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3. Almería – Gibraltar

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Verlasse Almería bereits gegen acht Uhr und laufe acht Kilometer Küstenstraße nach Aguadulce. Nun beginnen die großen Ferienzentren entlang der Costa de Almería, die bald in die noch bekanntere Costa del Sol übergeht. Die Promenaden und Strände werden jedenfalls voller. Ich bin auf der Suche nach deutschen Campern, wo ich am leichtesten ins Gespräch zu kommen glaube und vielleicht sogar jemand finde, den ich online Geld überweisen kann und dafür den Betrag bar in die Hand bekomme – denn dank einer göttlichen Eingebung habe ich meine TAN-Liste fürs Online-Banking dabei … am Ortsende von Roquetas de Mar ist es schließlich soweit, ich betrete einen Parkplatz mit Wildcampern, blicke mich nach deutschen Kennzeichen um, werde fündig und spreche einen Mann neben seinem Wohnwagen an, was mich – nebenbei gesagt – viel Überwindung kostet. Da mir nichts Besseres einfällt, beginne ich das Gespräch mit der Frage ob er über einen Internetzugang verfügt. Fehlanzeige, er klopft bei seinem Kumpel nebenan an … auch kein Internet … dabei kommt mein Problem mit meiner EC-Karte zur Sprache … ihre beiden Frauen tauchen auch auf und zusammen überlegen wir, was ich für Möglichkeiten habe um das Problem zu lösen. Die Bank kontaktieren, ja sicherlich … etwas schüchtern rücke ich damit heraus, dass ich „nur“ jemand bräuchte den ich Geld überweisen kann und ich auch notfalls die Tage vor Ort bleibe, bis das Geld auf dem anderen Konto ist, um es dann in bar zu bekommen. Aber ich merke, dass das wohl gar nicht so einfach werden wird, zu viel Misstrauen, man hört so viele Geschichten von Gaunereien … einer der beiden, Werner, fragt mich dann ganz unerwartet, ob ich nicht erst einmal etwas essen möchte … ich strahle und nehme das Angebot gern an … Werner lässt mich auf seinem Fahrersessel am kleinen Tisch Platz nehmen; seine Frau Irmgard reicht mir eine große Schüssel des frisch zubereitenden Eintopfes, kochend heiß, ich bin begeistert … es ist meine erste richtig warme Mahlzeit, seitdem ich Deutschland verlassen habe … und es schmeckt zu köstlich, endlich mal Fleisch und Kartoffeln … dazu gibt es aus dem Kühlschrank Bier, ich werde verwöhnt … Ich muss lachen, als Irmgard mich etwas skeptisch fragt ob es mir denn schmeckt … und wie! Die Beiden essen nichts, aber Werner sitzt neben mir und wir plaudern übers Reisen … sie sind mit ihrem Wohnwagen schon ordentlich herumgekommen, gespannt lauschen wir den Geschichten des anderen, von heute und früher. Wir sind uns auf Anhieb sympathisch. Sein Kumpel Jochen gesellt sich zu uns an den Tisch, schenkt mir ein Bier für unterwegs, und kann ebenso mit Reisegeschichten auftrumpfen. Irmgard schenkt mir nach, man sieht mir wohl an, dass ich einen Mordshunger habe. Nach dem Mittag schwingen Werner und ich uns auf seinen Motorroller, rasant geht es in die Stadt hinein, meine erste Mitfahrt auf einem Motorrad seit den Zeiten auf der Schwalbe meines Vaters, damals in den letzten Zügen der DDR. Der Laden mit Internet ist zu, also in ein Hotel rein, die nette Frau an der Rezeption lässt mich einen Rechner im Foyer nutzen, Werner wartet draußen. Ich schreibe meiner Bank und nun auch endlich mal meiner Mutter, die meinen Posteingang mit Emails bombardiert hat, dass ich mich doch mal bitte melden soll, wo ich bin, sie sich Sorgen macht und so weiter. Im Posteingang befindet sich auch eine Email meiner verflossenen Liebe, gegen alle Vorsätze öffne ich die Nachricht, die Neugier ist zu groß: „Auch wenn ich dich würde finden wollen, ich wüsste nicht wo ich suchen soll … meld dich bei mir und lass uns bitte reden.“ Ich mag nicht mit ihr reden, jedoch beschäftigt mich seit Tagen dieselbe Frage, nämlich ob sie mir nach meiner Rückkehr den Kontakt zu meiner Tochter ermöglicht oder sich quer stellt … und genau das frage ich sie in meiner kurzen Antwort, auch auf die Gefahr hin, dass mir ihre Antwort nicht gefallen und möglicherweise den Boden unter den Füßen wegreißen wird. Dass ich in Spanien bin, lass ich unerwähnt. Werner fährt mich wieder zurück, will mir unbedingt helfen und steht kurz davor, bei den anderen Campern herum zu fragen, ob wer Online-Banking nutzt … ich winke aber ab, mag nicht länger stören, zumal ich bemerke, dass es Irmgard unangenehm wäre, wenn ihr Mann auf einmal hier von Wagen zu Wagen rennen würde … Ich bedanke mich und bekomme von ihnen zum Abschied noch einen ordentlichen Schwapp Creme auf meine verbrannte Haut an den Händen und im Gesicht. Außerdem reicht mir Werner seinen Sommerhut, damit ich mich besser schützen kann … ich setze ihn sofort auf, die Frauen finden, dass er mir steht, ich diene als Fotomodell, reiche den beiden Männern und Frauen die Hand, sie wünschen mir alles Gute. Ich habe erneut allen Grund dankbar zu sein, jedoch ist es neu, dass es Menschen sind, denen ich mich zu Dank verpflichtet fühle. Ein fremdes Gefühl, ein gutes Gefühl ...

