputtlachen zu müssen.

Paul hoffte inständig, sein Heiterkeitsausbruch würde eine Weile andauern. Doch schon während er noch dafür betete, verabschiedete sich der kurze Moment schon mit Pauken und Trompeten und hinterließ nur wieder diese düstere, traurige Leere. Langsam rannen Tränen über seine Wangen.

Wie lange saß er nun schon so da? Die Beine auf dem Tisch, tief im Schreibtischsessel versunken und die Augen starr zur Zimmerdecke gerichtet? Zehn Minuten? Eine Stunde? Oder vielleicht zwei? Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Aber es musste schon ziemlich lange sein, denn als er Anstalten machte sich aufzurichten, kribbelten seine Beine, als spaziere er mit kurzen Hosen durch ein Brennnesselfeld. Er stöhnte. Seine Tränen waren inzwischen getrocknet, aber ihm war bewusst, dass sie noch lange nicht versiegt waren. Er blickte sich langsam um und sah noch etwas anderes. Falls er zu diesem Zeitpunkt noch Zweifel gehegt hatte, lange weggetreten gewesen zu sein, waren diese nun widerlegt. Denn es war schon fast dunkel. Es mussten Stunden gewesena sein.

Paul kämmte mit der Rechten sein dünnes Haar, und jetzt machten sich die ersten Wehen eines herannahenden Kopfschmerzes bemerkbar. Und da er auch verdammt durstig war, nahm er schnell noch einen Schluck aus der Pulle, der nun aber gar nicht mehr so gut schmeckte. Der Whiskey hatte jetzt Zimmertemperatur, und da kann man mit alkoholischen Getränken viel machen, sich zum Beispiel die Füße damit waschen, aber auf keinen Fall sollte man sie noch trinken. Kein Mensch säuft so eine Plärre, wenn sie warm ist wie Ochsenpisse – es sei denn, man ist hemmungsloser Alkoholiker. Obwohl Paul genau das durch den Kopf ging, setzte er die Flasche erst ab, als sie leer war. Scheiß auf den schlechten Geschmack! Scheiß auf alles! Hauptsache, es knallt ordentlich!

Während er so dasaß, den Alkohol wirken ließ und versuchte, seine morschen Knochen wieder zum Leben zu erwecken, sah er, dass sein Notebook eigenartigerweise genau an der Stelle stand, wo es gestanden hatte, bevor er es mit einem saftigen Tritt zu Boden geschleudert hatte. Später meinte er, sich vage daran zu erinnern, dass er sich gefragt hatte, wie das verdammte Drecksding bitteschön wieder auf den Tisch gekommen war.

Seine Arme und Beine kribbelten, als liefen Milliarden Ameisen darüber hinweg. Nach und nach verschwand dieses unangenehme Gefühl aber wieder, und dadurch bekam der andere Schmerz wieder Raum, um ihn zu peinigen: der Schmerz über den Verlust seiner Frau. Und im Gegensatz dazu war ihm das Kribbeln wesentlich lieber.

Die Uhr an seinem Handgelenk verriet ihm, dass es inzwischen zehn vor zwölf war. An einem normalen Tag wäre er jetzt schon seit einer Stunde im Bett gewesen. An einem normalen Tag hätte er fünf bis zehn Seiten geschrieben und wäre dann in den Tennisclub gefahren. Oder er hätte sonst irgendetwas gemacht. Aber heute war kein normaler Tag, nicht mal ein halbwegs normaler. Er hatte weder gearbeitet noch die Zeit sonst sinnvoll genutzt. Und da heute ohnehin schon alles durcheinander war, verzichtete Paul darauf, pünktlich zu Bett zu gehen und entschied sich vielmehr, in der Kneipe noch einen trinken zu gehen.

Das Hin- und Zurückkommen würde kein Problem sein. Er würde einfach über das Feld gehen und bis zur Stadt laufen, eine Sache von dreißig Minuten. Ein einfacher Weg mit dem Vorteil, dass er nicht Auto fahren musste. Denn dazu war er nicht mehr in der Lage.

Als Paul am nächsten Tag erwachte (es war bereits weit nach Mittag), fand er sich mit dem Kopf am Fußende seines Bettes wieder. Er fühlte sich hundeelend. Soweit er sich daran erinnern konnte, hatte er in der Kneipe ordentlich einen über den Durst getrunken. Er hatte sich das Spezialgetränk des Hauses mixen lassen. Er konnte zwar kaum die Hälfte der Zutaten aussprechen, aber dennoch hatte er sich einen halben Liter davon kommen lassen und war mit dem Glas in der Hand unter den neugierigen Blicken des Barkeepers in eine dunkle Ecke verschwunden.

Das Glas war voll bis zum Rand und verströmte einen eigenartigen Geruch, scharf und brennend. Einer von diesen Gerüchen, bei denen einem schon die Augen tränen, wenn man nur nahe an sie herankommt. Paul wusste nur zu gut, dass es hochprozentiges Zeug war, das einem durchschnittlich begabten Trinker schnell das Genick brechen konnte. Aber er war noch nicht einmal ein durchschnittlicher Trinker. Wenn er einmal im Monat einen doppelten Whiskey oder eine Flasche Bier trank, war das schon viel.

Gedankenverloren blickte er in das Glas und beobachtete sein Gesicht, das sich in der dunklen Flüssigkeit spiegelte. Er konnte alles erkennen: die Fältchen um die Augen, die kleine Narbe in der rechten Braue, die er sich zugezogen hatte, als er als Kind beim Spielen gegen eine Wäscheleine gelaufen war, die Nase, die seit einer Klopperei während der Schulzeit (Gott, ist das lange her. Ich weiß gar nicht mehr, worum was es da ging … bestimmt um ein Mädchen. Es geht ja immer um Mädchen) ein paar Beulen und Unebenheiten trug. Leider konnte er auch seine Augen sehen, die vom Weinen rot und verquollen waren.

Er griff in die Hemdtasche, wo er die Zigaretten aufbewahrte. Er öffnete sie, fingerte ungeschickt eine heraus, steckte sie in den Mund und zündete sie an.

Der Rauch drang in seine Lunge, und um ein Haar hätte er den Tisch vollgekotzt. Während er noch versuchte, seinen Mageninhalt zu behalten, überlegte er, wie lange er schon keine Kippen mehr angefasst hatte. Mussten mindestens zehn Jahre sein. Aber hundertprozentig sicher war er nicht, auf jeden Fall eine verdammt lange Zeit. Es war ihm damals schwergefallen, es sich abzugewöhnen und er hatte mehr als einen Anlauf gebraucht, aber schließlich war es ihm gelungen. Zumindest bis heute. Gratulation.

Jetzt war ihm nicht nur speiübel, sondern auch schwindelig, und alles drehte sich. Dennoch zog er wieder an der Kippe, hustete jämmerlich und hasste Jeannine für alles, was sie ihm angetan hatte. Er hasste sie, weil sie dafür verantwortlich war, dass er jetzt hier saß, eine Kippe in der einen und ein mörderisches Gesöff in der anderen Hand.

Der Alkohol kroch ihm in die Nase.

Der vernünftig denkende Mann in ihm fragte gerade, ob es das wert war. Ob er unbedingt diesen Fusel saufen musste und ob er es für klug hielt, seine Lungen wie einen verdammten Scheiß-Highway zu teeren, bloß weil dieses Miststück ihn verlassen hatte.

Eine berechtigte Kritik, dachte er und trank wieder einen Schluck.

In dem Moment, als das Getränk seine Zunge berührte, hätte er am liebsten gebrüllt wie ein Baby. Das Zeug brannte fürchterlich; sogar seine Augen begannen wieder zu tränen.

Paul setzte das Glas ab und war einen Moment davon überzeugt, wie ein Drache im Märchen Feuer spucken zu müssen. Das Zeug haute rein, so viel stand fest. Das Erstaunliche aber war, dass das Brennen in der Mundhöhle, in der Speiseröhre und im Magen nicht nur nachgelassen hatte, sondern verschwunden war. Er trank noch einen Schluck, diesmal einen größeren, und spürte, wie seine Glieder augenblicklich leicht wurden wie eine Feder. Sein Arm schien auf über zwei Meter angewachsen zu sein und überhaupt nichts mehr zu wiegen. Amüsiert beobachtete er, wie der riesenhafte Arm mit der ebenfalls riesenhaften Hand versuchte, eine Zigarette aus der Schachtel zu holen. Die Finger schienen komplett knochenlos zu sein; sie wackelten wie Wimpel im Wind. Der Anblick dieser Gummifinger und der monströsen Arme amüsierten Paul, und er kicherte wie ein Verrückter vor sich hin.

Schließlich gelang es ihm doch noch, eine Kippe aus der Gefangenschaft zu befreien und steckte sie in den Mund. Sie hüpfte zwischen den Lippen auf und ab, denn inzwischen gackerte er wie ein Huhn. Ihm war es vollkommen egal, dass sich alle Augen zu ihm drehten.

Paul wusste, dass es klüger gewesen wäre, jetzt aufzustehen und das Lokal aufrecht zu verlassen. Noch konnte er es. Aber er tat es nicht. Er war nicht hierhergekommen, um den Schwanz einzuziehen. Er war hergekommen, weil er sich betrinken wollte. Er wollte so betrunken sein, wie er es schon lange nicht mehr gewesen war. Und wenn er es war, wollte er weitermachen. Echt vom feinsten, dieser Plan.

Der Weg dorthin war nicht allzu steinig. Genaugenommen ging es, bildlich gesprochen, fast nur bergab. Und so erfüllte sich sein Wunsch schneller, als es ihm lieb gewesen wäre. Anfangs spürte er nur diesen Schwindel, später dann wurden seine Glieder schwer wie Blei, und eine Sekunde später so leicht wie eine Feder. Immer abwechselnd. Kein unangenehmes Gefühl.

Wenig später (er hatte noch nicht mal fünf Zigaretten geraucht und sein Glas war noch halbvoll) musste er auf die Toilette. Über dem Pissoir war ein Fenster, das offen stand, und von dort strömte frische Luft herein. Sie fühlte sich gut an auf der heißen Haut. Sie kühlte, und außerdem senkte sie die Übelkeit. Aber die frische Luft hatte nicht nur Vorteile. Sie bewirkte auch, dass der Alkohol noch schneller in sein Blut gelangte, und das Ende vom Lied war, dass auf einmal (er stand noch am Pissoir und musste sich an der Wand stützen, um nicht der Länge nach auf die Fliesen zu knallen) alles um ihn herum schwarz wurde.

Das war’s. An mehr konnte er sich nicht erinnern. Der Rest war Dunkelheit. Klassischer Filmriss.

Jetzt lag er auf dem Bett und glotzte an die Decke. Er hatte pochende Kopfschmerzen und verströmte einen stechenden Geruch. Es war sein Erbrochenes, das so stank. Er ekelte sich; er war außerstande aufzustehen. Wenigstens im Moment. Vielleicht scheute er auch den Anblick des Zimmers. Wer wusste, wie er das Haus in seiner Schnapslaune zugerichtet hatte? In seiner jetzigen Verfassung wäre es kein Wunder gewesen, wenn er es niedergebrannt hätte.

Das Bett war klitschnass, teilweise von seinem Schweiß, aber größtenteils lag es daran, dass er sich eingepisst hatte. Es kümmerte ihn nicht. Es war ihm schnurz, dass er in seiner eigenen Pisse lag, die kalt und nass auf seiner Haut klebte.

Er blieb noch eine Minute so liegen. Dann sammelte er alle seine Kräfte und richtete sich schwerfällig auf. Ein harter Job; er stöhnte. Sein Kopf schmerzte, als würde sein Hirn von tausend Nadeln durchbohrt, seine Haut glühte und schien zugleich aus Eis zu sein, er schwitzte und fror wie bei einem Infekt, und seine Knochen ächzten. Paul verfluchte sich, weil er so bescheuert gewesen war und so viel in sich hineingeschüttet hatte, und er schwor sich, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren.

Auf wackligen Beinen, die so weich waren wie Schokopudding, stand er da. Kurz überlegte er, sich einfach wieder rückwärts aufs Bett fallen zu lassen, entschied sich aber dann dagegen, weil er befürchtete (und das kam ihm in diesem Moment sehr plausibel vor), nie wieder aufstehen zu können.

