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Sie war zwölf Jahre alt, als sie den Mann, dem sie von ihren Eltern versprochen worden war, zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Es war nur ein flüchtiger Blick. Sie sah ihn von einem Balkon des Hauses ihrer Eltern in Bethanien aus. Er wurde im Hof von Dienern empfangen, die dem Reisenden den Staub von den Füßen wuschen, wie es in diesem Land Sitte war. Beim Anblick dieses stattlichen jungen Mannes mit seinen achtzehn Jahren, von dem sie schon so viel gehört hatte, bebte sie vor Erregung. Die Erregung breitete sich in ihre kleinen Brüste aus, ließ ihr das Blut in die Wangen steigen und machte sie schneller atmen.

Dies war ihr großer Tag. Sie war nun eine reife Frau, die in der Lage war, einen Mann zu lieben und Kinder zu gebären. Am liebsten hätte sie ihn sofort in die Arme geschlossen, aber sie wusste, dass sie geduldig sein und wahrscheinlich noch für ein Jahr oder höchstens zwei Jahre warten musste, bevor ihr Traum wahr werden würde. Dies war keine reguläre Hochzeit. Es stand viel mehr auf dem Spiel als die launische Liebe eines jungen Mädchens. Das ganze Land nährte die Hoffnung, dass eine uralte Wunde zu dieser Gelegenheit ein für alle Mal geheilt werden könne, dass ein geteiltes Volk wiedervereint und Israel wieder eine autonome, von der Tyrannei des römischen Reiches befreite Nation werden könne. Und all dies war abhängig von der Vereinigung der Stämme Benjamin und Juda.

Martha, eine ihrer beiden älteren Schwestern, half ihr zusammen mit einer Magd, sich auf die Verlobungsfeier vorzubereiten. Sie neckten sie in ihrer Verspieltheit, indem sie ihre Bewegungen übertrieben, als sie ihre intimsten Körperteile wuschen, und erzählten ihr kichernd von all den schrecklichen Dingen, die ein Mann mit einer Frau machen würde, wenn sie ihm endlich gehörte.

Das Gerücht von ihrer erstaunlichen Schönheit hatte sich bereits verbreitet. Dieses Gerücht besagte, dass sie sich ohne jeden Zweifel zu der schönsten Frau entwickeln werde, die Jerusalem je hervorgebracht habe. Hoffnungsvolle Verehrer hatten bereits bei ihren Eltern um ihre Hand angehalten, aber sie alle mussten den Palast wieder verlassen, ohne ihr Ziel erreicht zu haben. Sogar Teutilus, ein mächtiger römischer Händler und enger Freund des Herodes Antipas, hatte seine Fühler nach ihr ausgestreckt. Dies hatte zu einem öffentlichen Aufschrei unter den Juden geführt, die ihrem Zorn über eine solche Beleidigung rückhaltlos Ausdruck gegeben hatten. Wer glaubte er zu sein? Er war nicht nur ein Römer, er war auch ein ziemlich alter Mann. Sein Ansinnen war eine Verletzung aller Regeln – der geschriebenen wie der ungeschriebenen.

Nach einer Woche hatte sich die Wut jedoch wieder gelegt und Teutilus wurde zur Zielscheibe des beißendsten Spottes von Jerusalem. Der Mann hatte sich schlichtweg zum Narren gemacht.

Ihr Vater Zerah hatte jedes Angebot ruhig und in aller Stille abgelehnt. Er entstammte dem Stamm Benjamin, war aber, ebenso wie Moses, im Exil in Ägypten aufgewachsen. Später hatte er unter einem syrischen König gedient und war mit Besitztümern in Jerusalem und Bethanien belohnt worden.

Er und seine Frau Isebel, die einer reichen Familie des Stammes Dan entstammte, waren enge Bekannte der Familie des Bräutigams, und beide Familien betrachteten die bevorstehende Vereinigung als eine Erfüllung der ältesten Prophezeiungen. Die Ursprünge der Erwartungen, die darauf beruhten, reichten bis weit in die Zeit vor Abraham zurück. Dies war nicht nur eine wichtige politische Heirat. Dies war eine religiöse Verschmelzung, die von YHVH selbst gesegnet war.