Gleich dahinter beginnt der nächste Nationalpark (Punta Entinas-Sabinar), jedoch öde, da flaches Land und erstmals werde ich auch von Mücken belästigt, die hier in den Tümpeln in Strandnähe massig gedeihen … dazu verschnörkelte, tiefe Sandwege, ich fluche. Beim Leuchtturm haue ich mich an den Strand, packe mich mit dem ganzen Körper im Schlafsack ein, denn sogar den Blick aus dem Schlafsack heraus zum Sternenhimmel versauen sie mir. Ich frage mich was hier in diesem Nationalpark geschützt wird, es kann sich dabei nur um diese Viecher handeln. Das nervtötende Dilemma mit Mücken sind nicht ihre Stiche, sondern dieses pausenlose tzzzzzzzzzzzz, dabei werde ich wahnsinnig, ich fühle mich gefoltert, werde aggressiv und ich verspüre in mir ein gewaltiges Potential zum Massenmord.

Am Morgen muss ich weitere acht Kilometer durch den Folterpark, ich werde von den Viechern gejagt, saue mir auf meiner Flucht auf dem schlammigen, tiefen Boden meine Hose ein. Endlich ein Ort, Almerimar, dort keine Mücken mehr und ich verspüre den großen Drang zu duschen … darum reiße ich mir gleich bei der ersten Stranddusche alle Klamotten vom Leib und springe unter das kalte Wasser … splitternackt an der Strandpromenade duschen, dazu hätte ich in meinem bisherigen Leben viel zu große Hemmungen gehabt. Unterwegs wirft man Hemmungen ab, verliert sogar zuweilen Ängste und schon gar nicht macht man sich darüber Gedanken, was andere denken könnten. Ich glaube sogar ein Pfeifen von der Baustelle nebenan zu hören, so ein spitzbübisches Pfeifen was sonst nur Frauen zu hören bekommen … na vielleicht täusche ich mich auch, ich fühle mich jedenfalls geschmeichelt, aber das wiederum sollte mir zu bedenken geben … meine exhibitionistische Ader gilt zumindest als entdeckt. Ich nutze auch gleich die Gelegenheit um meine Klamotten zu waschen und beschließe auf kurze Hose zu wechseln. Langsam aber sicher bin ich im Süden vom Süden. Und was darf im Süden nicht fehlen? Richtig, Eis! Da ich schon mein ganzes Leben lang ein einzelnes Eis am Stil für eine hundsgemeine Stänkerei, wenn nicht gar als Folter erachte (das Eis verschwindet so rasend schnell, dass man über das Stadium des Probierens niemals hinauskommt), kaufe ich im Supermarkt gleich ein Sechserpack. Es bedarf schon alle sechs Eis, um meinen Appetit ansatzweise zu stillen. Außerdem finde ich es dämlich, ein einzelnes Eis für 1 Euro zu kaufen, wenn ich sechs Eis für 1,40 Euro bekommen kann. Die Kalorien brauche ich so oder so. Vom Dauerschnupfen abgesehen geht es mir körperlich blendend, auch im Kopf läuft es ganz rund. Auf dem Weg nach Balerma lese ich eine geöffnete Chipstüte am Straßenrand auf, koste davon, noch knackig, also rein in den Schädel, jede Kalorie ist mir recht.

