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Kapitel 2
Оглавление2. Kapitel
Nur mühsam öffnete Paul die Augen, erst das eine, dann das andere. Verschlafen blinzelte er ins Licht. Sein Kopf fühlte sich an wie ein Sandsack, den man zu Boxtraining benutzt hat. Irgendwie kam er ihm auch größer vor, als müsse er die Arme ausstrecken, wenn er die Ohren berühren wollte. Allerdings war das kein Grund zur Sorge. Das war immer so, wenn er einen über den Durst getrunken hatte.
Ungläubig glotzte er auf die leeren Flaschen vor sich.
„Habe ich wirklich so viel getrunken? Das muss aufhören!“
Die Luft stank nach Alkohol, kaltem Qualm und Bierfürzen. Genauso mühsam, wie er die Augen geöffnet hatte, versuchte er sich aufzurichten. Seine Augen suchten das Zimmer ab; er wollte unbedingt wissen, wie spät es war. Die Uhr an der Wand, die zu jeder halben und vollen Stunde ein „Kikeriki“ von sich gab, zeigte, dass es gleich halb elf war.
Obwohl er nicht wusste, was für Wetter war, wusste er, dass der Tag schön werden würde. Er fühlte sich gut, viel besser als gestern. Also stand er auf und öffnete die Rollläden. Das hereinschießende Tageslicht war greller als erwartet. Es verschlimmerte seinen Kopfschmerz augenblicklich um ein Vielfaches.
Paul ging in die Küche, setzte Kaffee auf, warf zwei Schmerztabletten ein, überlegte kurz, nickte zustimmend und schluckte noch zwei. Bis der Kaffee durchgelaufen war, blieb ihm noch etwas Zeit. Er ging duschen.
Paul duschte so, wie er es immer bevorzugt hatte: abwechselnd heiß und kalt. Als er sich wenig später mit einem Handtuch abtrocknete, fühlte er sich besser. Seine Haut war eiskalt, und er war herrlich erfrischt. Selbst die schlechten Gedanken und negativen Gefühle waren wie weggespült.
Er streifte den Morgenmantel über und ging zurück in die Küche. Er war ein Geschenk von Jeannette zu seinem fünfunddreißigsten Geburtstag gewesen. Paul bemerkte es erst, als er ihn übergestreift hatte und wappnete sich für eine neue Schmerzwelle. Glücklicherweise blieb sie aus. Der Tag wurde mit jeder Sekunde besser.
Leichten Fußes tippelte er weiter. Er war noch immer über seine ausgelassene Fröhlichkeit erstaunt. Die bittere Pein der letzten Tage schien meilenweit entfernt zu liegen. Er beschloss, dass es gut so war. Und dass so bleiben sollte.
Der Kaffee war heiß und kräftig, puschte ihn noch mehr auf. Und obwohl alles in bester Ordnung schien, wusste er, dass etwas fehlte. Eine innere Stimme tadelte ihn. „Natürlich fehlt was, du Trottel! Schließlich ist sie …“
Weiter kam die Stimme nicht. Paul würgte sie ab, noch ehe sie weitersprechen konnte. Er kicherte, als er erkannte, dass es gar nicht das war, was fehlte. Ihm fehlte etwas anderes: die Zeitung!
Kichernd lief er zum Briefkasten. Wenn ihn in diesem Moment jemand gesehen hätte, hätte er ihn für reif für die Irrenanstalt gehalten: Paul hüpfte wie ein Kaninchen im Morgenmantel über die Wiese und kicherte und gackerte unaufhörlich vor sich hin.
Er öffnete den Briefkasten und wunderte sich, dass er nicht nur eine, sondern gleich drei Tageszeitungen darin fand. Er klemmte sie unter den Arm und hüpfte auf die gleiche Weise zurück. Erst als er wieder am Küchentisch saß, ging ihm ein Licht auf: Er war offenbar schon drei Tage lang nicht mehr am Briefkasten gewesen.
Nachdem er die Zeitungen durchgeblättert hatte (er fand nichts, was ihn interessiert hätte, nur bei den Todesanzeigen ertappte er sich, dass er sie aufmerksam las), donnerte er sie achtlos in den Müll. Er war beschämt darüber, dass er so etwas wie Schadenfreude empfand. Was, zum Teufel, war nur mit ihm los? Warum fand er heute alles so urkomisch? Er hatte sich doch nicht etwa eine Alkoholvergiftung eingehandelt? Nein, an diese Erklärung glaubte er nicht. Dann würde er nicht so putzmunter herumturnen. Aber wenn es das nicht war, was war es dann? Er dachte nur kurz darüber nach. Erstens, weil er für konzentriertes Nachdenken gar nicht ernst genug war, und zweitens, weil er heilfroh war, nach den Tagen des Schmerzes und der Trauer etwas überdreht zu sein. Das hatte er sich, seiner Meinung nach, redlich verdient. Außerdem tat es den Menschen, die da abgenippelt waren, garantiert nicht mehr weh. Bei diesen Gedanken begann er wieder zu kichern, und aus dem Kichern wurde lautes Lachen. Paul lachte so laut, dass er um ein Haar das Schrillen des Telefons überhört hätte.
Während er noch von Lachsalven geschüttelt wurde, näherte er sich dem Ruhestörer. Aber er musste sich erst beruhigen. Paul biss sich beherzt auf die Zunge. Es tat höllisch weh.
„Ja, bitte?“
Einen Moment blieb die Leitung stumm. Dann meldete sich doch eine Stimme: „Paul, bist du es?“
Sein Hirn arbeitete auf Hochtouren. Die Stimme war ihm bekannt, aber momentan war es ihm unmöglich, ihr ein Gesicht zuzuordnen.
„Paul, antworte endlich!“
Noch immer hatte es nicht Klick gemacht. Wer konnte das sein? Vielleicht war es besser, aufzulegen …
„Hallo, Hallihallohallöle! Wenn du mich hören kannst, antworte mir gefälligst! Ich weiß, dass du am Telefon bist. Ich höre dich doch atmen!“
Noch immer blieb die Erkenntnis aus. Paul kratzte sich am Hinterkopf. Sein Brummschädel war abgeklungen. Er wusste, zu wem die Stimme gehörte. Er wusste es, also, warum zum Geier fiel es ihm nicht ein?
Die Stimme sprach weiter. Diesmal schien sie nicht zu Paul zu sprechen, sondern mit jemandem, der sich im gleichen Zimmer befand wie der Anrufer. „Okay, ich leg jetzt auf und versuch es später noch mal. Vielleicht ist dann ja die Verbindung besser.“
„Bestimmt hast du recht.“ Der Verdacht mit der zweiten Person war also richtig.
„Ich kann ihn atmen hören. Aber sonst bleibt alles tot. Scheiß Telefonleitung. Wahrscheinlich komm ich gar nicht zu ihm durch.“
Der Anrufer hatte aufgelegt.
Paul stand da wie ein Ölgötze. Er hielt den Hörer an sein Ohr und überlegte angestrengt, wer zum Kuckuck ihn da hatte sprechen wollte. Allmählich verkalke ich, dachte er trübsinnig. Er steckte das Mobilteil in die Station. So konnte er wenigstens sicher sein, dass der Akku geladen war.
Er griff in die Hemdtasche. Statt der Kippen fühlte er nur den samtigen Stoff. Da dämmerte ihm, dass er ja immer noch den Morgenmantel trug. So fängt es an, dachte er. Kann nicht mehr lange dauern, und ich krabbele sabbernd über den Boden und muss gewickelt werden wie ein Kleinkind.
Endlich fiel ihm ein, wo er die Zigarettenschachtel zuletzt gesehen hatte. Keine fünf Minuten später (er qualmte in aller Ruhe) klingelte das Telefon erneut. Obwohl er auf keinen Fall rangehen wollte, näherte er sich dem Apparat mit langsamen Schritten.
Es läutete ein zweites und dann ein drittes Mal.
„Wann schaltet sich gleich noch mal der Anrufbeantworter an?“ fragte er die Wand, an die er sich gerade lehnte.
Es läutete unaufhörlich weiter. Und mit einem Mal (obwohl sein Gehirn noch gar keinen Befehl an seine Hand gegeben hatte) griff er nach dem Hörer.
„Hier Paul. Wer da?“
„Hi, Paul. Ich bin’s.“
Da war sie wieder, diese Stimme. Und er hatte noch immer keinen Schimmer, zu wem sie gehörte. In der ersten Sekunde war er drauf und dran, wieder zu schweigen. Aber er schüttelte den Gedanken ab und entschloss sich stattdessen, einfach mitzuspielen und zu gucken, wohin es ihn führte.
„Du? Das ist aber eine Überraschung, dass du mal anrufst!“ Da er nach wie vor keinen Verdacht hatte, musste er improvisieren. „Wir haben uns ja eine halbe Ewigkeit nicht gesehen!“ So was kam immer gut, da machte er nichts falsch.
Die Leitung war still.
„Äh … nun, genaugenommen waren es nur zehn Tage. Ist bei dir alles in Ordnung? Ich frage nur, weil … na ja, weil du so komisch klingst.“
Autsch, das war nach hinten losgegangen.
„Ich bin nur … Sagen wir’s mal so: Ich bin noch nicht ganz munter, okay?“ Fieberhaft sinnierte er weiter und entschied sich schließlich, mit offenen Karten zu spielen. „Hab wohl gestern etwas zu lange gearbeitet. Du wirst bestimmt lachen, aber momentan fällt mir noch nicht mal dein Name ein. Typischer Fall von Blackout.“
„Mensch, Alter, du brauchst einen Urlaub und einen verdammt guten Seelenklempner! Und am besten beides schon gestern. Wenn es schon so weit gekommen ist, dass du noch nicht mal mehr die Namen deiner besten Freunde weißt, solltest du kürzer treten. Du arbeitest zu viel.“
Wie recht du hast, großer Unbekannter, wie recht du hast.
„Du scheinst wirklich nicht zu wissen, wer ich bin, oder?“
Paul spürte, wie sein Gesicht vor Scham rot anlief. Reiß dich zusammen! Das ist nur ein Telefongespräch! „Nein“, gab er kleinlaut zu, „ich weiß leider nicht, wer du bist.“
„Gib zu, du verarscht mich!“
„Gott bewahre. Ich hab keinen blassen Schimmer.“
„?“
„.“
Der Anrufer schwieg. Er schien zu überlegen, ob Paul ihn verschaukeln wollte.
„Du hast wirklich keine Ahnung?“
„Nicht die Bohne.“
„Das ist traurig, Paul. Das ist verdammt traurig. Aber okay, ich helfe dir auf die Sprünge. Ich höre auf den klangvollen Namen Hackl. Jerome Hackl. Und? Klingelt es bei dir?“
Ja, da klingelte etwas, aber lange nicht so, wie es sich dieser Jerome wohl vorstellte. Pauls rechte Gehirnhälfte versuchte angestrengt, mit der linken zu kommunizieren. Hastig blätterte sie die Bilder in seinen Erinnerungen durch. Jerome? Jerome? Wo versteckst du dich? Wie von Sinnen raste er durch sämtliche Kapitel seines Lebens. Schließlich gelang es ihm, ein Bild von Jerome zu finden. Es lag begraben unter Tonnen von Staub. Es war der Staub, der übrig geblieben war, als Jeannine, dieses Aas, alles zum Einsturz gebracht hatte. Jetzt, da er wusste, wer er war, fiel ihm auch der Rest ein.
„Hi, Jerome“, diesmal klang die Überraschung echt. „Tut mir leid, das Ganze. Du weißt schon.“
„Ja, ja, vergiss es. Ist bei dir alles in Ordnung?“
Sollte er sagen, dass überhaupt nichts in Ordnung war? Dass auch nicht das kleinste bisschen in Ordnung war? Meine Frau hat mich verlassen und hat die Kinder mitgenommen! Ich verkalke langsam, und wenn du wüsstest, wie lange ich rumgerätselt habe, ehe ich wusste, wer du bist, würdest du sofort auflegen und nie wieder ein Wort mit mir sprechen! Und zu allem Überfluss glaube ich noch, den Verstand zu verlieren! All das ging ihm durch den Kopf. Aber er sagte es nicht. Stattdessen packte er diese Gedanken bei den Eiern, schüttelte sie ordentlich durch und schmiss sie in eine dunkle Kammer irgendwo tief im Hirn, wo sie bis auf weiteres vergammeln konnten.
„Mit mir ist alles bestens. Und selber?“
„Jau, Patrizia und den Kindern geht’s prächtig.“
„Na, das ist ja prima.“
Der Neid veränderte seine Stimme um eine Nuance. Hatte Jerome die Veränderung bemerkt? Wusste er etwa, was vorgefallen war? Nein, das war absurd. Oder vielleicht doch? Hatte dieses Luder von einer Frau bei ihm angerufen, damit er wiederum bei ihm anrief, um zu erfahren, wie’s ihm ging? Nein, das war lächerlich. Sie hat mich verlassen, da interessiert es sie bestimmt einen feuchten Scheiß, wie es mir geht. Das ist nur Wunschdenken meines verletzten Egos.
„Könnt ihr beiden es heute Abend nun einrichten?“
Was, zum Teufel, stand heute Abend auf dem Programm? Er wusste es nicht mehr und wappnete sich für eine neuerliche Attacke, bei der seine Erinnerungen durcheinandergewirbelt würden wie die Blätter in einem Herbststurm.
„Du hast es nicht vergessen, oder? Du weißt noch, dass wir heut Abend 'ne Party geben, ja? Patrizia wollte, dass ich euch anrufe und euch noch mal daran erinnere. Sie hofft, ihr könnt es einrichten. Und ich sagte, natürlich können sie es einrichten, schließlich bist du einer meiner engsten Freunde. Aber sie sagte, ruf trotzdem an. Also rief ich an. Kennst sie ja.“
Paul hatte Mühe, Jerome gedanklich zu folgen. Die Menge der Wörter, die auf ihn einstürzten und das Tempo, mit dem sie durch den Hörer jagten, verblüfft ihn.
Party.
Heute Abend.
Okay, okay, soweit hatte er es auf die Reihe gekriegt.
Jerome plapperte munter weiter.
„Ihr kommt also, ja? Wäre echt schade, wenn nicht. Wird bestimmt lustig. Wir grillen, und die Weiber können nach Herzenslust tratschen.“
„Ich tratsche nicht.“
Die Stimme war leise. Paul vermutete, dass sie Patrizia gehörte.
„Sag ihm bitte, dass sie einen ordentlichen Durst mitbringen sollen! Kannst du das machen?“ Die Vermutung schien richtig zu sein.
„Ich soll dir von Patrizia ausrichten …“
„Nicht nötig. Ich hab’s schon verstanden.“
„Er hat’s verstanden“, gab Jerome weiter.
„Fein. Dann bis heute Abend!“
„Bis heute Abend“, sagte auch Jerome und legte auf, ehe Paul protestieren konnte.
Uff. Watt `n nu?
Jetzt habe ich aber gehörig in die Scheiße gegriffen, verflixt und zugenäht! Wie komm ich da nur wieder raus? Vielleicht ist es besser, ihn anzurufen und ihm die Wahrheit aufzutischen? Ich glaube, er verdient sie. Die Frage ist nur, ob ich dazu imstande bin. Eher nicht. Vergessen wir das lieber. Also gut, und was bleibt mir übrig?
Nach reiflicher Überlegung entschied er, hinzufahren. Wollen mal sehen, wie sich alles entwickelt. Früher oder später werden sie es ohnehin erfahren. Und ich werde wesentlich besser dastehen, wenn ich den Zeitpunkt dafür bestimme. Während des Gesprächs hatte er befürchtet, Jeannines ständige Präsenz könnte ihn zerbrechen. Seltsamerweise geschah genau das Gegenteil: Er erfreute sich bester Laune, und das Gespräch schien sie sogar noch verbessert zu haben. Ein über alle Maßen entzückender Tag war das heute. Oh ja, das war er. Und wie er das war! Paul fühlte sich verdammt gut. Er hätte Bäume mitsamt Wurzeln ausreißen können. Und das Beste: Er spürte, dass er den Zenit noch nicht erreicht hatte.
Er stöpselte das Mobilteil in die Ladestation, registrierte, dass das Akkuzeichen aufleuchtete und stimmte eine fröhliche Melodie an. Er pfiff sowohl laut als auch falsch. Eine Melodie zu halten war noch nie seine Stärke gewesen. Und irgendwann kam ihm die phänomenale Idee, die Stereoanlage wieder so weit aufzudrehen, bis die Wände wackelten. Schon donnerte, einem Güterzug gleich, Motörhead mit „Orgasmatron“ durch das Wohnzimmer.
Ist das Leben nicht herrlich, fragte Paul sich, während eine Zigarette in seiner Hand qualmte.
Das Arbeitszimmer sah anders aus, als er es in Erinnerung hatte. Als hätte eine Bombe eingeschlagen. Die Sonne beleuchtete ein Kauderwelsch aus herumliegendem Trödel. Der Teppich war über und über mit Schnipseln besäht. Erst bei näherem Hinsehen sah Paul, dass es sich um seine eigenen Manuskripte handelte. Er hatte schon immer die Angewohnheit gehabt, die Romane, die er beendet hatte, für sich selbst auszudrucken. Er war da sentimental. Für ihn war es wichtig, sie daheim in seinem Arbeitszimmer unter einer Glasvitrine zu wissen.
