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1. Barcelona – Valencia

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Sagrada Família. Der Ausgangspunkt meiner Wanderung, alles steht noch auf Null, die gelaufenen Kilometer, die Erfahrungen, die Erinnerungen, ja sogar die Perspektiven und auch meine Stimmung ist am absoluten Nullpunkt ... der Vorteil daran: tiefer geht es nicht, es kann nur besser werden und dessen bin ich mir auch vollkommen bewusst, daraus ziehe ich meine Motivation, um meine Wanderung hier und jetzt zu beginnen. Das Ziel ist klar, das Nordkap, auch weitestgehend die Route dorthin, nur denke ich nicht ans Nordkap, an Norwegen, an die deutsche Nordseeküste, an Paris, an die Algarve ... das Nordkap, ja das soll es sein, aber bis dahin werde ich Zwischenziele haben, die mir selbst als gar nicht mal so unrealistisch erscheinen ... am Anfang das Mittelmeer, Valencia und Andalusien ... Gibraltar dagegen scheint schon absolut utopisch ... ich in Gibraltar? Unvorstellbar ... von Gibraltar war zuletzt im Geografie-Unterricht vor 15 Jahren die Rede und damals schien mir Gibraltar am Ende der Welt zu liegen ... also: von Gibraltar, Atlantik und Sevilla träumen, durchaus, aber dorthin zu laufen scheint eigentlich unmöglich ... von Lissabon und Paris wage ich noch nicht einmal zu träumen ... und das Nordkap erst, das scheint wie eine Fabel, die mich jetzt gerade nicht einmal interessiert, da viel zu weit von der Wirklichkeit entfernt ...

Sagrada Família, Barcelona und das Mittelmeer sind schon mal da, das sind die Fakten und diese klingen schon mal gar nicht so übel, schließlich war auch Barcelona noch wenige Stunden zuvor ein riesengroßes Geheimnis, schien mir selbst auf der Fahrt hierher noch völlig irreal, nicht mehr als ein fauler Zauber, aber nun sitze ich tatsächlich hier, auf dem Plaça de Gaudí, keine hundert Meter von der berühmten Basilika entfernt, umgeben von dichter Vegetation, und irgendwie wird mir allmählich klar: die Reise hat bereits begonnen. Angst vor dem Ungewissen, na klar, aber auch Neugierde: Was passiert in der nächsten Stunde, was heute Nacht, was morgen und übermorgen, und wie weit werde ich kommen, 50 Kilometer, 100 Kilometer, vielleicht auch mehr, vielleicht auch viel mehr? Da ich keinen blassen Schimmer habe, was passieren wird (endlich!), ist das alles ungemein aufregend.

Auf einer Parkbank, halb zwei nachmittags an einem Donnerstag, es ist der 2. Februar 2012, und ich schlage erstmals mein Tagebuch auf ... darin steht noch kein Wort geschrieben, ja alles steht noch auf Null ... aber eine Minute später steht der erste Satz kleingeschrieben inmitten kleiner, karierter Kästchen: Die Ostasiaten kommen und versammeln sich um mich herum ... Jeder hat seinen eigenen Fotoapparat dabei und lässt sich mit der Sagrada im Hintergrund ablichten; alles läuft also noch in ganz gewohnten Bahnen ab, vorm Dresdner Zwinger geht es kein bisschen anders zu. Und auch ich habe viele Fotos von Gaudis Lebenswerk geknipst. Dabei empfinde ich den Anblick als gar nicht so beeindruckend, die vielen Baukräne, Gerüste, aber auch Touristen stören da irgendwie; auf Postkarten und Fotografien sieht das immer ganz anders aus, durch Retusche wird man doch so manches Mal gelinkt ...

Meine Wanderung beginnt also mit einer langen Pause. Hier in diesem kleinen Park finde ich endlich die Muße über die 54stündige Anreise zu berichten, um den ersten Eintrag in mein Tagebuch zu meißeln. Nebenbei gibt es Musik vom uralten MP3-Player und auch ein Bierchen, das ich von Zuhause mitgeschleppt habe ... zwischen Basilika und mir befindet sich ein kreisförmiger, seichter Teich, Tauben schmarotzen und ich sinniere darüber, ob ich jemals ihren Grad an Perfektion im Betteln erreichen werde, ich bezweifle es. Here I am heißt es in einem Song, das passt ganz gut. Ich ziehe mir eine Zigarette aus der Schachtel, rauche und starre auf die „Geburtsfassade“ der Basilika, eine erste kleine Träumerei, ein erstes Innehalten, eine erste stille Freude, ein erstes Gefühl endlich „wieder“ zu leben.

Am letzten Januartag klingelte halb sieben der Wecker ... seit Wochen endlich mal keine Zeit um gleich als erstes an sie zu denken ... Gut eine Stunde später schnallte ich meinen Rucksack auf, 25 Kilogramm Gewicht, davon ein Drittel Proviant. Ausgerechnet am Tag zuvor kam noch ein Paket aus Leipzig mit leckerem Essen und Naschkram, meine Mama wollte mir eine Freude bereiten, und dies gelang auch ... Ohne dass sie von meinen Reiseplänen wusste, packte ich alles aus dem Paket in meinen Rucksack, ich hatte nichts zu verschenken, jetzt schon gar nicht mehr, und so war verpflegungstechnisch ein guter Start meiner Wanderung gewährleistet. Auch in meiner Bautzener WG sagte ich niemandem Bescheid, versuchte sogar unauffällig Haus und Gelände zu verlassen ... denn der große Rucksack wäre schon sehr auffällig und merkwürdig zugleich erschienen, und bloß keine unangenehmen Fragen zum Aufbruch! Aber niemand sprach mich an. Als ich um die Ecke war, atmete ich erleichtert auf und lief die zwei Kilometer zum Bahnhof. Ein blauer, wolkenloser Himmel zum Morgen, die Sonne ging gerade auf, so richtig aufheitern konnte mich das aber nicht. Der Zug kam 8.24 Uhr ... ein „Guten Morgen ... Dankeschön“ zum Schaffner, meine ersten Worte auf dieser Reise ... am Stadtwald von Bischofswerda vorbei, ich konnte nicht erkennen ob unser Schneemann noch dort stand ... beim Einfahren in den Bahnhof ein Blick 500 Meter weit zu ihrem Kindergarten, wo sie zu diesem Zeitpunkt gefrühstückt haben wird ... ein Stich in mein Herz ... der Zug verweilte in Bischofswerda zwei bis drei Minuten, Zeit genug um mich von fünf Jahren meines Lebens zu verabschieden ... die Augen drohten nass zu werden, ich sagte zu mir: Reiß dich zusammen, keine Tränen, mach weiter ... Bahnhof Arnsdorf, wo ich in drei Wochen in der Psychiatrie hätte arbeiten sollen: Hätte man mich lieber dort eingewiesen und nie mehr herausgelassen ... 9.13 Uhr in Dresden-Neustadt ausgestiegen, als ein über zwei Meter großer Mann, denn Rucksack und Schlafsack machten mich zwei Köpfe größer ... Auf dem Parkplatz vor der Bahnhofshalle nach einem roten T3-Bus mit SPN-Kennzeichen Ausschau gehalten, aber nichts zu sehen, also wartete ich auf einer Bank, bis 10 Uhr, für diesen Zeitpunkt war die Abfahrt vorgesehen ... Ich blieb ruhig, die Entscheidung, Reise oder nicht, lag nun nicht mehr in meinen Händen. Wäre meine Mitfahrgelegenheit nicht gekommen, wäre ich umgekehrt und hätte in Reue meine Tochter wieder in die Arme schließen können. Als kurz nach zehn immer noch kein alter VW-Bus auftauchte, ging ich zum Münztelefon, rief an ... Karl ging ans Telefon ... „hier ist Lars“ ... „Lars?“ ... „Klappt das heute?“ ... „Ja, wir kommen“ ... anschließend noch mit dem Münztelefon herumgestritten, da ich noch 1,70 Euro hätte zurückbekommen müssen, ich gab es aber schließlich auf und war um eine Erkenntnis schon mal reicher: Handys sind eben doch alles! In dem Moment, wo ich kapitulierte, stand der VW-Bus direkt hinter mir. Hände geschüttelt und außer mir nutzte noch eine junge Frau die Mitfahrgelegenheit ... Ich lächelte in mich hinein, meine erste Mitfahrgelegenheit im Leben und dann auf der Rückbank von einem alten T3, das gefiel mir ... Vorn saßen Karl und Tilo, die Frau, deren Namen in dem Moment wo sie ihn mitgeteilt hatte mir bereits wieder entfallen war, saß links neben mir ... Das Fenster rechts von mir war undicht, die meiste Zeit fror ich, mir schlotterten die Knie und ich hatte eiskalte Füße ... ich sah darin eine gute Eingewöhnung für das Kommende. Karl und Tilo kannten sich bereits seit Jahren, plauderten die ganze Zeit miteinander, wobei man zwei Meter dahinter durch die enorme Motorlautstärke nichts davon verstand, vielleicht auch der Grund warum wir zwei im hinteren Teil des Busses nicht ins Gespräch mit einbezogen worden. Wir gerieten auf der Autobahn in eine Polizeikontrolle und wenig später durften wir weiter. Mit der Frau wechselte ich kurz ein paar Worte, danach liefen die Stunden schweigend dahin, was mir ganz Recht war, zumal ich zu sehr in Gedanken versunken war. Auf der Fahrt kamen mir jede Menge Zweifel, gepaart mit Ängsten. Ich dachte an die Beiden, immer wieder. Dachte dann auch an Stefanie, die einzige „Freundin“ in meinem Leben, der einzige Mensch der von meinen Plänen wusste und vielleicht auch der einzige Mensch, der - von Familie mal abgesehen - hin und wieder an mich denken wird, das wärmte irgendwie, lenkte etwas von meiner unglaublich schweren Melancholie ab. Als dann ab 17 Uhr die Abenddämmerung einsetzte, traf mich ein Gefühl von Reue; mit der Reue mache ich ohnehin meist nur auf Reisen Bekanntschaft. Hätte ich nicht weiter für sie da sein müssen? Aber nun war es zu spät, immer weiter entfernte ich mich von ihr, wenn auch nicht in meinem Herzen. Geld für eine Rückfahrt war nicht vorhanden. Ich schuf bewusst Tatsachen, nun musste ich sie auch akzeptieren.