Als die beiden Frauen das junge Mädchen gewaschen hatten, salbten sie es mit duftendem Balsam. Das Gewand bestand traditionellerweise aus einem langen weißen Unterrock und darüber einer roten, mit goldenen Fäden gesäumten Tunika, die ihr bis zu den Knien reichte. Wie es die Tradition von jeder syrischen Jungfrau verlangte, wurde darüber ein blassblauer Chiton gezogen, der bis zum Boden hinabreichte. Er war von kleinen goldenen Blüten gesäumt, an der Seite züchtig geschlossen und ein Schleier war an ihn angenäht. Zum Abschluss setzten sie ihr dieselbe Tiara auf den Kopf, die vor ihr bereits ihre Mutter und die Schwiegermutter ihrer Mutter zu ihren Verlobungsfeiern getragen hatten und die ihr am Tag ihrer Hochzeit übergeben werden würde.

Sie drehte sich lachend im Kreis, sodass die Frauen das Ergebnis ihrer Bemühungen bewundern konnten. Sie klatschten vor Begeisterung in die Hände und stimmten in das ansteckende Gelächter des Mädchens ein. Es war an der Zeit, die künftige Braut und den künftigen Bräutigam einander vorzustellen.

Sie standen an den beiden Enden der schönsten Halle des Palastes. Er war umringt von seiner Mutter, einem Bruder und zwei Lehrern und sie von ihrer Mutter, ihrem älteren Bruder, ihren beiden Schwestern und einigen Mägden. Der Abstand zwischen ihnen war so groß, dass sie sein Gesicht kaum erkennen konnte, aber er schien trauriger auszusehen, als ihr lieb war und es der Gelegenheit angemessen erschien.

Die geladenen Gäste säumten lächelnd und erwartungsvoll die Längsseiten der Halle; sie hielten Geschenke in der Hand und winkten mit Palmwedeln. Die beiden Patriarchen, Zerah und Yoasaph, standen in der Mitte der Halle, tauschten die traditionellen Grußworte aus und schüttelten sich als Zeichen für den bevorstehenden Pakt die Hände.

Es war ein bewegender Anblick, und einige der Anwesenden weinten, denn dies war der Augenblick, auf den die meisten Juden schon seit langem gewartet hatten. Das, worauf nur wenige Menschen zu hoffen gewagt hatten, sollte geschehen: Der Same für die Vereinigung und die Freiheit Israels, des vom Herrn auserwählten Volkes, war gepflanzt.

Zu ihrer Enttäuschung sah sie ihren künftigen Bräutigam an diesem Tag nicht mehr. Männer und Frauen speisten getrennt voneinander. Und auch wenn sie die Männer aus der angrenzenden Halle laut reden hörte, steigerte dies nur ihre Sehnsucht nach ihm. Nach dem Mahl tanzten und sangen sie, aber auch dies in getrennten Parteien. Schneller als erwartet waren die Festlichkeiten vorüber und es war Zeit, zu Bett zu gehen.

Zwei Jahre vergingen überaus langsam. Während all dieser Zeit traf sie ihren künftigen Bräutigam nicht einmal, und wenn sie nach ihm fragte, sagte man ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, oder sie erhielt überhaupt keine Antwort. Ihrer Umgebung zuliebe versuchte sie Haltung zu bewahren, aber innerlich wurde sie immer niedergeschlagener.

Um sich die Zeit zu vertreiben, nahm sie jede Arbeit an, die man ihr geben konnte. Die Bediensteten versuchten, sie davon abzubringen, aber sie bettelte so lange, bis sie nachgaben und sie mit ihnen gleichgestellt daran teilnehmen ließen. Wann immer dies entdeckt wurde, führte es zu peinlichen Situationen. Sie musste vor ihrem Vater stehen, der ihr mit großer Resignation klar zu machen versuchte, was sich für ein Mädchen ihres Standes gehörte.