Wenn er von dem Tohuwabohu nicht so überrascht gewesen wäre, hätte er vielleicht sogar die Zeit erübrigt, um die Blätter zu trauern. Da dem nun aber nicht so war, ließ er es und starrte im Zimmer umher.
Es sah aus wie nach einem Inferno. Aber da weder das Fenster zertrümmert noch die Tür ausgehebelt war, musste er selbst es gewesen sein. Und falls dem so war, war es ihm perfekt gelungen, es aus seinem Gedächtnis zu streichen.
Paul ließ seine Augen noch ein wenig über das Chaos streifen. Nicht nur Manuskripte bedeckten den Teppich. Nein, da lagen auch Dinge herum, die gar nicht ins Arbeitszimmer gehörten: Unterwäsche, dreckige und saubere, aber auch Klamotten, die Jeannine gehört hatten und die sie entweder vergessen hatte oder schlicht und einfach nicht mehr haben wollte. Letzteres konnte er sich allerdings nur schwer vorstellen. Schließlich war sie eine Frau, Junge, Junge, und was für eine! Und die haben nun mal diesen seltsamen, tief in ihren Genen verankerten Faible für alles, was man anziehen kann.
Was ihn am meisten schmerzte, war nicht der Anblick der Wäsche, sondern die Palme, die aus dem Topf gerissen und schon halb vertrocknet war. Die Manuskripte waren auf der Festplatte und brauchten nur wieder ausgedruckt zu werden. Aber die Palme war etwas, was ihm ans Herz gewachsen war. Paul hatte sie während ihres ersten gemeinsamen Urlaubs in der Karibik gekauft. Sie stand eingepfercht in einen viel zu kleinen Topf, war kaum höher als zwanzig Zentimeter, und der Händler hatte zehn Dollar achtzig dafür haben wollen. Paul hatte den Preis auf sagenhafte Sechsfünfzig heruntergeschraubt.
Nun begann eine wahre Odyssee. Da er die Palme schon zu Beginn des Urlaubes gekauft hatte, musste sie noch zweieinhalb Wochen im Hotelzimmer überleben. Und da begann der Kampf. Jedes Mal, wenn das Zimmermädchen saubermachen wollte, musste er sich heldenhaft vor ihr aufbauen. Sie wollte dieses Stück vertrocknetes Unkraut hochkantig aus dem Zimmer schmeißen. Und da der Zimmerservice immer zu unterschiedlichsten Zeiten eintrudelte, wiederholte dieses Schauspiel sich täglich. Bis zum Tag der Abreise war es ihm gelungen, seinen Schützling zu beschützen. Dann aber wurde es haarig: Zwei Überfahrten mit dem Schnellboot standen an, und danach ein Flug von zehn Stunden. Wohin mit dem kleinen Wicht? In die Reisetasche? Um Himmels Willen, bloß nicht!
Paul hatte, bevor er ernsthaft Schriftsteller wurde, auf einem Flughafen seine Brötchen verdient. Das befähigte ihn zu der Erkenntnis, dass die Reisetasche der denkbar schlechteste Ort war. Vor seinem geistigen Auge sah er bergeweise Koffer, die unter Zeitdruck hierhin und dorthin geworfen wurden: vom Transportband in den Flieger, vom Flieger wieder zurück aufs Band. Wohin aber dann? Etwa in den Rucksack? Keine schlechte Idee. Leider war der schon mit Videokamera, Fotoapparat, Flugtickets, Geldbörse und anderem Pipapo überfüllt. Nach stundenlangem Hin und Her (und nicht wenig zänkischem Gezeter Jeannettes) entschloss er sich schließlich, seinen Schützling einem dieser sauteuren weltweiten Zustelldienste anzuvertrauen.
Die Übergabe ging ja noch: Adresse angeben, Knete rausrücken, alles halb so schlimm. Aber das Warten danach! Zur Untätigkeit verdonnert, war es für ihn wie ein Marsch barfuß über glühende Kohlen. Und dabei immer diese Ungewissheit: Wird sie den Transport überstehen? Wird sie nicht vertrocknen? Die Zeit, bis das Paket endlich eintrudelte, war reine Folter.
Aber irgendwann trudelte sie ein. Jetzt würde sich zeigen, ob die Mühe sich gelohnt hatte. Paul balancierte das Paket wie eine Schüssel mit rohen Eiern. Er betete inbrünstig, jeder, der seine Finger an dem Karton gehabt hatte, möge sich nach den Aufklebern „Nicht werfen!“ und „Nicht schütteln!“ gerichtet haben. Behutsam öffnete er das Paket. Neben ihm stand eine Gießkanne, randvoll mit Wasser.
Als er die Palme dem Zustelldienst anvertraut hatte, war seine Überlegung folgendermaßen gewesen: Sie hat eine Chance, den Transport unbeschadet zu überstehen, wenn es mir gelingt, sie in einen schützenden Kokon aus Styropor einzumauern. Nach einigen diesbezüglichen Versuchen, die ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten, gelang es ihm schließlich, sie so zu verpacken, dass er es verantworten konnte, sie wegzuschicken. Vorsichtig schaufelte er die Styroporflocken beiseite und legte nach und nach die Pflanze frei. Bis jetzt machte es den Anschein, dass es ihr gutging. Behutsam hob er sie aus dem Karton und begutachtete jedes Blatt. Er sah dabei aus wie ein General, der, über die Landkarte gebeugt, über einer komplizierten Kriegsstrategie grübelte. Der Transport hatte nur drei Tage gedauert, und Paul, hatte alles ihm Mögliche getan. Jetzt, in den nächsten Tagen und Wochen, würde sich entscheiden, ob seine Mühe sich gelohnt hatte. Paul platzierte sie an einer sonnenverwöhnten Stelle, knipste die extra dafür gekaufte Rotlichtlampe an und zwang sich, ihr die nötige Zeit zu geben, um sich einzugewöhnen.
Das war nun schon Jahre her, und in all dieser Zeit war es ihm gelungen, die Pflanze nicht nur aufzupäppeln, sondern auch größer und kräftiger werden zu lassen.
All das ging ihm durch den Kopf, als er jetzt die Überreste seines Schützlings auf dem Schreibtisch liegen sah. Er hatte Herzblut in die Pflege dieser Pflanze gesteckt und sich selbst mehr als einmal dabei ertappt, dass er mit ihr redete – etwa so, wie ein Hundebesitzer mit seinem vierbeinigen Begleiter redet. Der Hund kann nichts erwidern, aber er ist da, wenn man ihn braucht. Das macht ihn zu einem Freund. Und genau das war die Pflanze für Paul gewesen.
Aber nicht nur die Palme, auch das Aquarium war ein Opfer der Gewalt geworden. Auch das hatte er gehegt und gepflegt, und jetzt war es ein Trümmerhaufen. Langsam verwandelte seine Traurigkeit sich in Wut, und da alles darauf deutete, dass er selbst der Übeltäter war, war er kurzerhand auf sich selbst wütend. Er war wütend, weil er den Sinn seiner Tat nicht begriff. Und weil jetzt, nach dem triumphalen Glücksgefühl der letzten Minuten, unweigerlich der Absturz folgen würde.
Zwischen den wildverstreuten Sachen fiel sein Laptop fast nicht auf. Schließlich kam es auf einen Gegenstand mehr oder weniger nun auch nicht mehr an. Paul seufzte, machte kehrt und verließ das Zimmer. Der Anblick der sterbenden Palme hatte ihn getroffen, ihn wütend gemacht. Die toten Pflanzen und Fische neben den Scherben wollte er so schnell wie möglich aus dem Kopf haben. Wie qualvoll musste ihr Sterben gewesen sein!
Mit hängendem Kopf watschelte er ins Wohnzimmer, warf sich rücklings auf die Couch und versuchte, sich mit animalischem Hin- und Herzappen durch das Fernsehprogramm abzulenken.
Zwei Stunden lag er so da, doch seine Wut wollte nicht verrauchen. Er hüpfte hin und her zwischen Sportübertragungen, Nachrichten und Spielfilmen, die doppelt so alt waren wie er selbst. Seine Laune war mies, sehr mies sogar. Er hatte eigentlich froh sein wollen. Die letzte Zeit war schwer genug gewesen. Hatte er da nicht etwas Euphorie verdient? Aber so sehr er auch versuchte, immer wieder stand das Bild des verwüsteten Arbeitszimmers ihm vor den Augen: die vertrocknete Palme, das zersplitterte Glas, die toten Fische auf dem Teppich. Und seine Manuskripte, die er wie ein Huhn gerupft hatte. Das einzige, wovon er sich etwas Linderung versprach, stand gutgekühlt in der Minibar im Keller. Aber er wollte nicht schon wieder trinken. Jedenfalls jetzt noch nicht …
Während er so dalag und Löcher in die Luft starrte, kam ihm eine Idee. Sie war schlicht und einfach: Er musste einfach nur genau das tun, was er getan hatte, als seine Laune besser gewesen war. Nicht mehr und nicht weniger. Dann würde es ihm gut gehen. Konnte das so einfach sein?
Da er gerade nichts Besseres zu tun hatte, stand er auf und lief zum CD-Player. Vielleicht gelang es ja Brian Johnson mit seiner Reibeisenstimme, seinen Missmut wegzugrölen. Paul drehte die Anlage voll auf und katapultierte sich in den nächsten Sessel. So viel dazu, dachte er, lassen wir unser Wundermittelchen am besten mal wirken!
Die Lautstärke war ohrenbetäubend. Der Bass dröhnte bis in seine Eingeweide, die Gitarren quietschten und quäkten, und die Boxen schienen von alldem überfordert zu sein. Obwohl er vermutete, davon hammermäßige Kopfschmerzen zu bekommen, fiel es Paul im Traum nicht ein, die Anlage leiser zu drehen. Die Musik musste mit brachialer Gewalt auf ihn wirken. Bis in jede Faser seines Körpers sollte sie dringen.
Eine halbe Stunde verging.
Und eine weitere.
Mittlerweile war die CD zu Ende, und er hatte AC-DC gegen Iron Maiden eingetauscht: „Seventh Son of a Seventh Son“. Seiner Meinung nach ein superhypergeiles Album. Er hatte das aus dem Jargon seiner Tochter aufgeschnappt; allerdings war für sie nur Popmusik superhypergeil.
Die ersten Töne waren kaum erklungen, da spürte er, wie sich etwas in ihm regte. Anfangs glaubte er, Blähungen zu bekommen, aber schon beim dritten Song begriff er, dass es keine Blähungen waren, sondern dass ihm einfach ein wenig wohler ums Herz wurde.
Paul tastete nach der Fernbedienung. Er wollte die Lautstärke noch mehr aufdrehen. Doch es stand bereits auf Maximum. Da das Ding unnütz war, flog es in die nächstbeste Ecke. Seine Stimmung wurde zusehends besser, und „Can I Play with Madness“ sang er schon lauthals mit. Dass er keine einzige Note halten konnte, störte ihn nicht. Und beim fünften Song ertappte er sich, wie er die „Jungfrauen“ auf einer unsichtbaren Gitarre begleitete. Da hielt es ihn nicht mehr im Sessel und er schnellte wie an einem Gummiband hoch.
Als das Telefon klingelte, hörte er es gar nicht. Er rannte durchs Zimmer wie über eine Bühne und kugelte sich auf dem Teppich, wobei er immer noch auf der unsichtbaren Gitarre spielte und den Text mitträllerte.
Mittlerweile war es dunkel. Paul stand im Bad und rasierte sich. Die untere Gesichtshälfte war unter Schaum begraben, dennoch hatte er es sich nicht nehmen lassen, eine Zigarette zu rauchen. Sie steckte zwischen seinen Lippen und qualmte um den Schaum herum. Langsam schabte er über die Bartstoppeln. Ratsch. Schab. Ratsch. Schab. Aus dem Badlautsprecher dudelte Musik. Diesmal aber leiser.
Nach der Rasur kam sein Grinsen wieder zum Vorschein. Er hielt kurz inne und betrachtete sich im Spiegel. Dann grinste er noch ein wenig breiter und schabte weiter. Wie schnell sich alles ändern konnte! Noch vor Tagen war ich der festen Überzeugung, eine glückliche Ehe zu führen. Tags darauf verlässt sie mich, wieder einen Tag später halte ich den Schmerz kaum aus, verliere fast den Verstand, und schließlich geht es mir wieder richtig gut. Blendend sogar.
Sein Gesicht war vom Schaum befreit, und er zeigte seinem Spiegelbild kampflustig die Zähne. Dieses tat es ihm sogleich nach, und Paul lachte es daraufhin frech an. Die rasierte Haut brannte, aber das war normal. Er klatschte sich Rasierwasser ins Gesicht, jaulte wie ein Hund und musterte sich im Spiegel.
Für einen Mann in seinem Alter sah er noch ganz passabel aus. Zugegeben, sein Bauch war runder geworden, die Haut hatte ein paar Fältchen, und wenn er sich eine Woche nicht rasierte, hatte er mehr Haare im Gesicht als auf dem Kopf. Trotzdem fühlte er sich noch jung.
„Und das ist schließlich die Hauptsache“, sagte er zu seinem Spiegelbild und das schien seiner Meinung zu sein, denn es tat nichts, was irgendeinen Protest andeutete. Es grinste ihn nur frech an.
Paul spülte das Gesicht, wischte den restlichen Schaum ab, steckte seinem Spiegelbild die Zunge raus, drehte sich um und verließ das Bad.
Der Porsche brummte über die dunkle Landstraße. Es fiel Regen, aber das tat Pauls guter Laune keinen Abbruch. Fasziniert beobachtete er, wie die Tropfen auf der Windschutzscheibe der Schwerkraft trotzten und aufwärts flossen. Schon als Kind war das immer so etwas wie ein kleines Wunder für ihn gewesen. Bis er dann älter wurde und den logischen Grund begriff. Danach verlor das Phänomen etwas seine Faszination. Und bis heute Abend schien dieser Teil, den er sich tief in seinem Inneren bewahrt hatte, geruht zu haben. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass sich daran etwas geändert hatte. Aber vielleicht war das ja gut so. Vielleicht bewahrt ja jeder Erwachsene einen kleinen Teil seiner Kindheit in sich auf.
Nach dem Bad war er in gute Klamotten gesprungen. Die Rolex hing locker an seinem Handgelenk. Er war nicht großkotzig, er hatte nur Lust, sie zu tragen. Und er hatte sagenhafte zwei Minuten darauf verwendet, sein Haar nach hinten zu gelen wie ein Zuhälter. Es fehlte nur noch der Zopf, das Hemd offen bis zum Bauchnabel und hautenge Jeans, die einem die Eier quetschten.
Der Scheibenwischer tat träge seinen Dienst und der Motor brummte vergnügt. Die Scheinwerfer bohrten sich in die Dunkelheit und die Straße glänzte wie ein Edelstein. Hier und da hatten sich Pfützen gebildet, und Paul lenkte den Porsche mittendurch; dabei quietschte er vor Vergnügen, wenn das Wasser zur Seite spritzte.
Paul wusste, dass er für die Witterungsverhältnisse zu schnell fuhr. Doch statt zu bremsen, erhöhte er noch die Geschwindigkeit. Es erstaunte ihn jedes Mal aufs Neue, wie schnell der Wagen beschleunigte. Seine Kraft war erstaunlich. Wo holte er das nur her? Natürlich wusste er, wie viele Pferdestärken dieser Teufelsschlitten unter der Haube hatte, aber das waren nur Zahlen. Ob nun dreihundert oder vierhundert PS – die Kraft, die daraus hervorsprang, war das Faszinierende. Dieses Gefühl, wenn er das Gaspedal nur leicht durchtrat. Atemberaubend. Mit nichts zu vergleichen.
Er ließ auf der Beifahrerseite das Fenster herunter, schaltete das Radio aus und gab noch mehr Gas. Mittlerweile raste er wie ein Pfeil durch die Dunkelheit. Ein hundertachtzig Sachen schneller Pfeil. Jetzt, da das Fenster offen war, hörte er noch besser den satten Sound. Und weil der Fahrtwind an der Karosserie vorbeipfiff, klang es sogar noch um einiges besser. Zugegeben, der Wind kam gegen den Motor nicht an. Aber dennoch hörte er eine wahre Sinfonie aus herzhaftem Brummen und zierlichem Brausen.
Mit einem Mal verlor er den Kontakt zur Straße und rutschte in Richtung Straßengraben. Augenblicklich setzte sein Herz einen Schlag aus, um dann dreimal so schnell weiterzuschlagen, und er spürte einen seltsamen Druck in den Innereien, als würden seine Eingeweide nach außen gerissen. Obwohl es vorhersehbar war, dass so etwas geschehen würde, geriet er in Panik. Er spürte, dass die Räder keinen Kontakt mehr zum Asphalt hatten und nur noch über das Wasser rutschten wie die Kufen eines Schlittschuhs. Das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut. Aber Paul bewies Geistesgegenwart, denn er ignorierte den Anflug von Panik und ging behutsam vom Gas. Und er beherrschte sich sogar so weit, nicht auf die Bremse zu treten, denn das wäre fatal gewesen.