Was für eine Nacht – oh, wie schön kann das Leben doch sein! und wieder schwingt Euphorie beim ersten Satz des Tagebucheintrages mit. Diesmal liegt es jedoch nicht an der Landschaft, die an diesem Teil der Küste arg verunstaltet ist, denn überall breiten sich riesige weiße Planen aus, unter denen diverses Obst und Gemüse für den europäischen Markt gezüchtet wird – ein Treibhaus neben einem anderen und dazwischen die schmalen, staubigen und zugemüllten Wege. Wenn man dort langläuft, vergisst man für einen Moment sich in einem europäischen Land zu befinden. Wegen diesen riesigen Parzellen muss ich auch den Strand verlassen und mich auf Straßen etwas abseits der Küste durchschlagen, was wiederum nicht ganz einfach ist. Verlässt man die Hauptstraße, befindet man sich in einem unübersichtlichen Labyrinth lauter weißer Planen und da die Treibhäuser ein paar Meter hoch sind, fällt es schwer den richtigen Weg einzuschlagen … wenn dann auch noch die Sonne verschwindet oder es gar Nacht ist, kann man schnell gänzlich jede Orientierung verlieren, so auch ich im Gemüseort Puente del Rio bei der Kleinstadt Adra. Ich fluche, wieder einmal, weil ich nicht weiß wo ich lang muss … laufe über Müll, klettere über Zäune, gehe mitten durchs Treibhaus … Ärger bekomme ich nicht, denn ich sehe so gut wie keine Menschen hier … wenn Menschen auftauchen, dann sind sie in der Regel dunkelhäutig; in den Treibhausorten sieht man selten hellhäutige Spanier und von den wenigen Weißen kommt jeder Zweite aus Osteuropa. Da es dunkel ist, muss ich von den Hauptstraßen weg, was das Orientierungschaos abrundet. Von der Straße abgesehen bin ich umgeben von Treibhäusern; Straßenlaternen gibt es nicht, mein Ziel ist das Meer, ich laufe intuitiv darauf zu, wenn auch mit einigen Umwegen. Endlich kann ich es hören, jedoch versperren mir Privatgrundstücke den Weg und die Straße endet in einer Sackgasse, wo sich ein Campingplatz befindet. Im dortigen Restaurant höre ich fröhliche Stimmen. Ich erschrecke vor mir selbst, denn ich habe Lust auf Gesellschaft … gehe rein und von einem langen Tisch mit zehn Campern werde ich mit großen Augen angestarrt. Ich grüße und werde freundlich von den Deutschen (etwa zwischen 50 und 65 Jahre alt) empfangen. Ich frage wo es hier zum Meer geht, das Gespräch kommt sofort ins Rollen. Ich nehme an ihrem Tisch Platz, bekomme eine Kippe spendiert. Alle reden auf mich ein, Fragen über Fragen … wohin ich möchte, woher ich komme, wo ich übernachten will, wovon ich lebe, ob ich denn keine Angst habe, wenn ich draußen und sogar ohne Zelt schlafe … „da hat er ja Glück, dass er noch lebt“, meint eine Frau trocken zu den anderen, ich lächle … Gleich zu Anfang kommt Kurt auf mich zu, ohne dass wir bisher ein Wort miteinander gewechselt haben, sagt er: „Ich mach dir nen Vorschlag, du pennst heute bei mir … ich bin auch nicht schwul.“ Ich nehme das Angebot gern an, voller Vorfreude über eine neue Bekanntschaft und etwas Abwechslung im Wanderalltag. Gleich darauf erhebt Karl seine tiefe Stimme: „Nun erst mal zum Wesentlichen, gebt dem Jungen was zu essen und zu trinken, ich bezahl das.“ Ich bin glücklich, glücklich unter Menschen, das macht Gaudi. Bestelle Tortillas, Salat und Cerveza (Bier) – das war die erste spanische Vokabel, die ich im Repertoire hatte, ganz einfach, weil es von Anfang an zum Überlebensvokabular dazugehörte. Schwabe Theo neben mir ist ganz begeistert und fragt pausenlos … Ich gebe ehrlich zu, was mein Ziel ist, nämlich in neun Monaten zum Nordkap zu laufen. Die Probleme mit meiner Bank kommen zu Wort, auch sie überlegen was man da am besten machen könnte, es müsste doch irgendeine Lösung geben … Eine Frau fragt mich, ob ich mir deswegen nicht Sorgen mache … erneut muss ich lächeln … Was kann schon passieren, irgendwie geht es immer weiter, auch