Als Tilo fuhr, schlug er mit zwei Schlagzeugstöcken nebenbei den Takt ... die Beiden wechselten sich aller 400 bis 500 Kilometer mit der Fahrerei ab. Nebenbei lief laute Musik aus dem Metal-Genre … kannte nichts davon, hörte sich aber gar nicht so übel an. Kurz vor 19 Uhr setzten wir die Frau in Freiburg ab, wenig später waren wir am Rhein und ich zum ersten Mal in meinem Leben in Frankreich. Bei Lyon verließen wir die Autobahn, um auf Landstraßen entlang der Rhone weiterzufahren und nach 30 bis 40 Kilometern kurz hinter der Kleinstadt Vienne den Bus auf einem großen Parkplatz abzustellen ... eine Arschkälte ... nun wo der Motor schwieg und Tilo und Karl zu mir nach hinten kamen, konnte ich sie auch ein wenig kennenlernen ... auf dem Herd wurde Tee gekocht, Cannabis geraucht und entspannt geplaudert … mir widerstrebt es die beiden Mittzwanziger in ein Muster zu packen, ich weiß auch nicht ob sie sich selbst zu einer Gruppe zugehörig fühlen; aber die Vorstellung, die ich von ihnen bekam, glich am ehesten einer Kreuzung aus Punk und Hippie, was ich wiederum als sehr angenehm empfunden habe ... Sie wirkten auf mich sehr gescheit und vor allem belesen (z.B. über Russland, Israel, RAF), wobei beide klugerweise anmerkten, dass man sich niemals nur auf Bücher und Dokumentationen verlassen sollte, wer in die Tiefe gehen möchte, braucht eigene Erfahrungen. Deshalb waren beide auch schon ordentlich rumgekommen (Spanien, Rumänien, Israel) und knüpften überall Kontakte, was ungemein wichtig wäre, wie sie meinten ... ja definitiv: Tilo und Karl verkörpern die Art Mensch, mit der ich am besten kann, bei dessen Anwesenheit ich mich nicht unwohl fühle, ein echt seltenes Phänomen. Gegen 2 Uhr legten wir uns hin, ich im engen Oberbereich, nichts für Leute mit Platzangst, Innentemperaturen von knapp über null Grad ... trotz Schlafsack gefroren und immer wieder wach geworden, etwas skeptisch blickte ich voraus, draußen übernachten?

10 Uhr aufgestanden, draußen quasselten die Franzosen, trotz zwei Jahren Leistungskurs in der Schule verstand ich kein Wort. Der Parkplatz nun voll mit Autos, neun von zehn Autos der Marken Peugeot, Citroën und Renault, auch Marktbuden standen auf einmal hier. Tilo und Karl teilten weiterhin alles mit mir, zum Frühstück - meine erste Mahlzeit seit 28 Stunden - gab es gekochte Eier und erneut heißen Tee ... der Abend und nun der Morgen in gemütlich kleiner Runde gaben mir endlich mal wieder ein Gefühl zu leben. In der Sierra Nevada gäbe es bei Granada auf etwa tausend Meter Höhe ein Hippie-Dorf, wo sie hinwollten und wo ich mich doch mal blicken lassen könnte. 11 Uhr wurde die Fahrt fortgesetzt, Richtung Nîmes, Strecke nun bergiger. Tilo gab mir eine Hard-Rock-Zeitung, Titelgeschichte über Black Sabbath, interessant, auch wenn ich nach der Hälfte des Artikels mit Lesen aufhören musste, da es mir bei der Vielzahl an Kreisverkehren irgendwann im Kopf drehte. Auch am zweiten Tag überwogen Zweifel, Reue und Angst ... Gedanken an die Beiden, wie ohne sie leben, wo ich nun alles hinter mir abgebrochen habe ... Die Sonne schien und 16 Uhr kamen wir in Montpellier an, die Fahrt zog sich jedoch länger als ich vorher annahm. Auf dem Parkplatz vor einem riesigen Supermarkt beobachtete ich ein kleines Mädchen, beisammen mit einem Mann, einer Frau und einem Hund ... nun ja, alles hat seine Zeit. Anschließend fanden wir lang nicht aus Montpellier heraus, drehten auch hier immer wieder Extrarunden in den Kreisverkehren (Rekord: fünfmal) ... Flamingos am seichten Ufer des Mittelmeers, ein ungewohnter Anblick ... Die Abenddämmerung setzte ein und ich bekam Angst vor meiner ersten Nacht im Freien, aber auch Angst mal wieder zu scheitern, Angst ein Versager zu sein, Angst ein Niemand zu sein, wo ich nun auch niemand mehr habe, der mich in seine Arme nehmen könnte ... bis zu meiner Abreise war mir das nie wichtig, jetzt schon, ich spürte die Einsamkeit immer näher kommen ... ich wusste, dass ich nicht so ein harter Kerl war, der ich immer sein wollte; vor allem nach außen mimte ich gern den Rambo, nur halt mit dünneren, okay viel dünneren Oberarmen. Gegen 21 Uhr parkten wir für eine kurze Pause oberhalb einer Klippe, es war stockduster, so dass man die brechenden Wellen des Mittelmeeres nur hören und nicht sehen konnte. Während wir uns einen Joint teilten, stürmte es und der Bus hätte sich fast in den Schlaf schaukeln lassen, wenn nicht im nächsten Moment der laute Motor seinen Dienst wiederaufgenommen und so alle lieben und bösen Schäfchen verjagt hätte. Immer in Küstennähe ging es noch bis kurz vor Mitternacht voran, ehe wir den Bus an einem ruhigen Plätzchen auf einer Anhöhe im Nirgendwo parkten und uns wieder gemütlich zusammensetzten. Die Jungs bereiteten Rührei zu, was wir auf Brotscheiben vertilgten. Zwei weitere Joints gingen durch die kleine Runde, dazu eine gutgemeinte Mischung aus Korn und Cola, und entspannt hörte ich die meiste Zeit den beiden Männern und ihren Geschichten zu, sie hatten mehr zu erzählen als ich. Karl erwähnte dabei seine jüngere Schwester Paula … nichts zu machen, die Kleine reist mit mir, egal wohin ich auch gehe. Wie am Vortag hauten wir uns gegen zwei Uhr hin, ich schlief dank Cannabis und Korn prima; Hilfsmittel die ich ab der kommenden Nacht nicht mehr haben werde.

Kurz nach zehn aus der Koje raus, draußen Schnee, wie wunderbar („ach du Scheiße“) … die ersten Fotos der Reise geknipst, soll ja schließlich jeder erfahren unter welch widrigen Bedingungen ich zum Anfang dieser Reise zu kämpfen hatte … denn wer Spanien hört, denkt nicht zuallererst an Schnee, vermute ich jedenfalls. Für die restlichen einhundert Kilometer benötigten wir noch knapp zwei Stunden, unterwegs den ein oder anderen Lidl oder auch McDonalds gesehen, die Erde drehte sich also noch in der richtigen Bahn, alles war in Ordnung. Kurz vor Barcelona begann es zu regnen, das Thermometer sauste nach oben und erreichte vier Grad. Punkt 12.21 Uhr setzten mich meine Gefährten in Badalona ab, zehn Kilometer nördlich des Zentrums von Barcelona. Ich gab Tilo einhundert Euro für die Fahrt, bedankte mich und mit einem wärmenden Lächeln wünschten wir einander alles Gute. Nun war ich also allein, der Schutz des Busses und der Begleiter dahin. Nach ein paar hundert Metern machte ich noch eine kleine Pause, um das Gepäck zu richten und noch einmal kräftig durchzupusten. Bei Nieselregen zur Metro und nach elf Stationen an der Haltestelle Sagrada Família ausgestiegen. Während der kurzen Fahrt hatte es aufgehört zu regnen, ein erstes Mal im Glück, beziehungsweise ein erstes Mal bewusst im Glück ... vielleicht hatte ich schon auf dem Weg hierher Glück, hier eine Minute eher, dort eine Minute später und das ganze Leben kann sich in eine ganz andere Bahn begeben.

So ist es aber möglich, dass ich mich hier bereits seit drei Stunden unter freiem Himmel im kleinen Park aufhalte und einen ersten unvergesslichen Moment an einem unvergesslichen Ort erfahre. Weitere Touristen kommen und knipsen, in erster Linie sich selbst, zweimal diene ich auch als Kameramann. Natürlich wird auch Deutsch gesprochen. Ein Kerl blickt auf meinen Rucksack, dies genügt um mir eine gute Reise zu wünschen. Man sieht mir wohl an, dass ich noch nicht lange unterwegs sein kann. Trotz der kleinen Nebenbetätigung (unentgeltlich!) beginne ich zu frieren. Die Angst vor der kommenden Nacht ist groß, wird zunehmend größer. Weitere Touristenströme rauschen an mir vorbei: na leck mich doch am Arsch, notiere ich dazu nebenbei in mein Tagebuch. Mein hoher Rucksack neben mir auf der Bank vermiest ihnen ihre Bilder, aber vielleicht sehe auch ich das nur so. Die 1800 Kilometer von Dresden nach Barcelona werden wohl der einzig leichte Teil dieser Reise gewesen sein, was jetzt kommt, stelle ich mir ein wenig wie Krieg vor, martialisch, ich weiß, aber ich ziehe in die Schlacht und mein größter und stärkster Feind ist der Schmerz, der mich fortwährend mit Erinnerungen bombardieren wird. Viertel fünf, jede Pause geht einmal zu Ende, es wird Zeit, die Wanderung beginnt!