Es konnte sich nur um eine Sekunde gehandelt haben. Eine einzige Sekunde von dem Augenblick an, als er den Bodenkontakt verlor bis zu dem, als er vom Gas ging. Kaum länger als ein Wimpernschlag, aber ihm kam es vor wie eine Ewigkeit. Das Gefühl zu fliegen verging nicht, und das bedeutete gewiss nichts Gutes. Groteskerweise trug er die ganze Zeit ein dümmliches Grinsen im Gesicht.
So plötzlich, wie der Kontakt zur Straße verschwunden war, war er wieder da. Sein Herz hämmerte bis zum Hals, und er bekam einen Schweißausbruch. Eine Sekunde lang verspürte er den törichten Drang, wieder Gas zu geben. Da er aber trotz allem nicht lebensmüde war, verkniff er es sich und verringerte das Tempo. Der Zwischenfall zerstörte seine gute Laune nicht, machte ihn aber vorsichtiger. Paul schloss das Fenster, schaltete das Radio wieder ein und fuhr stumm durch die Nacht. Der Motor verrichtete seinen Dienst nun nicht mehr so laut wie zuvor und schien darüber gar nicht erfreut zu sein. Allem Anschein nach betrachtete er es als seinen Job, ordentlich Krach zu machen.
Paul bekam plötzlich eine schier unbändige Lust nach einer Zigarre. Er wollte unbedingt einen aromatischen Donnerbalken zwischen den Zähnen haben. Wie lange hab ich schon keine Zigarre mehr gepafft?
Er dachte nach. Es war zehn vor elf, die Geschäfte hatten geschlossen. Aber wenn er einen Umweg von zwanzig Kilometern machte, kam er zur nächsten Tanke. Dauert höchstens ’ne Viertelstunde, so lange wird Jerome ja noch warten können, oder?
Es dauerte nur achtzehneinhalb Minuten, und er war wieder an der Abbiegung. Zwar später als erwartet, aber immer noch in einer annehmbaren Zeit. Paul setzte den rechten Blinker, bog ab und fuhr wieder in die ursprüngliche Richtung. Hochzufrieden mit seiner Leistung, saß er hinterm Steuer. Er hatte bekommen, was er wollte und fühlte sich großartig.
Der Rest des Weges verlief ohne Abenteuer. Er widerstand der Versuchung, das Gaspedal durchzutreten. Das mit der Raserei wäre vorhin ja fast ins Auge gegangen. Gott sei Dank war nichts passiert. Einen Moment überlegte er, was er antworten würde, wenn man ihn nach Jeannine fragte. Dass das geschah, war möglich, schließlich war sie ja auch eingeladen. Darüber wollte er sich jetzt aber nicht den Kopf zerbrechen.
Eine halbe Stunde später fuhr er die Einfahrt zu Jeromes Grundstück hinauf. Mittlerweile war der Regen in ein strömendes Gießen übergegangen. Was er sah, überraschte ihn: Das Haus war vom Giebel bis zum Keller mit Lichterketten behangen, sogar die Tannen waren geschmückt. Ein Meer aus roten, grünen, blauen, weißen und gelben Lichtern.
Langsam fuhr er die Einfahrt hinauf. Auf den letzten Kilometern hatte er etwas Bammel bekommen und war mehr als einmal wildentschlossen gewesen, umzukehren, heimzufahren, auf Jerome zu scheißen. Aber damit hätte er das Unvermeidliche nur hinausgezögert. Und heute konnte er es nicht nur herausfordern, sondern auch die Art und Weise wählen, wie sie es erfahren sollten.
Er ließ den Motor noch ein paar Sekunden im Leerlauf brummen. So hatte er Zeit, sich zu sammeln, tief einzuatmen und sich gegen das zu wappnen, was da kommen möge. Auf einmal kreischte eine seiner inneren Stimmen: Was zum Teufel tust du hier? Verschwinde, so schnell du kannst!
Die Stimme kam so überraschend, dass Paul zusammenzuckte – nicht nur, weil sie sich unaufgefordert zu Wort meldete, sondern auch, weil sie verdammt Recht hatte. Was, zum Teufel tat er eigentlich hier?
Noch wusste niemand, dass er hier war. Einfach zu verschwinden wäre kein großer Akt: Ersten Gang einlegen, Kupplung kommen lassen, auf der Einfahrt wenden und einfach wieder abhauen. Der Gedanke war verlockend. Aber so leicht wollte er es sich nicht machen. Das war der Weg, den Feiglinge einschlagen würden. Und er war kein Feigling. Und außerdem, was würde er damit erreichen? Nichts. Nicht die Bohne.
„Fick dich“, sagte er und knabberte an der Zigarre, die beruhigend zwischen seinen Zähnen wippte. Dann machte er erste Anstalten, sich aus dem Fahrzeug zu schälen. Den Weg vom Auto zur Eingangstür erlebte er wie in Trance.
Was zum Geier soll das? Mach, dass du wegkommst! Kauf dir ’n paar Bier, fahr heim und besauf dich ordentlich! Das ist das Beste, was du tun kannst! Hörst du denn nicht?
Anscheinend nicht, denn er spie ein giftiges: „Halt endlich dein elendiges Schandmaul! Ich sagte dir bereits, was du mich kannst. Oder?“ Mit diesen Worten drückte er auf die Klingel. Und nun glitt er auch wieder von dem tranceähnlichen Zustand zurück in die Wirklichkeit, wo er selbst Herr seiner Taten war.
Du hast noch zwei Sekunden …
„Klappe!“
Schon ertönten Schritte, und da es ohnehin zu spät war für einen Rückzug, verstummte die Stimme und verschwand dorthin, woher sie gekommen war. Paul zog den Rauch der Zigarre ein, und in diesem Moment wusste er, dass er das Richtige tat. Alle Zweifel waren weggewischt.
„Hi, Paulchen“, begrüßte ihn der Gastgeber, „schön, dass du kommen konntest.“
„Ja, ja“, murmelte Paul mit zusammengepressten Lippen. Angst und Unsicherheit waren wieder da, hatten ihn jetzt voll im Griff, als hätten sie nur kurz hinter seinem Rücken gelauert. Und beide arbeiteten Hand in Hand. Sie peinigten ihn, fesselten seine Gedanken an negative Dinge, und um ein Haar wäre er davongestürzt. Doch so schwer es ihm auch fiel – er riss sich zusammen, zog noch einmal an der Zigarre und legte ein Mir-scheißegal-Grinsen auf. Zwei Sekunden später stellte er mit Genugtuung fest, dass seinem Gegenüber vor Überraschung der Mund weit offen stand. Ungläubig starrte Jerome auf die Zigarre, die zwischen seinen Lippen wippte. Paul ließ ein paar Augenblicke in Würde verstreichen, genoss den verdatterten Blick und stand regungslos da.
„Du rauchst wieder? Ich dachte, du hast dem Tabak entsagt?“
„Wie du siehst.“
Wieder vergingen ein paar Sekunden, in denen die Männer sich schweigend gegenüberstanden. Teils lag es daran, dass Jerome von der Zigarre überrascht war, teils aber auch daran, weil Paul so lässig und selbstsicher wirkte. Das kannte man sonst gar nicht von ihm. Sonst war er ein eher stiller Typ. Aber jetzt wirkte er fast schon cool.
„Willst du mich nicht reinbitten?“
„Äh … was? Ach so.“
Während Paul an ihm vorbeischlenderte und zufrieden paffte, dachte er bei sich: Was bin ich doch für ein großartiger Schauspieler. Ich markiere hier den starken Mann, aber in Wirklichkeit mach ich mir vor Angst fast ins Hemd. Und er schickte ein Dankgebet an jeden Gott, von dem er je gehört hatte, während er zugleich darum bat, dass er nicht nach Jeannine gefragt würde.
Das Haus war groß, fast schon eine Villa. Es war von einer mächtigen Rasenfläche umgeben, die eine drei Meter hohe Mauer umschloss. Der Rasen war vereinzelt mit Sträuchern, schwarzem Holunder und Faulbäumen besetzt, und hier und da stand sogar eine Tanne. Das Grundstück war groß und prächtig, aber er war nichts im Vergleich zum Haus.
Schon im Vorzimmer ahnte der Besucher, dass sein Besitzer finanziell gut bestückt war. Direkt neben dem Eingang stand ein antikes Möbelstück, bei dem man nicht sicher sein konnte, ob es nur zur Dekoration da war oder ob man die Jacke hineinhängen konnte. Das Wohnzimmer war weitläufig wie ein Saal, aber nur spärlich möbliert. Ein großes, bequem aussehendes Sofa in der Mitte und ein riesiges Heimkino davor. Im hinteren Teil des Zimmers führte eine Wendeltreppe in den Keller, und ab da wurde es erst interessant. Den dort unten, wusste Paul, war ein riesiger Pool. Dieses Monster von einem Planschbecken erstreckte sich fast über dreißig Quadratmeter, und in der Mitte spie ein Springbrunnen Wasser nach oben. Durch Felsbrocken hatte man das Gefühl, auf den Seychellen zu relaxen. Palmen wuchsen hinauf bis zur Decke, und an die Wände war ein schier undurchdringlicher Dschungel in den sattesten Farben gepinselt. War das ein schnuckeliger Zeitvertreib! Vor allem in den kalten Monaten. Auch wenn sie dem einen oder anderen vielleicht großkotzig erschien – Jerome liebte seine Oase inbrünstig.
Paul hatte auch mal mit der Idee geliebäugelt, sich so etwas zuzulegen. Aber der Staub, der Schmutz und der Lärm der Bauarbeiten hatten ihn schnell wieder davon abgebracht. In den zwei oberen Etagen waren, wie er wusste, weitere Zimmer: das Esszimmer, zwei Schlafzimmer (eines davon für Gäste), die Kinderzimmer, die Bäder und, nicht zu vergessen, das wichtigste Zimmer überhaupt: das Arbeitszimmer. Alles war hübsch und geschmackvoll eingerichtet, aber lange nicht so spektakulär wie der Keller.
„Komm mit! Ich muss dir was Obergeiles zeigen. Mein kleiner Südseetraum ist wieder um eine Attraktion reicher!“
Paul grinste. Er wusste, was jetzt kam. In den Jahren war es fast schon ein Ritual geworden: Jedes Mal, wenn er Jerome besuchte, zeigte dieser ihm als erstes, was sich an seinem Südseetraum verändert hatte. Er platzte fast vor Stolz. Jetzt führte er ihn durch eine Reihe von Menschen hindurch (Paul kannte nicht annähernd die Hälfte) und ging zielstrebig zur Wendeltreppe. Er lief mit schnellem Schritt, und Paul hatte Mühe ihm zu folgen. Die Zigarre klemmte noch fester zwischen seinen Lippen. Er biss fast darauf. Es spendete ihm Sicherheit. Die fremden Gesichter ängstigten ihn. Es wusste, es war albern, aber er kam sich vor wie ein kleines Kind, dass in einer Menschenmenge seine Mama verloren hat.
Schließlich erreichten sie die Treppe. Auf der dritten Stufe saß ein Pärchen und knutschte; offensichtlich waren beide nicht mehr ganz nüchtern. Jerome hüstelte verlegen, und die Ertappten erhoben sich. Als Paul dann endlich sah, was Jerome ihm zeigen wollte, konnte er sich ein erstauntes „Hui“ nicht verkneifen.
Sie standen am Rand des riesigen Swimmingpools, die künstlichen Palmen im Rücken. Paul erfasste sofort, was sich verändert hatte. Guck einer an, ging es ihm durch den Kopf, Jerome ist tatsächlich ein paar Zentimeter gewachsen. Oder hob er vor Stolz fast vom Boden ab?
Jedes Haus braucht, damit es nicht wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt, Stützen. Normalerweise übernehmen diesen Jobs die Wände. Da der Keller aber fast nur ein riesiger Pool war, sah es hier unten mit Stützwänden spärlich aus. Also mussten dicke Stützpfeiler eingebaut werden. Und genau da lag der Hund begraben. Denn diese Pfeiler, so unentbehrlich sie auch sein mochten, zerstörten das Landschaftsbild. Wer will schon an einem Strand liegen, an dem ein Meter breite Betonpfeiler herumstehen? Jerome hatte schon manches versucht, sie zu kaschieren. Die Säulen waren gefliest worden, aber das gefiel ihm nicht. Er hatte Kletterpflanzen angebracht, aber auch das war nicht das Wahre. Jetzt war ihm endlich die Lösung eingefallen. Eine ziemlich geniale.
Paul Mund stand so weit offen wie ein Scheunentor.
„Sieht echt chic aus, oder?“
„Allerdings. Aber wie hast du das geschafft?“
„Einzelheiten erspare ich uns lieber. Das ist uns beiden eine Nummer zu hoch. Fachchinesisch.“
Jerome war es gelungen, um die Pfeiler herum eine Wand zu ziehen. Und nun lief auf dieser äußeren Haut das Wasser herab wie bei einem Wasserfall. Es plätscherte nur so drauflos. Und in dem entstandenen Hohlraum, also zwischen Pfeiler und Außenhaut, wurde das Wasser hochgepumpt, um wieder in den Wasserfall zu fallen. Einfach, aber genial. Jerome konnte stolz darauf sein.
Fünf Minuten später waren sie wieder oben. Paul war mit Händeschütteln und Hallosagen so beschäftigt, dass er außer Atem geriet. Sogar Menschen, denen er vorher noch nie begegnet war (und das waren nicht wenige), reichte er die Flosse. Er tat es ohne Scheu, und das überraschte ihn. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie ihm die Hände fast ins Gesicht hielten, damit er sie greifen und schütteln konnte.
„Michael ist mein Name.“
„George.“
„Angenehm. Ich heiße Vivienne.“
„Hi. Ich bin der Mark.“
„Freut mich. Ich bin der Jonas.“
Und so ging es immer weiter, die Namen purzelten nur so auf ihn ein. Eine Hand zerschnitt auffordernd die Luft und wurde gleich darauf von einer anderen abgelöst. Paul hatte längst den Überblick verloren und wusste gar nicht mehr, wer wer war. Normalerweise fühlte er sich in solchen Situationen unwohl. In einer dichten Menschenansammlung bekam er immer etwas, was man schon fast als Panikattacke bezeichnen konnte. Seltsamerweise war das hier nicht der Fall. Heute fühlte er sich nicht unwohl. Im Gegenteil, er genoss es. „Hallihallohallöle“, schmetterte er jedem entgegen und trompetete lautstark: „Paul, der bin ich“ zu jedem, der es wissen wollte.
Jetzt war Jerome wieder zur Stelle und packte ihn am Handgelenk. Er war gespannt, wo er ihn diesmal hinführen würde.
„Ich muss schon sagen, deine Feier ist gut besucht.“ Paul musste laut sprechen, um gegen das Stimmengemurmel anzukommen.
„Da hast du verdammt recht, alter Junge. Es sind fast alle gekommen, die ich kenne. Unter uns gesagt: fast schon einige zu viel für mein bescheidenes Heim. Man kann ja keinen Schritt gehen, ohne jemandem auf die Füße zu treten. Weil wir gerade davon sprechen: Wo hast du denn Jeannine gelassen? Geht es ihr nicht gut?“
Ach, du Scheiße. Was nun? Da Paul auf die Schnelle nichts einfallen wollte, stotterte er ein verlegenes „Ähm … ähm“, während er fieberhaft nachdachte. Nun war die Kacke am Dampfen. Was sollte er antworten? Du bist ein Idiot, tadelte er sich. Du hast doch gewusst, dass das kommt! Warum hast du dich nicht darauf vorbereitet? Es hätte vollauf genügt, wenn du dir irgendeine glaubhafte Ausrede hättest einfallen lassen. Und nun druckst du hier rum und weißt weder ein noch aus. Schöne Scheiße!
Während er weitergrübelte, schienen sie ihr Ziel erreicht zu haben. Jerome stoppte, und Paul hätte ihn fast umgerannt. Glücklicherweise schien Jerome nicht mehr auf eine Antwort zu warten. Etwas hatte ihn abgelenkt. Er führte sein Gesicht nah an seines heran, und einen Augenblick glaubte Paul, er wollte ihn küssen. Das war natürlich albern. Aber dennoch war er drauf und dran, ein Stück zurückzuweichen. Und da flüsterte Jerome ihm ins Ohr (und der Teufel soll mich holen, wenn da nicht eine gehörige Portion Ehrfurcht und Stolz mitschwang): „Sieh dir den Burschen da drüben an! Ich schwöre dir, der wird mal ein Großer.“
Paul tat, was von ihm verlangt wurde.
Ihm gegenüber stand ein Typ Anfang zwanzig. Fast noch ein Milchbubi. Seine Hosenbeine waren so dünn, als hätte er gar keine Beine darunter. Sein Pullover war rotschwarz kariert, dass einem die Augen schmerzten, wenn man ihn länger als zehn Sekunden betrachtete. Der magere Rest schien ebenso kräftig zu sein wie die nicht vorhandenen Beine. Nur der Kopf fiel aus der Reihe. Der war phänomenal. Wenn der liebe Herrgott am restlichen Körper gespart hatte, als es an den Kopf ging, musste er in Spendierlaune gewesen sein. Er war viel zu groß für den Rest. Die ganze Erscheinung erinnerte an eine Spaghetti, auf die man eine Wassermelone gesteckt hatte. Dazu schmückte feuerrotes Haar dieses Haupt, und in seinem Gesicht stritten sich Pickel und Sommersprossen um die Vorherrschaft. Der arme Kerl konnte einem leid tun, beendete Paul seine Schnelleinschätzung. Der Typ war ihm zuwider, und er machte keinen Hehl daraus.