Ihm war hundeelend zumute, er kam sich vor wie durch den Fleischwolf gedreht. Doch es gab auch etwas Positives: Mittlerweile hatten seine Beine nicht mehr die Konsistenz von Schokopudding, sondern fühlten sich fester an, etwa so wie Gummi. Mit hängenden Schultern schlich er ins Bad. Dort empfing ihn der nächste Kampf. Er musste dreimal auf den Lichtschalter schlagen, denn das verdammte Mistding wich immer aus. Als es ihm endlich gelungen war, den Flüchtling zu stellen, sah er, dass es vergebliche Mühe gewesen war: Das Licht erhellte den Raum nur spärlich, von außen fiel ja schon genug Tageslicht hinein. Er schlurfte in Richtung Spiegel, schaute hinein und bekam einen Schrecken. Er trug noch die Kleider von gestern Abend. Seine Augen waren blutunterlaufen und kaum größer als Schlitze. Seine Haut war gelb, und in Gesicht, Haar und Kleidung klebte Erbrochenes.

„Zeit für eine Dusche, alter Junge“, versuchte er sich zu motivieren. Entschlossen legte er die nassen, stinkenden Kleider ab und duschte.

Zehn Minuten später fühlte er sich schon besser; zwar nicht wie neugeboren, aber es würde reichen für den Anfang. Ein frisch aufgebrühter Kaffee wird das Übrige tun, dachte er und lief in die Küche. Während der Kaffee durch die Maschine lief, ging er noch einmal ins Schlafzimmer, um das Bett abzuziehen. Oh nein, er hatte nicht vor, es zu waschen. Wozu auch? Was sollte die Mühe? Es ging viel besser, die nassen Teile einfach zu entsorgen. Und er öffnete die Fenster. Paul hatte sonst keine empfindliche Nase, aber hier stank es wie in einer Kläranlage und das war sogar ihm zu viel.

Nur wenig später saß er am Küchentisch und trank langsam Kaffee. Essen konnte er noch nichts. Er wusste, dass er keinen Bissen runterkriegen würde.

Mittlerweile war es sechzehn Uhr achtzehn. An einem normalen Tag hätte er jetzt schon mehr als die Hälfte seines Arbeitspensums geschafft. Seit Monaten war er schon nicht mehr so faul gewesen. Aber er machte sich keine Hoffnung, dass dieser Tag produktiver sein würde als der letzte. Dazu war der Schmerz noch zu frisch, noch zu bissig.

Langsam führte er die Kaffeetasse zum Mund, und in diesem Moment spielte sich etwas vor seinem geistigen Auge ab, woran er schon seit wer weiß wie vielen Jahren nicht mehr gedacht hatte. Die Erinnerung kam so plötzlich und jäh, dass er wie ein Stehaufmännchen vom Stuhl hochschnellte und die Tasse losließ, die scheppernd zerbrach. Er sah zu ihr hinunter und bemerkte die Splitter gar nicht, die in der schwarzen Flüssigkeit taumelten. Er war wie weg. Seine Aufmerksamkeit richtete sich nur auf das, was vor seinem geistigen Auge ablief. Es war wie ein Film. Ein Film, in dem er die Hauptrolle spielte, aber gleichzeitig nichts zur Handlung beitragen konnte.

Er sah …

Wie die Sonne unterging! Fast so, als wolle sie noch nicht aufhören zu scheinen. Langsam, als tauche sie in dickes Gelee, versank sie am roten Horizont. Der Tag war heiß gewesen, fast zu heiß. Doch da die Hitze des Tages überstanden war und sich dieser Teil der Welt auf eine kühle Nacht vorbereitete, wurde es angenehm. Noch war es hell, doch der Abendhimmel war rot, und die Natur, die in der sengenden Nachmittagshitze eine Pause eingelegt hatte, erwachte wieder zum Leben.

Vögel segelten über die Kornfelder, immer nur um Haaresbreite über den prallen Ähren. Sie flogen übermütig umher, vollführten akrobatische Kunststücke und begrüßten die abendliche Kühle mit Gezwitscher. Die ersten Mücken verließen summend ihren Unterschlupf und machten sich auf die Suche nach Opfern. Nur vereinzelt schwebten Wolken am Himmel. Ein leichter Wind strich über die Weizenfelder, über denen noch eine letzte Hitze flimmerte und wiegte die gelben Ähren. Zwischen den Feldern duckte sich ein schmaler Pfad. Schmetterlinge flatterten umher und präsentierten ihre Schönheit: Ein Meer aus gelben Flügeln, roten Flügeln, weißen Flügeln, blauen Flügeln und den exotischsten Farbvariationen, die nur die Natur hervorzubringen vermochte.

Plötzlich schreckten sie auf und flogen davon. Noch immer lag der Weg verlassen, doch der Wind trug jetzt das Gemurmel von Stimmen heran. Nicht laut, aber auch nicht leise genug, um es zu ignorieren. Über einer Anhöhe, kaum dreihundert Meter entfernt, tauchten Köpfe auf, die wie Bälle über die Straße hüpften. Aus dem Stimmengemurmel wurde Gejohle, das sich mit Gelächter mischte. Eine Stimme, dem Klang nach die eines Mädchens, schrie: „Nimm deine dreckigen Finger von mir!“ Worauf eine andere, diesmal eindeutig die eines Jungen, laut lachte …

Die Verbindung riss kurz ab; Paul befand sich wieder in der wirklichen Welt, im Hier und Jetzt. Er war über die Bilder, die er gesehen hatte, geschockt, aber er wusste, was sie bedeuteten. Er begriff zwar nicht, wie, aber er wusste, dass er einen Blick in die Vergangenheit geworfen hatte. Und darüber war er schockiert, weil es das intensivste Gefühl war, das er je erfahren hatte. Gleichzeitig war es aber auch angenehm. Weil er sich genau erinnerte, was an jenem Tag noch alles gewesen war, umspielte ein Lächeln seine Lippen. Wie um ihm das zu bestätigen, flimmerte vor seinem geistigen Auge nun die Fortsetzung des Films (Ende des Werbeblocks – kommt vom Klo zurück, Herrschaften!).

Die Jugendlichen machten einen Lärm, als zöge ein Bataillon in die Schlacht. Es waren Pauls Jugendfreunde. Und er tummelte sich mitten unter ihnen. Nur eben vierundzwanzig Jahre jünger. Amüsiert registrierte er, wie aus seiner modischen Drei-Haare-Frisur, wie er sie scherzhaft nannte, wieder ein dichter Schopf geworden war. Die Unterhaltung wurde mit jedem Schritt lauter. Der Wind trug die Stimmen heran. Schnellen Schrittes liefen sie die Anhöhe hinunter und gackerten.

Paul wusste, wo sie hinwollten. Und er wusste auch, was an diesem Abend noch alles geschehen würde. Er stand da, mitten auf dem Feld, bis zu den Hüften im Korn, und beobachtete alles fasziniert. Es war ein Déjà-vu, aber gleichzeitig auch viel mehr als das. Es war viel realer, greifbarer, intensiver. Es schien gerade erst zu passieren. Nicht nur ein Kapitel aus der Vergangenheit, sondern so real und tatsächlich, wie es nur sein kann.

Paul holte Luft und versuchte das Wunder zu begreifen. Er roch das Getreide und den Duft des Sommers, sah den ehemaligen Freunden zu, die schon so nah waren, dass er mühelos ihre Gesichter erkennen konnte. Sie trugen die modischen Frisuren, die damals, Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger, der letzte Schrei gewesen waren.

Langsam setzte auch Paul sich in Bewegung. Er wollte den Anschluss an die Gruppe nicht verlieren. Er lief durch den Weizen, beschleunigte seinen Schritt, rannte fast, wobei die Ähren gegen ihn klatschten. Dann sprang er auf den Weg und schaffte es gerade noch, sich vor der Gruppe aufzubauen. Es war unfassbar, er stand keine fünf Meter vor ihnen und konnte jede Regung in ihren Gesichtern sehen. Er wollte sie ansprechen, sie fragen, wohin sie gingen.

Sie kamen näher. Paul streckte den Arm aus, wollte einen von ihnen an der Schulter berühren. Doch der Arm glitt einfach durch ihn hindurch, und sie liefen an ihm vorbei. Damit hatte er nicht gerechnet, obwohl es vielleicht zu erwarten gewesen war. Schließlich war es nicht real. Es waren nur Geister, Gespenster, Illusionen aus der Vergangenheit. Paul schüttelte sich, als wolle er eine Kälte auf seiner Haut abschütteln. Dann lief er eilig hinter ihnen her.

Er blieb etwa auf ihrer Höhe, um kein Wort zu verpassen.

Und dann tat er etwas, was er weder geplant noch bedacht hatte: Er kniff die Augen zusammen, hielt den Atem an und lief durch die Gruppe hindurch. Warum er das tat, wusste er nicht. Er vermutete, dass es intuitiv geschah. Abermals griff Kälte nach ihm, doch intensiver als ein Windhauch. So mussten sich die Stürme auf der Venus anfühlen. Nicht nur die Kälte irritierte ihn. Er hatte für einen Moment den Eindruck, den Boden unter den Füßen zu verlieren, zu fliegen. Dann war es auch schon wieder vorbei, und er war durch sie hindurch.

Paul drehte sich um, öffnete die Augen und sah sich verdattert um. Er lief jetzt vor ihnen her; ihre Stimmen im Rücken hatten nichts von ihrer Fröhlichkeit eingebüßt. Er entschied sich, rückwärts zu gehen. Das war zwar einerseits beschwerlich, andererseits aber konnte er so wenigstens die Gesichter sehen, von denen er die meisten seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Während er das tat, versuchte er sich an die Namen zu erinnern und war entsetzt, dass es ihm nicht gelang. Waren vierundzwanzig Jahre denn eine so lange Zeit?

Ihn beschlich ein schlechtes Gewissen. Ehe er sich davon ablenken lassen konnte, besann er sich und kam zu der Erkenntnis, dass es vielleicht normal war. Wer weiß, vielleicht erginge es den anderen, träfe er sie im realen Leben, ebenso? Er konzentrierte sich wieder auf die lärmende Meute vor ihm und war bemüht, höchstens zehn Schritte Abstand zu ihnen zu haben, um ihre Gesichter zu sehen. Er wollte die jugendlichen Gesichter in sich aufsaugen; wie ein Vampir das Blut seiner Opfer in sich aufsaugt, wollte er den Anblick der Jugend in sich aufnehmen.

Zwei Mädchen (sie sahen noch jünger aus als der Rest) kreischten angeekelt, als zwei Jungen, die vor ihnen liefen, ihre Hosen herunterließen und ihnen ihre nackten Hinterteile präsentierten. Der Rest kreischte so laut, dass das Kreischen der Mädchen darin fast unterging.

Es dauerte eine gewisse Zeit, bis es langsam wieder abebbte. Ein Junge, er trug einen Dreitagebart (wenn man den Flaum auf seiner Oberlippe so nennen wollte) sagte grinsend, als müsse er gleich wieder losbrüllen: „Oh Mann, oh Mann, hat einer von euch diesen Megapickel auf der Arschbacke gesehen? Das Ding war so riesig, dass er schon einen eigenen Mond hatte, der in einer Umlaufbahn um ihn kreiste. Igitt, wenn ich nur dran denke, muss ich kotzen!“

Wieder lachten alle. Sogar die beiden Mädchen.

„He, Jan“, schrie ein zweiter spöttisch, „ich will ja nicht in deiner Nähe sein, wenn die Dämme brechen! Der ist imstande und spült uns weg!“

Das Gelächter wurde noch lauter, und die Gesichter liefen rot an wie Hummer im Kochtopf. Nur eines nicht. Es wirkte vielmehr wie versteinert. Aha, kombinierte Paul, wenn mich nicht alles täuscht, ist der Bengel mit dem säuerlichen Gesichtsausdruck da besagter Jan und somit rechtmäßiger Besitzer des mächtigsten Pickels unter der Sonne. Auch Paul grinste, allerdings nicht halb so breit wie die anderen. Wahrscheinlich bin ich einfach zu alt für diese Scheiße, dachte er.

Das Gelächter schwoll immer mehr an, und der Junge, der den Grund dieses Freudenfeuerwerkes auf dem Arsch trug, es sozusagen ausgebrütet hatte, schien den Tränen nahe zu sein. Er stand da wie ein Häufchen Elend. Die Schultern hingen schlaff an ihm herunter, und seine Hände fuhren immer wieder über den Stoff seiner Hose. Die anderen konnten sich immer noch nicht beruhigen, und so bemerkte keiner von ihnen, dass ihm schon die erste Träne die Wange herunterlief. Das Licht der untergehenden Sonne reflektierte sich in ihr, und kurz meinte Paul, einen Regenbogen in ihr zu sehen. Den Bruchteil einer Sekunde lang sah er ein ganzes Farbspektrum in der Träne.