ohne Geld und wenn es nicht weitergeht, ist man halt tot und sterben müssen wir alle … Türen öffnen sich, Türen schließen sich, man darf halt keine Angst vor dem Tod haben … außerdem wird ein Vagabund erst zum Vagabunden, wenn seine Taschen leer sind. Ein Vagabund, der sich am Automaten hundert Euro abhebt, versaut irgendwie mein romantisches Bild des Vagabundentums. An diesem Abend werde ich jedoch wie ein König behandelt und koste es voll aus. Eine Frau spricht mit dem Sohn des Restaurantbesitzers, der mir daraufhin seinen Laptop überlässt. Ich schaue in mein Postfach, eine Nachricht von meiner Bank: Bedauern, hätte vor Reiseantritt ein Verfügungslimit festlegen müssen, könnte dies nun telefonisch nachholen, indem ich erneut die Hotline anrufe und diesmal auch keine Tele-PIN benötige. Klingt doch gut, Skepsis bleibt, aber irgendwie fühle ich auch keine Eile um diese Angelegenheit zu klären. Lese noch die Nachrichten von meiner Mutter und der Mutter meines Kindes. Die eine Mama ist beruhigt, stellt keine Fragen, hat Vater informiert, soll es mir gutgehen lassen. Die andere Mama meint, dass die Kleine jeden Tag von mir redet und sich darauf freut, mit mir Ostereier suchen zu gehen … Sie spricht also noch von mir, das ist schön; nicht so schön ist, dass ich sie enttäuschen muss, da ich dieses Jahr zu Ostern nur nach dem richtigen Weg und nicht nach Eiern suchen werde … Den Kontakt wird sie ermöglichen, befürchtet aber, dass die Kleine mich bis dahin vergessen könnte, ich befürchte es auch … Sie will noch immer mit mir reden und wo ich überhaupt bin … „Ich bin noch immer allein … deiner Rückkehr steht nichts im Weg, nicht ich, nicht unsere Tochter, kein anderer Mann.“ Ich antworte nicht, diese Nachricht zu lesen fühlt sich jedoch gut an. Beim spanischen Wirtssohn bedankt und schon bekomme ich an einem kleinen Tisch eine große Portion Salat, Baguette und Tortillas serviert – die zehn Camper wünschen mir allesamt einen Guten Appetit. Ich genieße, meine zweite richtige Mahlzeit in vier Wochen und das innerhalb von dreißig Stunden. Bis auf zwei Häppchen für Bobby, Kurts Hund, verputze ich alles, ein weiteres Bier wird mir gebracht. Ich setze mich wieder an den großen Tisch, bedanke mich bei Karl für die Mahlzeit und werde wieder zum Mittelpunkt dieser geselligen Runde. Die ersten verabschieden sich, Fußball beginnt, Deutschland spielt gegen Frankreich. Ein Mann mit Pfeife kommt zu mir und fragt mich ob ich Zittau kenne, denn dort ist er aufgewachsen … und ob, Zittauer Gebirge, Oybin, Dampfeisenbahn, mit der ich noch kürzlich gefahren bin … Wir strahlen … Theo und ich foltern die Ohren der anderen, mit unserem schwäbisch-sächsischen Geplauder. Er bewundert meinen Mut, den er auch liebend gerne hätte. Na Mut kann sich auf verschiedene Art äußern, er wird in ganz anderen Dingen mutig sein, wo ich ein Feigling bin. Auch Karls polnische Frau neben mir befragt mich über meine Reise, findet es toll und aufregend, genauso wie die anderen. Einmal in der Woche, immer mittwochs, verbringen sie hier im Restaurant ihren gemeinsamen Abend. Eine der Frauen findet es toll, dass ich ihren Abend so bereichert habe – schöner Zufall, dass ich nun ausgerechnet am Mittwoch hier vorbeigekommen bin – und bedauert es, dass ihre Enkel in meinem Alter nicht so mutig sind, um sich in die Welt hinauszuwagen und so weiter … Das Feedback, das ich hier bekomme, ist überwältigend … sie beneiden mich um meine grenzenlose Freiheit, die es strenggenommen gar nicht gibt … Bis auf Kurt verabschiedet sich der Rest, Karl drückt mir noch nen Fünfer in die Hand, „na da muss ich doch auch gleich was beisteuern“, meint Theo … ein weiterer Fünfer (wenn das Devil sehen könnte!) … „behalt dir dein Ziel vor Augen“; wenn man so unterstützt wird wie hier, sollte es kein Problem werden.