Eines Tages jedoch, als sie gerade damit beschäftigt war, den Wäscherinnen im Waschhaus zu helfen, geschah etwas, das alles auf den Kopf stellen sollte. Als sie auf den Steinen am Rand des Beckens das Wasser aus den Kleidungsstücken herausklopfte, fiel ihr Blick auf die Wasseroberfläche. Mit einem flüchtigen Blick erhaschte sie eine Bewegung. Als sie näher hinschaute, war jedoch nichts zu sehen. Wenig später geschah es wieder, aber auch jetzt war nichts zu sehen. Sie versuchte es zu ignorieren, aber immer wenn sie wegschaute, kam es näher an die Wasseroberfläche. War sie vielleicht überarbeitet? Oder vielleicht war es ihr Monatszyklus, der ihr einen Streich spielte?

Sie setzte sich am Rand des Beckens nieder, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Als sie dort saß, ohne besonders auf das Wasser zu achten, wurde ein Bild sichtbar. Sie betrachtete es mit gespannter Aufmerksamkeit. Es zeigte ihre Mutter und ihren Vater, die in einem fremden Teil des Landes mit einer Karawane reisten. Das Bild entlockte ihr ein Lächeln. Sie erkannte die Miene größter Ernsthaftigkeit, die ihr Vater immer aufsetzte, wenn er etwas Entwaffnendes und Komisches sagen wollte. Sie wollte gerade laut auflachen, als sich das idyllische Bild auf brutale Weise veränderte. Fremde Krieger und Straßenräuber griffen die friedliche Karawane aus einem Hinterhalt an. In einem schrecklichen Augenblick sah sie, wie ein Heide ihrem Vater von hinten den Hals aufschlitzte, während ihre Mutter gnadenlos von einem Krummsäbel niedergestreckt wurde. In einem Augenblick wurde alles rot. Bei diesem schrecklichen Anblick sprang sie mit einem solchen Schrei auf, dass die anderen Frauen alles fallen ließen, was sie in den Händen hielten, um ihr zu Hilfe zu eilen. Da die Frauen nichts sehen konnten, nahmen sie an, sie fühle sich nicht wohl, und trugen sie in ihr Gemach, wo sie das untröstliche Mädchen auf ihr Bett legten.

Dort blieb sie drei Tage lang liegen. Ihre Schwestern saßen bei ihr und versuchten erfolglos, ihr zu entlocken, was in dem Waschhaus so Schreckliches geschehen war. Sie wusste, dass die Schwestern es nicht verstehen würden, und erzählte ihnen deshalb nichts von ihrer Vision. Selbst wenn mal ihre Mutter, mal ihr Vater bei ihr saß, brachte sie es nicht übers Herz, davon zu berichten. Sie wusste, dass allein ihr Bruder sie ernst nehmen würde, aber er befand sich wegen persönlicher Geschäfte in Jerusalem.

Schwäche überfiel sie, als ihre Mutter sie noch am selben Nachmittag freudestrahlend aufsuchte und ihr erzählte, sie und ihr Vater würden sich auf eine Reise nach Antiochien begeben, um einige Verwandte zu besuchen, und dass die Mädchen eingeladen waren, sie zu begleiten. Gleich am nächsten Tag würde man aufbrechen.

Es machte der Mutter Angst, als das Mädchen sich ihr in die Arme warf und sie schluchzend beschwor, daheim zu bleiben, weil es Unglück bedeuten würde, zu dieser Zeit eine Reise anzutreten, und weil sie etwas gesehen habe, das niemand je verstehen würde, das jedoch ein unheilvolles Omen war.

„Was hast du nur gesehen?“, fragte die Mutter und strich ihr übers Haar.

Doch sie brachte die ahnungsvollen Worte nicht über die Lippen; sie blieben ihr im Hals stecken und erstickten sie beinahe.

„Bitte hört auf mich. Ihr könnt unmöglich abreisen“, bettelte sie.

Doch die Mutter lächelte ihre Tochter nur an, gerührt von ihrem Mitgefühl.

„Nun gut. Du kannst mit Martha und Mari zuhause bleiben. Sie wollen wahrscheinlich ohnehin bei dir bleiben.“

Sobald ihre Mutter den Raum verlassen hatte, stand sie auf – entschlossen, nach Jerusalem zu gehen, ihren Bruder zu finden und ihm über alles zu berichten. Wenn irgendjemand ihre Eltern aufhalten konnte, dann war er es. Sie wusste, dass dies ein verrückter Plan war und dass es im ganzen Palast nicht einen Menschen gab, der ihr helfen würde, ihn in die Tat umzusetzen. Doch die Vision, die sie gehabt hatte, war dermaßen real gewesen, dass sie deren Authentizität nicht für einen Moment bezweifelte.