Vier oder fünf Minuten später war der Witz verflogen, und das Gelächter senkte sich langsam auf einen erträglichen Level. Und Jan heulte wie ein Schlosshund.

Jetzt erst bemerkten es die anderen und hielten inne. Sie näherten sich ihm, und die so plötzlich aufgetretene Stille war direkt unheimlich. Aber das war nur ein Moment, denn noch ehe man die Ruhe richtig begreifen konnte, wurde sie von einem herzzerreißenden Jammern unterbrochen. Die anderen sahen einander ratlos an, zuckten mit den Schultern und fragten sich flüsternd, was für eine Laus ihm über die Leber gelaufen war. Als sie schließlich bei ihm standen, wurde sein Jammern leiser, brach aber nicht ab.

Einer legte den Arm auf seine Schulter (Paul sah, dass er selbst derjenige war, der es tat) und fragte ihn: „Was ist mit dir?“

„Ich … ich … ich … ihr Arschgeigen macht euch immer über mich lustig!“ Jan schluchzte wieder.

„Was?“, fragte der vierundzwanzig Jahre jüngere Paul verdutzt, „und deshalb heulst du wie ein Weib?“

„Nana, ich muss doch bitten“, protestierte ein Mädchen. „Von uns hier jammert keine!“

Paul verdrehte die Augen. „Ach, vergiss es einfach.“

„Warum soll ich es vergessen? Los, dreh dich um! Ich rede mit dir!“

Sie ging langsam auf ihn zu. Doch noch ehe sie ihn erreichen konnte, boxte eine Freundin sie in die Seite und zischte: „Lass ihn doch! Verdammt, er versucht doch nur, die Heulboje zu beruhigen.“ Das leuchtete ihr ein. Paul konnte sich wieder um Jan kümmern.

„Hör mal“, begann er wieder, und das Jammern wurde eine Nuance leiser, „ich weiß gar nicht, warum du so eingeschnappt bist.“

„Na, weil … na, weil …“

„Jetzt krieg dich doch wieder ein, Menschenskind! Ist doch kein Weltuntergang, so ’n blöder Pickel auf ’m Arsch! Hatten wir alle schon mal, richtig, Jungs?“

Ein Raunen ging durch die Runde. Einer murmelte: „Na ja, ein gottverdammter Vulkan ist schon ein Scheißdreck gegen dieses Unikum“, und ein anderer, er schien der Älteste der Truppe zu sein, meinte: „Also, ich für meinen Teil pflege meinen Körper täglich mit Cremes und so `nem Zeug“, und noch einer murmelte etwas, das ungehört unterging.

„Siehst du“, fuhr Paul fort und tat, als hätte er die anderen gar nicht gehört, „ist alles kein Beinbruch. Jetzt wisch deine Tränen weg!“

Jan beruhigte sich.

„Jan, alter Junge, wir haben dich nur verarscht. Sollte nur ein Scherz sein.“

Das Schluchzen wurde leiser.

„Nun komm schon. Wir konnten ja nicht ahnen, dass du gleich so ein Drama draus machst.“

Das Schluchzen war jetzt zu einem Wimmern geworden. Der junge Paul setzte noch eins drauf: „Jetzt reiß dich aber mal zusammen, ja? Wir sind gleich auf dieser doofen Party und, mal ehrlich, willst du da mit tränenüberlaufenen Augen antanzen? Die Mädels riechen das zehn Meilen gegen den Wind! Dann kannst du gleich wieder abmarschieren, dann lässt dich nämlich garantiert keine mehr von ihrem Sahnetörtchen kosten, wenn du verstehst, was ich meine!“ Er grinste verschmitzt.

Hoffnungsvoll sahen alle Jan an.

Zwei, drei Sekunden passierte gar nichts. Paul fürchtete schon, sein Enthusiasmus war umsonst gewesen. Jetzt verstummte auch das Wimmern. Er sah ihn an, versuchte in den Augen Pauls zu ergründen, ob das auch stimmte. Doch eigentlich war es sonnenklar. Die Mädels wollten harte Kerle – solche, die mit dem rechten Arm Blumen für die Angebetete pflückten und mit dem linken Bäume mitsamt Wurzeln ausrissen. Solch Kerle wollten sie haben und keine Laschies. Und genau das wäre er in ihren Augen, wenn er seine Schleusen nicht bald wieder unter Kontrolle brachte.

Jan schniefte noch einmal, spuckte Rotz auf die Straße, kramte verlegen nach einem Tempo, fand sogar eins (Paul hätte um ein Haar gekotzt, als er es sah, es wurde nur noch von Popeln zusammengehalten) und wischte sich hastig die Tränen weg. Der jüngere Paul speicherte in seinem Gehirnhinterstübchen: Jan bei nächster Gelegenheit mal ein neues Taschentuch schenken.

Wenig später lief die Truppe weiter. Keiner verlor mehr ein Wort über das gigantische Furunkel. Zwanzig Minuten später erreichten sie ihr Ziel. Einigen war es in dieser Zeit schwer gefallen, keine Witze mehr über einen bestimmten Körperteil mit einer seltsamen Erhebung zu reißen.

Sie standen auf dem Festplatzgelände des Nachbarortes und sahen sich um. Von überallher dröhnte Musik. Kinder liefen mit Luftballons in den Händen und tonnenweise Zuckerwatte im Gesicht vorbei. Sie waren auf dem Jahrmarkt. Über den Festplatz verteilt standen Karussells, Losbuden, Würstchenbuden und Eiswagen. Und vor jedem Stand pries der Inhaber lautstark seine Waren an: „Knackige heiße Würstchen! Knackige, heiße Würstchen! …Versuchen Sie Ihr Glück! Jedes zweite Los gewinnt! Versuchen Sie ihr Glück! … Lecker Eis für die Kleinen, probieren Sie! Nur fünfzig je Kugel! Probieren Sie! … Die Kinder lieben dieses Karussell! Nur einmal mitfahren und Sie sind begeistert!“

Es roch nach Pferdeäpfeln und frisch gemähtem Gras. Sie standen inmitten des Treibens und sahen sich ratlos an. Das, was sich um sie herum abspielte, war ganz und gar nicht, was sie erwartet hatten. Wie auf Kommando steckte sich jeder eine Kippe in den Hals, zündete sie an und versuchte cool auszusehen. Sie waren hier fehl am Platz. Sie trugen die falschen Klamotten. Sie hatten sich für eine Disco angezogen, nicht für einen Kindergeburtstag.

„Also“, begann einer (mit einem Mal konnte Paul sich wieder an seinen Namen erinnern), „entweder sind wir zu früh oder wir haben uns hier verlaufen.“ Jerome war sein Name, und Paul erinnerte sich deshalb so genau, weil sein Agent und späterer Freund genauso hieß – aber vor allem, weil dessen Gesicht so von Akne verunstaltet war, dass er sich wunderte, wie er ihn überhaupt hatte vergessen können. Soweit er sich erinnerte, hatte er sein Leben lang niemanden mehr gesehen, dessen Gesicht auch nur annähernd so von dieser Krankheit gezeichnet war wie das von Jerome.

Jerome zog einmal kräftig an seiner Zigarette, spuckte zu Boden und sah die anderen an. Auch sie wussten nicht so recht, was sie davon halten sollten und blickten fragend zurück.

„Auch das noch!“, meinte Jerome missmutig. „Hat denn keiner einen Plan, wie’s weitergehen soll?“

Eines der Mädchen (sie hatte lange braune Haare, eine Brille und eine Spange, die bei jedem Wort blitzte) fragte: „Was haltet ihr davon, erstmal eine Kleinigkeit zu essen? Allmählich hängt mir mein Magen in der Kniekehle.“

Der ältere Paul war erstaunt, wie mühelos er sich jetzt an die Namen erinnern konnte. Sie drangen zwar noch zähflüssig zu ihm durch, doch mit jeder Sekunde kamen die Erinnerungen schneller. Das Mädchen hieß Gamelia und wäre heute so alt gewesen wie er selbst. Doch sie hatte das Pech gehabt, einmal zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein: Sie war bei einem Schiffsuntergang ums Leben gekommen. Das Tragische an der Geschichte war, dass sie die Reise bei einem Preisausschreiben gewonnen hatte. Gamelia, ein ungewöhnlicher Name. Paul hatte seinerzeit davon in der Zeitung gelesen und schon damals bestürzt festgestellt, dass er bis zu diesem Zeitpunkt nicht mehr an sie gedacht hatte. Da sie in die selbe Klasse gegangen waren, hatte er an der Beerdigung teilgenommen, ihr das letzte Geleit gegeben. Danach war er in seinen schwarzen Volvo geklettert, hatte sich die Krawatte abgerissen, sie auf die Rückbank gepfeffert und Gamelia wieder vergessen bis … bis heute. Auf einmal plagte ihn so etwas wie schlechtes Gewissen. Doch für diese Art von Gefühlen war jetzt keine Zeit.

Sie standen vor einer Würstchenbude und mampften zufrieden vor sich hin. Keiner sagte etwas.

Auf einmal begann Jan zu lachen. Er lachte so heftig, dass die Hälfte seines Würstchens in hohem Bogen davonflog. Die anderen sahen ihn fragend an. Er konnte nichts sagen, er konnte ihnen nur durch Kopfnicken verständlich machen, dass sie sich umdrehen sollten. Sie taten es und schlossen sich sogleich seinem Lachen an.

Hinter ihnen stand ein großes Werbeplakat, und eine Horde Kinder stand davor. Vielmehr standen sie um einen Erwachsenen herum, hatten ihn förmlich eingekesselt, und der Erwachsene machten ein gestresstes Gesicht, als wüsste er nicht, wo ihm der Kopf stand. Sie tänzelten um ihn wie Indianer um den Totempfahl und kicherten und gackerten, als wäre das Leben ein einziges Wunschkonzert. Im Gesicht des Eingekesselten konnte man lesen wie in einem Buch. Er hatte Mühe, den Ameisenhaufen ruhig zu halten und schien auch nicht mehr viel Geduld zu haben. Er war ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Die Kinder ließen sich davon nicht aus der Hektik bringen und machten weiter, was dem Mann die Zornesröte ins Gesicht trieb. Er kaute nun schon auf der Luft in seinem Mund herum.

Doch eigentlich war dieses Treiben nur Nebensache. Die Jugendlichen interessierten sich mehr für das Werbeplakat. Vielmehr für das, was es in großen schwarzen Buchstaben verkündete:

Sonnabend, den 26.07.1978

Diskothek am Abend

Große Festwiese

Beginn: 21.30 Uhr

Einlass: 21.00 Uhr

Eintritt frei

Und in der linken unteren Ecke das Wichtigste von allem. Der Hauptgrund, warum vor allem die Jungen Feuer und Flamme waren:

Striptease kurz nach Mitternacht

Naomi lässt alle Hüllen fallen

Der junge Paul sah auf seine Armbanduhr. Er war der einzige, der eine trug und verkündete mit gewichtiger Stimme: „Gleich zwanzig Uhr fünfundvierzig.“ Die anderen nickten zustimmend. Die restlichen paar Minuten würden sie auch noch irgendwie totschlagen.

Auf einmal wurde es schwarz vor Pauls innerem Auge. Doch nur für einen kurzen Moment, denn einen Augenblick später zeichneten sich bereits wieder erste Konturen ab. Sie waren verschwommen, wurden klarer, verschwammen wieder und wurden wieder klarer, als könne jemand sich nicht entscheiden, welche Brille er nehmen soll. Schließlich blieben sie klar.

Es war jetzt um einiges dunkler, und Paul brauchte keine innere Uhr, um zu wissen, dass die Party bereits in vollem Gange war. Die Musik dröhnte, etwas Rockiges. Paul kannte den Song, der Name war ihm momentan aber entfallen. Garantiert was von den Stones. Er nahm sich vor, wenn er wieder in der Realität, in seiner Zeit war, unbedingt in seiner CD-Sammlung nachzusehen. Er war überzeugt, den Song dort zu finden. Es roch nach Alkohol und Erbrochenem.

Die Disko fand unter einer riesigen Zeltplane statt. Man wollte schließlich sichergehen, dass das Fest nicht durch einen Wolkenbruch ins Wasser fiel.

Das Herz des älteren Paul setzte vor Vorfreude einen Moment aus und schlug dann mit doppeltem Tempo weiter. Seine Hände waren schweißnass. Er wusste, dass es jeden Moment soweit sein würde. Gleich würde das geschehen, warum er, seiner Vermutung nach, hierhergekommen war.