Kurt und ich bleiben zurück. Er spendiert mir ein weiteres Bier, er hat einen ordentlichen Zug, ist schon ordentlich angetrunken. Theo meinte noch zu mir, dass Kurt Alkoholiker ist, aber ein ganz Lieber. Das bestätigt sich auch sofort, wir plaudern über dies und das … „Wie kommt jemand wie du dazu, so etwas zu machen … ich versteh es nicht ...“ Eine Antwort fällt mir nicht ein, vielleicht gibt es auch gar keine, was möglicherweise am ehesten eine Antwort auf die Frage nach dem Warum ist. Kurt ist vor fünfzehn Jahren nach Spanien gekommen, kommt aus der Aachener Ecke, hat hier seine zweite Heimat gefunden, ist also gar kein Camper. Hat schon hier und dort gearbeitet, auch hier auf dem Campingplatz, in den letzten Jahren in den Treibhäusern, bei mehreren Chefs, auf die er mehr oder weniger scheißt, was so manches Mal zu leichten Irritationen geführt haben soll. Bei Vollmond gibt er sich immer richtig die Kante, danach nimmt er sich zwei Tage frei. Der Chef weiß Bescheid, braucht nur zum Himmel hinaufschauen und kann so ganz gut planen. Zurzeit wird Paprika gepflückt, für acht Stunden gibt es 35 Euro, Kurt braucht nicht mehr, seine Bedürfnisse sind schnell zusammengefasst: Bier, Tabak, Fernsehanschluss, Bobby. Wenn der Hund will, darf er mit auf Arbeit, wenn nicht, bleibt er halt zuhause, dann ist aber Kurt traurig, denn sein Hund ist sein Ein und Alles. Ich male mir aus, wie es Kurt gehen wird, wenn Bobby (acht Jahre) mal nicht mehr ist … es ist kein schönes Bild. Kurt bezahlt schließlich die Rechnung, er lässt auch oft anschreiben. Wir verlassen Las Vegas Camping, laufen in der Dunkelheit die drei Kilometer zu ihm nach Hause nach Puente del Rio, Bobby mit einem beleuchteten Hundehalsband. Dabei taumeln wir beide, Kurt wegen dem Alkohol, ich wegen meinem Rucksack nach einem langen Tag. Kurt erzählt nebenbei aus seinem Leben und aus dem Treibhausalltag. Irgendwann kam mal raus, dass sich im Gemüse viele Giftstoffe befinden, der Preis für ein Kilogramm Paprika sank von zwei Euro auf sechzig Cent. Die Giftstoffe aus Fernost sind geblieben, bei Kontrollen wird aber jetzt mit ein paar Scheinchen nachgeholfen. Kurz vor 23 Uhr sind wir in seiner Bude, kostet 350 Euro warm. Er hat zwei Untermieter, die ich auch beide gleich kennenlerne. Ein junger georgischer Gastarbeiter bietet mir prompt sein Bett an, er geht feiern und pennt bei einem Kumpel. Zurzeit hat er keine Arbeit, kann nichts zur Miete beisteuern, Kurt lässt ihn trotzdem hier wohnen. Sein zweiter Mitbewohner ist eine Sie und Nutte. Die füllige Dame mit dem großen Busen stürzt auf mich zu, drückt mich, Bussi Bussi, und ich bin heilfroh, dass Kurt sie darüber aufklärt, dass ich sein Gast bin und nicht ihrer. Kurt bietet mir an, dass ich auch bei ihm im Zimmer pennen kann, da er zwei Betten hat. Außerdem die Glotze, die bei Kurt rund um die Uhr läuft, einschließlich nachts. Er kann nicht ohne, meint er. Für Empfang deutscher Sender ist gesorgt. Ich mach es mir auf dem Bett bequem, Kurt verschwindet in der Küche. Ich nutze die Chance, um mal ein wenig durch den Videotext zu blättern, was es so Neues im Fußball gibt … alle anderen Geschehnisse in der Welt interessieren mich zurzeit nicht, sicherlich wird auch gerade irgendwer gegen irgendwem einen Krieg führen … Kurt kommt mit einer kalten Literflasche Bier, fragt mich ob es mir was ausmacht aus derselben Flasche zu trinken … natürlich nicht … Er haut sich in sein Bett, zwischen uns der Nachttisch mit der Bierpulle und einer Schachtel Kippen. Kurt trinkt nicht nur pausenlos, auch sein Tabakkonsum ist gewaltig. Er ist ein toller Gastgeber, teilt alles mit mir, die Stunden vergehen im Rausch … mein Rachen bekommt keine Pause, entweder qualmt oder plätschert es. Wir quatschen stundenlang, der Gesprächsstoff geht uns nicht aus, ich fühle mich pudelwohl, wo ich früher in solch einer Situation sicherlich beklemmt gewesen wäre. Obwohl wir einen guten Zug haben, merke ich, dass Kurt wieder nüchtern wird, während bei mir der Rausch einsetzt und wir schlussendlich auf etwa einem Pegel sind und uns bestens verstehen. Dabei hilft auch mal wieder das, was überall auf der Welt verbindet: Fußball. Kurt kennt sich darin bestens aus … bei Bier und Tabak über Fußball zu philosophieren, was will Mann mehr!? Kurt redet über seine eigene Zeit im Amateurfußball. Damit er in der für seinen Körper optimalen Form auflaufen konnte, bedurfte es vor Spielbeginn zwei Liter Bier. Wie auch ich war er technisch nicht der Beste, aber er war ein Kämpfer und so kann er ganz gut nachvollziehen, was es für mich bedeutet hat, wenn ich mit einem absolut chancenlosen Team dem großen Favoriten ein Bein stellen konnte, nur dank der Kraft des Willens, des unbedingten Willens. Als Kind studierte er genauso wie ich die Tabellen sämtlicher internationalen Ligen, über die man so in den Medien informiert wurde, man wusste jederzeit darüber Bescheid, wer zum Beispiel gerade in Albanien oder Polen an der Tabellenspitze liegt – der schöne Nebeneffekt daran, man kann schon als Knirps Städte wie Baku, Maribor oder Tórshavn in die jeweiligen Länder einordnen und im Gegensatz zu vielen anderen Dingen vergisst man das auch sein Leben lang nicht mehr. Das Bier drückt auf die Blase, ich muss aufs Klo, gehe dabei am offenen Zimmer der Nutte vorbei … der Freier guckt etwas erschrocken, ich winke nur ab, was soviel bedeuten soll wie „Weitermachen!