Sie wartete bis zur Abenddämmerung. Das Gesicht unter einem dunklen Umhang verborgen, glitt sie wie ein Schatten die Mauer des Obstgartens zum hinteren Teil des Palastes entlang. Es gelang ihr, sich am Leibwächter ihres Vaters, einem Mann, der das Westtor bewachte, vorbeizuschleichen. In der Deckung des Gebüschs schlich sie bis zur nächsten Wegbiegung und nahm dann die Straße nach Jerusalem.

Es waren nicht viele Reisende zu sehen, und die wenigen, denen sie begegnete, erkannten sie nicht. Die Sonne versank hinter dem Horizont und der Staub und die Erde nahmen eine feuerrote Färbung an. Sie fühlte einen erdrückenden Kummer in ihrem Herzen, ging aber unverzagt weiter, entschlossen, ihre Aufgabe zu vollenden. Eine Staubwolke tauchte auf. Es sah aus wie ein einsamer Wanderer in der Ferne. Für einen Moment glaubte sie, jemanden ihren Namen rufen zu hören. Ein wenig erschrocken hielt sie inne und blickte sich um. Doch da war niemand. Vor ihr kam die Staubwolke immer näher. Sie verließ die Straße, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie blinzelte und versuchte, klarer zu sehen. Sie hatte ihr Gefühl für Entfernungen völlig verloren. In dem Moment, als die Sonne ganz verschwand, verspürte sie den Wunsch umzukehren, aber sie ging dennoch weiter. Die Straße, die sich vor ihr erstreckte, war leer. Die Staubwolke war verschwunden.

„Mariam, Mariam, hast du vergessen, wer du bist?“

Sie erstarrte beim Klang der Stimme und sah sich verwirrt um, sah jedoch niemanden. Dann fiel ihr eine Gestalt im Schatten eines Busches neben der Straße auf. Verängstigt trat sie einen Schritt zurück.

„Fürchte dich nicht, Mariam, ich bin deine Beschützerin.“

Jetzt vermochte sie undeutlich das Gesicht der Gestalt zu sehen. Es war eine ältere Frau mit langem weißem Haar.

„Wer bist du?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

„Du wirst schon bald wissen, wer ich bin. Für den Moment brauchst du nur zu wissen, dass ich eine Freundin bin. Du musst sofort nach Bethanien zurückkehren. Was geschehen soll, das wird geschehen.“

Sie spähte in die Dämmerung, doch alles, was sie sah, war ein Busch, der sich leicht im Wind bewegte. Die Gestalt war verschwunden. Für einen Moment wusste sie nicht, was sie tun sollte, aber dann erlangte sie ihre Geistesgegenwart wieder, eine Geistesgegenwart, die die Stimme der alten Frau heraufbeschworen hatte. Sie hatte sich nur deshalb in einem Zustand der Verwirrung befunden, weil sie sich hin- und hergerissen gefühlt hatte zwischen dem, was sie aus den falschen Gründen glaubte tun zu müssen, und dem, von dem sie wusste, dass sie es tun musste, weil es geschrieben stand. Sie drehte sich um und ging zum Palast zurück. In der Ferne sah sie eine römische Patrouille, die die Straßen kontrollierte.

Als ihre Eltern sich am nächsten Morgen vor ihrem Aufbruch nach Antiochien verabschiedeten, weinte sie bitterlich. Als sie sich in die Arme ihres Vaters warf, spürte sie eine Kraft, die sie trug, und die Stimme vom vergangenen Tag, die sagte:

„Was geschehen soll, das wird geschehen.“

Es war sehr merkwürdig, dass sie diese Versicherung fraglos akzeptierte, in dem Wissen, dass das, was geschehen soll und geschehen wird, für sie, ihren Bruder und ihre beiden Schwestern eine Katastrophe sein würde. Doch wie war die Kraft zu erklären, die sie, trotz ihrer Ängste, in ihrem Inneren wachsen fühlte – eine Kraft, die erfüllt war von Vorsehung und Prophezeiung? Sie vermochte dies selbst kaum zu verstehen. War sie etwa von etwas Bösem besessen?