Schon in der ersten Stunde geht es mächtig auf und ab, nicht die Straßen und Fußwege, sondern in meinem Inneren. Diese extrem schnellen Stimmungsschwankungen erreiche ich immer nur auf Reisen. Von der Sagrada geht es schnurgerade Richtung Süden, zweifle kurz ob ich überhaupt in die richtige Richtung laufe, aber ein Blick in die Stadtkarte in meinem Autoatlas kann den Zweifel beseitigen. Was Barcelona betrifft, hält mich nach der Basilika nichts weiter im Zentrum, ich möchte jetzt endlich das Meer sehen, riechen und fühlen. Über die Stadt kann ich mir kein Urteil bilden, es ist halt eine Großstadt wie jede andere auch, viel Lärm (um nichts?), viele Menschen, viele Fotoapparate, kaum Rückzugsmöglichkeiten, aber immerhin mit gleich zwei besonderen Kunstwerken: Sagrada Família und Lionel Messi. Die Frage ist nur, was zuerst ein Ende finden wird, Messis Karriere oder die Bauarbeiten an der Kirche. Beim Laufen über die Fußwege kommt keine Freude auf, ich bin im Großstadttrubel etwas gestresst, fühle mich nicht wohl und überall sehe und höre ich kleine Kinder, deren Gesichter und Stimmen mir wehtun … ein Mann kann eine Frau lieben, aber es gibt keine größere Liebe als die Liebe eines Vaters für seine Tochter. Wenn ich so laufe, schweigend und beobachtend, sinkt die Stimmung ins Bodenlose und ich frage mich: Wozu? Aber schließlich ist es soweit, der erste Blick aufs Meer, eine milde Brise weht mir ins Gesicht, ein bestärkendes Gefühl, der erste Auftrieb … geh weiter, auch wenn gleich die nächsten Rück- und Tiefschläge folgen werden, aber hin und wieder wirst du belohnt werden. Ich verweile kurz am Puerto Olímpico, wo die Jachten wie Schmeißfliegen aneinanderkleben, und mir wird dabei bewusst, dass die nächsten zwölf Stunden die wichtigsten Stunden der gesamten Reise werden … es wird Einsichten hageln … ich laufe nun direkt drauf zu … ich lebe …

Ich laufe die Strandpromenade entlang, bis zum Ende, schöner Weg, nur leider Sackgasse, das hier ist ja eine Halbinsel, hätte mal etwas besser auf die Karte schauen sollen. Der Rucksack macht sich bereits bemerkbar, auch die Schuhe drücken. Die Abenddämmerung beginnt und ich laufe wieder einen Teil der Strecke zurück, fühle mich einsam, denn überall um mich herum sehe ich Pärchen und Grüppchen. Ich setze mich auf die Holzbohlen der Promenade, zwanzig Meter neben mir sitzt eine siebenköpfige Frauengruppe, junge Frauen, weshalb ich nicht ganz so sehr das Gefühl habe, allein zu sein. Ja, ich sehne mich nach Gesellschaft, nach einer Frau … mir bleibt jedoch nur ein zweites Bier, aber immerhin … rauche, esse Waffeln, kann im letzten Tageslicht noch einmal kurz abschalten, bevor die Nacht beginnt. Ich blicke mich ein wenig um, ob ein freundliches Frauengesicht zu mir blickt, aber nichts. Die vielen Spaziergänger um mich herum beruhigen mich, auch das Meer mit seinen drei Meter hohen Wellen; eine Vielzahl an Surfern stiehlt mir gerade die Show, sie ernten die Blicke, warum auch nicht. Hinter mir ist Barcelona bereits hell erleuchtet, die Nacht ist da, ich schinde noch etwas Zeit und frage mich: Was bin ich nur für ein Idiot? Ich betrachte noch ein Passfoto von ihr, wo sie anderthalb Jahre alt ist … ich blicke zum Mond, weil wir oft gemeinsam zu ihm hinaufgeschaut haben. Der Gedanke, dass sie mich schon in einigen Wochen vergessen haben wird, schmerzt. Mir kommt dann auch noch ein zweiter Gedanke, der Gedanke mich einfach ins Meer zu stürzen, die hohen Wellen würden mich schon drankriegen …

19 Uhr geht es weiter, zum großen Hafen, auch da geht es auf einmal nicht weiter … das Lehrgeld springt aus meinen Taschen und tanzt auf meine Kosten, etwas hilflos schaue ich dabei zu und komme noch nicht so recht vom Fleck. Um weiter nach Südwesten zu kommen, bleibt mir nichts anderes übrig als die Autobahn zu überqueren, kein Problem, nur den richtigen Moment abgewartet, es wird nicht einmal gehupt. Ich komme auf die kaum befahrene Serpentinenstraße Carretera de Miramar, es geht den Montjuïc-Berg hinauf, kurzer Abstecher in den Botanischen Garten, nicht aus Interesse an Botanik, sondern vielmehr aus Ratlosigkeit wo ich als nächstes langgehen soll … dieser Montjuïc-Irrgarten mit seinen vielen kleinen Gärten ist sicherlich in der Muße sehr angenehm, in diesem Augenblick ist aber alles irgendwie frustrierend. Andauernd starre ich auf meine Karte oder auf irgendwelche Wegweiser und kann trotzdem nichts entschlüsseln. Ich gehe mal hier lang, mal dort, blicke auf die Stadt hinab, laufe am Olympiastadion vorbei, überlege ob ich mich hinlegen soll, die vielen Parkbänke sind verlockend. Aber ich bin erst so wenige Kilometer gelaufen, noch nicht vorangekommen, wenigstens den richtigen Weg möchte ich erst mal finden. Zwischendurch kann ich mich schon mal einer Sorge entledigen, ein kleiner Wald dient als Klo, einfacher als gedacht … der erste Schritt zum Tier, die Metamorphose beginnt. Ich verlasse das Parkgelände und bin weiterhin vergeblich auf der Suche nach einer Straße raus aus Barcelona. Die Polizei stoppt neben mir und weist mich freundlich darauf hin, dass ich in die falsche Richtung laufe, vor mir käme nur noch die Autobahn und da würde ich ja wohl nicht langlaufen wollen. Einer der beiden Polizisten gibt mir den Tipp, eine Unterkunft zu suchen, da es draußen zum Übernachten zu kalt wäre. Die beiden Polizisten weisen mir den Weg und so irre ich weiter am Stadtrand entlang. Irgendwann geht es dann mal wieder nicht weiter, da Autobahn oder Schnellstraße im Weg, und dahinter liegt auch noch das große Flughafengelände. Ich bin nun doch mächtig angefressen, dass ich wegen diesen scheiß Autos solch einen Umweg gehen muss, beziehungsweise was noch schlimmer ist: ich weiß mal wieder nicht wo ich noch lang könnte. In Anbetracht meiner Resignation wäre ein warmes Bett genau richtig. Ich kehre wieder um und suche nach einem Ausweg, bis 1 Uhr irre ich durch die Stadt, werde müde und falle schließlich dann doch auf die erstbeste Bank, bei einem großen Spielplatz, wo um diese Uhrzeit kaum noch Leute vorbeikommen. Jacke und Hose aus, rein in den Schlafsack …

Meine erste Nacht im Freien bringt eine erfreuliche Erkenntnis: der Schlafsack hält auch bei null Grad einigermaßen warm. Auch wenn ich nicht viel schlafe, so kann ich mich bis halb sechs – was ich nicht erwartet habe – ausruhen. Klar, hin und wieder reibe ich mir die Beine, weil es mich etwas fröstelt und aus Sorge um meinen Rucksack halte ich diesen die „ganze“ Nacht fest. Aber insgesamt bin ich von der ersten Nacht positiv überrascht, blicke jetzt weniger ängstlich in die Zukunft, zumindest was dies betrifft. In der morgendlichen Kälte mache ich mich auf dem Weg durch die schlummernde Stadt, noch immer in vollkommener Ahnungslosigkeit. Immerhin finde ich heraus, dass ich in der Nähe des Parque de Can Mercader geschlafen habe, was aber auch nichts anderes bedeutet, als dass ich schon wieder viel zu weit vom Weg abgekommen bin. Der Polizist gab mir einen zweiten Tipp und ich beschließe nun darauf zu hören: Mit dem Zug raus aus Barcelona. In der U-Bahn geht es sieben Haltestellen zurück ins Zentrum (Sants Estació), in den Bahnhof hinein, Zugticket gekauft, und nach zwanzig Minuten Fahrtzeit erreiche ich in der Morgendämmerung den ersten Küstenort hinter Barcelona, Castelldefels. Alles in allem bin ich 30 Kilometer umsonst gelaufen, habe von Barcelona das gesehen, was man wohl als Tourist normalerweise nicht zu Gesicht bekommt, was weder positiv noch negativ Eindruck auf mich gemacht hat. Ich wüsste nicht ob ich noch mal diese Odyssee mitmachen oder gleich in den Zug steigen würde … aber gerade wegen dieser Odyssee durch Barcelona wird die vergangene Nacht unvergesslich bleiben … also hör endlich auf, so eine traurige Schnute zu ziehen!

Ich darf nicht so oft an die Beiden denken, sonst würde ich – ohnehin in einer schwierigen Situation hier – vom Schmerz zerfressen werden. Was habe ich denn auch schon für Alternativen? Dahinvegetieren, während sie mit der Kleinen und ihrem neuen Kerl einen auf glückliche Familie macht? Auch nicht wirklich verlockend. Die Vorstellung für meine Tochter da sein zu können, unabhängig was ihre Mutter treibt, bleibt … Job in ihrer Nähe suchen, eine kleine Wohnung beziehen, glückliche Stunden mit ihr verbringen – wäre das nicht Lebenssinn genug? Vielleicht, aber jetzt musste ich einfach fort, meine Schuld sühnen und Reue fühlen … und das alles wegen einer Frau … deutliche Anzeichen von Geistesgestörtheit. Nein, es gibt wohl kein Zurück, es wird Zeit dies einzusehen, genauso wie die Tatsache, dass ich völlig allein meinen Weg beschreiten muss, also: Nordkap oder Tod! Es liegt an mir …