“ … Auf dem Rückweg ist die Zimmertür geschlossen, ich vermute sie befolgen meine Aufforderung … Zurück bei Kurt geht es nun um Biathlon, Kurt liebt diesen Sport und ein bisschen verliebt scheint er auch zu sein, in Magdalena Neuner, von der er zumindest ein großer Fan ist und zutiefst bedauert, dass sie mit erst 25 Jahren ihre Karriere nach diesem Winter beenden wird. Die Weltmeisterschaft in Ruhpolding hat heute begonnen, sein Chef weiß Bescheid, braucht diesmal nur in den Videotext schauen, um zu erfahren wann er mit Kurt planen kann und wann nicht. Ich habe keine Probleme mich ins Gespräch einzubringen, da ich mal selbst sehr gern Biathlon geschaut habe und wir über die guten alten Zeiten von Disl, Groß, Luck und Fischer sprechen können. Kurt meint, dass es schön ist, mal solch einen gemütlichen Plauderabend zu verbringen, wahrscheinlich wird auch ihm die Einsamkeit nicht fremd sein. Er erinnert mich irgendwie an Bukowski; wie dieser braucht auch Kurt keinen Schlaf, eine halbe Stunde genügt, die restliche Zeit am Tag wird getrunken. Es ist schon drei Uhr in der Nacht, ehe ich beschließe wenigstens ein paar Stunden zu pennen. Kurt trinkt und raucht weiter, im Fernsehen läuft jede Nacht dasselbe Programm. Am frühen Morgen weckt er mich, er muss auf Arbeit und ich ja irgendwie auch. Der Boden klebt vom Bier, Kurt leert eine Flasche, wir trinken noch Kaffee, rauchen gemeinsam ein paar Kippen, reden weiter über Biathlon … „Die Neuner kommt zurück, du wirst schon sehen“, versuche ich Kurt ein wenig zu trösten. Ich bin mir sicher, dass ich an Kurt und unseren gemeinsamen Abend eines Tages denken werde, wenn ich beim Zappen im Fernsehen auf Biathlon stoßen werde. Es ist ein leichter Weg um erinnert zu werden, das gefällt mir. Für unterwegs bekomme ich noch weitere Zigaretten und auch Bananen, frisch aus dem Treibhaus. Wir brechen auf, auf der Straße bei seinem Wohnhaus trennen sich unsere Wege, er muss nach links, ich nach rechts … Händedruck und ein Dankeschön … Bobby hat heute Lust auf Arbeit und läuft an Kurts Seite, sie geben ein schönes Bild ab, ich schaue ihnen noch kurz nach … beide tragen wir unser Gepäck, das wir zum Leben brauchen, bei uns … ich meinen Rucksack, Kurt seine Literflasche … In einem werde ich durch dieses Zusammentreffen bestätigt: Suche dir immer mal wieder die Gesellschaft von Leuten, mit denen du unter normalen Umständen niemals in Kontakt kommen würdest. Es wird dich bereichern, ein Schatz fürs Leben, während dein Sack mit Vorurteilen immer kleiner wird. Kurt ist Alkoholiker … na und!? Was nämlich viel wichtiger ist: er ist ein herzensguter Mensch!

Übergangslos komme ich entlang der Hauptstraße nach Adra und schließlich auch zurück ans Meer, ich bin zufrieden und glücklich, noch immer berauscht, nun nicht mehr vom Bier, sondern vom Glück … wieder fühle ich Dankbarkeit, die letzte Nacht war ein weiteres Geschenk. Die Küste wird wieder steil, vom Dorf La Alcazaba zum Weißplanendorf El Pozuelo … die weißen Planen der Treibhäuser breiten sich sogar auf den Berghängen aus … in La Rábita komme ich spontan auf die Idee, mit dem Bus ins Landesinnere, entlang der Sierra Nevada, nach Granada zu fahren … bedauerlicherweise finde ich aber nicht die passende Buslinie und zu Fuß ist das Gebirge Anfang März eine Nummer zu groß für mich, da noch ziemlich kalt … so beschließe ich also auf Granada zu verzichten, obwohl mich die Alhambra sehr gereizt hätte … der dünne Finanzhaushalt atmet auf und ich bleibe der Mittelmeerküste treu; der Gedanke, die gesamte spanische Mittelmeerküste von Barcelona bis nach Gibraltar / Tarifa zu laufen, ist ausreichend Reiz, um Granada nicht allzu sehr hinterher zu trauern. Stattdessen muss ich auf der vollen Europastraße 15 weiter, unangenehme zehn Kilometer, ich lege den Turbo ein, Tunnelblick. Etwas mulmig ist mir dabei schon zumute, wenn ein LKW nach dem anderen an mir vorbeirast. Melicena … La Mamola … Castillo de Baños und im letzten Tageslicht endlich runter von der E15 … auf der freien Küstenstraße weiter Richtung Castell de Ferro, fünf Kilometer davor penne ich in einer Felsnische am Fuße der Klippen an der Costa Tropical, es nieselt, aber ich bleibe trocken.