„Wer ist das denn? Der sieht ja zum Fürchten aus!“
„Zugegeben, er ist ein bisschen eigentümlich, aber …“
„Eigentümlich? Ich würde eher hässlich sagen! Wenn mein Gesicht so aussehen würde, wäre ich schon längst mit dem Kopf voran in eine Kreissäge gerannt. Und der traurige Rest … da fehlen mir einfach die Worte.“
„Ich weiß ja, was du meinst. Aber schreiben kann der Bengel, Junge, Junge, du kriegst die Tür nicht zu! Der versteht es, die Leser zu fesseln!“
„Aha.“ Pauls Begeisterung hielt sich in Grenzen.
„Wenn ich’s dir sage! Ich hab sein Manuskript gefressen. Mehr als achthundert Seiten in weniger als drei Tagen. Hab kaum gepennt.“
Schon wieder kam von Paul nur ein „Aha“. Allerdings klang es jetzt anders. Er kannte Jerome und wusste, wie er tickte. Auch er, Paul, war damals von ihm entdeckt worden. Er hatte Pauls steinigen Weg zu einem Verlag geebnet. Ihm war es zu verdanken, dass sein erstes Buch gedruckt worden war. Der Erfolg mit der Schreiberei, diese Seite der Medaille, gehörte Paul selbst, aber überhaupt erst die Chance bekommen zu haben, das gehörte allein Jerome. Also musste an diesem Burschen wohl was dran sein …
„Na schön, du meinst also, er hat was auf dem Kasten, ja? Was ist denn sein Genre?“
„Fantasy. Genau wie deins.“
„Genau wie meins“, wiederholte Paul. Er konnte nicht erklären, warum, aber mochte diese picklige Bohnenstange nicht.
„Hat er schon was veröffentlicht?“
„Hat er.“
„Und was?“
Paul bekam mehr und mehr den Eindruck, dass er verarscht wurde. Warum rückte Jerome nicht mit der Sprache raus? Muss ich ihm denn alles bröckchenweise aus der Nase ziehen? Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, hierher zu fahren. Er merkte, wie seine Laune sank. Das durfte er nicht zulassen. Mit zitternden Händen führte er die Zigarre zum Mund. Schon nach dem ersten Zug beruhigte sich sein Puls.
„Er hat Vogelkind geschrieben.“
„Is nich wahr! Ehrlich?“
Diesmal war die Verblüffung echt. Mit so was hatte er nicht gerechnet. „Vogelkind“ hatte er erst vor kurzem gelesen, und er hatte nicht ohne Neid anerkannt, dass es das beste Buch war, das er seit langem gelesen hatte. Er war sogar überzeugt gewesen, selbst nie so etwas Geniales, Spannendes, Urkomisches und Ergreifendes zustande zu bringen. Das hatte er natürlich für sich behalten.
„Dein Gesicht verrät mir, dass du es kennst.“
„Na hör mal! Es ist in allen Bestsellerlisten eingeschlagen wie eine Atombombe. Es hat alles andere hinter sich gelassen.“
„Das ist noch nicht alles. Das Beste kommt noch.“ Jerome sprach hastig. „Ich hab ihn meinem Konkurrenten vor der Nase weggeschnappt. Na gut, weggeschnappt ist nicht das richtige Wort. Er wollte ihn nicht publizieren. Hat den Wert dieser Perle nicht erkannt.“
„Bei dir war das natürlich anders. Stimmt’s, oder hab ich recht? Du hast es natürlich von Anfang an gewusst, nicht wahr?“
„Zu meiner Schande muss ich zugeben, dass das nicht stimmt. Die ersten hundert Seiten mussten noch überarbeitet werden, und darum war ich auch noch skeptisch. Aber dann hat mich ein Feuer gepackt, das mich bis zum letzten Wort nicht mehr losgelassen hat. Ich war begeistert und sagte ihm noch am gleichen Tag, dass ich es nehme. Keine vier Wochen später lag es druckreif vor mir. Der Rest war Kinderkram. Ein Verlag war schnell gefunden, und das andere kannst du dir denken. Wenn ich an die Provision für die zweite Auflage denke, macht mein Herz immer noch Freudensprünge!“
„Hat er schon was Neues?“
„Jo, hat er.“
Jeromes Gesicht verriet, dass auch diese Provision saftig ausfallen würde. Und das hatte er sich auch verdient. Schließlich war es nur ihm zu verdanken, dass hier ein neuer Stern am Autorenhimmel aufgegangen war.
„Jetzt aber genug getuschelt. Ich komm mir schon vor wie eine Frau. Lass uns zu ihm gehen.“
„Genau. Nicht, dass der Kleine sich noch einsam fühlt.“
Keine fünf Minuten später waren alle drei in ein munteres Gespräch vertieft. Paul stellte ein wenig schuldbewusst fest, dass sein Gegenüber ein amüsantes Kerlchen war, Stelzenbeine hin oder her, Hässlichkeit hin oder her. Er hatte sich mal wieder vorschnell eine Meinung gebildet. Schmunzelnd dachte er an den Moment, als seine Abneigung schwand: genau da, als der junge Kollege ihm erzählte, dass er jedes Buch von ihm gelesen hatte. Und er hatte sie nicht nur gelesen, sondern war von ihnen auch inspiriert worden.
„Sie sind es gewesen, der mich in die Welt des Schreibens geführt hat. Sie haben meine Welt mit Bildern erfüllt. Sie haben meinem Leben einen Sinn gegeben. Ich bin Ihr größter Fan.“
Danach war das Eis geschmolzen. Zugegeben, der Spruch war nicht sehr originell. Aber aus diesem Mund, dessen Besitzer etwas von seinem Handwerk verstand und wusste, wovon er sprach, bedeutete es ihm schon einiges. Es war Anerkennung unter Berufskollegen. Der putzige kleine Kerl wurde ihm immer sympathischer.
„Jungs, geht doch schon mal in den Wintergarten! Paul, du kennst ja den Weg.“ Mit diesen Worten erhob sich Jerome, stapfte zur Hausbar und mixte drei Gläser randvoll mit Teufelspisse, wie er es nannte. Das Gesöff trug den Namen mit Recht. Die genaue Mixtur hatte er noch niemandem verraten. Obwohl Jerome schnell wieder zu den beiden Goldeseln zurückwollte, wurde er ständig von anderen Gästen aufgehalten. Inzwischen hatten Paul und Vincent (so hieß der Picklige) es sich auf Stühlen bequem gemacht.
„Er ist `ne Wucht, oder?“ fragte Vincent.
„Wer? Jerome? Ja, das ist er. Ohne Frage.“
Sie unterhielten sich über dieses und jenes, rauchten ein paar Zigaretten (die Zigarre war längst aufgeraucht) und quatschten, als ob sie sich seit Jahren kannten. Irgendwann gesellte sich auch Jerome wieder zu ihnen.
„Die anderen labern nur über Fußball, das letzte Golfturnier und all dieses Pipapo.“ Er brachte drei randvolle Gläser und stellte sie auf den Tisch. Und als ob er eine Schicht im Bergwerk gearbeitet hätte, ließ er sich seufzend auf einen Stuhl fallen, schnorrte eine Kippe und qualmte vor sich hin.
Paul starrte wissend auf das Glas. Vincent, der nicht so recht wusste, was da vor ihm stand, sah nur einmal kurz hin und widmete sich dann wieder anderen Dingen. In der Nase bohren, zum Beispiel.
Jerome räusperte sich, hob das Glas und setzte zu einem Trinkspruch an.
„Lasst uns trinken! Auf neue Projekte und eine allseits gute Zusammenarbeit!“
„Kreativ enorm ausgereift, Jerome!“
Auch die anderen griffen nach den Gläsern, Paul etwas widerwilliger als Vincent, aber der wusste ja auch nicht, was ihn erwartete. Fast augenblicklich wurde Vincents Gesicht kahl und weiß wie eine Wand. Paul war es beim ersten Mal nicht anders ergangen.
„Meine Fresse, was ist denn das für ’n Giftcocktail? Der ist ja teuflisch!“
„Und genauso heißt er auch: Teufelspisse.“ Jerome amüsiert sich köstlich.
„Schmeckt so, als hättest du alles reingeschüttet, was du in der Bar hast. Und zur geschmacklichen Feinabstimmung noch einen Spritzer Motoröl hinterher, was? Junge, Junge, das Zeug hat’s in sich!“
Sein Gesicht war mittlerweile von aschfahl zu feuerrot übergegangen.
„Ich hab damals das Gleiche gesagt. Allerdings erst, nachdem ich mir die Lunge aus dem Hals gehustet hatte. Dieser Schweinehund rückt mit der Mixtur nicht raus! Er hütet sie wie Onkel Dagobert den Kreuzer Nummer Eins!“
Sie stimmten in ein herzhaftes Lachen ein; sogar Vincent schloss sich ihnen an, obwohl sein Hals brannte wie Hölle.
Eine halbe Stunde später mischten sie sich wieder unter die anderen Gäste. Man erzählte, scherzte, lachte. Auch Paul amüsierte sich. Der Abend entwickelte sich entgegen seiner anfänglichen Skepsis gut. Der befürchtete Fragenmarathon über den Verbleib von Jeannine blieb aus. Aber war das so überraschend? Schließlich waren die meisten Anwesenden Fremde und die, die er kannte, schienen mit sich selbst zu tun zu haben. Nur von Jerome und seiner Frau ging ein gewisses Risiko aus. Aber die waren mit anderen Gästen beschäftigt. Nur einmal wurde es kurz brenzlig.
Als sie im Wintergarten saßen, hatte Jerome ihn nach Jeannine gefragt – und da war guter Rat teuer gewesen. Aber obwohl er diesen Augenblick gefürchtet hatte wie der Teufel das Weihwasser, reagierte er mit einer Geistesgegenwart, die ihn selbst überraschte. Es war so einfach. Er setzte einfach ein sorgenvolles Gesicht auf und sagte: „Sie fühlt sich heut Abend nicht wohl.“ Wahrlich keine brillante Ausrede, doch Jerome schien sie zu schlucken. Er bestellte ihr liebe Grüße und gute Besserung, und damit war das Ganze gegessen.
Paul versenkte gerade den Blick in den Ausschnitt einer jungen Frau. Halt, hier bedarf es einer kleinen Richtigstellung, denn diese Öffnung als Ausschnitt zu bezeichnen, wäre nicht korrekt, schließlich ging sie ihr bis kurz unter den Nabel. Wenn sie sich nach vorn beugte (wie sie es gerade tat) meinte man, ihren schneeweißen Slip zu sehen. Paul war in diesen Ausschnitt versunken. Er war mit den Augen so tief hineingeklettert, dass er Vincent, der hinter ihm stand, gar nicht bemerkte.
„Paul, hast du nicht Lust, noch ein bisschen von dieser Teufelspisse zu süffeln?“ Vincent hätte gegen eine Wand sprechen können. Amüsiert beobachtete er, wie Paul fast die Augen aus den Höhlen fielen. Als nach zwanzig Sekunden noch immer keine Reaktion erfolgte, versuchte er es noch einmal.
„He, Paul! Fahr deine Radartüten wieder ein und schlag dir deine schweinischen Gedanken aus dem Kopf! Oder willst du hier mit einer Riesenbeule in der Hose rumlaufen?“
Tatsächlich, etwas regte sich in Pauls Hose. Er starrte blitzschnell woanders hin, doch in der Eile merkte er gar nicht, dass er längst wieder in ihr Dekolleté glotzte. Was ist nur mit mir los, verdammt? Die Antwort war einfach: Er war hammergeil. Er war scharf auf diese Frau. Er wollte sie haben. Er musste sie haben. Und am besten gleich hier und jetzt. Er wollte zu ihr gehen sie und ansprechen …
Doch stattdessen tat er das einzig Richtige: Er zwang sich, in eine andere Richtung zu sehen. Und das war bei diesem Bombendekolleté alles andere als einfach. So sehr er auch wegsehen wollte, sein Blick blieb auf den Vorbau gerichtet. Und sein Denken drehte sich nur noch um eins.
Paul schüttelte den Kopf. Es half nicht. Aber zum Glück gab es ja noch die Schmetterlingbrummer-Methode, und die musste einfach funktionieren. Hinter der Frau mit dem Ausschnitt bis zur Kniescheibe stand noch eine Frau. Und sie war das blanke Gegenteil. Sie war schätzungsweise Anfang sechzig, konnte aber auch gut und gern darüber hinaus sein. Ihr genaues Alter zu schätzen war schwer, wenn nicht unmöglich. Sie war geschminkt bis zum Gehtnichtmehr. Außerdem schien sie mehr als ein dutzend Mal geliftet worden zu sein. Sie war … nun ja, untersetzt. Das Schrecklichste an ihr aber war, dass sie einen Pelzmantel trug. Ob sie Angst hatte, sich zu erkälten? Egal. Sie musste für die Zwecke genügen. Sie war perfekt dafür.
Obwohl es ihn Überwindung kostete, versuchte Paul, sich die Frau nackt vorzustellen. Anfangs kehrten seine Gedanken immer wieder zurück zu dem Wahnsinnsausschnitt. Es war, als wehre sich sein Hirn. Aber er musste es tun, schließlich war er noch immer ein verheirateter Mann, und was würde Jerome sagen, wenn er dieser Braut nachstellte, während Jeannine mit Fieber oder weiß der Geier was im Bett lag? Also versuchte Paul etwas, was unmöglich schiefgehen konnte: Er stellte sich den alten Drachen nicht nur nackt vor, sondern zog ihr einen Tanga, einen aufreizenden Büstenhalter, feuerrote Lackschuhe und eine durchsichtige Strumpfhose über die runzlige Haut.
Zugegeben, es war fies von ihm. Aber es half. Und heiligt nicht die Not alle Mittel? Außerdem, warum sollte er ein schlechtes Gewissen haben? Schließlich würde die Frau nie erfahren, wozu er sie missbraucht hatte.
„Was? Was hast du gesagt?“
„Ich wollte nur wissen, ob wir uns noch mal an die Teufelspisse wagen wollen.“
Paul überlegte kurz und fand die Idee genial. Also watschelten sie zu Jerome, damit er ihnen das Gesöff mixte.
Mittlerweile war es nach Mitternacht. Ein Großteil der Gäste war schon längst verschwunden, und so wurde es im Haus immer ruhiger. Paul und Vincent waren nur noch damit beschäftigt, einen Drink nach dem anderen zu kippen. Auch ihr Gastgeber hatte Mühe, gerade zu stehen.
„Männers“, lallte er, „einer geht noch!“
Die Luft roch nach Tabak und Alkohol und erinnerte an eine Hafenkneipe. Auf den Fliesen lagen zertretene Kippen, umgekipptes Bier trocknete neben Schnapsgläsern, und dazwischen pennte eine Schnapsleiche. Leise dudelte die Stereoanlage. Irgendein Schund. Kuschelrock, die Zweimillionste, vermutete Paul.
Sie saßen auf den Fliesen einander gegenüber, bliesen Qualm in die Luft und hatten Mühe, aufrecht zu sitzen. Die Musik stimmte Paul plötzlich traurig. Sie führte ihm die Ereignisse der letzten Tage in Erinnerung. Nun bedauerte er, was geschehen war. Zum ersten Mal bedauerte er es richtig. Er wünschte, es wäre nie so weit gekommen. Er war zwar schon vorher todtraurig gewesen, aber erst jetzt wurde ihm die Veränderung bewusst. Nichts würde mehr so sein, wie es gewesen war. Ihre Wege hatten sich getrennt; Jeannine ging in die eine und er in die andere Richtung. Der Unterschied war nur: Sie hatte diesen Weg gewählt. Seiner war ihm aufgezwungen worden. Und sie hatte die Kinder. Und was hatte er? Nichts. Scheiß auf das große Haus und scheiß auch auf den Porsche. Auf das Geld erst recht, davon bekommt sie ohnehin noch die Hälfte. Das ist alles Mist, die Familie war viel wichtiger. Nur schade, dass er das erst jetzt kapiert hatte. Jetzt, da er sie verloren hatte. Oh, wie wünschte er, das alles wäre nie geschehen!
„Paulchen, was ist mit dir? Ist was nicht in Ordnung?“ Jerome sah vom Glas auf, in seinen Augen stand Sorge. Vielleicht gab das ja den letzten Stoß. Jedenfalls konnte Paul sich nicht mehr beherrschen. Es brach aus ihm heraus.
„Sie hat mich verlassen.“
Die Worte kamen schnell über seine Lippen. Viel schneller, als er es gedacht hätte. Sie waren schon gesagt, ehe sein Mund den Befehl dazu hatte geben können.
Jerome war entsetzt. Er sah ihn fassungslos an und schien seinen Ohren nicht trauen zu wollen.
„Was? … Was? Was redest du da? Das ist doch unmöglich!“
„Ich wünschte, es wäre so. Du kannst dir nicht vorstellen, wie. Aber leider ist es die traurige Wahrheit. Sie ist weg und wird nie wiederkommen.“
„Ich glaub das einfach nicht! Ihr seid doch immer ein so gutes Team gewesen. Du willst mich verarschen, oder?“ Er sah ihn fragend an, aber der Blick, der ihn traf, verriet ihm, dass dies keineswegs der Fall war. Verlegen rutschte er hin und her und sah, dass es auch Vincent nicht wohl in seiner Haut war. Wie sollten sie sich ihm gegenüber verhalten? Vincent hatte Jeannine weder kennengelernt noch je gesehen. Er wollte etwas sagen, ihn aufmuntern. Aber wie sollte er das tun, was sollte er sagen? In einer solchen Situation war alles falsch und nichts richtig.