Der vierundzwanzig Jahre jüngere Paul saß an der Bar und hielt sich an einem Bier fest. Er war noch nicht betrunken, aber schon angeheitert. Die Freunde hatten ihn vor einiger Zeit alleingelassen. Sie waren entweder tanzen oder in irgendeiner Ecke beim Knutschen. Er hatte sich diesen Abend anders vorgestellt und war betrübt. Aber bei weitem nicht genug, um den Kopf komplett hängen zu lassen. Warum auch? Es war Sommer, er war jung, und der Abend gehörte ihm. Da störte es auch nicht, dass er allein hier saß und Bier trank. Er schnippte die Zigarette weg, trank und zündete eine neue an. War das Leben nicht wunderschön? Dann sah er gelangweilt auf die Armbanduhr. Die Zeiger verkündeten, dass es zehn vor zwölf war.

Von der Tanzfläche (wenn man das so nennen konnte, es waren nur Holzplatten so auf dem Boden verteilt, dass sie eine zusammenhängende Fläche bildeten) kam einer der Freunde auf ihn zugewankt. Er hatte schon ein paar mehr intus als Paul, und das sah man auf den ersten Blick. Seine Augen waren glasig, sein Gang nicht mehr sicher, und er grinste bescheuert. Obwohl er nicht mehr nüchtern war, hatte er mehr Spaß als Paul. Unter jedem Arm hatte er ein Mädchen untergehakt. Sie waren zwar keine Schönheitsköniginnen, aber ihm schien das gleich zu sein. Paul dachte an das Sprichwort: Im Suff sind alle Frauen schön. Auch die Begleiterinnen hatten schon Mühe, aufrecht zu gehen.

„Paulchen“, lallte der Freund, als er sich mit seiner Begleitung vor ihm aufbaute, „darf ich dir diese beiden entzückenden Täubchen vorstellen?“ Er deutete mit Kopfnicken nach rechts. „Dies reizende Geschöpf hier ist Ophelia. Ist Ophelia nicht ein wunderschöner Name?“

Paul nickte zustimmend. Nicht, weil er von dem Namen so angetan war (um ehrlich zu sein, fand er ihn scheußlich), sondern weil er nur mit halbem Ohr zugehört hatte. Während sein Gegenüber ihn darüber informierte, dass das zarte Geschöpf auf der linken Seite Natascha hieß, sann er noch immer darüber nach, wie es sein konnte, dass er, Paul, hier noch immer allein saß und sein besoffener Freund bereits Anhang hatte, sogar das Doppelte von dem, was ihm zustand. Was mache ich nur falsch, fragte er sich und trank den letzten Schluck Bier.

Sein wackliger Freund war kaum zur Stelle, da hatte er auch schon Bier bestellt: eines für sich, eines für Paul und natürlich auch für seine Damen. Und noch ehe Paul sich bedanken konnte, wurde er mit den vier Bier alleingelassen. Der Freund verschwand einfach wankend, wie er gekommen war. Er schien die Bestellung vergessen zu haben.

Paul sah ihm stirnrunzelnd hinterher. Aber da er offenbar Wichtigeres zu tun hatte (und das hatte er garantiert, wenn man sah, wie begeistert er die Zunge mal der einen, mal der anderen in den Mund steckte), kümmerte er sich nicht mehr um ihn. Er würde das schon allein schaffen. Derartig beruhigt, widmete er seine Aufmerksamkeit den vier Biergläsern, die nur darauf warteten, getrunken zu werden. Nur fünf Minuten später hatte er bereits das erste geleert und schickte sich an, die Finger nach dem zweiten auszustrecken, als seine Hand plötzlich blieb, wo sie war – in der Luft hängend, wie auf einem Foto.

Seine Augen waren über die Tanzfläche gewandert, von dort zum Ausgang, wo gerade eine wüste Schlägerei entbrannte und von dort zur Bar gegenüber. Und genau in diesem Moment war die Bewegung erstarrt, als wäre er zu Stein geworden.

Der ältere Paul verlor den Boden unter den Füßen, und während er fiel, merkte er, dass sein Herz raste, sein Blut kochte, seine Muskeln zum Zerreißen gespannt waren, seine Nerven vor Aufregung zitterten und sogar sein Atem aussetzte. Obwohl er gewusst hatte, was ihn erwartete, war es, als es schließlich geschah, einfach zu viel für ihn. Und während ihm das noch durch den Kopf ging, kehrte er wieder auf den Jahrmarkt zurück, und das war ohne Zweifel ein Glück für ihn, so bemerkte er wenigstens die unsanfte Landung nicht.

Der jüngere Paul saß noch immer so da, er hatte sich keinen Millimeter bewegt. Seine Hand hing ungefähr fünfzehn Zentimeter vom Bierglas entfernt in der Luft. Das einzige an ihm, was sich geändert hatte, waren seine Augen. Die waren so groß wie Scheunentore und glotzten ungläubig an die Bar. Und mit einem Mal war es still um ihn. Nur weit hinter ihm, es schien am anderen Ende des Universums zu sein, dudelte leise Musik.

Das erste, was er sah, waren diese langen, blondgelockten Haare. Sie leuchteten heller als die Sonne. Eine einzelne Strähne war schwarz gefärbt und hing ihr mitten übers Gesicht. Sie hatte vereinzelt kleine Sommersprossen (er fragte sich einen Moment, wie es möglich war, dass er all diese Kleinigkeiten aus dieser Entfernung entdeckte), und Paul sah, dass ihre Augen ruhelos mal hierhin, mal dorthin wanderten. Auch sie konnte er genau sehen. Sie waren grün und, in der linken oberen Pupillenhälfte war ein kleines braunes Dreieck. Er hatte etwas Derartiges noch nie zuvor gesehen.

Jetzt sah sie ihn direkt an.

Vor Schreck blieb Paul die Spucke weg. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er wusste noch nicht einmal, ob er den Mut hatte, ihrem Blick standzuhalten. Er kam sich vor wie ein scheues Reh, das in die Gewehrmündung des Jägers blickt. Und während ihm dieser Vergleich in den Sinn kam, sah er hastig zu Boden und schimpfte sich einen Idioten. Super, echt erste Sahne, das hast du mal wieder großartig hingekriegt! Phänomenal! Ohne Scheiß, da kann man nicht meckern! Kannst stolz auf dich sein!

Er glotzte zu Boden wie jemand, der etwas Wichtiges verloren hat und es unbedingt wiederhaben muss. Dabei wäre er am liebsten in diesem Boden versunken. Nur weg von hier, egal wohin!

Mit einem Mal tauchten am oberen Rand seines Sichtfeldes ein Paar Stiefel auf. Schwarze Cowboystiefel. Eigentlich waren sie viel zu klein und zierlich, um sich Stiefel zu nennen. Aber es waren welche. Ein Paar von dieser Größe konnte nur zu einer Frau gehören. Fieberhaft überlegte Paul, ob eines der Mädchen aus seinem Freundeskreis derartige Schuhe trug. Negativ, er musste passen.

Er schluckte den Speichel runter. Dann schluckte er noch einmal. Und es half ihm sogar ein wenig – so, als hätte er damit einen Teil seiner Unsicherheit weggeschluckt.

Nun hatte er zwei Möglichkeiten. Die erste (bei weitem die leichteste) sah ungefähr so aus: Er beließ es so, wie es war und steckte weiter wie ein Vogel Strauß den Kopf in den Sand. Oder aber (und das war die zweite, ungleich schwierigere): Er packte den Stier bei den Hörnern. Nach einem kurzen, aber heftigen Disput mit sich selbst entschied er sich für die Torero-Methode. Dabei hoffte er immer noch, dass es sich nur um irgendein Mädchen handelte, die sich etwas zu trinken bestellte. Nicht etwa, um …

Zu den Schuhen gesellte sich jetzt eine Blue Jeans. Er ließ den Blick höher wandern und sah lange nur Hosenbeine. Wie wohl die Beine darunter aussahen? Endlich war sein Blick höher gewandert, unterhalb der Taille. Oh ja, es handelte sich zweifelsfrei um ein Mädchen, und um was für eins, Junge, Junge! Saftige straffe Schenkel, schöne lange Beine! Kerl, reiß dich zusammen! Reiß dich bloß zusammen!

Er ließ den Blick weiter aufwärts wandern. Das Mädchen trug ein rotkariertes Holzfällerhemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren. Nun wusste er endlich, wer sie war, und vor Überraschung schluckte er erneut. Auch diese verdammte Unsicherheit war plötzlich wieder da. Dafür schien seine Fähigkeit, sich zu bewegen, verschwunden zu sein. Er kauerte auf dem Barhocker, hatte den Blick auf ihr Dekolleté gerichtet und bemerkte entzückt, dass die obersten zwei Knöpfe offen waren. Paul wusste, dass es ein dämliches, vor allem unhöfliches Benehmen war, so zu starren. Es war ihm aber einfach nicht möglich, wegzusehen. Seine Halsmuskulatur verweigerte ihm den Dienst.

„Hast du inzwischen gefunden, wonach du gesucht hast?“

Die Stimme klang freundlich, und obwohl die Besitzerin genau wusste, wohin er seinen Blick gerichtet hatte (sie hätte schon so blind sein müssen wie ein Maulwurf, um es zu übersehen), schien sie keineswegs erbost. Ja, es klang sogar fast ein wenig so, als wäre sie amüsiert. In Pauls Mund lief der Speichel zusammen. Literweise. Hektoliterweise. Ein ganzer Ozean. Zumindest fühlte es sich so an. Er drohte daran zu ersticken und kam nicht mehr mit dem Schlucken hinterher. So konnte er nie und nimmer etwas sagen. Bei diesen Mengen würde er ihr eine Dusche verpassen, bei der ihr alles verginge. Sogar die Hilfsbereitschaft.

„Du scheinst mir ja ein richtiger Draufgänger zu sein, was? Ich hoffe, dass ich mit dir mithalten kann.“ Die Besitzerin der Stimme kicherte. „Wie bitte? Du fragst, ob du mir einen Drink spendieren darfst? Aber hallo, da sage ich doch nicht nein!“

Paul stöhnte. Seine Beine hatten mittlerweile die Konsistenz von Gelatine. Alles an ihm zitterte wie Laub im Herbstwind. Noch nie zuvor war er sich so hilflos vorgekommen – und gleichzeitig so überschwänglich glücklich.

„Hi, ich bin Jeannine. Und du?“

Ihre Stimme klang warm, weich. Als sänge ein wunderschöner Vogel nur für ihn. Er war außerstande, zu antworten. Es war nun schon das zweite Mal an diesem Tag, dass er vor Scham am liebsten im Erdboden versunken wäre.

„Sag mal, hast du Genickstarre oder so was? Oder was gibt’s da unten zu sehen?“

„Ich … ich …“ Sein Mund schloss sich wieder. Hatte er etwas gesagt? War das seine Stimme gewesen, die da gerade Perlen der Weisheit von sich gegeben hatte?

„Na, das war schon ein Anfang. Wer weiß, vielleicht sprichst du ja in ein paar Jahren schon erste zusammenhängende Sätze? Ich wette, mit Übung brichst du jeden Rekord! Und erst dein Vater, Junge, Junge, Junge, der muss vor Stolz ja platzen!“

Obwohl Paul diese Neckereien durchaus in den falschen Hals hätte kriegen können, war er keineswegs sauer. Im Gegenteil – ihre freche, offene Art amüsierte ihn. Er grinste sogar.

„Ja, was ist denn das? Was müssen meine entzündeten Augen da sehen? Oh Gott, oh Gott, das kann ja gar nicht sein!“ Sie schwieg einen Moment, um sich eine Zigarette anzuzünden. „Es bewegt sich, also lebt es! Ist das zu fassen? Dass ich das noch erleben darf! Mir kommen die Tränen!“ Mit einer theatralischen Handbewegung wischte sie sich übers Gesicht.

Erst als er den Sinn ihrer Worte verstand, bemerkte er, dass er langsam den Kopf hob. Es konnte höchstens eine oder zwei Sekunden gedauert haben, bis er direkt in ihre Augen sah. In dieser kurzen Zeit stürzte alles auf ihn ein mit der Stärke eines Tornados. Die Musik war plötzlich viel zu laut und die Beleuchtung zu grell. Komischerweise lächelte ihr Mund. Ein freundliches Lächeln. Und auch ihre Augen strahlten.