„Was geschehen soll, das wird geschehen.“

Es war, als sei ihr Herz ein Buch, in dem eine neue Seite aufgeschlagen worden war, die Offenbarung einer völlig neuen Sprache, eine Gewissheit, die sich durch die verhängnisvolle Situation, in der sie sich befand, nicht ins Wanken bringen ließ, eine Art von Verklärung, die durch die Schleier hindurch unmittelbar in die Essenz der Dinge im Zentrum der Existenz blickte. Und sie sah ihre Eltern in ihrem spirituellen Gewand hoch über dem körperlichen Zustand und lächelte durch ihre Tränen, die sich mit dem Staub vermischten und schmale Spuren auf ihren Wangen hinterließen. Sie umarmte ihre Eltern lange.

„Was ist nur los mit dir?“, rief ihr Vater aus und hielt sie fest.

„Nehwey sibyanak aykana d’shmeya aph b’arah?“, flüsterte er ihr ins Ohr.

In dem Moment wurde ihr klar, dass er es ebenfalls wusste. Nur eine Frage brannte in ihrem Herzen. Warum?

Sie blieb mit Martha und Mari und den Bediensteten stehen, bis sie die Karawane aus den Augen verloren, und brach dann weinend zusammen, in dem Wissen, dass sie ihre Eltern zum letzten Mal gesehen hatte.

Die schreckliche Nachricht erreichte Bethanien zwei Wochen später. Es war ihr Bruder Lazarus, der die Todesbotschaft von Jerusalem überbrachte, wo er als das neue Oberhaupt der Familie die traurige Nachricht von zwei überlebenden Soldaten aus der Leibgarde seines Vaters erhalten hatte. Das Gerücht über die Vision seiner kleinen Schwester hatte ihn ebenfalls erreicht, aber er hatte sie abgetan, als handele es sich dabei um eine Art ansteckende Krankheit oder ein böses Trugbild. Doch die geschundenen Körper seiner Eltern, die die Soldaten mit sich führten, waren sehr real, und Lazarus musste zugeben, dass alles genauso geschehen war, wie es seine Schwester gesehen und vorhergesagt hatte.

Aufgrund des Zustandes der Leichen musste man von dem traditionellen Begräbnisritual absehen. Die übliche Einbalsamierung hatte einen beinahe ritualistischen Charakter. Die Leichen mussten sofort unter die Erde gebracht werden.

Nur eine kleine Zahl der engsten Verwandten nahm an dem Begräbnis teil. Mariam fühlte sich während der gesamten Zeremonie wie in Trance und spürte die Gegenwart der weißhaarigen Frau, die ihr auf der Straße nach Jerusalem begegnet war und in der sie die wundervolle Macht erkannt hatte, die zu ihr sprach. Die Gefasstheit dieser Frau wurde zu ihrer eigenen Gefasstheit.

Als Lazarus gerade mit den blutigen Gewändern und anderen Gegenständen, die die Tradition verlangte, in die Gruft hineingehen wollte, trat sie ruhig hervor, nahm ihm die Gewänder und die anderen Dinge aus den Händen und betrat damit still die Grabkammer, ohne dass irgendjemand protestierte. In ihr war es zu einem offensichtlichen Wandel gekommen. Sie strahlte eine unerklärliche Autorität und Würde aus, die ganz natürlich erschienen, die man einem so jungen Mädchen jedoch normalerweise nicht zugetraut hätte.

Es war kühl in der Gruft. Nur ein schmaler, staubiger Lichtstrahl wies ihr den Weg. Am hinteren Ende der Grabkammer sah sie nur undeutlich die beiden weißen Bündel an dem für sie bestimmten Platz. Als sie die drei Schritte hinab in die kalte Dunkelheit machte, fühlte sie augenblicklich seine Präsenz. In der Bemühung, gefasst zu bleiben, verneigte sie sich und legte die Gegenstände, die sie mitgebracht hatte, zu Füßen der Toten nieder. Als sie sich wieder aufrichtete, blickte sie direkt in ein Paar feuriger Augen. Zuerst erkannte sie die alte Frau. Dann schien sich das Gesicht zu verändern und sie erkannte ihren Verlobten. Sie streckte eine Hand nach ihm aus, aber er winkte sie sanft zurück und sie hörte ihn sagen: „Noch nicht.“

Sie spürte, dass die Luft um sie herum angefüllt war mit Wesen, die ihr helfen wollten, und von ihnen geführt, trat sie in den Lichtstrahl. In der Luft vor ihr schwebte ein durchscheinender, leuchtender und tief-violetter Ball, in dem sich ein rosafarbener, vierzackiger Stern befand, der von einem dünnen, rosafarbenen Band umgeben war.