Ein paar Sekunden lang schwiegen die Männer.
Jerome musste das erst einmal verdauen. Sie hat ihn verlassen, ich kann es nicht fassen! Was war geschehen? Was trieb sie dazu? Warum hatte sie das nur getan? Mit Grausen malte er sich aus, wie er reagieren würde, wenn seine Frau ihn verlassen würde. Eine Welt würde zusammenbrechen, es wäre…
Paul riss ihn aus den Gedanken.
„Ich gehe. Ich hätte das nicht sagen sollen. Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe.“
„Wo willst du hin?“, fragten Jerome und Vincent wie aus einem Mund.
„Wie, wo will ich hin? Was soll die Frage? Nach Hause natürlich! Wohin denn sonst?“
„In deinem Zustand fährst du keinen Meter mehr! Nur damit das von vornherein klar ist!“
„Ja, das wäre Wahnsinn“, stimmte Vincent ihm zu, „glatter Selbstmord, wenn du mich fragst!“
„Tue ich aber nicht.“ Paul war erregt und zornig. Mit welchem Recht verbieten die mir eigentlich, heimzufahren? Ich kenne den Weg wie meine Westentasche! Ich könnte ihn blind fahren! Er machte Anstalten sich aufzurichten, aber Jerome war schneller und drückte ihn wieder zu Boden.
„He, was soll das? Lasst mich gefälligst!“ Paul war verdutzt, aber noch mehr verärgert. Jerome ließ sich davon nicht beeindrucken.
„Du fährst nirgendwohin, basta!“
„Und warum nicht?“ Paul war immer ein Trotzkopf gewesen.
„Warum nicht?“ Jerome äffte ihn nach. „Was für eine blöde Frage! Weil du sternhagelvoll bist, deshalb! Du bist so voll, dass du kaum noch gerade sitzen kannst, von Fahren mal ganz zu schweigen!“
„Na und?“ Paul benahm sich wie ein kleines Kind, das etwas will, es aber nicht bekommt. Kurz gesagt: Er wurde bockig.
„Ich sag es noch mal: Du bleibst hier. Basta.“
„Genau.“ Auch Vincent ließ wieder einen Kommentar los. Es ging ihm auf den Wecker, dass die beiden sich fast in den Haaren lagen. So sollte der Abend nicht enden. „He, Jungs“, fuhr er sie an, „haltet den Ball flach, ja? Es bringt doch nichts, wenn ihr euch die Köpfe einschlagt! Damit ist niemandem geholfen. Lasst uns lieber noch ein Weilchen hier sitzen, noch einen oder zwei heben und wieder freundlich zueinander sein. Später sucht sich dann jeder einen Platz für die Nacht. Ich für meinen Teil bin dann bestimmt so blau, dass ich sogar im Stehen penne. Was haltet ihr davon?“
Sie dachten darüber nach.
Und entschlossen sich schließlich, seinem Vorschlag zu folgen.
Jerome mixte noch ein paar Drinks, und unterdessen suchte Paul einen anderen Radiosender, der nicht alle naselang Trauermärsche spielte.
Nach dieser kleinen Meinungsverschiedenheit war die Stimmung nicht mehr die alte. Sie saßen einander gegenüber, diesmal jeder auf einem Sessel, denn auf den Fliesen war es kalt geworden. Rings um sie lagen Schnapsleichen, die so laut schnarchten wie Ochsen und gelegentlich irgendetwas lallten.
Jerome dachte mit Schaudern an den Müll, der hier rumlag und an die Stunden, die es dauern würde, diesen Saustall wieder in Ordnung zu bringen. Vincent freute sich tierisch auf den nächsten Abstecher ins Bordell. Er konnte es kaum noch erwarten. Er war schon so etwas wie ein Stammgast dort. Mehrmals in der Woche stattete er seinem Lieblingsetablissement einen Besuch ab und ließ jedes Mal nicht eben wenig Geld dort. Darum tat es ihm nicht leid. Was ihm aber leid tat (obwohl er natürlich Spaß hatte) war, dass nie Liebe mit im Spiel war. Nicht ein Funke. Es war nur ein Geschäft, einzig und allein ein Geschäft. Und das schmerzte ihn.
Paul, der mit Abstand am meisten gebechert hatte, hatte damit zu tun, nicht vom Sessel zu rutschen. Er bereute es jetzt, dass er es erzählt hatte.
„He, Paul!“
Es dauerte eine Weile, ehe die Worte sein umnebeltes Gehirn erreichten.
„Was ist los, Kleiner?“
Vincent blickte unschlüssig drein. Er überlegte, ob es böse gemeint war, entschied sich dann, dass es das nicht war und suchte nach passenden Worten. Wieder vergingen Sekunden, und dann meldete Vincent sich wieder – allerdings anders als erwartet. Statt etwas zu sagen, schnarchte er lautstark.
Paul lachte. Diese Jugend, dachte er, halten nichts mehr aus, die jungen Burschen! Mit einem fröhlichen Pfeifen zog er an seiner Kippe. Seine gute Laune war schlagartig wieder da. Er drehte sich in Jeromes Richtung und lachte.
„Ist das denn die Möglichkeit? Der pennt wie ein Murmeltier!“
Jerome hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt. Auf den ersten Blick schien es unmöglich, so verdreht dazusitzen und dabei auch noch zu schlafen. Paul musste ein zweites Mal hinsehen. Er konnte es kaum glauben, aber es blieb so: Jerome schnuffelte tief und fest. Paul lachte ohne jegliche Hemmungen, und er hörte erst auf, als jemand hinter ihm unwirsch stöhnte. Da es aber nur ein verschlafenes Stöhnen war, machte er weiter. Irgendwann dann hatte er davon genug. Es kündigte sich bereits ein leichter Kopfschmerz an, und er erhob sich schwerfällig. Das war alles andere als leicht, weil er ziemlich betrunken war und der blöde Sessel partout nicht stehenbleiben wollte. Nach einigem Hin und Her, bei dem er es auch nicht versäumte, dem Sessel ein „Sitz!“ zu befehlen, gelang es ihm schließlich.
Den Frechdachs von Sessel zu besiegen, war aber nur die halbe Miete. Paul stand noch einiges bevor. Auf wackligen Beinen stolperte er durchs Zimmer. Er kam sich fremd vor, wie ein Einbrecher. Alles um ihn herum lag in tiefem Schlaf, und er tappte durch eine fremde Wohnung. Ein Einbrecher machte es nicht anders. Der Gedanke war so absurd und gleichzeitig so komisch, dass er schon wieder zu lachen begann. Diesmal um einiges lauter. Lange würde es nicht mehr dauern, bis er die ersten aus ihrem Delirium riss. Zum Glück gab es ein totsicheres Mittelchen dagegen: Er biss sich auf die Lippe, und der Schmerz trieb ihm sein Gelächter schnell wieder aus.
Nachdem er sich etwas gefangen hatte, trottete er weiter. Er wusste nicht recht, was er vorhatte, war sich gleichzeitig aber auch nicht sicher, ob er das überhaupt wissen wollte. Langsam schlich er an den Sessel, auf dem Jerome schnarchte und stapfte mit hängenden Schultern an ihm vorbei wie Quasimodo, der Glöckner von Notre Dame. Einen Moment dachte er, es sei sein schlechtes Gewissen, das ihn verleitete, krumm zu gehen, dann merkte er, es lag am Suff.
Was habe ich vor? Warum schleiche ich hier wie ein Dieb in der Nacht rum? Und warum zum Teufel werde ich das Gefühl nicht los, dass es mir kein bisschen gefallen wird? Pauls Unbehagen wuchs mit jeder Sekunde. Vielleicht war es ja doch so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Wer konnte das so genau sagen?
Schließlich trugen seine Füße ihn zur Hausbar. Sein Erstaunen darüber wich schnell Erleichterung. Im Gedanken hatte er sich schon bei etwas weitaus Schlimmerem gesehen. Er war überzeugt davon gewesen, den Safe plündern zu wollen. Oder, was noch schlimmer gewesen wäre, er hatte sich selbst gesehen, wie er mit Benzinkanister und Streichhölzern bewaffnet irre gackernd durch die Bude rannte. Und er hatte sich mit Jeromes Ferrari auf einen Baum zurasen sehen. Das alles wäre katastrophal gewesen; wenn es dabei blieb, die Hausbar zu plündern, konnte er das gerade noch mit seinem Gewissen vereinbaren. Und während er das noch dachte, griff er schon wie ein Schiffbrüchiger nach allem, was ihm in die Finger kam und stürzte torkelnd damit aus dem Haus.
Das Ergebnis seines Raubzuges konnte sich sehen lassen. Es war so viel, dass es an ein Wunder grenzte, dass er nicht vornüber fiel. In den Händen hielt er eine Schachtel kubanische Zigarren, drei Flaschen edelsten Whiskey und zu guter Letzt noch zwei Flaschen Rum. Ein beachtlicher Fang.
Paul entriegelte die Tür an seinem Wagen, warf alles nach hinten auf den Notsitz, hüpfte hinein und startete.
Keine fünf Minuten später fuhr er lachend durch die Dunkelheit. Sein Gelächter klang hysterisch und es war so laut, dass es sogar den Motor übertönte. Er hatte echt eine Menge gebechert, aber seltsamerweise war von seinem Rausch nicht mehr allzu viel übrig. Jedenfalls empfand er es so. Er fühlte sich so nüchtern wie seit Tagen nicht mehr. Nicht nur das versetzte ihn in Euphorie – es kam auch noch hinzu, dass er sich fühlte, als könne er mit bloßen Händen Bäume ausreißen. Glatt zwanzig Jahre jünger. Ein geiles Gefühl.
Irgendwo tief in seinem Inneren wusste ein verborgener Teil von ihm (sagen wir einfach, sein rationales Denken, okay?), dass er keineswegs nüchtern war, sondern sternhagelvoll. Und dieser tief verborgene Teil wusste auch, dass eine Menge schiefgehen kann, wenn man in diesem Zustand den Fehler beging, ein Fahrzeug zu lenken. Dieser niedliche, klitzekleine Teil hätte am liebsten laut gekreischt – wie eine Frau, der eine Spinne mit langen, eklig behaarten Beinen über den Weg läuft. Da dieser Teil nun aber nur ein niedliches kleines Bürschchen war, vollbrachte er nur ein Flüstern. Schließlich musste er gegen eine nicht unerhebliche Menge Rauschmittel und gegen fast ebenso viele körpereigene Endorphine ankämpfen, und das war für den kleinen Racker einfach zu viel. Egal, was er auch versuchte, um auf sich aufmerksam zu machen: Es reichte nicht, um bis zu Pauls Verstand durchzudringen. Was zu ihm durchkam, war nur die verräterische Stimme des Leichtsinns. Sie sprach so deutlich zu ihm, als säße sie auf seinen Schultern: Gib ruhig noch etwas mehr Gas! Los, komm schon! Oder traust du dich etwa nicht?
Und ob Paul sich traute! Er packte das Lenkrad noch fester, klemmte die Whiskeyflasche zwischen die Oberschenkel und gab Vollgas.
Wie ein Hurrikan sauste der Porsche durch die Dunkelheit. Die Geschwindigkeit wäre schon im nüchternen Zustand grob fahrlässig gewesen, da er aber alles andere als nüchtern war, war es mehr als nur wahnsinnig. Es war selbstmörderisch. Seine Reaktionen und Bewegungsabläufe waren beängstigend langsam. Um die Flasche an seinen Mund zu führen, brauchte er sagenhafte fünfundzwanzig Sekunden. Aber sein Zustand hatte trotz allem einen Vorteil: Er verschwendete weder an Jeannine noch an Jerome einen Gedanken. Einen kurzen Moment fragte er sich, wie er reagieren würde, wenn er sah, was Paul hatte mitgehen lassen. Aber das dachte er nur kurz, bevor er losgefahren war. Jetzt war auch das in weite Ferne gerückt.
Der Porsche schoss wie ein Pfeil durch die Nacht und dröhnte und fauchte wie ein Jet. Gar kein so ungewöhnliches Geräusch, wenn nicht ständig das Getriebe aufgeschrien hätte, weil er beim Gangwechsel das Kuppeln vergessen hatte. Paul litt beinahe mit dem Getriebe mit und nahm sich fest vor, es beim nächsten Mal bestimmt zu tun. Aber als es dann soweit war, war der gute Vorsatz vergessen und das Getriebe kreischte und knirschte, als hätte es Sand als Schmiermittel.
Mit einem Mal wurde es schwarz und still um ihn herum. Die Dunkelheit und Stille kamen so plötzlich, dass er erst gar nicht bemerkte, was da vorging. Als wäre er in eine andere Dimension gewechselt. Alles verschwand. Nichts war mehr da.
Schläfrig blinzelte Paul. Alles um ihn herum war grell, als säße er direkt neben der Sonne. Etwas war ganz und gar nicht so, wie es hätte sein sollen. Aber im Moment bemerkte er davon noch nichts. Er spürte nur einen ungeheuren Druck auf seinem Körper lasten, ohne zu wissen, woher er kam.
Paul schloss die Augen wieder; es war zu grell. Die gleißende Helligkeit drang sogar durch seine Lider. Es war so hell, dass er befürchtete zu erblinden.
Der Druck verstärkte sich noch etwas, aber ohne seine Herkunft preiszugeben. Ihm wurde immer unheimlicher zumute. Nur ein klein wenig stärker, und ich werde zerquetscht wie ein Insekt! Lag er? Saß er? Oder stand er? All das entzog sich seiner Kenntnis. Und das ängstigte ihn so, dass er zitterte wie ein Kind in der Dunkelheit. Paul hatte noch nie zuvor solche Angst gehabt – und seien wir mal ehrlich: Es war auch verständlich. Schließlich weiß man immer, was man gerade tut. Ob man jetzt sitzt, liegt oder steht, man weiß es einfach. Es sei denn …
Es sei denn, man ist tot.
War er das vielleicht? War er gestorben?
Seine Gedanken geisterten fieberhaft umher. Ist das möglich? Ist das möglich? He, du Idiot! Wann willst du denn deiner Meinung nach gestorben sein? Glaubst du nicht auch, dass du das bemerkt hättest? Aber ein anderer Teil seines Verstandes meinte: Was soll ich denn bemerkt haben? Denkst du etwa, der Tod kommt mit Pauken und Trompeten, um einen zu holen? Nein, der kommt lautlos und auf schnellen Sohlen, verrichtet sein Geschäft und zieht weiter zur nächsten bemitleidenswerten Seele, deren Zeit abgelaufen ist! So sieht’s aus, Alter, so und nicht anders! Also, was bitteschön, soll ich bemerkt haben?
Wie lange sann er nun schon darüber nach? Waren es Sekunden? Waren es Tage oder sogar schon Jahrhunderte? Ihm kam es vor wie ein paar Sekunden. Aber konnte er sich dessen sicher sein? Vergeht die Zeit, wenn man tot ist (vorausgesetzt natürlich, es gibt dann noch so was wie Zeit) schneller? Oder langsamer? Niemand kann das beantworten. Die, denen es möglich wäre, schweigen, denn als Leiche schwätzt man bekanntlich nicht viel.
Entgegen aller widrigen Umstände amüsierte ihn diese Vorstellung. In seiner Phantasie sah er sich in einem Eichensarg liegen, stilvoll gekleidet: schwarze, bis zur Perfektion geputzte Schuhe, in denen er sich hätte spiegeln können, tadellos gebügelter Anzug ohne kleinste Falte, und natürlich eine schwarze Krawatte. Wie sie sich mit dem Anzug vertrug! Eine Wucht. Sogar das streng nach hinten gekämmte Haar versprühte Klasse. Die Bartstoppeln waren sauber abrasiert; im Leben war es Paul nicht allzu oft gelungen, die Rasur unbeschadet zu überstehen …
Seine Amüsiertheit ging langsam über in einen Lachanfall, und genau in diesem Moment dämmerte ihm, woher der seltsame Druck kam. Er hatte seinen Ursprung direkt unterhalb seiner Schädeldecke, und durch das Lachen wurde er verstärkt. Trotzdem war es schier unmöglich, damit aufzuhören. Der Drang war einfach unwiderstehlich. Vielleicht lachte er ja auch nur aus Erleichterung darüber, noch nicht den Löffel abgegeben zu haben?
Eine Welle aus Schmerz stieg über ihn hinweg, und mit ihr stürzten Erinnerungsfetzen auf ihn ein. Sie waren klein und bruchstückhaft, aber da er ja momentan nichts anderes zu tun hatte, machte er sich daran, sie zusammenzufügen. Wer weiß, dachte er, vielleicht erfahre ich ja so, wo ich bin.
Irgendwo vor sich sah er eine Straße. Sie war asphaltiert, links und rechts mit Begrenzungspfeilern markiert und schimmerte schwärzlich. Paul sah sie deutlich vor sich, konnte aber nicht erkennen, wohin sie führte. Bäume säumten ihren Rand, aber ob sie der Grund dafür waren, dass er ihrem Lauf nicht folgen konnte, wusste er nicht. Vielleicht lag es nur daran, dass es so dunkel war.