„Ich sehe schon“, sprach sie weiter (und links unter ihrer Unterlippe hüpfte ein kleiner Leberfleck bei jedem Wort auf und ab), „ich muss mein Bier selbst bezahlen.“ Sie drehte sich zum Barkeeper und schnippte mit dem Finger. Es dauerte keine zwei Sekunden, und er kam angewetzt. Ist das nicht ulkig, ging es Paul durch den Kopf, hübsche Frauen werden prompt bedient, und unsereins steht sich die Beine in den Bauch. Sie wollte gerade ihren Mund öffnen und die Bestellung aufgeben, da riss bei Paul endlich der Knoten. Mit selbstbewusster, sicherer Stimme, als sei er Moses persönlich, sprach er: „Ein Bier, ein Diesel und zwei Whiskey. Und das Ganze ein bisschen hastig.“

Er war erstaunt. Noch vor wenigen Sekunden hätte er nichts herausbekommen als Gestotter und jetzt das. Das war ja eine Wendung um glatte hundertachtzig Grad, Glückwunsch!

Aber noch war sein Leidensweg nicht beendet. Denn einen Moment lang war Paul überzeugt, der Barkeeper würde ihm erst einen Vogel und dann die kalte Schulter zeigen. In diesem Falle wäre sein neugewonnener Mut auf tragische Weise verunglückt. Nicht auszudenken, wie er dagestanden hätte – blamiert bis auf die Knochen. Sie würde ihn auslachen und ihn dann, ohne eines weiteren Blickes zu würdigen, abservieren.

Der Barkeeper zögerte einen Moment. Doch dieser Moment reichte, um Paul Schweißperlen auf die Stirn zu treiben und ihm eine Gänsehaut den Rücken hinunterlaufen zu lassen. Er schien zu überlegen, ob er, Paul, es wert sei, sich seinetwegen die Finger schmutzig zu machen. Schließlich entschied er sich dagegen – nicht zuletzt vielleicht, weil Blutflecken immer so schlecht aus der Kleidung zu bekommen sind. Er drehte sich um und dackelte in aller Ruhe zum Zapfhahn. Auch sie schien beeindruckt zu sein, allerdings nicht halb so sehr wie Paul selbst.

„Also, mein Held. Da mir nun die Ehre zuteil wird, mit dir einen heben zu dürfen, verrätst du mir bestimmt auch deinen Namen?“

„Paul.“

„Und weiter?“

„Wie, und weiter?“

„Hast du keinen Familiennamen?“

Verdammt, was bin ich nur für ein Trottel? Ich scheine den Mount Everest auf meiner Leitung geparkt zu haben. Aber, Scheiße auch, sie sieht so unglaublich süß aus. Kein Wunder, dass einem da die Sicherungen durchbrennen, wenn man in diese Augen sieht. Und dieser Körper, Mann oh Mann, selbst angezogen ist der echt ’ne Wucht in Tüten! Ich hab schon ganz feuchte Hände. Hoffentlich fang ich nicht noch an zu sabbern …

„Ritter.“

„Na siehst du. War doch gar nicht so schwer, oder?“

Paul verkniff sich die Antwort. Er bezweifelte ohnehin, etwas Gescheites herauszubekommen.

Auf einmal herrschte Schweigen. Doch sie schien auf etwas zu warten. Auf was nur? Paul zerbrach sich den Kopf. Er wollte und musste unbedingt wissen, worauf! Unzählige Vermutungen stürzten auf ihn ein und verschwanden wieder. Sein Herz klopfte wie ein Presslufthammer, und die Schläge dröhnten ihm bis in die Ohren. Seine Zunge schien zu einem Stück Sandpapier geworden zu sein, hing trocken und aufgedunsen in seinem Mund. Immer mehr beschlich ihn die Gewissheit, aus allen Poren zu schwitzen. Sein gesamter Körper schien bedeckt von einem klebrigen Schweißfilm. Es lief ihm sogar schon in die Augen. In den Schuhen schien sich ein kleiner Teich gesammelt zu haben, und so wie es sich anfühlte, wateten die Füße klitschnass darin herum. Und seine Hände sahen aus, als hätte er ein Vollbad hinter sich. Die Haut war schrumpelig und weiß.

Paul hatte zweifellos etwas für dieses Mädchen übrig. Es war bei weitem noch keine Liebe, aber da loderte schon ein klitzekleines Feuerchen in seinem Herzen. Es war schon etwas da, und seien es nur erste Anflüge einer zaghaften Freundschaft. Genau das brachte ihn aus dem Konzept. Er hatte einen stinknormalen Abend verleben wollen, einen trinken, noch einen trinken und noch einen –so lange, bis er rückwärts vom Stuhl kippte und befriedigt nach Hause wankte. So war es immer, und so sollte es auch heute ablaufen. Zugegeben, einem Flirt wäre er nicht abgeneigt gewesen. Aber das hier war zu viel.

Irgendwann wurde es ihr zu bunt.

„Na schön, wenn’s denn unbedingt sein muss: Versuchen wir es halt noch mal: Ich bin die Jeannine.“

Sie sah ihm in die Augen, und einen Moment hatte sie den Eindruck, er hätte sie gar nicht wahrgenommen. Sie konnte ja nicht ahnen, dass er sich erst durch ein Meer von Eindrücken, Sinneswahrnehmungen und abstrusen Gedanken arbeiten musste. Nach und nach gelangte er an die Oberfläche und sah sie an.

„Ein … ein sehr schöner Name. Gefällt mir.“ Er war überrascht, dass die Worte ihm so einfach aus dem Mund sprudelten.

Jeannine war sichtlich erfreut – zum einen über das Kompliment und zum anderen, weil sie es langsam leid war, gegen eine Wand zu sprechen. Sie hatte schon daran gedacht, sich einfach umzudrehen und zu verschwinden. Jetzt aber, da er zum ersten Mal etwas gesagt hatte, ohne dass sie ihn darauf stoßen musste, verwarf sie diesen Gedanken.

„So, findest du, ja?“

Paul war wieder kurz sprachlos, rappelte sich aber auf und entgegnete schließlich: „Ja, das tue ich.“

Jeannine lächelte, und er wäre bei diesem Lächeln am liebsten aufgesprungen und ihr um den Hals gefallen. Mit einem Mal wollte er sie küssen. Er hatte eine schier unbändige Lust dazu. Er wollte seine Lippen auf ihre pressen. Gewiss würde sie süß schmecken, zuckersüß. Er musste schlucken, um auf andere Gedanken zu kommen. Es misslang ihm. Ihre Lippen gingen ihm einfach nicht aus dem Sinn. Reiß dich zusammen, verdammt, ihr kennt euch keine fünf Minuten, was meinst du wohl, wie sie reagiert, wenn du sie gleich küssen willst? Ich sag’s dir: Sie klatscht dir eine und geht! So sieht es aus, so und nicht anders! Also reiß dich zusammen! Rauch eine, das beruhigt. Stimmt, ’ne Zigarette wäre jetzt das Richtige.

Und da fiel ihm ein, dass er ja noch eine glimmende Kippe in der Hand hielt. Hastig führte er sie zum Mund und zog tief an ihr. Der Rauch tat ihm gut; augenblicklich fühlte er sich besser.

Mit einem Mal war der Barkeeper wieder da und sagte etwas, dass weder Jeannine noch Paul hörten. Sie ignorierten ihn. Entnervt versuchte er es noch einmal, aber auch diesmal ohne Erfolg. Wäre ja noch schöner, dass ich hier versaure, bis einer von euch sich herablässt und mich bemerkt, dachte er und donnerte die Getränke zwischen sie auf den Tresen. Ein Schluck Bier schwappte über. Mit hämischem Grinsen sah er, wie sie zusammenzuckten. Wortlos drehte er sich um und widmete sich anderen durstigen Kehlen.

Sie sahen sich verdutzt an.

Eine Sekunde verging.

Eine weitere Sekunde.

Und auf einmal prusteten beide los vor Lachen. Sie konnten sich gar nicht mehr halten und lachten, so laut sie konnten. Es war ihnen in diesem Moment egal, ob man sie befremdet anschaute. Es war ein Lachen, das unbedingt gelacht werden musste, weil sie sonst geplatzt wären wie zwei Luftballons. Und ein Lachen, unter dem ihre Unsicherheit dahinschmolz wie Schnee in der Sonne.

Eine Minute später lachten sie noch immer.

Ihre Blicke trafen sich, und sie lächelten einander an. Und als hätten sie es untereinander abgesprochen, griff jeder nach seinem Glas und trank einen Schluck.

Auf einmal verschwamm die Welt um ihn.

Zuerst hatte Paul den Eindruck, er wäre unter Wasser. Nach und nach wurde es immer trüber. So tief konnte kein Mensch tauchen, nie und nimmer. Und ehe er sich versah, stand er in der schwärzesten Dunkelheit. Nichts schien sie durchdringen zu können; nicht einmal der Hauch eines Lichtstrahls kam zu ihm. Er fühlte Furcht, aber es war nicht die Art von Furcht, die er kannte. Es war anders, er wusste nicht, wie …

Nicht nur die tiefschwarze Dunkelheit war beängstigend, nein, auch die Tatsache, dass kein einziges Geräusch an sein Ohr gelangte. Er war irgendwo inmitten dieser Schwärze. Er wusste nicht einmal, ob er aufrecht stand, saß oder lag. Nichts drang zu ihm außer den Geräuschen seines eigenen Körpers: das Blut, das durch seine Adern rauschte, das Herz, das wie wahnsinnig schlug und die Lungen, die so viel Luft einsaugten, dass sie ächzten.

Irgendwann, (wann genau, war unmöglich zu bestimmen, er hatte inzwischen jegliches Zeitgefühl verloren) tauchte am Horizont (war es überhaupt der Horizont, es konnte auch der Boden sein, mein Gott, es konnte alles Mögliche sein, sogar eine Wand!) ein kleiner heller Fleck auf. Es war unmöglich zu bestimmen, woher er so plötzlich kam; Paul wusste nur, dass er mit schier unvorstellbarer Geschwindigkeit näherkam. Und noch etwas konnte er mit Bestimmtheit sagen: Dass er sich so schnell wie möglich von hier verpissen wollte.

Er musste von hier weg, egal wohin. Irgendwohin, nur weg von diesem heranrasenden Punkt, der ihn zermalmen würde, wenn er ihn erreicht hatte. Das Dumme war nur, dass er genau das nicht konnte. Paul blieb, wo er war. Er hatte keine Möglichkeit zu entkommen. Wie auch? Er wusste ja noch nicht einmal, wo er war. Gab es hier überhaupt einen Ausweg, aus diesem gottverdammten Schwarzen Loch?

Paul erfasste Panik. Der Punkt schoss immer noch direkt auf ihn zu, wurde größer und größer. Anfangs hatte er die Größe einer Erbse gehabt, und schon wenig später die eines Baseballs. Er überschlug es kurz im Kopf: Logischerweise wird ein Gegenstand, je näher er kommt, größer. Und da ergibt sich die Frage: Wie groß wird er wohl sein, wenn er mich erreicht hat? Nach kurzem Hin und Her vermutete er, dass er nicht nur zermalmt, sondern zuerst pasteurisiert, in Atome zerlegt und schließlich zu Mus verarbeitet würde. Eine wahrlich erquickende Vorstellung.

Der Punkt war jetzt zu einem Gebilde von schätzungsweise zwei Metern Umfang herangewachsen. Oh Gott, oh Gott, wohin soll das noch führen? Vielleicht war es besser, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen.

Jetzt sah Paul noch etwas anderes und riss den Mund auf vor Überraschung: Im Inneren des Kreises war noch so etwas wie ein Kreis. Es sah aus wie ein dunkler matschiger Fleck. Paul spähte angestrengt. Er wollte es nicht, aber was hätte er sonst tun sollen? Wegsehen? Früher oder später würde er es ohnehin sehen.

Das Ding blieb ein dunkler matschiger Fleck. Entweder war die Entfernung noch zu groß oder der Fleck war genauso, wie er sich darstellte: dunkel und matschig. Paul wusste nicht, welche der beiden Möglichkeiten ihm lieber war. Er starrte so angestrengt, dass er schon fürchtete, die Augen würden ihm aus dem Kopf fallen. Vielleicht lag es ja daran, überlegte er (und das beruhigte ihn etwas), weil es so schnell näher kam. Vielleicht konnte er genau deshalb keine klaren Konturen erkennen.