Vom Bahnhof brauche ich eine halbe Stunde bis zum Meer und komme pünktlich zum Sonnenaufgang an, das wärmt gleich doppelt. Nun kann ich endlich direkt am Meer laufen, auf Sand, auf Promenaden, je nachdem, genau wie ich mir das vorgestellt habe. Ich stoße wieder auf einen Jachthafen, tappe zum zweiten Mal in dieselbe Falle – Sackgasse. Zurück und hinauf auf die vielbefahrene Fernstraße, wo die Autos doch sehr nah an mir vorbeirasen, unangenehm, aber keine Alternative, es ist die einzige Straße zwischen Meer und dem bergigen Hinterland der Costa del Garraf. Angst habe ich keine, totgefahren zu werden würde ja nur alles vereinfachen, sehr sogar. Ich laufe und laufe, die Straße zieht sich viele Kilometer weit, stets oberhalb der Küste, aber kein Wanderweg um die Landschaft zu genießen. Erst 13 Uhr erreiche ich Sitges und den leeren Strand, wo ich mir endlich eine Pause gönne. Ich muss aus den Schuhen raus, betrachte meine Füße … der Asphalt hat bereits Spuren hinterlassen, am kleinen Zeh des linken Fußes habe ich eine Blase, die größer als der ganze Zeh ist. Ich beginne mir deswegen Sorgen zu machen, aber ich muss mich jetzt irgendwie durchbeißen … und auch morgen und übermorgen … aber was mache ich eigentlich, wenn die Füße zu sehr schmerzen? Dagegen werden mir das bisschen Muskelkater in den Schenkeln und die durch den Rucksack verursachten Schmerzen in den Schultern auf lange Sicht weniger Probleme bereiten. Obwohl die Sonne scheint, ist es doch noch sehr frisch, vor allem wenn Wind aufkommt … bin mir unsicher ob ich bereits jetzt direkt am Meer pennen kann, ich werde es versuchen, aber die kommende Nacht droht härter zu werden … fest steht nur eins: ich werde es überleben, irgendwie …

Von Sitges aus geht es weiter am Strand, lande erneut in einer Sackgasse, muss den Golfplatz Club de Golf Terramar umlaufen. Komme dabei zum ersten Mal auf einen regulären Wanderweg, der durchaus zu gefallen weiß, sein größter Vorzug: keine Menschenseele außer mir. Es geht am Wasser entlang, schließlich hinauf auf die Steilklippen des Naturreservats Massís del Garraf … dabei finde ich ein herrliches Fleckchen am Rand der Klippe, lasse die Beine baumeln, die Wellen dabei unter mir brechend. Das wäre eigentlich ein Moment um glücklich zu sein, ich bin es bloß leider nicht, es kommt mir vor als hätte ich bereits aufgegeben. Ich versuche mich mit Musik abzulenken, rauche, hinter mir rauscht der Zug vorbei. Wenn es nicht so teuer wäre, würde ich noch heute zurückfahren. Ein Mann mit einer großen Kamera erscheint hinter mir und sucht sich einen Platz abseits von mir. Aber im Grunde sehe ich ihn gar nicht, fühle da nur eine unendliche Traurigkeit in mir, passend zu der Gewaltigkeit und Unzähmbarkeit des Meeres … ich kann meine Schmerzen nicht zähmen, ich will sie in meine Arme nehmen, nie mehr loslassen, nie mehr reisen. Ich merke, dass ich satt bin, wo ist das Fernweh, was mich all die letzten Jahre so gequält hat? Dass ich unterwegs auf andere Gedanken komme, ist bis jetzt noch nicht eingetreten. Ich verlasse diesen schönen Pausenplatz, laufe mit Musik in den Ohren über steinige Wege und durch einen kleinen Wald, während die Sonne direkt vor meinen Augen kurz nach sechs untergeht und es dunkel wird. Keine Straße in der Nähe, nur die Bahngleise, die, anders als die Autos auf dem Asphalt, mich irgendwie beruhigen. Die Ruhe wird nur kurz gestört, als der Zug zwei Meter neben mir vorbeirauscht … die Chance zum Selbstmord vertan. Die Batterie des MP3-Players macht just in den Moment schlapp, wo ich die erste Bank auf der Strandpromenade von Vilanova i la Geltrú erreiche. Ist die Sonne einmal weg, wird es schlagartig kalt. Dennoch nutze ich die Pause um etwas Tagebuch zu schreiben, fast 40 Kilometer bin ich an diesem Tag gelaufen.

Nach der kurzen Pause breche ich wieder auf, schwanke auf den ersten Metern, bemerke den Nachteil an Pausen: Hat man Schmerzen und ist in Bewegung, ist alles nur halb so schlimm … macht man aber eine Pause, lässt den Körper abkühlen, wird man beim Neustart die Schmerzen mit voller Wucht spüren und es braucht erst mal ein paar Minuten, bis man sich wieder eingelaufen hat. Mit lädierten Füßen und einem jaulenden Wolf zwischen den Beinen laufe ich ins Stadtzentrum, alles etwas größer als gedacht … kaufe zum ersten Mal etwas ein, Cola und Bier, das erste aus Gründen des Durstes, das zweite ist ein Bedürfnis und in den letzten Wochen zur Gewohnheit geworden. Mit der Bierdose in der Hand zittere ich mir einen ab, die null Grad fühlen sich kälter an als in Barcelona. Ich suche nach einer Bank, wo ich pennen kann, mag lieber hier in der Stadt schlafen als zwischen zwei Orten – warum das so ist, keine Ahnung. In Hafennähe finde ich eine Bank an einem Spazierweg, die nächste Straße weit genug entfernt, das Meer im Blick. Diesmal lege ich auch meine Isomatte drunter, kann jedenfalls nicht schaden. Es kommen dann doch mehr Leute vorbei als vermutet, ich kann nicht schlafen, aber ich brauche die Pause. Nach zwei Stunden friere ich bereits sehr stark, kann mich aber nicht dazu aufraffen, aufzustehen und die Schlafsachen wieder einzupacken, für einen Nachtlauf fühle ich mich auch gar nicht bereit. Wenn die Pause zur Strapaze wird, käme ich sogar auf die Idee mein Todesurteil zu unterzeichnen, zumindest würde ich ohne zu zögern dem Teufel meine Seele verpfänden … was man nicht alles für ein warmes Bett hergeben würde. Ich döse noch bis kurz nach halb eins weiter, dann höre ich ein Auto auf dem Spazierweg langsam an mir vorbeifahren. Ich kann mir sofort denken wer das wohl sein mag und als drei Sekunden später das Auto bremst, ich mich aufrichte, mir ein „hola“ gegen die müde Rübe geschleudert wird, bekomme ich die Bestätigung. Zweiter Tag, zum zweiten Mal Polizei, mit dem unauffälligen Verhalten klappt es noch nicht so recht. Da ich die Gesetze in Spanien nicht kenne, versuche ich vorzubeugen, indem ich den beiden Polizisten mitteile, dass ich hier nur eine kurze Pause gemacht und nun wieder Kraft genug habe um weiterzulaufen, es mir einfach blendend geht. Das nehmen sie mir nicht so wirklich ab; der eine weiß gar nicht was er von mir halten soll, denn er versteht kein Englisch. Der andere übernimmt das Sprechen und überrascht mich, denn während ich zornige Vorwürfe erwarte, spricht er in aller Milde zu mir, fragt ob ich ein Obdachloser bin und kein Geld für ein Hotel habe. Er betastet meinen Schlafsack, hält ihn für diese Temperaturen zu dünn … ich lächle und sage, dass es durchaus auszuhalten ist. Die Nervosität ist schnell verflogen, die Polizei mal nicht als Feind wahrnehmen, wie wunderbar … Die Beiden sprechen schließlich Spanisch miteinander, meine Ohren spitzen sich, weil ich glaube irgendetwas von „Hospital“ zu hören, oh weh … der eine richtet wieder das Wort an mich: In Vilanova gibt es zurzeit einen „Service“ (wie er es nannte), wo Obdachlosen freie Logis im Hotel gewährt wird, da der Winter deutlich kälter als üblich ist und bereits Menschen erfroren sind. Also wenn ich möchte, kann ich mit ihnen kommen und das Angebot wahrnehmen. Ich brauch nichts antworten, das Strahlen in meinem Gesicht ist Auskunft genug. Da bitten mich zwei Polizisten die Nacht im Hotel zu verbringen, ohne dass ich dafür bezahlen muss, zum ersten Mal wurde ich so richtig überrascht. Ich packe meine Sachen zusammen, während die beiden Polizisten, die sehr zu frieren scheinen, im Auto warten. Und schließlich sitze ich zum zweiten Mal in meinem Leben in einem Polizeiwagen, bloß das Ziel ist ein anderes: anstatt Psychiatrie geht es ins Hotel, was in manchen Fällen sicherlich einer psychiatrischen Anstalt sehr nahekommt. Im Streifenwagen bekommen wir eine Durchsage, ich verstehe nichts, merke nur, dass wir auf einmal auf der Suche nach irgendetwas oder irgendjemand sind. Wir fahren schmale Gassen entlang, finden aber nichts, schade. Also weiter zur Polizeiwache, Formulare werden ausgefüllt, nichts darf in Vergessenheit geraten. Wir plaudern nebenbei noch etwas und sitzen schließlich wieder im Auto, weiter zum Hostal Can Gatell, gleich bei der Uni, dreihundert Meter vom Bahnhof entfernt. Geklingelt, ein müder Mann kommt runter, wir gehen rein, an der Rezeption wird mein Ausweis kopiert, bekomme Zimmerschlüssel 116, bis 12 Uhr kann ich das Zimmer nutzen. Der Polizist fragt mich ob nun alles in Ordnung ist … alles ist gut, alles ist wunderbar, es fühlt sich gut an, ich lächle und wir reichen einander die Hände, ich danke ihnen. Sie haben also nicht von „Hospital“, sondern von „Hostal“ gesprochen, das gefällt mir doch schon besser, viel besser. Nun habe ich also Bekanntschaft gemacht mit zwei ehrlich besorgten Polizisten, die mir keinen einzigen Vorwurf ins Gesicht geschleudert haben … ACAB? Von wegen …

Es ist ein kleines Hotel im Zentrum von Vilanova, keine Stimmen zu hören, das Einzelzimmer macht normalerweise 40 Euro. Auf meinem Zimmer koste ich die warme Nacht voll aus, bleibe noch lang wach, lade die Akkus für Kamera und Handy auf; letzteres ohne SIM-Karte, ich nutze es als Uhr und bescheidene Taschenlampe. Es ist auch gut, dass ich kein Handy im eigentlichen Sinne bei mir habe, ansonsten hätte ich mich als wehleidiger Baby-Arsch schon längst bei ihr gemeldet und um sonst was gebettelt, zum Beispiel um ihre Liebe. Da dies aber nicht drin ist, gönne ich meinem Hintern die erste Dusche dieser Reise, auch die Unterwäsche wird erstmals gewechselt, der Weg zum Tier ist noch weit, das kommt nicht von jetzt auf gleich. Ich schaue in den Spiegel, sehe irgendwie scheiße aus, wirkt aber immerhin authentischer. Gegen zwei liege ich gedankenversunken in meinem weichen Bett, in mir fühle ich eine Dankbarkeit für diese Gelegenheit wieder zu Kräften zu kommen, „frisch“ den nächsten Ritt zu beginnen und was am wichtigsten ist: ich empfinde zum ersten Mal auf dieser Reise pures Glück, erstmals tritt das ein was ich mir vorher erhofft habe und mir für die nächsten Monate erhoffe.