„Dies ist dein Schutzengel“, verkündete eine Stimme. „Folge ihm, und du wirst niemals in die Irre gehen.“

Sie blieb in dem Lichtstrahl stehen und ließ sich von der Kraft ganz und gar ausfüllen. Als sie aus der Grabkammer hinaustrat, trug sie die Gewissheit des strahlenden Sterns in ihrem Herzen und war von seiner tief-rosafarbenen und violetten Aura umgeben. Augenblicklich hörte das Heulen und Wehklagen der Frauen auf. Es war, als transformierte ihre bloße Gegenwart den Fluch des Kummers und als gäbe sie dem Augenblick einen Sinn, um den sie nie zuvor gewusst hatten. In diesem Moment erkannte Lazarus sie und sah, wer sie wirklich war.

Gleich nach dem Begräbnis ihrer Eltern bat Lazarus seine kleine Schwester, ihn in den privaten Gemächern seines Vaters zu treffen. In Zukunft sollte er von hier aus regieren. Als sie den Raum betrat, war er erneut überrascht zu sehen, wie sehr sie plötzlich eine Fremde für ihn zu sein schien. Er erkannte seine Schwester, ihre inzwischen legendäre Schönheit, ihre brennenden Augen, ihren hochgewachsenen Körper mit den verheißungsvollen Formen einer außerordentlichen und schönen Frau. Aber es schien ihm, als sei ihre unmittelbare weibliche Vitalität und spielerische Aura einer süßeren und ernsthafteren Würde gewichen, die er zuvor nicht wahrgenommen hatte. Etwas anderes, etwas Strahlendes hatte sich ihres Seins bemächtigt.

Sie umarmten sich. Er fühlte ihre schmalen Brustwarzen durch den dünnen Stoff. Dann hielt er sie mit ausgestreckten Armen und sah sie liebevoll an.

„Wüsste ich es nicht besser, könnte ich denken, dass dich nach mir gelüstete“, sagte sie lachend und errötete.

„Der allgütige Gott hätte dies geschehen lassen können, wäre ich nicht dein Bruder“, antwortete er, zog ihren Kopf an seine Brust und fuhr fort:

„Doch eine mächtigere Aufgabe wurde dir bestimmt, als einem Mann nur für seine zweifelhaften Sinnesfreuden gegeben zu werden.“

„Vergisst du womöglich, dass ich bereits jemandem versprochen bin?“

Sie wollte von ihm zurückweichen und er zögerte, hielt sie aber weiter an der Taille fest. Dann sagte er:

„Nein, ich vergesse es nicht. Wie könnte ich? Aber der Bräutigam, der dir bestimmt ist, mag nicht derjenige sein, den du erwartest.“

Er sprach mit gedämpfter Stimme. Als sie sich ihm entwinden wollte, ließ er sie los. Sie sagte nichts mehr. Auch wenn sie noch nie mit ihrem künftigen Ehemann geredet oder mit jemand anderem über ihn oder darüber, welche Art von Ehe sie erwartete, gesprochen hatte, so hatte sie doch von Anfang an gespürt, dass es keine traditionelle Ehe sein würde. Nichtsdestoweniger war sie von dem natürlichen Begehren eines jungen Mädchens erfüllt, und wenn sie das Bild desjenigen, den sie in ihrem Herzen trug, heraufbeschwor, genügte das, um ein geheimes Feuer in ihrem Körper zu entfachen. Dennoch wusste sie nicht, wer er war.

Lazarus blieb lange Zeit am Fenster stehen und sah gedankenverloren über das Feld mit den Reben hinaus. Er suchte nach Worten, zögerte jedoch noch. Sie spürte seine Ratlosigkeit. Plötzlich ging ihr auf, er könne mehr über ihren künftigen Ehemann wissen, als er zugeben wollte.