Auf einmal richteten seine Nackenhaare sich auf. Der Grund dafür war so banal wie erschreckend: Alle Hoffnung, dass dies hier nur eine Illusion war oder ein schlechter Traum, verflog. Denn jetzt fühlte er einen Luftzug, sanft und noch schwach, leise. Aber vorhanden. Es war nicht zu leugnen: Der Wind wehte genau aus der Richtung, aus der das seltsame Gebilde auf ihn zugeschossen kam. Sein Verstand schloss, dass jener Luftzug die Luft war, die das fremde Gebilde vor sich hertrieb. Und noch etwas ging ihm durch den Kopf. Er hatte es an dem Geräusch erkannt, das der Wind erzeugte. Es klang hohl und dröhnend und … fast so, als befinde er sich in einem gigantischen Rohr. Das würde zumindest erklären, warum er so viel Wind abbekam.

Der Kreis war inzwischen noch größer geworden, und es schien, als hätte er kleine Ecken bekommen. Die Luft rauschte immer schneller heran und wurde eisig.

Paul schloss die Augen. Er hatte genug gesehen. Der Kreis, der gar kein Kreis mehr war, war verschwunden. Nur der Luftzug blieb. Er öffnete wieder die Augen und der Kreis war immer noch da, jetzt um ein einiges größer. Und auch die Ecken waren deutlicher zu erkennen. Allmählich nahm er die Form eines Tausendecks an, falls es das überhaupt gab. Sogar inmitten der Form wanden sich die Ecken. Und noch immer wurde das Gebilde größer und größer, und der Wind rauschte lauter und lauter.

Wenn nicht bald etwas passiert, dachte Paul, drehe ich durch. Scheißegal, ob es gut für mich ist oder schlecht, ich will, dass es endlich vorbei ist!

Er schloss die Augen ein zweites Mal. Er wollte sie erst wieder öffnen, wenn das hier vorbei war. Die Tatsache, selbst bestimmen zu können, ab wann man nichts mehr sah, war beruhigend. Sie war so tröstlich, dass er erleichtert ausatmete.

Wie von allein öffneten seine Augen sich wieder. Paul konnte es weder kontrollieren noch verhindern. Jetzt endlich war zu erkennen, was da auf ihn zugerast kam. Das Bild, das er sah, war so grotesk, dass er nicht anders konnte als laut zu lachen. Das Lachen dröhnte bis unter seine Schädeldecke, und das Echo drohte sein Gehirn zu zermatschen. Es war einfach zu absurd.

Das, was da mit ungeheuerlicher Geschwindigkeit auf ihn zugerast gekommen war, war nichts anderes als ein Zimmer. Ein stinknormales Zimmer. Bei dieser Vorstellung prustete er noch lauter.

Es war … ja, es war haargenau das Zimmer, in dem seine Odyssee in die Vergangenheit begonnen hatte. Und es sah noch genauso aus, wie er es verlassen hatte. Mit etwas Mühe konnte er sogar die zersplitterte Kaffeetasse auf dem Boden erkennen.

Das Toben des Windes schwoll an, wurde ein ohrenbetäubendes Kreischen und brach mit einem Mal ab. Ein Knall, als durchbreche ein Jagdflugzeug die Schallmauer. Und dann war alles ruhig. Viel zu ruhig.

Paul spürte, wie er mit hartem Aufschlag in der Wirklichkeit aufsetzte. Sein Trip in die Vergangenheit war zu Ende. Und das tat ihm fast leid. Er hörte sich selbst murmeln: „Junge, Junge, hab noch nie so einen realen Traum gehabt! Echt beängstigend!“

Er sah sich um, als hätte er das Zimmer, in dem er stand, noch nie zuvor gesehen. Am meisten verblüffte ihn, dass er mit dem Hinterteil auf den kalten Fliesen saß. Um sich nicht zu verkühlen, stand er auf.

„Mann, das war vielleicht ein Höllentrip! Ich brauch schleunigst was zu trinken.“ Er watschelte zum Kühlschrank, nahm sich ein Bier, setzte sich auf den Küchentisch und trank in aller Ruhe.

Dabei versuchte er, das soeben Erlebte Revue passieren zu lassen. Es war nur ein Traum gewesen, so viel stand fest. Es konnte gar nichts anderes gewesen sein. Ich muss eingeschlafen sein, dachte er. Und …. Mann oh Mann. Mir kreiselt es noch immer im Kopf rum …

Er nippte noch einmal am Bier, rülpste herzhaft und erhob sich vom Küchentisch. Seine Beine waren weich und schwammig; außerdem hatte er sich den Ellenbogen aufgeschürft. Der Teufel sollte ihn holen, wenn er wüsste, wann das geschehen sein sollte! Zitternd und wacklig wie ein neugeborenes Fohlen stand er da, und seine Beine drohten unter seinem Gewicht zu brechen wie Streichhölzer. Obwohl er einem Strohhalm im tosenden Orkan glich, überlegte er, sich noch ein Bier zu holen. In der Sekunde, in der er sich dazu durchgerungen hatte, wurde es plötzlich wieder schwarz um ihn, und das Letzte, was er sah, war ein kleiner, dunkler Punkt, der sich rasend schnell in der Dunkelheit entfernte …

Paul war wieder zurück. Er war wieder in seiner Vergangenheit. Aber etwas war anders. Nur was?

Und da bemerkte er es.

Zuvor hatte er das Geschehen um sich herum beobachtet wie einen Film. Er hatte den Freunden, Jeannine und natürlich auch sich selbst, bei ihren Handlungen zugesehen, mehr nicht. Jetzt war es anders. Jetzt sah er das Geschehen durch die Augen des jüngeren Paul, als säße er in dessen Kopf und blicke durch seine Augen. Nur eingreifen konnte er nach wie vor nicht – ein Umstand, der vielleicht sogar gut war. Was ihn noch mehr überraschte, war, wie Jeannine aussah. Sie hatte kein einziges Fältchen, kein graues Haar, nicht die kleinste Alterserscheinung. Vorher war ihm das nie aufgefallen. Er hatte sie ja jeden Tag gesehen, da entgeht einem die eine oder andere Veränderung. Aber da er jetzt ihr früheres jugendliches Gesicht vor Augen sah, bemerkte er jede Kleinigkeit, die sich in den Jahren verändert hatte.

Kunststück, dachte Paul, dass sie so frisch und saftig aussieht – in dem Alter kann man sich ja nicht mal vorstellen, älter zu werden! Trotzdem wird man es, und eines Tages ist von der jugendlichen Frische nichts mehr da und man wird einem runzligen Apfel immer ähnlicher.

„Darf ich dir eine Zigarette anbieten?“

„Klar darfst du.“

Einen Moment herrschte Schweigen.

„Stell dir vor“, begann Jeannine, „meine alten Leutchen haben verlauten lassen, Fluppen sind schädlich. Und mir soll bitteschön ja nicht einfallen, mit dem Rauchen anzufangen. Die beiden haben es gerade nötig! Qualmen selbst wie zwei Schlote! Nee, nee, nicht mit mir, sag ich dir!“

Paul sah sie ratlos an. „Wer oder was sind denn deine alten Leutchen?“

„Sag mal, wo kommst du denn her? Tiefstes Mittelalter oder einsame Insel? Ich schätze mal, es war die Insel, richtig? War’s ein lauschiges Plätzchen? Wie dem auch sei, hier und zum Mitmeißeln: Damit meine ich natürlich meine Eltern, meine Alten. Meine bucklige Verwandtschaft. Du verstehst?“

Paul errötete vor Verlegenheit. Dabei dachte er: Sie ist so süß, so zuckersüß. Kein Wunder, dass ich gerade so eine lange Leitung habe.

„Lass gut sein. Es gibt Tage, da schnall ich auch nichts.“

Jeannine wollte wieder Schwung in die Unterhaltung bringen, aber Paul, der das Gefühl nicht loswurde, sich auf die Knochen blamiert zu haben, wagte kaum noch, den Mund aufzumachen. Aber den Alleinunterhalter zu spielen, darauf hatte Jeannine auch keine Lust, und sie überlegte, was ihn wieder auf die Beine bringen würde.

„Sag mal, was ist das für ’n komisches Gesöff, was du da in dich reinschüttest? Ich Dummchen hab leider vergessen, wie das heißt.“

Augenblicklich hellte sein Gesicht sich auf.

„Das“, erklärte er bedeutungsschwanger und führte die Hand zum Glas, um ihm noch mehr Gewicht verleihen, „nennt sich Diesel.“

„Diesel?“

„Ja, Diesel.“

„Hm, so wie der Treibstoff, ja?“

„Haargenau so.“

„Und das soll gesund sein?“

„Na ja, wie man’s nimmt …“

„Hältst du es für eine gute Idee, dann hier zu rauchen? Ich meine, mit diesem Zeug im Glas?“

„Nein, nein, natürlich nicht so einen Diesel.“

„Ja, was denn für einen?“

Paul hatte langsam den Eindruck, sie wollte ihn verarschen. Saublöde Fragen kann dieses Weibsstück stellen, dachte er. Als ob er so was saufen würde! Aber Scheiß drauf! Sie sieht so gut aus, dass es schon fast verboten gehört. Und mal ehrlich: Du würdest so ziemlich alles machen, damit sie hierbleibt. Gib es zu! Du würdest sogar einen Kopfstand machen und mit deinem Arsch Fliegen fangen, wenn sie es von dir verlangt!

„Es ist Bier, gemixt mit Cola.“ Er sah sie prüfend an.

„Und das soll schmecken?“

Der Klang ihrer Stimme verriet, dass sie die Frage ernst meinte.

„Und ob das schmeckt! Willst du mal versuchen?“

„Hm … okay. Aber nur aus deinem Glas.“

Also reichte er ihr sein Glas. Sie trank zögernd. Ihr Blick inspizierte ihn von oben bis unten. Er genoss es. Ihre anfängliche Skepsis verflog. Schon nach zwei Schlucken trank sie alles andere als zögerlich. Paul sah ihr amüsiert zu. Es schien ihr so gut zu munden, dass sie kein einziges Mal absetzte und das Glas in einem Zug leerte. Und hinterher, als schon längst nichts mehr drin war, knallte sie es auf die Theke und sah ihn schuldbewusst an.

„Und? Hat es geschmeckt?“

Die Antwort war nicht ganz das, was er sich vorgestellt hatte. Sie rülpste. Und damit hätte sie es nicht besser ausdrücken können.

„Ups, hab ich etwa eben dein Glas leergetrunken?“

„Ja, so könnte man es nennen.“

„Tut mir echt leid.“

„Aber wieso denn? Das muss es nicht.“

„Echt nicht?“

„Nö. Wir bestellen einfach zwei: eins für dich und eins für mich. Was hältst du davon?“

„Jau, so machen wir’s. Diesmal aber auf meine Rechnung.“

„Wenn du meinst.“

Keine fünf Minuten später gab Jeannine dem Barkeeper das Geld und spendierte sogar noch eine Camel. Sie hatten sich die Sargnägel kaum ins Gesicht gesteckt, als zwei von Pauls Freunden angewankt kamen. Er hatte ihnen zwar schon von weitem zu verstehen gegeben, dass er sie im Moment nicht brauchen konnte, aber entweder kapierten sie es nicht oder dachten, die Bar ist schließlich für alle da.

„He, Paul, bist du an der Bar festgewachsen, oder was?“ Einer der beiden beugte sich zwischen ihnen zum Tresen hindurch und schien Jeannine gar nicht zu bemerken. Er schrie nach dem Barkeeper und stützte sich lässig mit dem linken Arm am Tresen ab. Dieser Rüpel hieß (oder sagt man: heißt? Der ältere Paul wurde immer konfuser in der Birne) Thomas. Und da bemerkte er Jeannine.

Thomas war schon immer ein Aufschneidertyp gewesen. Erschwerend kam hinzu, dass er immer alles hinausposaunte, was ihm so in den Sinn kam. Eine Mischung, mit der er nicht immer leicht zu ertragen war.

Thomas also sah Jeannine von oben bis unten an, und nach eingehender Untersuchung verkündete er sein Ergebnis, indem er anerkennend pfiff. Sofort war Paul vergessen, und er richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf Jeannine. Eine Sekunde lang sah er sie an und sprach kein Wort; anscheinend versuchte er das nun Folgende durch eine Kunstpause anzukündigen.

„Was macht denn so ein hübsches Ding wie du so allein an der Bar?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, plapperte er weiter. „Du bist ja der Höhepunkt auf dieser Party, der Himmel steh mir bei, ja, das bist du!“

„Ach ja? Bin ich das?“ Nichts an ihr ließ auch nur irgendeine Gefühlsregung erkennen.