Am nächsten Morgen breche ich erst 11 Uhr auf, kaufe mir in der Stadt ein Baguette, esse dazu aus Deutschland mitgeschleppte Salami. Am Strand ankommend, wird es mir schließlich zu warm, Jacke aus, während viele Spanier in voller Montur, einschließlich Handschuhen, herumlaufen. Aber in der Sonne, zumal in Bewegung, ist es warm. Ich fühle mich wohl, bin voller Tatendrang, will nach dem heutigen Tag die ersten einhundert Kilometer hinter mir haben. Der Wanderweg führt auch hier weiter, auf der Strandpromenade gelange ich nach Cubelles, wo ich auf einer Bank eine Pause einlege, dabei wieder meine Füße inspizierend … es werden an beiden Füßen immer mehr Blasen … Kein Lamentieren, weiter geht es an der katalanischen Küste, immer direkt am Strand entlang, meist auf Rad- oder Fußwegen, was ein ordentliches Vorankommen ermöglicht, obwohl ich doch arg mit dem Rucksack zu kämpfen habe; mal zwei bis vier Stunden durchlaufen, wie vor fünf Jahren auf Irland, ist nicht … Aufkeimende Gedanken an die Beiden werden heute bisher sofort erstickt. Stattdessen suche ich den Kontakt zum Meer, meine nackten Füße bekommen einen ordentlichen Schwapp ab. Lust auf Baden? Keineswegs … viel zu kalt (etwa zwölf Grad). Von Cubelles über Calafell nach El Vendrell, kleine Städte im fünfstelligen Tausenderbereich, im Februar alles recht verschlafen, nur wenig Menschen zu sehen, die großen Strände meist völlig verwaist. Nach 20 Kilometern an diesem Tag ist von der Morgenfrische nichts mehr zu spüren, ich bin wieder mitten drin im Wanderalltag. Während die Sonne untergeht, laufe ich gerade auf einem dieser menschenleeren Strände, über zehn Kilometer lang nur die Wellen, das Meer und ich … nachts am Strand laufen sorgt für eine ganz besondere Atmosphäre – es ist mein erster Nachtspaziergang direkt am Meer, und ich hoffe dies noch oft erleben zu dürfen. In der Nacht ist es dann auch wirklich auffallend, wie wenig Menschen zurzeit hier sind … Hotels, Ferienhäuser, ganze Wohnblöcke stehen völlig leer, kein Lichtlein brennt, etwas gespenstisch. Natürlich wird es hier im Sommer ganz anders aussehen, trotzdem habe ich den Eindruck, dass hier am Meer eindeutig zu viel gebaut wurde. Ich erreiche vom Strand aus endlich den Ort Torredembarra … kurz vor dem Hafen komme ich mir vor wie in der Unendlichen Geschichte: Einhundert Meter breiter Strand und mittendrin zwei Palmen, die fünf Meter auseinanderstehen, ansonsten nichts, auch weiterhin keine Menschenseele. Ich stehe zwischen ihnen, schaue zur einen hinauf, zur anderen … aber es öffnen sich keine Augen … das Ganze nach zweihundert Metern ein zweites Mal … die zehn Meter hohen Bäume verursachen in mir schon ein merkwürdiges Gefühl, zumal vom runden Mond hell beleuchtet, so dass ihr Schatten gut zu erkennen ist. Nebenbei kommt mir der Gedanke, dass dieser dritte Tag an mich geht, Anschlusstreffer, zum ersten Mal überwiegen die positiven Gefühle … ich darf halt einfach nur nicht so oft an sie denken.

Nach einer kurzen Pause am Hafen erlebe ich einen körperlichen Einbruch, es geht nur noch mit halber Geschwindigkeit voran. In der Stadt schaue ich mich nach einer Jugendherberge um, obwohl ich nicht weiß warum, da ich mir ohnehin keine leisten kann. Ich sehe weder eine Herberge noch einen Platz wo ich mich aufs Ohr hauen könnte. Zurück am Meer gelange ich auf einem Pfad zum Leuchtturm hinauf, finde den Gedanken schön dort an seiner Seite zu schlafen, aber oben finde ich Häuser vor, was mich abschreckt, obwohl kein Lichtlein in ihnen brennt. Ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich es schon immer schön an Leuchttürmen fand, vor allem nachts. Ich laufe weiter, es ist eine helle Nacht, passiere die Burg von Tamarit. Schmale Wege durch Gestrüpp und auf Gestein führen mich schließlich kurz nach Mitternacht zu meinem Ruheplatz, eine Bank direkt am Meer. Alles sehr ruhig, keine Leute mehr unterwegs, nur die Blessuren an und in meinem Körper geben einen Mucks von sich. Ich denke an sie, daran wo und wie sie ihn kennengelernt haben könnte. Ich versuche die Gedanken zu verscheuchen, um einzuschlafen, was nicht funktioniert. Ich merke, dass mir jeder Gedanke an die Beiden nicht gut bekommt und es würde mir auch alles Kommende vermiesen, weshalb ich die Momente des Erinnerns bedachter auswählen sollte. Nach nur einer Stunde muss ich wieder aufstehen, es ist zu kalt. Weiter auf dunklen zugewachsenen Wegen, die ich so manches Mal auch nicht gleich finde, beziehungsweise verfehle. Am Strand von La Móra rauche ich, es ist einsam, aber es ist einer dieser schönen, sehr angenehmen einsamen Momente. Halb fünf muss ich kurz vor der größeren Stadt Tarragona das Meer verlassen, auf einer freien Landstraße geht es parallel zu Eisenbahngleisen und Autobahn in die Stadt hinein. Dabei bin ich überraschend gut drauf, das nächtliche Wandern ist gar nicht mal so übel, zumindest muss ich mir deswegen jetzt nicht mehr den Kopf zerbrechen, ich sehe es ist möglich. Noch am Ortsanfang überkommt mich dann jedoch die Müdigkeit und ich lasse mich auf einem Nadelboden zwischen Palmengewächsen und Nadelbäumen fallen, ein winziges grünes Fleckchen, umgeben von Straßen, jedoch gut sichtgeschützt. Ich kann fast zwei Stunden schlafen, dann ist die Nacht auch schon wieder vorbei.

Am Strand geht soeben die Sonne auf, mein derzeit liebstes Fotomotiv. Die Küste wird steinig, große Brocken, auf denen ich entlang balanciere, das Meer immer nur wenige Meter oder Zentimeter neben mir. Mein Wasser kann ich regelmäßig an Wassersäulen auf den Promenaden auffüllen, ich vermute einfach mal, dass es sich dabei um Trinkwasser handelt. Alte Probleme an der Kniescheibe machen sich bemerkbar, eine neue Sorge, denn einmal entzündet, kann es zu einer monatelangen Tortur werden. Am Hafen von Tarragona sind frische drei Grad, die Nase läuft bereits vom ersten Tag an, die Lippen platzen auf. Muss den großen Hafen umlaufen, zehn Kilometer auf Asphalt, dabei auf dem Randstreifen einer zweispurigen Schnellstraße gehend. 11 Uhr habe ich bereits 30 Kilometer in den Beinen, 70 Kilometer in den letzten 24 Stunden, und brauche dringend eine längere Pause. Nur gerade in dem Moment, als ich endlich den Hafen hinter mir lasse und den Strand von Vila-seca erreiche, legt auch die Sonne eine Pause ein … im Schatten ist es noch zu frisch um irgendwo länger zu verweilen. Jedoch fallen mir schließlich sogar die Augen beim Laufen zu und bei einer Bank beschließe ich meine Schlafsachen auszukramen, aber denkste, in dem Moment beginnt es zu nieseln. Kein schlimmer Regenguss, aber die ersten Tropfen seit Barcelona. Regenzeug übergestreift und weiter. Aller 30 Minuten brauche ich eine kurze Pause, laufe auf Sand oder Fußwegen entlang des Strandes, erreiche Cambrils … für mich sehen die Orte hier alle gleich aus, werde schon in einigen Tagen vergessen haben, wie es nun speziell in Cambrils aussieht, in erster Linie bestimmt der Tourismus in all diesen Orten das Stadtbild. Die Sonne taucht kurz vor ihrem Untergang wieder auf, bei einer Pause schaue ich mir meine bisherigen Fotos an, ein wärmendes Gefühl. Halb neun erreiche ich endlich meinen Schlafplatz, am Strand, etwas geschützt von Gebüschen links und rechts von mir, zehn Meter vor mir spuckt das Meer seine Wellen aus, neugierig beobachtet vom Mond. In meiner Vermessenheit behaupte ich mal den Tag für mich verbuchen zu können, neuer Stand: 2:2. Vier Stunden bleibe ich hier liegen, länger als gedacht halte ich der Kälte stand, kann sogar etwas schlafen; der angenehmste Schlafplatz bisher. Dennoch bin ich auch nach dieser Pause ziemlich kaputt, laufe einsam am Strand entlang, immer nach Südwesten. Lege dann eine zweite Schlafpause ein, hinter einer kleinen Strandhütte, wo ich immerhin etwas gegen den Wind geschützt bin. Im ersten Tageslicht werde ich mittlerweile schon ganz automatisch wach, verpasse so keinen Sonnenaufgang.