Am nächsten Morgen der überhaupt erste Regenguss dieser Reise … gerade rechtzeitig eine überdachte Terrasse eines geschlossenen Restaurants in Castell de Ferro erreicht … an einen Tisch gesetzt, Zeit fürs Tagebuch … eine ältere Frau, eine Mitarbeiterin, kommt, es ist kein Problem, dass ich hier sitze, ich bekomme sogar einen Kaffee … trinke aus … hallo Sonne, da bist du ja … das Tagebuch kann geschlossen werden, es geht weiter …

Zurück auf der E15, nach Calahonda … dort pisst mir eine Fußhupe von einem Franzosen an den Rucksack, ich springe fluchend auf, der hässliche Köter scheißt sich ein und flüchtet zu seinem Herrchen, der sich noch nicht einmal entschuldigt … weiter auf der ungeliebten Straße nach Torrenueva … als dabei die Laster an mir vorbeirauschen, kommt mir in den Sinn, dass ich während dieser Reise noch kein einziges Mal Selbstmordgedanken verspürt habe … nein, ich will sogar unbedingt vermeiden zu sterben, denn ich habe eine Ziel … dagegen war in Deutschland zuletzt jeder Laster oder Zug Inspirationsquelle genug, um mich gedanklich davor zu werfen, es verstrich kein Tag ohne Selbstmordgedanken … Diese Veränderung überrascht mich nicht, erstaunt bin ich aber allemal. Ich rufe endlich bei meiner Bank wegen dem Verfügungslimit an. Das jedoch ist gar nicht das Problem, ich habe einfach die falsche Karte … am Telefon wird mir nämlich erklärt, dass ich gar keine EC-Karte, sondern nur eine Service-Karte besitze und mit dieser könne man halt nur im Inland Geld abheben … okay auch noch nicht gewusst … von Spanien aus kann ich das Problem nicht lösen, ich müsste nach Deutschland in die Filiale kommen … nach dem Gespräch bin ich erleichtert, bedanke mich bei der Mitarbeiterin, die wegen meiner guten Laune etwas überrascht zu sein scheint, aber ich habe endlich Gewissheit – ich werde also während dieser Reise im Ausland kein Geld abheben können, macht die ganze Sache spannender. Den Hafen von Motril lass ich links liegen, auch in Salobreña halte ich mich nicht länger auf, will schließlich noch vor Einbruch der Dunkelheit Almuñécar erreichen, damit ich von dieser nervtötenden Fernstraße runterkomme. Die Treibhäuser verschwinden allmählich, das Ärgste ist überstanden. In der Abenddämmerung stoppt auf der anderen Straßenseite die Polizei und ruft mir was zu … ich soll zu ihnen rüberkommen, was viel gefährlicher ist, als auf dem anderthalb Meter breiten Seitenstrafen zu laufen … nach ein paar Minuten schaff ich es endlich die Straße zu überqueren und hol mir meinen Rüffel ab, auf Spanisch, ich verstehe kein Wort, bekenne mich jedoch für schuldig. Erst als die Beiden mit den Armen anfangen zu fuchteln, verstehe ich das ein oder andere. Der eine zeigt auf seine gelbe Warnweste, ich bräuchte auch eine … ja ich weiß, aber noch ist genügend Tageslicht und der Ort nur noch zehn Fußminuten entfernt … nein nein nein, machen sie mir deutlich, ohne Warnweste kann ich hier nicht weiter … es beginnt eine zehnminütige Diskussion, die in erster Linie mit Armen und Beinen ausgefochten wird … ich zeige auf die steilen Bergwände gleich rechts der Straße, ich zeige auf Meer und Steilküste gleich links der Straße und versuche verständlich zu machen, dass ich jetzt auf der Straße bleiben muss, weil es schlichtweg keine Alternativen gibt – und mit der oft so einfachen Lösung, einfach umzukehren, ist es auch nicht getan, denn ich wäre ja noch immer auf der E15. Vor allem der eine Polizist beginnt mich zu nerven … das einzige was er mir immer wieder an die Rübe wirft, ist die Aufforderung die Straße zu verlassen … warum nehmen sie mich nicht einfach den einen Kilometer mit, warum geben sie mir keine von den Warnwesten, die in ihrem Auto liegen und warum – Gott verdamm mich – halten sie mich hier auf, während es nun wirklich langsam dunkel wird … aber keine Chance, sie steigen in den Streifenwagen, fordern mich noch einmal auf, die Straße zu verlassen und fahren weiter. Ich schaue nach einem Ausweg, denn ich bin mir sicher, dass diese zwei Hornochsen zwei Kurven weiter auf mich warten oder wenig später wenden um mir richtig den Einlauf zu machen, falls ich noch immer auf der Straße unterwegs bin. Weil ich keine Lust habe in ihre Falle zu tappen, verlasse ich nach wenigen Metern tatsächlich die Straße, um die Steilklippe nach unten zu klettern, glücklicherweise beginnt dort auch der Strand von Almuñécar und mit ein paar blutenden Schnittwunden kann ich am Meer weiter. Am FKK-Strand, schon hinter dem langgezogenen Ort, hau ich mich nach heutigen fünfzig Kilometern aufs Ohr, trotz leichter Gewissensbisse (FKK!) in Kleidern und im Schlafsack.