Thomas, der glaubte, soeben den genialsten, kreativsten, unwiderstehlichsten Spruch aller Zeiten gebracht zu haben, war irritiert. Aber er würde ihren wunden Punkt schon noch finden. Er musste nur genug Süßholz raspeln, bis ihr vorgetäuschter Widerstand (und das war er zweifellos) dahinschmelzen würde wie Schnee in der Sonne. Schließlich konnte keine ihm widerstehen. Bei seinem Charme, seinem Sex-Appeal! Er, Thomas, hatte schließlich das gewisse Etwas, das, was Frauen wollten – obwohl er nicht den blassesten Schimmer hatte, was das eigentlich sein sollte. Er war nur überzeugt, es zu haben. Hauptsache war, wenn man eine Tussi abschleppen wollte, dass man interessiert tat, immer ein offenes Ohr hatte und ihr genau sagte, was sie hören wollte. Und das war immer das Gleiche. Thomas konnte es auswendig herunterbeten: dass sie schöne Augen hatte, dass sie schönes Haar hatte, dass sie einen sagenhaften Körper hatte, dass ihre Intelligenz bestechend war und, und, und. Immer dasselbe Schema, keine große Kunst. Er hatte es drauf. Und er war gewillt, es auch bei ihr anzuwenden. Und wenn er das erst tat, würde sie sich ihm hingeben. Ihr blieb gar nichts anderes übrig. Schließlich war er, Thomas, die Reinkarnation Casanovas – oder zumindest dessen würdigster und talentiertester Nachfolger. Und wenn er genug Spaß mit ihr gehabt hatte, würde er getreu dem Motto Andere Mütter haben auch hübsche Töchter erst todtraurig aus der Wäsche gucken, irgendwas faseln von unüberwindbaren Differenzen (das kam auf die Situation an und würde sich schon zeigen; was das anging, war er flexibel), sie fallen lassen und wie ein geölter Blitz dem nächsten Rockzipfel hinterherjagen. Ja, man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass Thomas ein kleiner, mistiger Schweinehund war. Und er stimmte sogar jedem zu, der ihm das ins Gesicht sagte. Natürlich erst, nachdem er ihm die Fresse poliert hatte.

Das Seltsame an der Sache war, dass Thomas (ihn als Freund zu bezeichnen, war weithergeholt, man kannte sich halt) beängstigend oft bekam, was er wollte – obwohl er nicht mal besonders gut aussah und sein Charakter oder zumindest sein Verhalten den weiblichen Geschöpfen gegenüber zu wünschen übrig ließ. Und obwohl er wahrlich keine Augenweide war und viele seiner Ansichten direkt aus der Steinzeit zu kommen schienen.

Paul hoffte inständig, dass er diesmal keinen Erfolg haben würde.

Thomas also spulte sein Programm runter, während Paul abschätzte, was wohl passieren würde, wenn er dem Scheißkerl einfach das Bierglas über die Rübe zog. Das Ergebnis war niederschmetternd. Er machte sich keine Hoffnung, ihn überwältigen zu können. Dazu war Thomas zu groß und zu kräftig. Er musste ihn beim ersten Hieb töten, um eine Chance zu haben.

„Ja, das bist du wirklich“, laberte Thomas inzwischen weiter. „Schon auf dem Weg hierher habe ich es gewusst. Ich sagte mir, Thomas, hab ich zu mir gesagt: Heute triffst du deine Traumfrau. Die wahre und einzige in deinem ganzen Leben. Und“, er machte eine Pause (offenbar, um der Dramatik Zeit zum Wirken zu geben), „wie du siehst, traf alles ein.“

„Rattenscharf“, war der einzige Kommentar, den Jeannine dafür erübrigte. Dabei sah sie so ernst drein, dass sich Paul ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen konnte. Allerdings war Thomas gar nicht amüsiert. Er fühlte sich zutiefst in seiner Ehre als Aufreißer verletzt. Er hatte Widerstand erwartet, und in aller Regel genoss er ihn sogar. Schließlich durfte die Jagd nicht zu leicht sein. Wo kämen wir denn da hin, wenn jede ihm einfach so in die Arme rannte?

„Rattenscharf ist vielleicht nicht unbedingt der richtige Ausdruck“, begann er, und sein Gehirn suchte fieberhaft nach einer Fortsetzung, „aber es kommt dem schon ziemlich nah.“ Was is ’n das für ’n Schwachsinn, den ich da verzapfe? Sie muss mich konfus gemacht haben! Wenn ich so weitermache, muss ich’s bald mit roten Rosen und einem schicken Essen versuchen, um überhaupt noch mal zustechen zu können. Verdammt und zugenäht, wenn’s schon so weit gekommen ist, bin ich echt tief gesunken.

„Was ich damit sagen wollte, ist …“

Da fiel ihm Jeannine ins Wort. Sie sprach schnell und betont, ohne hastig oder erregt zu klingen. „Ist das wahr? Hast du dieses Gefühl wirklich gehabt? Das wäre ja geradezu fantastisch!“

„Wie … wieso?“ stotterte Thomas.

„Ganz einfach. Weil auch ich dieses Gefühl hatte. Schon die ganze Zeit. Mein Herz scheint einen Tick schneller zu schlagen, und meine Haut ist empfindlicher, elektrisierter als sonst.“

„Wie bei mir, genau wie bei mir!“, jubelte Thomas. Dabei dachte er: Mit der hast du leichtes Spiel, die ist ja noch blöder als ein Sack Stroh!

„Und weißt du, was noch komisch ist? Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass ich hierher gelenkt würde. Denn eigentlich wollte ich ins Kino. Jetzt bin ich froh, es nicht getan zu haben.“

„Bei mir war es genauso!“, log Thomas, ohne rot zu werden. Das verspricht ja ein interessanter und vor allem befriedigender Abend zu werden. Die habe ich schon in der Tasche. Die habe ich schon so gut wie geknallt.

Auch Paul machte sich seine Gedanken. Allerdings waren die lange nicht so euphorisch. Er sah seine Chancen bei Jeannine (falls er je welche gehabt hatte, auch das war mehr als zweifelhaft, wenn man bedachte, wie schnell sie sich dem ersten Dahergekommenen an den Hals warf) mehr und mehr schwinden.

Immer noch wanderten die Blicke zwischen Jeannine und Thomas hin und her. Sie schienen sich prächtig zu verstehen. Dass dieser verfluchte Scheißkerl auch immer bekam, was er wollte! Zum Kotzen! In Paul keimte leise Wut auf, die schnell stärker wurde. Am liebsten hätte er ihm den Barhocker über den Schädel gezogen. Er liebäugelte mit dem Gedanken. Was ihn davon abhielt, war eine einfache Überlegung: Thomas war nicht nur ein Aufreißer, er war auch ein Schlägertyp. Außerdem war er drei Jahre älter und zwanzig Zentimeter größer. Vom Kampfgewicht mal ganz zu schweigen.

Paul hatte zwei Möglichkeiten: Entweder zog er ihm den Barhocker so über den Schädel, dass kein Quäntchen Gras mehr wuchs und Thomas nie wieder aufstand. Aber was hatte er damit erreicht? Nichts. Außer einen Mord am Hals. Und was darauf steht, weiß ja jeder. Aber hinter Gitter zu gehen wäre immer noch besser, als den Freunden von Thomas in die Hände zu fallen. Paul hatte mit denen nichts am Hut und war auch froh darüber. Das waren üble Zeitgenossen, jeder Zentimeter ihrer Haut tätowiert. Und sie waren ausnahmslos noch größer als Thomas. Wenn die ihn zu fassen kriegten, würden sie mit seinen Eiern Billard spielen und seine Innereien zum Trocknen an die frische Luft hängen.

Oder aber (und das war die zweite Möglichkeit), er schlug sich alle Hoffnungen, die Jeannine betrafen, aus dem Kopf und verpisste sich. Das hatte den Vorteil, weder hinter Gittern zu wandern noch die eigenen Därme an eine Wäscheleine gehängt zu sehen.

Paul entschied sich schweren Herzen für Letzteres. Und wenigstens das wollte er mit einem letzten Fünkchen Selbstachtung hinter sich bringen. Er zündete sich lässig eine Zigarette an, trank zügig aus, klopfte Thomas auf die Schulter (wobei er innerlich fast explodierte) und machte sich bereit, aufzustehen. Nun aber sprach Jeannine wieder, und er hielt abrupt inne.

„Ist es nicht erstaunlich, wie klein die Welt ist? Dass wir beide uns hier treffen, das kann kein Zufall sein. Das ist Bestimmung.“

Thomas nickte begeistert. Für ihn war die Sache geritzt. Die lag schon so gut wie auf dem Rücken. Es war zwar fast ein wenig zu leicht gewesen. Aber was soll’s, einem geschenkten Gaul schaute man nicht ins Maul.

„Da wir beide das gleiche Schicksal haben …“

Jetzt ist es gleich soweit. Gleich springt sie mir an den Hals und schiebt mir ihre Zunge in den Mund.

„… wäre es klug, damit es uns schneller findet …“

Ja, ja, ja, ja …

„… uns auf die Suche nach ihm zu machen.“

Häh, wie?

„Ich für meinen Teil habe ihn bereits gefunden.“

Ach so. Ich dachte schon. Ganz schön gerissen, das Luder. Hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Aber jetzt kommt sie gleich gekrochen. Jetzt hab ich sie.

Sie ließ eine Sekunde verstreichen.

Und noch eine.

„Ich wünsche dir also viel Erfolg bei deiner weiteren Suche.“

Thomas klappte vor Erstaunen der Unterkiefer runter.

„Aber, ich dachte … ich dachte … dass wir beide, du und ich …“

„Oh, pardon, das tut mir leid“, flötete Jeannine mit weicher Singsangstimme. „Aber aus uns kann leider nichts werden. Denn ich habe mein Herz bereits verloren.“ Und jetzt sah sie Paul direkt in die Augen und sagte: „Lass uns gehen, Paul, ich hab eine irrsinnige Lust zu tanzen.“

Paul konnte nur verlegen stottern: „Ah … ja … äh … gut … ja, okay.“

Thomas war noch nicht mal dazu in der Lage. Sein Gesicht sprach Bände.

Jeannine griff nach Pauls Hand. Sie war angenehm warm und weich, bemerkte Paul, der noch immer nicht glauben konnte, was geschehen war. War das wirklich passiert oder hatte er einfach nur zu viel getrunken? Die Zweifel überwogen. Aber war es nicht so, dass sie hier war, bei ihm? Und tanzte sie nicht mit ihm?

Aus den Boxen dröhnte ein langsamer Song. Sie tanzten. Paul war noch immer etwas auf Abstand bedacht. Nicht, dass er Jeannine nicht leiden konnte, im Gegenteil. Er war verrückt nach ihr. Er hatte nur panische Angst davor, die herrliche Situation durch irgendetwas Saublödes zu zerstören. Und das wollte er wahrlich nicht.

Jeannine hielt nichts von dieser Vorsicht. Sie drückte ihn näher an sich heran und legte ihre Hand einfach so, als wäre es die normalste Sache von der Welt, auf seinen Arsch. Auch dieser Griff war warm und weich. Paul wurde heiß und kalt zugleich, und er bekam eine hammerharte Erektion. Er wollte vor ihr zurückweichen, wollte seine Erregung verbergen, aber sie hielt ihn noch etwas fester. Es war erstaunlich, wie butterweich er in ihren Armen geworden war. Er sog tief Luft ein. Seine Gedanken liefen Amok und drehten sich nur um ihre Hand auf seinem Hinterteil. Er wollte diese Hand überall auf seinem Körper spüren. Bedauerlicherweise war jetzt aber noch nicht die Zeit dafür. Aber er konnte das Warten überbrücken, indem er sie einfach auch ein Stückchen an sich heranzog.

Es überraschte ihn, mit welcher Selbstsicherheit er es tat. Kein Gedanke an Schüchternheit oder Verlegenheit. Er tat einfach, was ihm in den Sinn kam. Zielsicher wanderte seine Hand auf ihren Po, und diesmal war sie es, die überrascht die Luft einsog. Da sie nun nah aneinandergeschmiegt tanzten, spürte sie die Härte an ihrer Scham. Einen Moment befürchtete er, dass sie ihn zurückweisen würde. Aber sie tat nichts dergleichen.

Langsam näherte ihr Gesicht sich dem seinen. Am Anfang bemerkte er es gar nicht. Es waren immer nur Millimeter. Aber mit der Zeit entging es auch ihm nicht. Er beobachtete sie genau und prägte sich jeden ihrer Gesichtszüge ein: die blonden Wimpern, das zierliche Näschen, die vollen Lippen, den kleinen Leberfleck. Ihr Atem roch schwach nach Alkohol und Zigaretten, aber das störte ihn nicht. Es war ohnehin nur schwach. Eigentlich überwog ein Duft nach roten Rosen oder irgendwelchen anderen Blumen, die Paul im Moment nicht erraten konnte. Er war zu keinem Gedanken mehr fähig. Seine Beine waren weich, und er hing in ihren Armen. Es grenzte an ein Wunder, dass er nicht einfach nach hinten wegkippte.