Von irgendwoher tauchte ein Scheinwerferkegel auf und bohrte sich durch die Dunkelheit. Das Licht kam schnell näher, aber es war unschwer zu erkennen, dass es noch ein Stück entfernt war. Es war beängstigend zuzusehen, wie sich der Kegel lautlos seinen Weg durch die Dunkelheit bahnte. Wie ein Geist oder Irrlicht. Er bohrte sich durch die Dunkelheit, als wüsste er genau, wohin er wollte.
Nach kurzer Zeit gesellte sich zu dem Licht ein Brummen. Anfangs hielt Paul es für einen Bären. Aber was sollte bitteschön ein Bär mit Licht anfangen? Also verwarf er den Verdacht. Allem Anschein nach war es ein Fahrzeug.
Wieder verstrich einige Zeit.
Mit einem Mal wurde das Brummen lauter, und auch der Lichtkegel hüpfte hektisch. Was auch immer es sein mochte, es war nicht mehr weit entfernt. Plötzlich richtete der Lichtstrahl sich genau auf ihn, als nähme er ihn ins Visier. Jetzt endlich erkannte Paul, dass das Licht von zwei nebeneinanderliegenden Lampen stammte. Weil sie ihn blendeten, sah er zu Boden, ein Reflex, er tat es unbewusst. Was aber jetzt geschah, war nichts als purer Überlebenswille.
Paul riss die Augen auf. Sein Herz setzte aus. Unter seinen Füßen war Asphalt, vor ihnen war Asphalt, und neben ihnen ebenfalls. Da brauchte man keine hellseherischen Fähigkeiten, um zu wissen, wo man sich befand! Paul warf sich mit der ganzen Kraft seiner Beine nach links. Und genau das war sein Glück. Denn in diesem Moment kam das Fahrzeug herangerauscht. Obwohl Paul alle Kraft in den Sprung gelegt hatte, war es ihm, als käme er keinen Millimeter vom Fleck. Das Fahrzeug war jetzt schon gefährlich nahe. Der Fahrtwind schlug ihm wie eine Faust ins Gesicht. Und während er ihn spürte, war es ihm, als zerbrösele jeder Knochen in seinem Körper zu Mehl. Das war aber nichts im Vergleich dazu, was geschehen wäre, wenn er nur einen Wimpernschlag gezögert hätte. Jetzt erkannte er, dass der Wagen ein Porsche war. Aber es war nicht irgendein Porsche, es war sein eigener.
Wie war das möglich? Er musste sich verguckt haben. Dass er einer Sinnestäuschung erlegen war, war durchaus nicht weithergeholt, vor allem nicht nach diesem Kamikazesprung. Doch diese Erklärung akzeptierte Paul nicht. Er hatte das Kennzeichen gesehen. Alles hatte gepasst, von den Felgen bis zum Dach. Er liebte seinen Flitzer und kannte ihn wie seine Westentasche. Außerdem hatte er den Aufkleber „Stoppt Tierversuche! Nehmt Politiker!“ gesehen. Er pappte genau da, wo er sein sollte: rechts neben dem Nummernschild. Und hatte er nicht auch, als er die Luft gesegelt war, einen Blick auf den Fahrer erhaschen können? Er, Paul war es gewesen, er selbst, zweifellos. Aber wie war das möglich? Wie, zum Teufel?
Paul rollte aus, kam mit dem Rücken an einen Baum gelehnt zum Stillstand und starrte fassungslos dem Wagen hinterher. Die Bremslichter flackerten kurz auf, erloschen wieder, und dann wurde die Fahrt mit zunehmendem Tempo fortgesetzt.
„Scheißkerl, verfluchter!“, schimpfte Paul. „Wohl den Führerschein im Lotto gewonnen, was? Besoffenes Arschloch!“
Und da dämmerte ihm etwas, und er schreckte hoch.
Paul saß kerzengerade im Bett.
Jetzt war ihm endlich gekommen, was die Erinnerung ihm hatte sagen wollen: Er selbst war dieser Trunkenbold gewesen. Aber das war noch längst nicht alles. Das Schlimmste war, dass er in diesem Zustand Auto gefahren war. Benommen sah er sich um. „Wenigstens weiß ich jetzt, wo ich bin.“
Und mit diesen Worten flammte neuer heißer Schmerz in seinem Kopf auf.
Die plötzliche Helligkeit war unangenehm. Auch von ihr kamen die Kopfschmerzen, aber vor allem war der Alkohol schuld. Sein Schlafzimmer war hell, und das konnte nur bedeuten, dass es schon nach Mittag war. Paul seufzte und richtete sich auf. Der Schwindel und sein Kopf, der sich anfühlte, als wäre er zur Größe eines Medizinballes geschwollen, wollten ihn mit vereinten Kräften wieder flachlegen. Er kämpfte mit aller Macht dagegen an und schaffte es schließlich, wankend stehenzubleiben.
Das Schlafzimmer war ein Saustall: Klamotten lagen wild durcheinander, und es stank nach Alkohol und Qualm. Für den schlimmsten Gestank waren die Kotzlachen verantwortlich, die wie Pfützen auf dem Boden standen.
Mit brummendem Schädel stapfte er nach draußen. Diesmal lüftete er nicht. Er wollte nur hier raus. Mit Krachen flog die Tür ins Schloss. Paul erschrak. Und so hielt er erst einmal inne, um zu verschnaufen. Er stand auf dem Flur und hielt noch immer die Türklinke, als wäre seine Hand daran festgeklebt. Ihm war speiübel, sein Körper und sein Atem stanken bestialisch, sein Kopf dröhnte wie ein Presslufthammer, und er fragte sich, ob er den ganzen Alkohol, den er bei Jerome hatte mitgehen lassen, getrunken hatte. Die Frage war einfach zu beantworten. Dazu brauchte er nur in seinen Körper hineinhören, um zu wissen, dass er genau das getan hatte. Glauben konnte er es trotzdem nicht.
„Ich brauche ’ne Tasse Kaffee. Einen extrastarken. Einen, der mich wieder auf die Beine bringt.“
Seine Stimme klang schwach und zittrig.
Eine knappe Stunde später hatte er nicht nur eine Tasse, sondern eine ganze Kanne getrunken. Er war heiß und stark gewesen, aber Paul bezweifelte, dass er ihm nutzte. Er fühlte sich noch ebenso beschissen wie vorher. Das einzige, was sich geändert hatte, war der ständige Harndrang. Mittlerweile war er schon fünf Mal pissen gewesen, und allmählich wurde es Zeit für das sechste Mal. Schweiß lief in Bächen an ihm herunter, und nur eine Sekunde später überkam ihn eine Gänsehaut. Ihm war abwechselnd kalt und heiß, sein Hals kratzte, und seine Stimme war belegt. Nichtsdestotrotz redete er wie ein Wasserfall vor sich hin. Er laberte einfach alles nach, was ihm gerade in den Sinn kam, egal, ob es intelligent war oder Schwachsinn.
„Soso, du bist also noch Auto gefahren? Junge, Junge, Junge, was bist du nur für ein Teufelskerl! Der Kaffee ist schweineheiß. War ’ne tolle Party gestern, oder? Igitt, igitt, ich hab ja noch Kotze am Finger. Scheißegal. Zum Glück ist nix passiert …“
Da wurde ihm siedendheiß und kalt zugleich. Er erinnerte sich plötzlich, wie er sich durch einen Sprung in den Straßengraben gerettet hatte – und zeitgleich war er auch der Fahrer gewesen. Hatte das etwas zu bedeuten? Paul öffnete langsam den Mund, als ob er etwas sagen wollte, schloss ihn aber wieder und starrte in die Kaffeetasse, als stände die Antwort darin. Mit einem Mal sprang er wie von der Tarantel gestochen auf; in seinen Augen lag blankes Entsetzen. Im Hinterkopf registrierte er, dass seine Hand schmerzte, weil der heiße Kaffee, den er eben umgeschmissen hatte, darüber gelaufen war.
Wie von Sinnen sauste er aus der Küche und hastete den Flur entlang auf die Terrasse. Mit einem mächtigen Satz sprang er über die Hecke und kam neben dem Kotflügel seines Wagens zum Stehen. Der Sprint war ihm gehörig auf die Puste gegangen, und er musste erstmal verschnaufen. Aber sein Gehirn lief weiter auf vollen Touren. Es malte sich die schlimmsten Dinge aus. Was, wenn er jemanden angefahren hatte? Ihn verkrüppelt hatte? Seine Nackenhaare richteten sich auf. Vielleicht lebte dieser Jemand ja noch …? Vielleicht lag er ja noch schwerverletzt, blutend und mit gebrochenen Gliedern im Straßengraben …? Unentdeckt …? Noch immer auf Rettung hoffend, während er qualvoll und einsam starb …?
„Schluss damit!“, herrschte Paul sich an. Er war wieder bei Puste und begann den Wagen zu kontrollieren; auf allen Vieren kriechend suchte er jeden Millimeter der Karosserie ab. Er fand jedoch nichts außer einer kleinen Delle am rechten Kotflügel – und die war, da war er sicher, schon um einiges älter.
Obwohl er mit dem Ergebnis hätte zufrieden sein sollen, war er es nicht. Er setzte sich im Schneidersitz neben das rechte Vorderrad, klopfte mit den Fingern auf den Boden und dachte nach. Die Kopfschmerzen, die inzwischen so anschwollen, als starte ein Jumbo in seinem Kopf, waren in weite Entfernung gerückt. Der Boden kühlte seinen Körper aus, doch er blieb sitzen und sann darüber nach, was ihn hier herausgeführt hatte. Er sah aus, als wäre er zu einer Statue geworden; nur seine Finger bewegten sich, und seine Augen wanderten hin und her wie bei einem Träumenden. Seine Gedanken purzelten derweil durch sein Gehirn, und er lauschte ihnen beklommen.
Gut, sagten sie, der Porsche hat also keine neue Delle, Glück für dich! Aber heißt das auch, dass du niemanden angefahren hast? Erinnere dich, mein Bester! Du musstest einen mächtigen Hüpfer in den Straßengraben machen, sonst wärst du jetzt so platt wie eine Briefmarke. Vielleicht hat das ja zu bedeuten, dass es dem anderen genauso erging?
Mehr brauchte er nicht zu hören. Dieser Gedanke ließ die Sache in einem ganz anderen Licht erscheinen. Wenn es so gewesen war, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Bullen hier vor seiner Tür standen und unangenehme Fragen stellten.
„Schöne Scheiße“, sagte er sich, und wie zur Zustimmung nickte er. Er stellte das Geklopfe ein, robbte noch einmal um den Wagen herum (wer weiß, vielleicht hatte er ja beim ersten Mal etwas übersehen?), richtete sich schließlich auf und ging langsam zurück ins Haus. Seine Schultern hingen so tief, dass man meinen konnte, sie schleiften über den Boden, sein Rücken war gekrümmt wie eine Sichel, und seine Arme schlackerten bei jedem Schritt wie Götterspeise. Auch seine Beine zitterten, aber das legte sich nach wenigen Schritten.
Obwohl Paul nun schon eine Kanne Kaffee intus hatte, brauchte er unbedingt noch eine. Noch nie zuvor war sein Bedürfnis nach Kaffee so stark gewesen. Also kochte er sich die zweite Kanne des Tages.
Dreißig Minuten später ging es ihm schon besser. Der erhöhte Koffeinspiegel in seinem Körper beruhigte ihn. Langsamen Schrittes lief er durchs Haus. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie ruhig es hier war. Viel zu ruhig. Mucksmäuschenstill. Die einzigen Geräusche, welche die Stille unterbrachen, waren das gelegentliche Knacksen der Böden und der Möbel. Und seine eigenen Schritte. Ihr Tapsen war ungewöhnlich laut. Paul ermahnte sich, bedächtiger aufzutreten.
Die Finger seiner Rechten umfassten eine halbvolle Kaffeetasse, und zwischen denen der Linken qualmte eine filterlose Lucky. Es erstaunte ihn, wie schnell er wieder in seinen alten Trott gefallen war. Früher war er immer der Ansicht gewesen (und das war er jetzt wieder), dass nichts an den phantastischen Geschmack von Kaffee und Zigaretten herankäme. Jedes für sich war schon ein echtes Leckerli, aber gemeinsam gingen die beiden ein Duett ein, das noch um einiges besser war. Wie die zwei Stimmen einer bezaubernden Melodie gingen sie ineinander über. Da passte einfach alles. Er fragte sich ernsthaft, wie er so lange darauf hatte verzichten können.
Er schlenderte über den Flur und stimmte einen Singsang an. Sein Kopf war zum ersten Mal seit Stunden wieder frei. Er dachte kaum noch an die Fahrt mit dem Wagen und daran, was möglicherweise passiert war. Was kommen mochte, sollte kommen. Es lag nicht mehr in seiner Macht. Auch Jeannine war jetzt vergessen. Er war noch nie mit der Welt so im Reinen gewesen wie in diesem Moment.
Langsam öffnete er die Tür zum Arbeitszimmer (sein kreativer Bereich, wie er immer liebevoll sagte) und steckte den Kopf hinein. Es sah noch genauso aus, wie er es verlassen hatte. Alles lag wild verstreut herum. Außer der Palme war nichts verändert. Nur sah sie noch vertrockneter aus als zuvor.
Nachdem er alles inspiziert hatte und zu der Erkenntnis gekommen war, dass keine akute Gefahr bestand, trat er beruhigt ein. Schnurstracks steuerte er auf den Schreibtisch zu und verharrte mitten in der Bewegung. Sein Mund stand so weit offen, dass man einen Kürbis hätte hineinschieben können, und in seinem Gesicht zeigten sich tiefe Furchen. Es war nicht zu glauben. Einfach unmöglich. Oder vielleicht doch? Nein, unmöglich. Oder? Nein, nie!
Sein Gehirn ballte sich zusammen wie eine Faust, öffnete sich, ballte sich abermals zusammen und öffnete sich schließlich wieder. Es fühlte sich an, als würde es fast platzen, um gleich darauf wieder zusammenzuschrumpfen. War er einer Sinnestäuschung erlegen? Er schloss die Augen. In seinem Leben hatte er noch nicht allzu viel gebetet, doch jetzt tat er es. Obwohl er ungefähr ebenso viel an Gott glaubte wie ein Turnschuh. Er betete dafür, dass es verschwunden war, wenn er die Augen wieder öffnete.
Er wartete eine Sekunde.
Er wartete zwei Sekunden.
Dann öffnete er langsam erst das linke, dann das rechte Auge und lugte zwischen den Fingern hindurch. Es gelang ihm, ein verzweifeltes Seufzen solange zu unterdrücken, bis das rechte offen war. Denn schon als er das linke geöffnet hatte, war ihm klar, dass seine Gebete nicht erhört worden waren. Endlich löste sich die Sperre, und er setzte sich langsam in Bewegung, wie bei einem Spaziergang unter Wasser. So etwas Banales wie einen Fuß vor den anderen setzen kostete Kraft. Erschwerend kam noch hinzu, dass er mehr und mehr den Eindruck gewann, der Boden unter ihm würde wanken wie Schiffsplanken.
Ein paar Sekunden später (oder waren es Stunden?) erreichte er den Schreibtisch und kam, auf den Füßen wippend, vor ihm zum Stehen. In diesem Augenblick kam er sich vor wie ein Käfer: klein und schutzlos.
Seine Hand suchte Kontakt, machte sich eigenmächtig auf den Weg. Paul hielt den Atem an. Er war überzeugt, sich die Finger zu verbrennen, wenn sie die Oberfläche berührten. Die Sekunden, bis es soweit war, zogen sich hin wie Ewigkeiten. Innerlich wappnete er sich gegen den Verbrennungsschmerz. Er würde unerträglich intensiv und quälend sein.
Genau in dieser Sekunde berührten seine Fingerkuppen die Oberfläche, und er schrie auf. Es war noch schlimmer, als er es erwartet hatte. Aber nicht, weil es heiß war, sondern weil es vollkommen normal temperiert war. Hatte er etwas anderes erwartet? Sein Schreien ging über in leises Gelächter.
„Wie kommst dieser verfluchte Laptop zurück auf den Schreibtisch? Ich weiß doch genau, dass ich ihn vom Tisch gekickt habe! Und seitdem war ich nicht mehr hier drinnen. Wie also kommt er hier hoch?“
Er redete mit leiser, brüchiger Stimme. Und da er in dem Zimmer allein war, richtete er seine Frage an die vertrocknete Pflanze auf dem Fußboden.
Seine Finger glitten über die Tastatur hinweg und zitterten. Wer wusste, wie viele Stunden er auf sie eingedroschen und versucht hatte, einen einigermaßen brauchbaren Text aus ihr herauszuholen? An schlechten Tagen, wenn es nicht so gut lief, hatte er das verdammte Ding gehasst und an guten heiß und innig geliebt. Gott sei Dank hatte es mehr gute als schlechte Tage gegeben. All das führte er sich jetzt in Erinnerung und dennoch: Das Ding fühlte sich fremd an und schien ihm nicht mehr zu gehören. Ob das nun daran lag, dass es auf wundersame Weise den Weg zurück auf den Tisch gefunden hatte oder weil er ihm die Schuld dafür gab, dass Jeannette abgehauen war, wusste Paul nicht.