Am Strand geht es dann mal ausnahmsweise nicht weiter, ich klettere am Fuß des El Torn hinauf, hoffend, dass es da oben schon irgendwie vorangeht, wenn möglich in die richtige Richtung. Dass ich hier auf keinen einzigen Menschen stoße, hat noch nicht viel zu bedeuten, aber dass hier überhaupt kein Müll liegt, schon viel eher; denn überall wo Spanier entlangkommen, liegt auch Müll, massig … Und hier oben liegt kein bisschen Müll, ich scheine dem Mond näher als der Hauptstadt zu sein. Doch wenn ich schon einmal den steilen Weg hinaufgeklettert bin, möchte ich auch die Aussicht aus etwa 70 Metern Höhe genießen … alles um mich herum ist bewachsen, von einem von Sträuchern eingehüllten Felsen blicke ich zum Mittelmeer, die Sonne scheint, finde Zeit und Muße fürs Tagebuch, für das ich in den letzten 40 Stunden keine Zeit hatte. Eine leichte Brise reinigt die Gehirnzellen. Es ist übrigens gar nicht so einfach, so viele Stunden zurückzudenken, wenn man am Tag 24 Stunden draußen unterwegs ist. Deshalb führe ich unterwegs einen Stichpunktzettel, aus dem ich dann meinen Bericht zusammenschustere. Drei Stunden sitze ich hier oben. Ich versuche nach der Pause mich durch das Gestrüpp wieder nach unten zu schlagen, benötige mehrere Anläufe, drohe immer wieder zu stürzen und bin heilfroh als ich schließlich Asphalt unter meinen Füßen spüre. Auf einer nicht befahrenen Serpentinenstraße gut 300 Meter auf den El Torn hinauf, weiter Blick. Auf einem schwierig begehbaren steinigen Weg geht es schließlich wieder nach unten, dabei ist es auf dieser Seite des Berges so stürmisch, dass ich immer mal wieder einen Meter zur Seite geblasen werde, eine unangenehme Geschichte und es wundert mich nun nicht länger, dass ich seit Stunden auf keinen Menschen gestoßen bin. Unten befinde ich mich auf einmal vor dem Kernkraftwerk Vandellòs, ich versuche an der Küste weiterzukommen, ein Sicherheitsmann weist mich freundlich darauf hin umzukehren. Am Meer kann ich nicht entlang, da gibt es nur noch die Autobahn und die dichtbefahrene Schnellstraße, beides wenig verlockend. Ich entscheide mich schließlich für die Bahngleise, die mitten durch das gespenstische Kernkraftwerksgelände führen. Etwas mulmig ist mir dabei schon zumute, ich vermute mir fehlt die Befugnis hier langzulaufen. Der Bahnhof von Vandellòs ist nur noch eine Ruine, hier gibt es keine Wohnhäuser, keine Zivilisten, hier gibt es nur Block 1 und Block 2. Ich verlasse die Bahngleise, anscheinend unauffällig, laufe auf Wegen die eigentlich keine Wege sind und schaffe es trotzdem irgendwie zurück zum Strand – einmal kräftig durchpusten. Aber auch der Strand von L‘Almadrava, einschließlich Promenade und Siedlung, ist gespenstisch … kein Mensch, kein Leben, kein Tier, gar nichts, alles wie ausgestorben … so stelle ich mir das nach einem Atomunfall vor. Vielleicht habe ich auch nur etwas verpasst …

Ich komme auf den nächsten Küstenwanderweg, den wahrscheinlich seit 80 Jahren kein Mensch langgelaufen ist, vielleicht das letzte Mal Orwell zu seiner Zeit während des Spanischen Bürgerkrieges … alles recht zugewachsen, die Markierungen nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ich muss dann auch eine zehn Meter hohe Klippenwand nach unten steigen, mit den 20 Kilogramm auf dem Buckel gar nicht so einfach. Ich brauche dafür fünf Minuten, unnötiges Risiko ist auf diesem Trip fehl am Platz … ich komme mit einer Schürfwunde an der Hand davon. Vor mir breitet sich der Hafen von Calafat aus, ebenso verschlafen wie zurzeit alles an der Costa Daurada … lediglich die monotonen Geräusche von der nicht zu sehenden Autobahn bezeugen mir, dass da „draußen“ noch Leben ist. Einen anderen Wanderer habe ich in den ersten Tagen noch nicht getroffen, dafür geht es zu meiner Freude auf dem Wanderweg weiter. Vor Sonnenuntergang erreiche ich die Burg von Sant Jordi d'Alfama und kann schließlich auch bei Dunkelheit weiterlaufen, da der helle Mond über dem Meer mich auf dem Wanderweg, direkt am Klippenrand, begleitet. Ein schöner Weg, das Wasser funkelt tausend Sterne. Hinter einer Hecke und unter Bäumen lege ich mich schlafen und überraschenderweise zwingt mich die Kälte zum ersten Mal mitten in der Nacht nicht zum Weiterlaufen. Fast elf Stunden liege ich hier, werde jede Stunde einmal wach, aber hole endlich eine große Portion Schlaf nach. Ich träume von ihr und ihrem neuen Kerl, sie harmonieren gut, so wie wir es hätten handhaben sollen. Ich dagegen gerate in meinem Traum an eine Unbekannte, wir schlafen miteinander, was aber nicht über meinen Schmerz hinweghilft … kann ich mir also in der Realität sparen. Als ich schließlich aufstehe, bin ich nicht stärker durchgefroren als in den Nächten zuvor, das gibt mir Zuversicht.

Beim Wandern scheuche ich manchmal irgendwelche Tiere auf; Vögel, Hasen, Katzen und all die Tiere, die ich gar nicht sehe, deren Anwesenheit aber durch die verursachten Geräusche während ihrer Flucht verraten wird. Alles flieht vor mir, dabei bin ich doch selbst auf der Flucht … doch die Verzweiflung treibt uns an … oder bringt uns um … oder beides. Ich passiere das nächste kleine Städtchen, L'Ametlla de Mar, erlebe den nächsten Sonnenaufgang am Strand, habe die ersten 200 Kilometer meiner Wanderung hinter mir. Das Wandern zum Sonnenauf- und Sonnenuntergang ist für mich zurzeit der Höhepunkt des Tages, da verstummt selbst der ansonsten so wehleidige Körper. Der Wanderweg bleibt steinig, es geht hoch und runter, der Wind saust mir um den Schädel, die Wege sind schmal … alles viel schöner als Asphalt, aber auch viel anstrengender und mehr als drei Kilometer die Stunde sind nicht drin … und das Knie kommt nicht zur Ruhe, wird mit jedem Schritt aufmüpfiger, vor allem das Stufensteigen verursacht stechende Schmerzen. Der Wanderweg endet in L'Ampolla und ich bin etwas ratlos wie ich weiterlaufen soll. Ich verlasse das Meer und schlage die Straße nach Deltebre ein, es geht quer über eine große Halbinsel, auf der sich das Ebro-Delta ausbreitet. Von den fernen Bergen im Westen saust ein gewaltiger Wind nach unten, über große Felder direkt zu der Straße, wo ich langlaufe. Immer wieder bekomme ich Seitenhiebe, die mir das Laufen erschweren und darüber hinaus ist es eine grässlich öde Strecke über flaches Land, wo man kilometerweit so gut wie keine Bäume sieht. Endlich erreiche ich Deltebre und stehe am Ebro, versuche zumindest zu stehen, denn der Wind will mich in die Knie zwingen. Von der geplanten Pause an dem fast eintausend Kilometer langen Fluss wird nichts, vor allem auf der Flussbrücke ist es richtig stürmisch und eisig. Auf der anderen Flussseite beginnt das Örtchen Sant Jaume d'Enveja, dort suche ich die Straße nach Sant Carles, laufe aber ziemlich planlos drauf los, bloß keine Pause, erst raus aus diesem Sturm. Nach einer Stunde bemerke ich, dass ich die falsche Straße genommen habe, in eine Sackgasse gelaufen bin, „neeeiiin“, die Stimmung am Tiefpunkt … über eine andere Straße mehr oder weniger wieder zurück. Ich überlege kurz ob ich bei diesen Bedingungen trampen soll, entscheide mich jedoch dagegen – ich will kein Schönwetterwanderer sein, jetzt ist halt Sturm, also Augen zu und durch … und ich weiß, dass gerade solche Läufe am ehesten einmal in Erinnerung bleiben werden. Ich laufe zwei weitere Stunden auf kaum befahrenen, schnurgeraden Landstraßen, weiterhin in einer absolut öden Landschaft, so öde, dass es hier nicht einmal Siedlungen gibt. Die Sonne geht unter und da weiterhin keine Pause drin ist, singe ich eine halbe Stunde lang das Schlaflied, das wir immer gemeinsam unserer Kleinen vorgesungen haben … Ich singe dabei gegen den Wind an, habe keine Chance, aber dass mir manchmal die Stimme versagt, liegt daran, dass ich die Beiden schrecklich vermisse, traurig und einsam bin. In der Dunkelheit muss ich auf die entgegenkommenden Fahrzeuge achten, also einen Schritt zur Seite gehen, was mir manchmal auch der Wind abnimmt. Es zieht sich unglaublich, ich scheine Sant Carles, den ersten Ort wieder am Meer, einfach nicht näher zu kommen, es ist der erste grausame Streckenabschnitt dieser Reise. Jedoch laufe ich wie ein Berserker, was bleibt mir auch anderes übrig, merke weder Rucksack noch die Schmerzen im Knie, alles was ich wahrnehme ist dieser Wind. Auch das Dorf Casablanca nehme ich kaum wahr, Tunnelblick, zähle die Sekunden die ein Auto von mir zur nächsten Kurve braucht … 99, 100, 101 … je mehr, desto demotivierender … aber schließlich habe ich es geschafft, am Jachthafen von Sant Carles de la Ràpita vorbei in die kleine Stadt; auf Höhe des Ortseingangsschildes ist mit einmal alle Kraft dahin, das Adrenalin in mir macht Feierabend, während alles andere von mir auf einem großen Stein, am ersten windgeschützten Platz, zusammensackt. Ich zittere am ganzen Körper, nicht der Kälte wegen, sondern aus Erschöpfung; 25 Kilometer Asphaltritt ohne jede Pause haben ernsthafte Spuren hinterlassen. Zwischen meinen Beinen brennt es; das mit dem Wundenlecken ist so eine Sache, vielleicht muss das an manchen Stellen auch gar nicht sein. Nach einer hastigen Speise will ich mich nur noch hinlegen, aber die Suche nach einem ruhigen Schlafplatz führt mich noch zwei Kilometer durch die Stadt, ehe ich mich in Hafennähe ins Gebüsch neben ein Haus lege, gut vor Blicken geschützt, bloß welchen Blicken eigentlich? Denen von Geistern?