„Kennst du ihn?“, fragte sie mit neugeborener Hoffnung in der Stimme.

Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht und seine Augen bekamen einen abwesenden Blick. Seine Stimme war tief und intensiv:

„Man sagt, er sei dazu bestimmt, eine ganz besondere Rolle zu spielen.“

Der Satz schwebte in der Stille. Sie sahen einander nicht an. Er fragte sich, ob sie sich wohl dessen bewusst sei, was dies für sie bedeutete. Sie dachte über den Fremden nach.

„Wer sagt das?“, fragte sie.

„Ich hörte es von den Essenern in einem Haus in Jerusalem.“

„Was für eine besondere Rolle?“

„Die Essener sind Leute, die nicht viele Worte machen.“

„Und was sagt er selbst?“

„Nichts.“

„Nichts? Hat er denn gar nichts zu sagen?“

„Er ist fortgegangen.“

Sie spürte einen Stich im Herzen.

„Wohin?“

Ihre Stimme war sehr schwach.

„Zuerst nach Alexandrien, dann nach Osten.“

Sie drehte sich um und sah ihm ins Gesicht. Es gab so viele, die sich als etwas Besonderes ausgaben, etwa als der lange erwartete Messias. So viele Wundertäter und Propheten, die ein Feuer in den Leuten entfachten und ihnen falsche Hoffnungen von besseren Zeiten und einem ewigen Leben machten.

„Ist er wie der schreckliche Magier Hanina Ben Dosa?“

Ihre Stimme ließ erkennen, dass sie nicht viel von dem Wundertäter hielt, von dem es hieß, er könne Regen und viele andere Dinge hervorrufen, wie er es wolle. Sie hatte ihn einmal gesehen, als sie sich mit ihrem Vater, Martha und Mari auf einer Reise nach Jerusalem befand. Sie mochten ihn nicht. Er schien nicht vertrauenswürdig zu sein, redete zu viel, hatte eine schmeichlerische Stimme und machte zu viele übertriebene Gesten. Wenn er lächelte, sah man seine fauligen Zähne. Sie hatten ihn abstoßend gefunden. Als sie ihn jetzt in diesem Zusammenhang erwähnte, war dies eher ein Ausdruck ihrer Hilflosigkeit. Spürte sie doch, dass sich hinter den Worten ihres Bruders ein Fluch und etwas Verhängnisvolles verbarg, etwas, das sie nicht verstand und von dem sie nicht sicher war, ob sie bereit war, es zu ergründen. Lazarus ergriff ihre Hände, sah sie liebevoll an und sagte:

„Der Zeitpunkt ist gekommen. Es ist an der Zeit, dass du die Wahrheit erfährst.“

Sie fühlte einen Schauer durch ihren Körper laufen und wollte etwas sagen, aber er kam ihr zuvor und hielt einen Finger an ihre Lippen.

„Still, Schwester! Was ich dir jetzt sagen werde, ist unvermeidlich. Es steht geschrieben, und es gibt nichts, das wir daran ändern können. Du bist ebenso auserwählt, wie er es ist. Die Zeit ist gekommen, dass du dein Schicksal annehmen musst. Ich werde dir alles erzählen, aber nur unter der Bedingung, dass du mich nicht unterbrichst. Ich möchte dich nicht traurig machen, aber du musst versprechen, dass du bleiben und dir alles anhören wirst, was ich zu sagen habe, ganz gleich, wie sehr es dich verletzen mag.“

Er schwieg und gab vor, ihr Bedenkzeit zu geben. Doch obwohl ein Teil von ihr entsetzt war angesichts der Grausamkeiten, die hinter dem stehen mochten, was er ihr zu sagen hatte, spürte sie doch eine neue Gewissheit tief in ihrem Innersten, die sie mit Kraft erfüllte und sie über die Belanglosigkeiten des Lebens hinaushob. Er begann zu sprechen:

„Man erwartet, dass ein großer Meister aus den Essenern hervorgehen wird. Der lange erwartete Messias. Dein Verlobter wird in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen. Er wird vielleicht die rechte Hand dieses großen Meisters sein. Nach meinen Quellen ist er auserwählt, ein Hohepriester in der neuen Ordnung zu sein, die Israel wieder zu einem freien Land machen wird.“

Er hielt inne – beobachtete ihre Reaktion. Sie nickte einfach nur.