Mit einem Mal spürte er ihre warmen, weichen Lippen auf den seinen. Und in diesem Moment war ihm, als müsse er ohnmächtig werden. Alles drehte sich. Selbst der Boden erschien ihm nicht mehr real, sondern wie eine neblige Erscheinung. Trotzdem erwiderte er den Kuss. Ihr Geschmack erinnerte ihn an Marzipan. Paul wollte, dass dieser Moment nie enden möge, und im Stillen betete er sogar dafür.

Plötzlich spürte er, wie sie ihre Zunge tief in seinen Mund bohrte. Und er erwiderte es. Seine Haut kribbelte und brannte, und seine Erregung wuchs augenblicklich in unbekannte, bis dahin nie erlebte Höhen. Sein Schwanz pulsierte in seiner Hose.

Wie lange dauerte dieser Kuss nun schon?

Paul wusste es nicht.

Und Jeannine auch nicht.

Die Zeit schien still zu stehen. Sie hörten die Musik nicht mehr. Sie spürten nichts mehr von dem, was um sie herum geschah.

Minuten mussten vergangen sein. Oder waren es nur Sekunden? Sie hatten keinen blassen Schimmer.

Irgendwann spürte Jeannine, dass der Druck auf ihre Lippen nachließ. Sie öffnete ihre Augen und sah Paul überrascht an. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihre Augen während des Kusses geschlossen hatte. Er schien ihre Blicke zu spüren und öffnete ebenfalls die Augen.

Sie standen einander gegenüber, hielten sich an den Händen und sahen sich in die Augen. Strahlten sich an.

Und da tat Paul etwas, was ihn selbst überraschte. Auch Jeannine war überrascht, aber auf angenehme Weise. Er zog sie wieder an sich, umfasste ihre Taille und küsste sie ….

Diesmal kam der Übergang in die wirkliche Welt überraschend. In der einen Sekunde war Paul noch dort und einfach nur glücklich, und in der nächsten befand er sich schon wieder hier, einsam, allein und unglücklich. Es geschah so schnell, dass er sich erschrocken umsah.

Er war noch immer in der Küche, lag wieder auf den Fliesen, und sein Kopf schmerzte. Vorsichtig tastete er seinen Hinterkopf ab und fuhr zusammen, als er die Beule berührte. Sie tat verdammt weh, und wenn er mit den Fingern darüberfuhr, war es kaum auszuhalten. Trotzdem (oder vielleicht gerade deshalb) berührte er sie noch ein paar Mal. Er wollte durch den Schmerz sicherstellen, dass er zurück in seiner Welt, zurück in der Realität war.

Mühsam richtete er sich auf. Er musste sich mit den Händen abstützen; viel zu wacklig waren seine Beine. Paul brauchte drei Versuche, bis es ihm gelang, einigermaßen still zu stehen.

Seine Lunge dürstete nach Rauch. Ist es nicht erstaunlich, fragte er sich selbst, da hast du mehr als zehn Jahre nicht gequalmt und bis gestern Abend keine von den Scheißdingern angefasst, und jetzt fiept deine verdammte Lunge nach dem Dreck, als hättest du nie aufgehört!

Langsam trottete er ins Schlafzimmer. Obwohl hier nun schon seit geraumer Zeit gelüftet wurde, schlug ihm ein ekelhafter Gestank nach Erbrochenem entgegen. Zielbewusst lief er zu dem Wäscheberg, wo er seine Klamotten von gestern Abend vermutete und hielt sich mit der Linken die Nase zu. Endlich fand er sein Holzfällerhemd. Es stank nach Kotze, Alkohol und kaltem Rauch. Er fingerte in der Brusttasche herum, fand die Schachtel, nahm sie und stürmte aus dem Zimmer.

Wenig später saß er auf der Terrasse. Der Wind wehte ihm ins Gesicht und bewegte die letzten Fetzen seines kahler werdenden Haupthaars. Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt, auf dem im Sommer immer das Essen serviert wurde. Jeannine hätte einen Schreikrampf bekommen, hätte sie es gesehen, und … nein, nein, bloß nicht dran denken!

Die Stereoanlage dudelte CDs, die er seit unzähligen Jahren nicht mehr gehört hatte: Kiss, Led Zeppelin, Ozzy Osbourne … Er konnte sich kaum noch an die Namen erinnern, hielt es aber für eine gute Idee, einfach mal wieder reinzuhören. Der Lautstärkeregler war aufgedreht bis zum Anschlag. Auch das war durchaus nicht üblich. Aber wer sollte sich beschweren? Seine Frau etwa? Die war aus dem Haus. Die Nachbarn? Die wohnten anderthalb Kilometer weiter die Straße rauf.

In der Linken hielt er eine Flasche Jim Beam und in der Rechten ein Bier. Er brauchte Letzteres, um Ersteres runterzuspülen. Auf dem Tisch neben seinen Füßen lag eine noch fast volle Schachtel Marlboro. Anfangs ekelte er sich vor dem Geschmack, aber nach und nach lernte er ihn wieder lieben. Manche Dinge ändern sich nie. Gott sei Dank.

Er fühlte sich sogar einigermaßen wieder wie ein Mensch. Teils lag das daran, dass er schon wieder einiges intus hatte, teils aber auch daran, weil er Dinge tat, die er seit Jahren nicht mehr getan hatte.

Paul vermisste seine Frau. Er vermisste auch seine Kinder. Die wahrscheinlich sogar noch mehr als Jeannine. Aber er war, im Moment jedenfalls, so euphorisch, dass er ernsthaft versuchte (und diesmal gelang es ihm sogar) einige Zeit mal nicht an sie zu denken.

Der Mond war hell. Er schien ein Gesicht zu haben, und dieses Gesicht schien ihn zu verhöhnen. Das hast du nun davon, stand darin geschrieben. Du hast nur die Quittung bekommen. Du hast dich zu viel von deiner Arbeit ablenken lassen. Jetzt sind die, die dir auf der Welt am liebsten sind, weg!

Dieses vermaledeite Mondgesicht war schonungslos offen. All das hatte Paul schon gewusst. Das war nichts Neues für ihn. Es bedeutete nur noch mehr Schmerz. Er wollte, dass der Mond aufhörte, dass er endlich schwieg. Aber er dachte gar nicht daran, er verhöhnte ihn weiter.

Paul schrie ihn an, warf einen Schuh nach ihm und trat mit den Füßen in seine Richtung. Was auch immer ihm in den Sinn kam, er schrie es heraus. Was auch immer er fassen konnte, er schleuderte es nach ihm.

Langsam ging sein Spott über in schallendes Gelächter, und Paul fragte sich ernsthaft, ob er auf dem Weg war, den Verstand zu verlieren. Es war offenbar unmöglich, hier draußen zu sitzen. Also griff er nach den Getränken, vergaß auch die Kippen nicht und raste wie eine V1-Rakete ins Haus.

Hier war es wesentlich kühler. Er schwitzte dennoch ein wenig, glaubte aber nicht, dass das nur von dem Sprint kam. Vielmehr hatte ihn die Diskussion mit jemandem, der normalerweise nur blöd rumhängt und kein Wort sagt, geängstigt. In seinen Büchern hatte er es oft beschrieben, wie es wohl sein mochte, wenn jemand langsam den Verstand verlor. Jetzt musste er zugeben, dass die Sache gar nicht mehr so spaßig war, wenn er selbst derjenige war, bei dem das Geschirr im Oberstübchen zersprang.

Und noch immer drang diese Stimme zu seinen Ohren.

Er drehte sich um und knallte die Terrassentür zu. Er tat es mit einer solchen Wucht, dass die Scheibe vibrierte und um ein Haar zersplittert wäre. Aha, dachte er, wäre ja nicht das einzige, was hier zersplittert.

Nun war es ruhiger. Aber noch immer nicht ruhig genug. Wenn er genau hinhörte, war der vermaledeite Mond immer noch zu hören. Also überlegte er nicht lange und ließ das Rollo herunter. Und da er nun schon mal dabei war, tat er das gleich im ganzen Haus.

Es dauerte keine drei Minuten, und Paul stand in tiefer Schwärze. Irgendwo (und das war noch gar nicht so lange her!) hatte er eine solche Finsternis schon einmal gesehen. Momentan fiel es ihm aber partout nicht ein, wo. Die Dunkelheit erfüllte ihren Zweck, denn der Mond war nun nicht mehr zu hören. Paul hatte endlich Zeit, zu verschnaufen. Darüber nachdenken, was er da eben getan hatte, wollte er lieber nicht.

Langsam beruhigte er sich. Atmung und Herzschlag normalisierten sich. Und obgleich der Mond gewiss noch immer auf sein Haus schien, gewann er den Eindruck, dass von ihm nun keine Gefahr mehr ausging.

Zehn Minuten später war er wieder so klar im Kopf, dass er alles für ein Hirngespinst hielt. Liegt bestimmt am Stress der letzten Tage, sagte er sich. Er kicherte sogar schon wieder über seine eigene Einfältigkeit.

Obwohl die Angst weniger geworden war, verkniff er es sich, die Rollläden wieder zu öffnen. Stattdessen schaltete er alle Lampen an. Und das waren eine ganze Menge. Als er endlich damit fertig war, war das Haus hell erleuchtet. Sogar im Keller und auf der Terrasse brannte Licht.

Plötzlich verspürte er eine ungeheure Lust auf einen Drink. Wo war die Flasche? Er brauchte nur einen Moment zu überlegen, da fiel es ihm wieder ein: Er hatte sie auf dem Wohnzimmertisch abgestellt. Schnellen Schrittes kehrte er dorthin zurück. Sie stand noch genau da, wo er sie zurückgelassen hatte. Er hatte sogar noch ein Bier. Auch das freute ihn ungemein.

Paul ließ sich auf die Couch fallen, und da er endlich zur Ruhe kam, bemerkte er, dass die Stereoanlage noch immer mit voller Lautstärke spielte. Konnte er das die ganze Zeit überhört haben?

Zwischen der Minibar, die sich mittlerweile auf dem Couchtisch angehäuft hatte, lag zwischen Flaschen und Kippen die Fernbedienung. Sie klebte. Ich muss wohl irgendwann in letzter Zeit Bier oder so was drüber gekippt haben, dachte er. Dennoch war sie funktionstüchtig. Er ließ Alice Cooper mit „Schools out For Summer“ mitten im Lied ersterben. Die Musik dröhnte noch kurz nach. Paul nahm an, dass das an der ungewohnten Lautstärke lag. Er schüttelte den Kopf, und das Klingeln und Dröhnen und Summen und Pfeifen in seinen Ohren ließ nach.

Die plötzliche Stille war seltsam. Sie tat fast weh. Irritiert fingerte er nach der anderen Fernbedienung für den Fernseher. Obwohl er wusste, wo sie war, fand er sie nicht. Seine Finger fuhren suchend umher und kippten ein Bier um, worauf Paul ein Klagegeheul anstimmte, das aber in der gleichen Sekunde in ein triumphales Gebrüll überging, dem Gebrüll eines männlichen Gorillas im Dschungel nicht unähnlich. Sein animalisches Verhalten war durchaus verständlich. Nicht auszudenken, wenn etwas von diesem lebensnotwendigen Alkohol verschüttet werden würde!

So tief bin ich also schon gesunken. Ein verschüttetes Bier ist für mich schlimmer als alle Seuchen zusammen. Was ist nur aus mir geworden? Ich stehe kurz davor, ein hemmungsloser Alkoholiker zu werden. Liegt das nur daran, dass sie mich verlassen hat? Nein, nein, diese Gedanken will ich nicht denken! Schluss damit! Schluss, sage ich! Nie mehr! Schert euch davon!

Schließlich fand er die Fernbedienung und schaltete ein. Mit zunehmendem Verdruss zappte er durch die Kanäle. Es kam nichts, was ihn hätte interessieren können. Also gab er schnell wieder auf und schaltete aus. Da sich die Suche nach Abwechslung durch den Fernseher als aussichtslos entpuppte, widmete er sich wieder dem, wovon er sich mehr erhoffte. Kaum zwei Stunden später war die Flasche Whiskey leer, und Paul fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Sein Haus war noch immer hell erleuchtet.

Die letzte Seele

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