Ich kann auch diese Nacht an ein und derselben Stelle verbringen, vielleicht bin ich auch einfach nur zu geschafft, um noch Kälte zu empfinden. Wenn ich wach werde, dann nur, weil das Knie schmerzt. Im ersten Tageslicht geht es wieder los, das Meer neben mir beruhigt, der Sonnenaufgang wärmt. Ich komme am Campingplatz Los Alfaques (Camping Alfacs) vorbei; im Sommer 78 starben hier über 200 Menschen, als der Gastank eines Lasters explodierte und das austretende Gas sich an den vielen Gaskochern entzündete. Beklemmend. Ich laufe durch die Ortschaften Alcanar und Vinaròs, verlasse dabei Katalonien und befinde mich seit über einhundert Stunden im Freien … keine Unterkünfte, keine Bars oder Ähnliches, fühlt sich irgendwie gut an. Der Weg entlang des Meers ist schön, nur wird mir zurzeit alles durch mein schmerzendes Knie verübelt. Ich kann kaum mehr Gewicht aufs rechte Bein verlagern; wenn ich entlang der Klippen die Treppenstufen rauf und runter steige, kann ich das schmerzende Bein nur hinter mir herziehen … so laufe ich wie ein Kleinkind die Treppen, Stufe für Stufe, rauf und runter. In Vinaròs komme ich an einem Kindergarten vorbei, wo gerade viele Eltern ihre kleinen Kinder abholen … ein Vater umarmt inbrünstig seine Tochter, küsst sie, und ich fange unter all den Leuten fast zu heulen an. Die nächste sternenklare Nacht bricht an, der runde Mond erscheint wieder über dem Meer, ich schlage mein Nachtquartier direkt am Wasser auf, finde zwischen den Klippenwänden einen guten Windschutz und in Sachen Regen und Flut bin ich recht unbekümmert. Die Wellen machen mal wieder mächtig Radau, was schon längst Musik in meinen Ohren ist. Der Mond dient als Nachttischlampe, ich bin allein hier, es ist schön so. Die Nächte werden wärmer, diese bereits bei drei Grad über null. Am Horizont liegt ein Schiff vor Anker … Horizont, Meer, Mond, Sterne, Sand … bevor ich einschlafe, verliere ich mich in diesem Anblick, werde selbst zu einem kleinen Sandkorn, bin so klein und unbedeutend, und fühle doch die Großartigkeit dieser Welt. Ich wache viel auf, finde keine Liegeposition, in der das Knie mal still für längere Zeit schweigt. Die Haut fängt auch noch zu jucken an, wovon ich halb zwei die Schnauze voll habe, mir alle Klamotten vom Leib reiße und ins Meer springe. In einem Hotelzimmer ist man nur äußerst selten so spontan. Es fühlt sich gut an, die Reise und ich sind nun endgültig miteinander verschmolzen. Nach dem kalten Bad bin ich putzmunter, denke von meinem schönen Schlafplatz aus an sie, wie sie die Nächte mit ihrem Neuen verbringt, gemütlich und kuschlig … aber gut, ich habe den Mond als nächtliche Gesellschaft, nur manchmal ist er mir zu unkompliziert, zu lieb und zu leise, ja er schnarcht ja nicht einmal …

Nach Benicarló und gleich weiter nach Peñíscola, mit einer schönen Altstadt und einer Burg auf einem Felsen sechzig Meter über dem Meer. Auf einer Küstenstraße geht es weiter, laufe an einem alten Seat mit niederländischem Kennzeichen vorbei, daneben ein älterer Mann mit grauem Bart, der mich fragt, woher ich komme. Anscheinend nimmt man mir den Spanier nicht ab, vielleicht liegt das an meinen blonden Haaren oder wahrscheinlicher noch: an meinem großen Rucksack auf dem Buckel. Wir sprechen auf Deutsch, lachen viel. Jo ist ein sympathisches Kerlchen, 68 Jahre alt. Er findet sofort Gefallen an mir: „Von Barcelona hierher … zu Fuß??“ Zum ersten Mal empfinde ich so etwas wie Stolz auf mich und die bereits hinter mir liegenden Kilometer. Ich fange bereits an, mich selbst als alten Wanderhasen zu betrachten, was natürlich streng genommen übertrieben ist. Jo kennt das Leben als Backpacker aus eigener Erfahrung, hat viel in der Welt gesehen. Seit vier Jahren kommt er jeden Winter an die spanische Ost- und Südküste, reist wie ich allein. Die Nächte verbringt er im Auto, findet es herrlich, abends bei Mondschein einzuschlafen und morgens vom Sonnenaufgang geweckt zu werden. Ich kann das bereits gut nachvollziehen. Jo meint, dass es hier in Spanien kein Problem ist, sesshaft zu werden. Bleib drei Monate in einem Dorf und du wirst dich vor Frauenangeboten nicht mehr retten können, selbst wenn du kein Geld hast, meint er. Ich zweifle … Frauen sind mir so fremd wie das Universum. Der Sturm im Ebro-Delta sei ganz und gar nicht normal gewesen, bis gestern wütete in diesem Teil von Spanien ein Sturm wie zuletzt 1926. Und schon ist meine Brust wieder einen Millimeter breiter. Jo macht mir Zuversicht, dass der Mistral es die nächsten achtzig Jahre wieder ruhiger angehen lassen wird. Er stellt bei mir eine sehr positive Einstellung fest, was ich zum ersten Mal in meinem ganzen Leben höre … positiv und ich in einem Satz, ein bis dahin absolutes Novum. Jo ist sich darum auch sicher, dass das mit meinem Knie schon wieder wird, ich das Glück auf meiner Seite haben werde. Er schenkt mir zwei große Orangen, die ich freudig und dankbar entgegennehme, ein wenig Obst kann schließlich nicht schaden. Unterwegs ist man für die kleinen Geschenke viel dankbarer. Nach zwei Plauderstunden verabschieden wir uns voneinander, mit seinem zusammengeflickten Seat düst er ab nach Peñíscola, ich laufe in die entgegengesetzte Richtung … zu einem Wachturm auf einen Berg hinauf, schaue nach Peñíscola rüber … weiter auf einer Schotterpiste durch den einsamen Nationalpark Serra d'Irta, zurück zum Meer, wo ich eine halbvolle Zigarettenschachtel finde und an gleicher Stelle zur Abenddämmerung eine Orange verdrücke – nie zuvor habe ich ein Stück Obst so intensiv geschmeckt. Über große Küstensteine und schließlich über Schotterwege ein paar hundert Meter im Landesinneren laufe ich in die Nacht hinein. Wenn es dunkel wird und ich nicht mehr das Meer rauschen höre, wird mir leicht unheimlich … fürchte ich mich oder atme ich direkt am Meer einfach befreiter? Ich erreiche den Leuchtturm von Alcossebre, wo ich unter Nadelbäumen meinen Schlafplatz aufschlage und dort von meinen beiden Exfreundinnen träume, wie sie mit mir gemeinsam im Bett liegen …

Zum Glück wache ich rechtzeitig auf, jedoch mit einem Ständer. Das Aufstehen kostet immer etwas Überwindung, raus aus dem warmen Schlafsack in die kalte Ungewissheit. Zwischen halb fünf und acht Uhr habe ich alle Wege für mich allein, erreiche Torrenostra. Punkt 7.59 Uhr geht die Sonne auf, endlich vor 8 Uhr, es geht voran. Der nächste Nationalpark, der nächste Ort: Torre La Sal … im kleinen Supermarkt steckt mir die nette Verkäuferin zwei Orangen gratis ein, solche kleinen Gesten weiß ich immer mehr zu schätzen, es fühlt sich einfach gut an. An Orten wie diesen findet man oft mehr Ausländer als Spanier, vor allem Camper aus Deutschland mögen die spanische Küste, in Kontakt komme ich mit ihnen aber nicht. Mit 16 Grad Celsius ist es der bisher wärmste Tag, die Wärme hilft vor allem meinem Knie. Gleich neben Torre La Sal liegt Oropesa del Mar und wenig später bin ich auch schon in Benicàssim, wo auch erstmals etwas mehr Leute entlang der Strandpromenade unterwegs sind. Etwas mehr werden auch die Fliegen, es wird noch eine Zeit kommen, wo ich mir den spanischen Winter zurückwünschen werde. Auf alle Fälle ist es jetzt im Winter schön, direkt auf Sand kilometerweit neben dem Meer zu laufen, denn zwischen den Orten treffe ich auf keine Menschen. Meine Ohrläppchen krabbeln, muss ich mir wohl verbrannt haben. Zum Sonnenuntergang erreiche ich El Grau de Castelló, so etwas wie der Hafenort von Castellón, einer größeren Stadt mit fast 200.000 Einwohnern. Nach über 40 Kilometern an diesem Tag bin ich mächtig gerädert und halte wohl auch deswegen nach einer Jugendherberge Ausschau. An der Küste schon mal nichts, auf einem Fußweg geht es dann schnurgerade drei bis vier Kilometer landeinwärts zum Zentrum … dort laufe ich durch so ziemlich jede Straße die es da gibt, aber keine Jugendherberge und was noch schlimmer wiegt: kein einziger Rückzugsort zum Pennen … überall Straßen und Häuser und jede Menge Menschen, zu dieser Uhrzeit vorwiegend junge Menschen, die, so scheint mir, bestrebt sind, einen gewissen Lärmpegel nicht zu unterbieten … es fällt ihnen nicht schwer … mir dagegen das Laufen schon sehr … kein Teich, kein Fluss, kein Park, jedenfalls kann ich nur Häuser und Asphalt sehen … es geht auf 22 Uhr zu und ich bekomme eine intensive Abneigung gegen Castellón, kann mich nicht erinnern schon einmal eine so trostlose Stadt gesehen zu haben. In der Nähe des Bahnhofs finde ich schließlich die Oase dieser Stadt, ein kleines von einem Bauzaun umgebenes wildes Grundstück, ohne Gebäude, verwuchert, zugemüllt, der perfekte Schlafplatz, zumindest nach einem Fünfzigkilometerritt, wo jede bisschen Ruhe als perfekt empfunden wird. Etwas unheimlich ist es jedoch schon, so umgeben vom Zivilisationslärm und der potentiellen Gefahr eine über den Schädel gebraten zu bekommen. Darum schaue ich mich auch immer mal wieder nervös um, aber niemand kommt. Auf einmal vibriert unter mir die Erde, eine kostenfreie Massage der durchbretternden U-Bahn, nach einem so „langen“ Tag nicht unerwünscht.