„Doch auch ein Hohepriester muss eine Ehefrau haben. Verstehst du, was ich sage?“

Wieder nickte sie. Dann sagte sie:

„Du sagst damit, dass dies ein Ehevertrag sein wird, der einzig und allein den Zweck hat, seine Funktion zu legitimieren. Eine Tarnung, die es ihm ermöglicht, das Vertrauen des Volkes zu gewinnen – nicht wahr?“

Er sah sie verblüfft an. Ihre präzise Zusammenfassung der Situation überraschte ihn.

„Da ist noch mehr“, sagte er. „Niemand weiß, wie lange seine Vorbereitungen brauchen werden. Niemand weiß, wann er zurückkehren wird. Zum Wohle aller Beteiligten wird es besser sein, wenn du zu den Weißgekleideten im Tempel der Isis in Heliopolis gehst, damit sie dich unterweisen. Sie werden dich auf deine Aufgabe vorzubereiten wissen. Das Nildelta wird dir gut tun. Unser Vater hätte diese Entscheidung begrüßt.“

Bei seinen Worten hätte sie schreien mögen. Stattdessen sagte sie:

„Welche Aufgabe?“

„Deine Aufgabe.“

„Wer könnte besser um meine Aufgabe wissen als ich selbst?“

Sie verspürte einen starken Drang, sich gegen ihn und all seine begrenzten Ideen aufzulehnen. Aber ihre Reaktion führte nur dazu, dass er sich ihr verschloss.

„Mein Entschluss steht fest. Du reist sobald wie möglich ab.“

Damit war alles gesagt.

Er kehrte ihr den Rücken, ging ans Fenster hinüber und starrte hinaus in die Leere. In diesem Moment verspürte sie tiefes Mitgefühl mit ihm. Wieder fühlte sie die seltsame Präsenz der liebevollen Macht und war sich der Nähe dieser wohlwollenden Wesen bewusst. Kamen sie von ihm oder von den Gedanken und Wünschen, die er hegte, von alldem, was er ihr offenbar nicht anzuvertrauen wagte – oder von dem, was er selbst nicht anzuschauen wagte? Sie ging zu ihm hinüber und stellte sich neben ihn, sah aus dem Fenster. Die Bilder zogen in der Stille an ihr vorüber, und sie lächelte, als sie die alte weißhaarige Frau sah, die in der vibrierenden Staubwolke in der Luft verschwunden war. Dann sagte sie:

„Ich weiß, was du meinst. Ich werde gehen und auf mich nehmen, was ich zu tun habe. Was gäbe es sonst zu tun? Wie könnte ich irgendetwas anderes tun? Es steht geschrieben. Doch erzähle mir, wer sind die Weißgekleideten?“

Ihre Worte entspannten die angespannte Atmosphäre.

„Die Gesellschaft der Bruderschaft entsprang aus ihrer Mitte. Es waren die Weißgekleideten, die die Verhaltensregeln für die Essener begründeten. Sie sind auch Astrologen, Propheten und Heiler. Aber sie sind noch viel mehr als das. Sie sind eine Art Orden von Therapeuten, von dem nur wenige etwas wissen. Ich würde dir gern viel mehr erzählen, aber ich weiß zu wenig darüber. Was jetzt geschieht, hat sich seit langer Zeit vorbereitet. Wenn ich dir mehr erzählen könnte, würde ich es tun.“

„Ist er einer von ihnen?“, fragte sie.

Doch ihre stille, neu gefundene Gewissheit ließ diese Frage sowohl leer als auch sinnlos erscheinen. Sie hatte etwas gefragt, worauf sie die Antwort tatsächlich bereits wusste. Und als sie sah, wie ihr Bruder unruhig seine Fassung zu wahren versuchte, um seiner neuen Würde gerecht zu werden, tat es ihr leid, dass sie die Frage gestellt hatte. Schließlich sagte er:

„Er wurde in der Bruderschaft vom Berg Karmel aufgezogen. Das ist alles, was ich weiß.“

Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen.

„Sag nichts mehr. Es steht geschrieben.“

Magdalena

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