Während er noch darüber nachsann, sanken seine Finger plötzlich tiefer und drückten irgendwelche Tasten. Auch diesmal erschrak er. Ein Summen kam aus dem Gehäuse, und ein Text erschien auf dem Bildschirm.
„Aha“, flüsterte Paul etwas ruhiger. Schließlich war das etwas, was er verstand. Obwohl er zugeben musste, dass er gar nichts mehr verstand. „Bildschirmschoner also, soso.“
Wo kam der verdammte Text her? Er konnte sich weder daran erinnern, wann er den Laptop aufgehoben haben sollte noch, wann er in den letzten Tagen etwas geschrieben hatte. Obwohl ihm dies alles ein Rätsel war, konnte er nicht anders: Er musste den Text lesen.
Er hatte Mühe, die Schrift zu entziffern. Sie war viel kleiner als die, die er sonst zum Schreiben benutzte – vorausgesetzt natürlich, er war es gewesen, der den Text geschrieben hatte. Aber wer sollte es sonst gewesen sein? Wer?
Es war kalt. Viel zu kalt für die Jahreszeit. Der Wind pfiff eisig durch die dunklen Straßen, kroch in jede Ecke und Ritze, wirbelte Blätter auf und spielte damit sein Spiel. Nur vereinzelt standen ein paar Laternen auf den Straßen. Sie waren entweder kaputt oder zu schwach, um noch ihren Zweck zu erfüllen. Aber all das war unwichtig. Was einzig und allein zählte, war Jeannine und das, was sie trug.
Schon als sie um die Ecke bog (da war es noch etwas heller und nicht so kühl wie jetzt) hatte ihr Anblick ausgereicht, um bei ihm alle Sicherungen durchbrennen zu lassen. Und das, obwohl sie gar nichts Besonderes trug. Aber an einer schönen Frau sieht einfach alles atemberaubend aus. An den Füßen trug sie Stiefel, die ihr bis zu den Knien reichten; sie waren pechschwarz, und das weiße Futter schaute oben frech heraus. Ob sie eine kurze Hose trug oder einen kurzen Rock, war nicht ganz zu erkennen, denn ihre Jacke endete kurz über den Knien. Auch sie war pechschwarz, und ein Blinder mit Krückstock hätte sehen können, dass sie schon oft in der Waschmaschine gewesen war. Auf dem Kopf hatte sie eine Mütze, von der bunte Bommeln hingen wie lustige Zöpfe. Also alles durchaus normal, nichts Berauschendes. Aber, wie gesagt: Eine schöne Frau könnte auch einen zerlöcherten Kartoffelsack überziehen, sie würde einem trotzdem den Atem nehmen. Und Jeannine war eine wunderschöne Frau. Oh ja, das war sie. Sie hatte etwas an sich, das man nicht beschreiben konnte. War es dieses süße, unwiderstehliche Lächeln? Vielleicht. War es dieser tolle Körper? Dieser runde, wohlproportionierte Busen? Die herrlich prallen Pobäckchen? Die schönen langen Beine? Oder das Glitzern in ihren Augen? Man konnte sich nicht genau festlegen. Sie war einfach durch und durch eine Augenweide. Sie rannte mit den Armen wild wedelnd auf ihn zu und hüpfte auf und ab. Sogar das wirkte sexy.
Paul fand sich selbst nicht halb so anziehend. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und in ein Schaufenster geguckt, in einen Blumenladen. Dass Grün der Blumen und Blätter hatte ihn an den Sommer erinnert. Er hasste es, wenn es so kalt war. Doch Wind und Kälte waren sofort vergessen, als Jeannine auf ihn zugestürmt gekommen war. Ihm wurde nicht nur warm ums Herz, sondern auch heiß im Schritt.
Sie waren nun schon seit fast sieben Monaten ein Paar. Und in dieser Zeit war einiges passiert. Sie hatten sich gestritten, so wie es überall vorkommt, und hatten sich wieder vertragen, was auch mal vorkommt. Hatten sich geküsst und auch ein wenig am anderen herumgekrabbelt. Sie empfanden das als schön und intim, aber so richtig miteinander geschlafen hatten sie noch nicht. Trotz mancher Gelegenheiten war es noch nicht dazu gekommen. Sie ließen sich Zeit, den Körper des anderen zu entdecken. Niemand hetzte sie. Sie hatten alle Zeit der Welt für diesen letzten Schritt. Und wer weiß, vielleicht würde es ja heute geschehen? Vielleicht war ja heute der große Tag?
Das Glühen in seinem Schritt war zu einem Feuer geworden. Sein Penis hatte sich erregt aufgerichtet. Und obwohl es das natürlichste der Welt war, schämte Paul sich etwas dafür. Noch bevor sie ihn erreicht hatte, versuchte er, seinen kleinen Paul durch die Hosentasche greifend so hinzulegen, dass er nicht sofort zu erkennen war. Kein leichtes Vorhaben, schließlich ist so eine pralle Stange widerborstig. Aber Jungs in diesem Alter haben damit Erfahrung. Ihm war es schon mehr als einmal so ergangen, dass er mit den Gedanken abdriftete, meist in der Schule, weil es da ja langweilig war. Nicht selten handelte es sich um sexuelle Gedanken, in denen er sich selbst als tollen Hecht sah, der die Mädchen reihenweise abschleppte. Und wenn man dann in der Sekunde an die Tafel gebeten wird, in der man gerade ein riesiges Rohr in der Hose hat, konnte man schon schön in Bedrängnis geraten. Wohin mit dem ausgefahrenem Periskop? Draufhauen? Keine gute Idee, fällt auf und tut höllisch weh. Warten, bis er von allein wieder einschrumpft? Auch eine Möglichkeit, aber wie lange hätte er sitzen bleiben sollen? Und vor allem: Wohin mit den ganzen Sechsen, die er sich dann reihenweise einhandeln würde? Oder aber man knebelte ihn so in der Hose zusammen, dass von ihm nur noch ein Beulchen zu sehen war. Mit ein wenig Übung hatte man diesen Trick schnell raus, und Paul hatte genug Übung. Es dauerte also nicht lange, bis er ihn versteckt hatte und Jeannette entgegenlaufen konnte.
Der Schnee knirschte bei jedem Schritt. Es war schweinisch glatt und er strauchelte; dennoch konnte er es nicht lassen, ihr entgegenzustürmen und dabei wie ein Karnickel in die Höhe zu springen. Nach wenigen Sprüngen kam er vor ihr zum Stehen. Sie sahen einander in die Augen, beide außer Atem (vielleicht rauchten sie ja zu viel?) und fielen sich in die Arme. Er bewunderte ihre Schönheit und sog ihren erregenden Duft in sich ein. Jeannine ließ sich in seine Arme fallen und empfing einen heißen Kuss auf die kalten Lippen. Schlagartig wurde es ihnen wärmer.
Nachdem sie sich den Magen mit Ananaspizza vollgeschlagen hatten, gingen sie ins Kino. Auf dem Weg dorthin wären beide oft auf der Nase gelandet, hätte Paul sie und sich selbst nicht im letzten Moment abfangen können. Leider gelang das nicht immer, aber Jeannine (und das machte sie nur noch sympathischer) nahm es mit Humor. Er benötigte alle seine Kraft, und seine Muskeln schmerzten schon nach kurzer Zeit. Insgeheim verfluchte er diejenigen, die es nicht für nötig hielten, Sand oder Salz zu streuen. Jeannine schimpfte wie ein Rohrspatz über die Kälte, aber es war unschwer zu erkennen, dass es ihr trotzdem einen riesigen Spaß machte. Sie lachte und gackerte vor sich hin, und auch Paul wurde davon angesteckt.
Einige geglückte Stürze später kamen sie mit heiler Haut im Kino an. Sie lachten sogar noch, als sie längst in den Sesseln vor der Leinwand hingen.
„Wie oft bist du hingeplumpst?“
Paul sah an sich herunter, überschlug die nassen Flecken in der Hose und verkündete: „Mindestens fünfhundert Mal. Und du?“
„So an die tausend Arschrutscher waren es bestimmt.“ Das war natürlich bei beiden maßlos übertrieben.
„Weißt du, dass du mich mit deiner dicken Jacke an einen Seelöwen erinnerst?“
„Häh? Wie das denn?“
„Ja, ohne Scheiß.“ Sie lachte jetzt, und auch Paul lachte, obwohl er nicht so recht wusste, warum.
„Du hattest eine ziemliche Ähnlichkeit mit diesen Viechern! Jedes Mal, wenn du versucht hast, einen von uns wieder aufzurichten und sich deine Jacke ausbeulte, warst du ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich weiß auch nicht, wie ich’s anders erklären soll. Haben nur noch die Stoßzähne gefehlt und der Bart.“ Ihr Lachen klang fast schon ein wenig hysterisch, und Paul stimmte mit ein, obwohl der Scherz ja eigentlich zu seinen Lasten ging. Aber das war das Schöne an Jeannette: Er wusste, dass sie nur Spaß machte und ihn hochnehmen wollte. Und darum war er ihr auch nicht böse.
Sie knutschten den ganzen Film über, und am Ende wusste keiner so genau, um was es da eigentlich gegangen war. Sie wussten noch nicht mal den Namen des Schinkens.
Paul blickte vom Notebook auf und sah traurig an die Wand. An das, was er soeben gelesen hatte, hatte er seit Jahren nicht mehr gedacht. Es war vollkommen aus seinen Gedanken verschwunden. Er hielt das für etwas Normales. Schließlich waren seitdem mehr als zwanzig Jahre vergangen. Was ihn wunderte, war, dass er das jetzt ausgerechnet auf dem Bildschirm lesen musste. Das war nun alles schon so lange her. Er wusste ja noch nicht einmal mehr, wie dieser Abend weitergehen würde. Und jetzt fand er das ausgerechnet auf dem Bildschirm. Sonderbar.
Fragen über Fragen schwirrten ihm durch den Kopf. Das alles ging weit über sein Verständnis hinaus und gab eine Menge Rätsel auf. Wann er das geschrieben haben sollte, spielte nur eine untergeordnete Rolle. Wenn man es genau betrachtete, konnte er es im Suff getan haben. Das würde zumindest erklären, warum er sich nicht daran erinnern konnte. Das klang plausibel, aber er glaubte es dennoch nicht. Etwas daran war seltsam.
Um das Rätsel zu lösen, blieb ihm nichts anderes übrig, als weiterzulesen. Aber genau das wollte er nicht. Davor hatte er Angst. Schließlich war es ja gut möglich, dass er statt Antworten noch mehr Fragen erhielt.
Er überlegte, einfach aus dem Arbeitszimmer zu verschwinden. Einfach abhauen, die Tür hinter sich ins Schloss knallen lassen und nie wieder zurückkommen. Verdammt, das war mal eine richtig gute Idee. Genau das würde er tun.
Er sah von der Wand weg, blickte zur Tür und steuerte sie an. Er spürte, dass seine Beine einen Schritt gehen wollten, doch statt ihn dorthin zu bringen, sorgten sie dafür, dass er sich auf den Stuhl setzte. Das Merkwürdige daran war, dass er es zuerst nicht bemerkte. Vor seinem inneren Auge sah er sich zu Tür schlendern, raus aus dem Haus, weg von hier, irgendwo ein neues Leben anfangen, und dann verwehte dieser schöne Traum und was blieb, war die traurige Realität.
„Langsam glaube ich“, murmelte er, „ich verliere den Verstand. Ich sehe Dinge, die gar nicht da sind.“
Seine rechte Hand ruhte auf der Tastatur und bewegte mit dem Cursor den Text. Und da seine Neugier um einiges stärker war als seine Angst, las er weiter.
Langsam fiel die Wohnungstür ins Schloss. Die Eltern schliefen bestimmt schon längst, und sie wollten sie auf keinen Fall wecken. Außerdem durften sie nicht erfahren, dass Jeannette ihren Freund zu solch später Stunde mitbrachte. Sie wusste nicht, wie sie reagieren würden. Sie kannten ihn bereits und schienen ihn zu mögen. „Aber um Mitternacht ist Zapfenstreich“, hatte ihr Vater immer gepredigt, und da duldete er keinen Widerspruch, „da liegst du in der Falle – und zwar allein!“
Bisher hatten sie sich immer danach gerichtet. Aber heute knisterte es zwischen ihnen viel mehr als sonst. Als läge etwas in der Luft. Wie Elektrizität. Sie konnten förmlich auf der Haut spüren, wie sie kribbelte und nach und nach ihr Denken übernahm. Aber auch der verrückte Abend hatte sie wohl übermütig werden lassen … Auf Zehenspitzen schlichen sie am Schlafzimmer der Eltern vorbei. Auf der anderen Seite der Tür schnarchte ihr Vater ausdauernd. Er erinnerte an einen Holzfäller, der mit einer dröhnenden Kettensäge durch den Wald saust und unschuldigen Bäumen nachstellt. Paul konnte nicht anders, er musste kichern. Jeannine fand das gar nicht drollig: Sie stupste ihn in die Seite und sah ihn scharf an. Sein Lachen war leise, konnte also unmöglich in den Schlaf dringen. Aber der Teufel ist ein Eichhörnchen. Es konnte ganz fix gehen, und ihr Vater stand schlaftrunken in der Tür. Daran wollte sie lieber nicht denken.
„Was gibt’s da zu kichern?“, wollte sie wissen, als sie ihn endlich in ihr Zimmer bugsiert hatte.
„Wie kann deine Mom nur neben so einem Sägewerk pennen? Da braucht man ja einen Gehörschutz!“
„Das hab ich sie auch schon oft gefragt. Und weißt du, was sie darauf immer sagt?“
„Nö. Woher denn?“
„Ich habe halt einen festen Schlaf. Ist sie nicht süß? Sie liegt da, mausetot, und nennt das einen festen Schlaf! Man könnte sie mitsamt Bett auf die Straße stellen, sie würde keinen Furz davon mitkriegen und fröhlich weiterpennen. Ich springe bei jedem Geräusch aus dem Bett wie von der Tarantel gestochen, und sie schläft neben einem startenden Jumbo. Manchmal glaub ich echt, ich bin im Krankenhaus vertauscht worden!“
„Du glaubst ihr nicht, oder?“
„Ich hab dich nicht mit hergebracht, um über meine Familie zu quatschen.“
„Hört, hört. Warum bin ich denn hier?“
„Was für eine blöde Frage. So halt, aus irgendeinem Grund … Und weil ich Lust dazu hatte. Es war ein schöner Abend, heute. Und ich will noch nicht allein sein.“ Ihre Stimme klang sanft, noch sanfter als sonst.
„Ja, es war ein wundervoller Abend“, stimmte Paul mit der gleichen Säuselstimme zu. Und da er nicht wusste, was er sonst hätte sagen sollen, blickte er sich im Zimmer um. Wie schaffen es hübsche Mädchen nur immer, einen Mann fusselig und sprachlos zu kriegen? Hat darüber noch niemand eine Doktorarbeit geschrieben? Obwohl er nun schon ein paar Male hier gewesen war (am helllichten Tag, wohlgemerkt), tat er jedes Mal so, als wäre es das erste Mal. Jeannine fand das süß.
Paul bewunderte die Poster an der Wand. Er hatte noch nie ein Mädchen kennengelernt, das The Police oder die Beatles an der Wand hängen hatte. Allerdings konnte er die Mädchen, die er bislang näher kennengelernt hatte, an einer Hand abzählen. Aber sonst war es in diesem Zimmer nicht anders als in jedem anderen Zimmer in dieser Zeit. Außer vielleicht, dass Jeannine darin lebte, das Mädchen seiner Träume. Sie beschnupperten sich zwar noch immer gegenseitig, aber Paul glaubte fest daran, dass diese Liebe, ihre Liebe, ein Leben lang halten würde.
Ihr Zimmer war spärlich ausgestattet. In einer Ecke eine Couch, daneben ein Sessel, ein Bett und ein Schrank, und das war es auch schon. Kaum der Rede wert, würde man heute meinen, wo in fast jedem Zimmer ein Computer, ein DVD-Player, eine Stereoanlage und ein Fernsehgerät stehen. Aber für Paul war es etwas Besonderes. Hier verströmte alles ihren Duft. Und er liebte diesen Duft. Er war so schön blumig und erregend, und am liebsten würde er …
„Magst du was trinken? Ne Coke oder so was?“
„Oh ja, `ne Cola wäre echt klasse.“
Jeannine schlich aus dem Zimmer. Paul hockte sich auf das Bett. Ihm taten die Beine weh, am schlimmsten schmerzten die Ellenbogen.
Nach wenigen Sekunden kam Jeannine zurück. In den Händen hielt sie zwei Colaflaschen und eine Schachtel Zigaretten. Und in ihrem Gesicht stand etwas, was er noch nie zuvor an ihr wahrgenommen hatte. Dass es Lust war, sollte er erst später begreifen.
Sie setzte sich neben ihm auf das Bett und reichte ihm eine Flasche und eine Zigarette. Die Matratze ächzte kurz unter dem Gewicht ihrer Körper. Ihre Nähe tat ihm so gut. Er liebte sie, das stand außer Frage. Er roch den Duft ihrer Haare und schmeckte sogar noch ihren letzten Kuss auf seinen Lippen.