Überraschenderweise gut geschlafen, kurz nach sechs rüber zum Bahnhof, die Wärme in der Halle lädt zum Verweilen ein. Ich beschließe mit dem Zug zum nahen Nachbarort Villarreal zu fahren, weil ich schon immer gern Orte aufsuche, wo ein bekannter Fußballverein zuhause ist, und der von Villarreal hat es immerhin mal ins Halbfinale der Champions League geschafft. Warum ich darauf so heiß bin, keine Ahnung … sicherlich nur eine bekloppte Eitelkeit … wenn ich einmal wieder Zuhause bin und mit jemand gemeinsam Fußball schaue, und es spielt nun gerade Villarreal, kann ich groß mit meiner Reisegeschichte auftrumpfen („Als ich damals ...“ Blabla) oder wenigstens vor mich hinträumen, in Erinnerungen schwelgen, was weniger verwerflich ist. Vorher frühstücke ich aber noch in der Bahnhofshalle, ein leicht verwahrloster Kerl bittet mich um mein letztes Stück vom Baguette, reicht mir dafür eine Orange; ich schäme mich beinahe dafür, dass nur noch so ein kleines Stück – keine zwei Happen – übrig ist … zehn Minuten später nagt er noch immer wie eine kleine Maus darauf herum, mir wird dabei bewusst wie gut es mir (noch) geht. Für 1,45 Euro gibt es das Ticket, nach acht Minuten Fahrt ist die Bequemlichkeit schon wieder vorbei. Zugfahren, seit meiner Hotelnacht in Vilanova endlich mal wieder eine zivilisierte Maßnahme, hab es noch nicht verlernt. Ich steige in Villarreal aus, es ist noch dunkel … aber je näher ich dem Zentrum komme, desto düsterer wird es … alles so deprimierend grau und leblos … Subjektiv betrachtet war Castellón der hässlichste Ort überhaupt, jedoch nahm dabei extreme Müdigkeit Einfluss auf das Urteilsvermögen. Objektiv betrachtet ist Villarreal noch viel trostloser als Castellón, denn es liegt ja nicht einmal am Meer, wobei Castellón strenggenommen auch nicht am Meer liegt, aber immerhin über einen nahen Hafen verfügt. Nach 20 Minuten im Zentrum habe ich genug und halte Ausschau nach der Straße zurück zum Meer, nach Borriana. Breiter Seitenstreifen, auf spanischen Straßen zu laufen scheint kein Problem zu sein, unabhängig vom Verkehr. Ich werde mir bewusst, dass ich die Kleine schon seit drei Wochen nicht gesehen habe, was mich sehr traurig macht und mich an dieser Reise zweifeln lässt. Sie monatelang nicht aufwachsen zu sehen ist völlig unvorstellbar für mich, genauso eine Illusion wie das Nordkap. Die einzige Vorstellung, die ich dabei bekomme, ist untrennbar mit Schmerz verbunden. Aber käme ich jetzt zurück, käme ich als Verlierer und Versager. Wenn ich das hier nur durchziehen könnte, damit ich nur einmal im Leben das Gefühl auskosten darf, mich als Teil von etwas Besonderem zu fühlen, das Besondere mir zu verdienen, und einen unendlichen Reichtum in meinem Inneren zu schaffen, der alles Zukünftige in meinem Leben überdauert. Mit diesem Reichtum zurückkommen und nur noch für sie da zu sein, das ist mein Traum. Ich denke auch an meine Eltern, mit großer Reue, weil sie sich unendliche Sorgen machen werden, aber was könnte ich ihnen schon sagen? „Hallo, hier ist euer Sohn, ich bin in Spanien und laufe zum Nordkap ...“ Nein, es ist noch zu früh dafür … ich muss mir erst das Selbstvertrauen erlaufen, das Gefühl bekommen, es tatsächlich schaffen zu können …

Bei Borriana zurück am Mittelmeer geht es wieder direkt an der Küste weiter … Moncofa … am Strand von Sagunt lege ich mich zwischen Palmen schlafen, werde jedoch immer wieder wach. Auf meinen beiden Handrücken bekomme ich überall kleine und große Pusteln, die entweder tierisch brennen oder tierisch jucken; wohl auch verbrannt, da habe ich die Sonne unterschätzt, aber ich laufe halt die meiste Zeit direkt auf die Sonne zu. Jenes bisschen was ich schlafe, träume ich von einer Hausgeburt von unserem Baby, nur sie und ich sind da, möglicherweise etwas unrealistisch, jedenfalls als das Baby – keine 20 Zentimeter „groß“ - schließlich kommt, sind wir glücklich. Halb drei habe ich dann davon genug und laufe weiter, um den Hafen von Sagunt herum, niemand außer mir unterwegs, springe schließlich in irgendein Gebüsch hinter einer Hafenmauer, um auf einem direkten Weg zum Meer zurückzugelangen, was auch funktioniert. Am Strand ein zweites Nickerchen, ehe es immer am Meer entlang nach Valencia geht. Gegen Mittag erreiche ich bei fast schon sommerlichen Bedingungen die Großstadt – wieder so eine Stadt, die im Fußball ganz groß ist und an die sich vor allem die Bayern-Fans gern zurückerinnern werden. Auch ich habe das Champions League Finale 2001 im Fernsehen geschaut. Aber dass hier keine Missverständnisse (Verunglimpfungen) aufkommen, ich bin kein Fan von Bayern München, mein Herz ist – vom Kardiologen bestätigt – grün-weiß und pocht in Leipzig-Leutzsch! Endlich ist es raus.

Ich schreibe am Strand Tagebuch, umlaufe schließlich einmal komplett den sternenförmigen Jachthafen, marschiere noch etwa zehn Kilometer auf der Strandpromenade, ehe ich die Küste verlasse und in die Stadt hineinlaufe. Überall viele Restaurants, viele Pärchen unterwegs, kaum einzelne Leute wie ich, schon gar niemand mit solch einem großen Rucksack. Ein wenig bin ich schon traurig, dass sie jetzt nicht neben mir läuft, Hand in Hand, so wie früher und doch viel zu selten. Obwohl die körperlichen Beschwerden zunehmend nachlassen, nehme ich mir vor, ernsthaft nach einer Jugendherberge Ausschau zu halten, das wäre ein schöner Abschluss des ersten Reisekapitels und würde darüber hinaus Körper (Dusche!) und Geist mal ganz gut bekommen. Doch zuallererst laufe ich zum Jardin del Turia, ein kilometerlanger Park im ehemaligen Flussbett des Turia … kommt bei mir natürlich sehr gut an. Wie viele andere Menschen picknicke ich irgendwo im Park, vor mir liegt ein Teich mit einer Springbrunnenanlage. Laufe durch die „Grüne Lunge“, bin begeistert von den vielen Sport- und Freizeitanlagen, die auch gut genutzt werden. Eine Musikkapelle zieht an mir vorbei, ich fühle mich wohl … stehe fasziniert vor den zahlreichen Orangenbäumen und man sieht sicherlich, dass ich ein Tourist bin, denn die Stadtbewohner haben sich an diesen Anblick gewöhnt, für sie sind Orangenbäume wahrscheinlich nichts Besonderes. Im Zentrum laufe ich durch verschiedene Straßen, während die Hoffnung auf eine Herberge minütlich schrumpft. Es ist der reine Zufall, dass ich die Jugendherberge schließlich doch noch finde, glücklich und erleichtert checke ich für nur zehn Euro ein. Ausgeruht eine Stadt zu erleben, und sogar eine reguläre Schlafstätte für die Nacht zu haben, erhöht die Chance, dass mir die Stadt gefällt, um ein Vielfaches. Zwei Stunden kümmere ich mich um Körper- und Gepäckpflege, agiere dabei langsam, bin etwas geschafft, ganz froh den Moment allein in diesem Zehnbettzimmer zu sein. Saubere Wechselklamotten angezogen und raus zum Abendspaziergang. Da ich keine Lust habe lang zu suchen, schwinge ich meinen Hintern gegen halb neun in die erstbeste Bar und lass es mir gutgehen. Die Karte kommt mir völlig spanisch vor, da ich nichts verstehe, nehme ich – wie üblich in solchen hilflosen Situationen – die 22 … und wenig später liegt es vor mir, einmal die 22, die hier den Beinamen Especial Támesis trägt. Ein halbes Baguette mit lomo, pepinillos und mahonesa … dem Geschmack nach zu urteilen, was nicht zu meinen Stärken zählt, handelt es sich dabei um saure Gurken (erkenne ich optisch!), Majonäse und … na Fleisch halt. Meine erste warme Mahlzeit seit dem Bus, dazu noch ein spanisches Bier (nun ja) und für die musikalische Unterhaltung sorgt Manchester City, die gerade Aston Villa vermöbeln … ich lasse die Sau raus, feiere den Abschluss meines ersten Reisekapitels und komme einigermaßen gut damit klar, dass niemand applaudiert. Aus dem geplanten Spaziergang durchs Zentrum wird dann jedoch nichts, meine beiden Hände schmerzen bestialisch – als würden 24 Stunden täglich Brennnesseln darauf reiben. Ich kann nicht einmal meine Finger schmerzfrei ausstrecken, mit meinen Handrücken berühren darf ich schon gar nichts. Trotz acht Grad friere ich, also lieber zurück in die Herberge, wo ich in der Computerecke Landsmann Martin kennenlerne. Ein lockerer Surfer-Typ, der in Barcelona ein Semester Sport und Spanisch studiert hat und nun durchs Land reist. Da wir beide die einzigen in unserem Zimmer sind, schwatzen wir noch gut eine Stunde. Er kann es gar nicht so recht glauben, dass ich von Barcelona nach Valencia gelaufen bin, auch nicht, dass ich die Nächte draußen verbringe. Er findet es toll und sein Interesse an meiner Person schmeichelt meinem Ego. Was meine weiteren Pläne sind? „Es klingt verrückt, aber ich will bis zum Nordkap laufen“, dabei kann ich eine abwinkende Handbewegung nicht unterdrücken … „erst einmal gesund bleiben und dann Schritt für Schritt“, versuche ich selbst realistisch rüberzukommen … Martin ist ein cooler Typ und Interesse bei coolen Typen zu wecken, bestärkt mich in der Annahme, hier eine coole Aktion gestartet zu haben, wo das erste Kapitel dieser Reise bereits hinter mir liegt. Ich bin stolz auf die ersten 420 Kilometer und kann es kaum erwarten, weiter voranzukommen.

Letzte Ausfahrt Jakobsweg

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