Paul war erregt. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Er wusste nicht, was er tun sollte. Einerseits war er spitz wie ein Seemann nach monatelanger Fahrt, aber andererseits wollte er sie nicht durch irgendwelche unbedachten Aktionen überfahren. Schließlich wusste er nicht, wie sie darauf reagieren würde. Wenn er Pech hatte, schmiss sie ihn in hohem Bogen aus der Wohnung. Wenn er aber Glück hatte …
„War ein schöner Abend, heute Abend.“ Sie schien sich einen Jux daraus zu machen, immer die Hälfte zu wiederholen. Vielleicht wollte sie auch nur die Stille unterbrechen, die sich einzuschleichen drohte.
„Oh ja. Das war er, dieser Abend.“ Allem Anschein nach war es ansteckend.
Und da war sie wieder, diese Stille. Nichts Besonderes, ruhige Momente kamen immer wieder vor, sogar mit Jeannine, die für ihr Leben gern quasselte. Manchmal ist Ruhe ja sogar erwünscht. Aber in diesem speziellen Fall war sie es nicht. Hier war die Stille erdrückend. Sie musste unterbunden werden, bevor sie etwas zerstören konnte.
Paul kratzte sich am Hinterkopf, und Schuppen rieselten wie Schnee herunter. Er schämte sich deshalb, konnte aber nichts dagegen tun. Egal, was er alles schon ausprobiert hatte: die Schuppen blieben. Eine schwache Schamesröte kroch ihm ins Gesicht. Jeannine störte sich nicht daran. Sie fand es sogar süß, vor allem, wenn sein Gesicht so schlagartig die Farbe wechselte. Dann sagte sie immer: „Ach Paulchen, ich glaube fast, dir rieselt der Kalk aus dem Hirn.“ Sie lachte jedes Mal, wenn sie es sagte. Diesmal schwieg sie.
Sie schnippte mit den Fingern gegen den Hals der Flasche, beobachtete, wie die Kohlensäurebläschen die Oberfläche durchbrachen und trank einen Schluck. Auch für sie war die Situation ungewohnt. Sie war so schweigsam; das kannte sie sonst gar nicht von sich. Das Eigenartigste aber war, dass sie sich noch mehr zu ihm hingezogen fühlte als sonst. Sie war hibbelig und spürte so einen seltsamen leichten Druck in der Magengegend, der aber keineswegs unangenehm war. Sie verzehrte sich nach ihm und hatte eine schier unbändige Lust, ihn zu berühren und sich von ihm berühren zu lassen. Doch auch sie steckte in der Zwickmühle, haargenau in der gleichen, die Paul plagte. Auch sie wollte die knisternde Atmosphäre keinesfalls zerstören.
Nach ein paar Hin und Her hatte sie sich zwei Möglichkeiten ausgedacht. Zugegeben, sie waren vielleicht nicht originell, aber sie wollte es jetzt sofort und nicht noch minutenlang wie die Katze um den heißen Brei herumschleichen. Sie hatte also die Qual der Wahl. Die eine Möglichkeit war ein kleiner privater Striptease, nur für ihn. Das hatte bei ihren Exfreunden immer hingehauen. Und wie das hingehauen hatte! Oder aber sie wählte die zweite Möglichkeit. Sie würde wesentlich länger dauern, aber todsicher zum Erfolg führen: Schmusen, Küssen, Streicheln. Das ganze Programm. Und dann, wenn er nicht mehr imstande war zu protestieren, ihm die Hose öffnen und den kleinen Paul aus seinem Gefängnis befreien. Es würde das erste Mal sein, dass sie ihn in den Händen hielte. Wie er wohl aussah? Durch die Hose hindurch jedenfalls hatte er sich immer ziemlich gut angefühlt … Wollen mal sehen, was er so zu bieten hatte! Sie würde ihn in die Hand nehmen, ihn sanft streicheln und wer weiß, vielleicht hauchte sie ihm ja auch einen kleinen Kuss darauf? Das hatte sie bisher noch nie getan.
Jeannine entschied sich für Letzteres und atmete gerade noch einmal tief durch, als Paul plötzlich aufstand und sagte: „Ich glaube, ich muss jetzt gehen. Sehen wir uns morgen?“
Statt einer Antwort gab sie ihm etwas anderes. Diesmal wollte sie ihn nicht gehen lassen! Also warf sie alle ihre Bedenken über Bord und machte sich daran, seine Hose aufzuknöpfen. Vor Überraschung sperrte Paul den Mund weit auf, aber noch ehe er etwas sagen konnte, hatte sie ihn mit einem langen, erregenden Kuss verschlossen. Vielleicht fürchtete sie ja, er wollte protestieren. Damit aber war Jeannine auf dem Holzweg. Sie ahnte nicht, dass auch er an diesem Abend mehr wollte. Aber er war zu schüchtern, um es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Vielleicht war es auch Feigheit, wer weiß. Jedenfalls hatte er sich am Ende nicht genug Chancen ausgerechnet und hatte daraufhin heimgehen wollen, um sein Bedürfnis bei einer anderen Freundin, der Marie Faust, zu befriedigen. Die würde ihn nie für einen Schlappschwanz halten, weil die Pistole vielleicht zu schnell losfeuerte. Und das war zweifellos ein unschlagbarer Vorteil. Diese Befürchtung kam nicht von ungefähr. Das war echt ein Problem; das verdammte Ding war meist schon fertig, da hatte er noch gar nicht richtig losgelegt …
Paul war angenehm überrascht. Gerade entwickelte sich das, was er nicht zu hoffen gewagt hatte. Ohne an etwas zu denken, erwiderte er die Berührungen, und das erstaunte wiederum Jeannine. Bislang war er immer schüchtern und zurückhaltend gewesen, doch in diesem Moment schien er eine Wandlung um hundertachtzig Grad zu vollziehen. Wie ein Wirbelwind, aber zugleich unendlich zärtlich, glitten seine Hände über ihren Körper hinweg, waren in einer Sekunde hier und in der nächsten schon wieder woanders. Vor Wonne und Überraschung seufzte sie leise, und Paul drückte seine Lippen noch etwas fester auf ihre Lippen.
Ehe sie wusste, wie ihr geschah, war sie wie eine Kartoffel aus ihrem Pullover und der Jeans gepellt. Der Anblick ihres fast nackten Körpers machte Paul rasend. Er wollte sie haben, nein, er musste sie haben, unbedingt! Jetzt, sofort! Trotzdem stand er nur langsam auf und zog sich aus. Er zog alles aus. Alles, bis auf den Slip.
Den Bruchteil einer Sekunde später war er wieder bei ihr, küsste ihren Mund, und seine Hände wanderten über ihren weißen Büstenhalter, strichen über das weiche Fleisch darunter und kniffen zärtlich in die prall aufgerichteten Nippel. Aus seinem Mund drang ein Stöhnen. Noch nie war er so aufgeregt und gleichzeitig so Herr der Lage gewesen wie jetzt. Noch ehe sie seine Hände richtig genießen konnte, waren sie auch schon wieder woanders. Sie wollte protestieren, wollte sie dort haben, wo sie eben noch gewesen waren. Aber noch ehe sie den Verlust bedauern konnte, fühlte sie sie wieder: Sie machten sich am Verschluss ihres BHs zu schaffen. Ein kurzes Schnapp, und er war auf.
Plötzlich lagen ihre weichen Brüste in seinen warmen Händen. Es ging schneller, als sie es registrieren konnte. Er hielt sie fest, aber nicht zu fest, umschloss sie mit den Fingern, und sein Daumen rieb ihre Brustwarzen. Diesmal seufzte sie nicht; die Gefühle waren zu intensiv. Die Küsse wurden stürmischer, wilder, hemmungsloser.
Paul drückte sie mit seinem Gewicht nach hinten. Sie lag auf dem Bett, nur ihre Füße berührten noch den Boden. Rasch zog er erst ihr und dann sich selbst den Slip aus. Dabei hüpfte ihr sein Penis entgegen. Er war prall und steif und pulsierte.
Nun spreizte er sacht ihre Beine, und sie schloss voller Verlangen ihre Augen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, ihr Atem ging so schnell, als hätte sie eben einen Hundertmetersprint hingelegt, und Unterleib und Brüste kribbelten erwartungsvoll. Sie wollte ihn haben, wollte ihn in sich haben, tief in sich spüren. Sie verging fast vor Lust.
Es verrann eine Sekunde.
Es verrann eine zweite Sekunde, und noch immer spürte sie ihn nicht.
Und plötzlich geschah es. Ihre Schamlippen wurden auseinandergepresst. Zischend zog sie die Luft ein, obgleich er längst nicht so groß und ausfüllend war, wie sie es erwartet hatte. Irritiert öffnete sie die Augen. Warum fühlte er sich so klein und weich an? Er hatte doch eben noch viel größer ausgesehen!
Das erste, was sie sah, war die Zimmerdecke. Dort hätte Pauls Oberkörper sein sollen, aber er war es nicht. Sie blickte an sich herunter, und in diesem Augenblick durchflutete sie eine bis dahin unbekannte Erregung. Was sie sah, übertraf alles. Sie sah seinen Kopf zwischen ihren Oberschenkeln. Und sie fühlte den heißen Atem an ihrer Scham und seine Zunge, die sich so tief wie möglich in sie hineinbohrte. Noch bevor sie merkte, wie ihr geschah, war sie wieder draußen und glitt feucht und heiß zwischen ihre Lippchen. Sie flatterte in ihrer Scham wie ein Insekt im Glas. Ihre Muschi begann zu glühen. Er küsste sie, leckte sie, wo sie noch nie zuvor geküsst oder geleckt worden war. Er leckte sie nicht nur, nein, er schleckte sie wie Eis. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, als den Kopf im Kopfkissen zu vergraben. Wenigstens soweit hatte sie sich noch unter Kontrolle.
Und wieder drang seine Zunge in sie ein; er raubte sie ihr und schenkte sie ihr gleich darauf wieder. Gierig wanderte sie durch ihr zartrosa Fleisch. Er teilte es, knabberte zärtlich daran und fühlte die Geilheit an seinem Kinn hinunterlaufen. Der Geschmack ihrer Weiblichkeit und Geilheit machten ihn so wild wie einen tollwütigen Köter, und er leckte alles gierig auf. Und davon wurde Jeannine nur noch geiler und sie spreizte die Beine, um ihn noch näher an sich heranzulassen.
Als es ihr endlich kam, war es wie eine Erlösung. Sie kreischte in ihr Kissen, das sie an ihr Gesicht pressen musste (ob ihre Eltern nun wach wurden oder nicht, interessierte sie nicht die Bohne). Ihr Körper spannte sich, das Brennen in ihrer Muschi glich einem flammenden Inferno, und mit der freien Hand klopfte sie wie von Sinnen auf die Matratze ein.
Unendlich erleichtert, dass die süße Folter endete, seufzte sie matt.
Paul belehrte sie eines Besseren. Denn es war noch nicht vorbei. Jeannine hatte bereits die Augen geschlossen und war schon fast eingeschlafen, als er plötzlich und unerwartet in sie eindrang. Auch er war geil, geiler als je zuvor.
Die Härte drang so schnell in sie ein, dass sie augenblicklich putzmunter wurde. Sie stemmte sich seinen Stößen entgegen und bewegte sich mit jeder Sekunde schneller und fordernder. Das Quietschen des Bettes war mittlerweile gefährlich laut geworden. Aber all das hatte keine Bedeutung. Nichts hatte momentan eine Bedeutung außer Sex. Die Lust aufeinander hatte alle Vorsicht verdrängt, und es grenzte schon an ein Wunder, dass ihre Eltern noch immer nicht in der Tür standen …
Schon nach wenigen Stößen kam es ihm, und er ergoss sich in ihr. Sein Orgasmus war wie eine Befreiung nach einer langen Gefangenschaft. Sämtliche Kraft verschwand augenblicklich aus seinem Körper.
Noch bevor seine Arme gänzlich weich wurden, rollte er sich von ihr. Paul atmete schwer, und seine Haut war bedeckt von Schweißperlen. Noch immer hatte er den Geschmack ihrer Weiblichkeit auf den Lippen.
Jeannine drehte sich langsam zu ihm. Die Trägheit ihrer Bewegungen deutete darauf, wie schlapp sie war. Paul registrierte es nicht ohne Stolz. Mühsam hob sie den Kopf und musste ihn sogar mit der Hand abstützen. Und ihre andere Hand glitt langsam über seinen Bauch, verwischte den Schweiß und verharrte schließlich auf seiner Brust. Jetzt konnte sie fühlen, wie sein Herz galoppierte. Paul beobachtete jede ihrer Bewegungen.
„Was hast du nur mit mir angestellt?“
„Hätte ich das nicht tun sollen?“ Seine Stimme klang unsicher.
„Quatsch. Es ist nur …“ Sie überlegte kurz. „Es ist nur so: Sonst bist du immer so schüchtern. Und mit einem Mal“, sie musste noch einmal innehalten, „mit einem Mal ist das alles vergessen, und du besorgst es mir. Einfach so, ohne einen Funken Unsicherheit. Hast mich einfach gepackt und meine Muschi geleckt. Junge, Junge, ich muss schon sagen, du erstaunst mich immer wieder!“ Mit diesen Worten ließ sie sich nach hinten fallen, drehte sich zur Seite und fingerte an ihrer Hose rum, die achtlos neben dem Bett lag.
Paul beobachtete ihre Bewegungen. Er bewunderte ihre makellose weiße Haut, sah, wie ihr das Haar über die Schultern fiel und auf die Matratze floss. Ihr Rücken war bezaubernd schön. Als sie neben ihm lag, wurde ihm klar, wie verrückt er nach ihr war. Seine Hände glitten an ihrer Wirbelsäule hinunter, verharrten am Poansatz, fühlten die weiche, weiße Haut dort und kneteten die prallen, knackigen Bäckchen. Ihr nackter Körper erregte ihn bereits von neuem. Doch noch ehe er irgendwelche Anstalten machen konnte, erneut über sie herzufallen, drehte sich wieder zu ihm. Sie hatte zwei Zigaretten aus der Hose gefischt und schob ihm eine davon in den Mund. Sie glimmten sogar schon; sie musste sie eben angezündet haben. Die andere behielt sie selbst. Hm, das tat gut.
„Jetzt aber mal im Ernst: Du weißt, dass du nicht mein erster warst und ich weiß, dass ich nicht deine erste war. Das haben wir ja alles längst ausbaldowert. Wie aber hast du es geschafft, das hinter deiner Schüchternheit zu verstecken?“
„Was denn?“
„Frag nicht so scheinheilig. Du weißt genau, was ich meine.“
„Nein, weiß ich nicht.“
„Ich meine, dass du so ein Tiger bist. Und das bist du. Was du da mit deiner Zunge gemacht hast, grenzt ja fast an Wahnsinn. Du hast mir fast das Hirn rausgelutscht. Echt affengeil. Du bist eine richtige Sexmaschine. Die obendrein noch eine geile Schlabberzunge hat.“
„Ich hab dich überrascht, wie?“
„Das kannst du laut sagen! Meine Muschi tropft noch immer wie ein Wasserhahn.“
„Ich kann auch nichts dafür. Du machst mich einfach verrückt …“
Mit einem Mal begann Paul zu heulen. Es war kein stilles Wimmern, es war richtig laut. Er heulte Rotz und Wasser. Der Text, der von ihm geschrieben worden war (nur er konnte ihn geschrieben haben, obwohl er sich nach wie vor nicht daran erinnerte), führte ihm etwas vor Augen. Er hatte einen Grund gefunden, warum sie ihn verlassen hatte. Sie hatten zwar noch hin und wieder Sex gehabt, zwar lange nicht mehr so viel wie früher, aber so richtig Spaß hatte es beiden nicht mehr gebracht. Das aber war bei weitem nicht das Schlimmste. Schließlich geschah das in jeder längeren Beziehung. Das Schlimmste war, dass er sich keine Mühe mehr gegeben hatte, und das wer weiß wie lange schon. Es war zwar dann und wann noch zum Beischlaf gekommen, aber ohne Vorspiel, ohne Zärtlichkeiten, ohne Aufregung. Er hatte es einfach runtergespult wie ein Pflichtprogramm. Kein Spaß, keine Spontanität, kein gar nichts. Eigentlich grenzte es schon an ein Wunder, dass sie überhaupt hin und wieder Sex gehabt hatten – vor allem deshalb, weil Frauen zärtliches Kuscheln und Schmusen brauchen wie die Luft zum Atmen.
Trotz dieser negativen Erinnerungen zwang er sich, mit eiserner Miene und zusammengebissenen Zähnen weiterzulesen. Und die Tränen rannen ihm dabei nur so die Wangen hinunter.
Ich liebe Dich!!!!!!!
Das stand dort geschrieben, und es war so ziemlich das Letzte, was er entziffern konnte. Denn der Text entwickelte sich nun zu einem Kauderwelsch. Er bestand nur noch aus sinnlos aneinander gepressten Buchstabenreihen, und wenn man es lesen wollte, ergab es beim besten Willen kein Wort.
„Bestimmt ist der Alkohol daran schuld“, murmelte Paul.
Er fuhr den Text mit dem Cursor bis zum Ende hinunter. Und je weiter er kam, umso unverständlicher wurde er. Schließlich gab er es auf, feuerte das Notebook erneut zu Boden und stürmte schreiend und heulend aus dem Zimmer.