Weiter geht es in die weiße Siedlung La Herradura, die sich bis rauf auf den Berg Cerro Gordo („dicker Berg“) erstreckt. Ich laufe die Serpentinenstraße auf den Berg hinauf, gewinne ordentlich an Höhe und lande in einer Sackgasse. Ein Mann grüßt mich, ich nutze die Gelegenheit um nach dem Weg zu fragen … ein Deutscher … „da musst du … aber warte mal, hast du heute schon einen Kaffee getrunken?“ Nein. Heinz lädt mich ein, ich freue mich … Es ist halb zehn, bis zwölf hätte er Zeit, danach müsse er nach Málaga, fliegt heute wieder nach Hause … Mit dem Auto geht es die Serpentinenstraße wieder runter zur Strandpromenade, wo wir uns auf die Terrasse von einem Café setzen … zum Kaffee gibt es auch noch ein Baguette mit Marmelade … es ist eine sehr angenehme Plauderei, denn Heinz hat etwas, was ich sehr schätze: Begeisterungsfähigkeit. Elanvoll schwingen unsere Zungen und so schieben wir uns gegenseitig immer wieder die Bälle zu, die gemeinsame Wellenlänge ist sofort offensichtlich. Das Gespräch, die Café-Atmosphäre, Sonnenschein … ein wunderbarer Morgen. Heinz war vor zehn Jahren auf dem Jakobsweg unterwegs, lief das Teilstück von Burgos nach León … dabei verbrachte er eine Nacht im Kloster, wo etwa sechzig Männer in einem Raum geschlafen haben, die Frauen in einem anderen Raum … weil Heinz nicht schlafen konnte (üble Gerüche und Geräusche), stand er mitten in der Nacht auf und ging rüber in den Frauensaal, wo es stockdunkel war … dort tastete er Bett für Bett ab, berührte dabei Frau für Frau, die keinen Mucks von sich gaben, ehe er endlich einen freien Platz gefunden hatte und prima schlafen konnte. Als Heinz diese Geschichte erzählt, kullern ihm vor Freude die Tränen an den Wangen herunter, was ich wahnsinnig sympathisch finde. Auf dem Jakobsweg soll man massig interessante Typen treffen, meine Vorfreude ist somit noch stärker. Oktober oder November am Nordkap? Kaum möglich, zu dunkel, zu kalt, meint er … ehrlich gesagt habe ich mir darüber noch gar keine Gedanken gemacht. Den Fakt mit den Lichtverhältnissen sollte ich demnächst mal im Internet in Erfahrung bringen, um besser planen zu können und gegebenenfalls einen Gang zuzulegen. Heinz ist als junger Kerl nach Holland, Frankreich, Spanien und Italien, hat in kurzer Zeit die Sprachen dieser Länder gelernt, die er fließend beherrscht, wie bewundernswert! Danach lernte er weitere Sprachen … dafür reiste er für ein paar Monate in ein Land, um am Ende der Reise die Sprache zu beherrschen, seine nächsten „Projekte“ sind Chinesisch und Arabisch. Wie mein Vater 64er Baujahr, hat zusammen mit seiner Frau die halbe Welt bereist. Ich bin ganz fasziniert, wie jung er im Inneren geblieben ist, wie erfrischend lebendig und positiv er auf mich wirkt, kurz: ein toller Typ. Seit meinem Geburtsjahr, 1984, ist er im Gemüseimport tätig, schaut daher regelmäßig in Spanien vorbei und lebt sonst in München. In Almuñécar muss er noch ein paar Dinge erledigen, ich fahre mit. Nebenbei gibt es meine erste Spanisch-Nachhilfe, Heinz erklärt mir die landesspezifische Aussprache, langsam sehe ich durch. Wir treffen eine Bekannte von ihm, die mich, wie anscheinend die meisten Spanier, für total bekloppt hält, während Heinz ganz euphorisch von meiner Wanderung spricht. Heinz möchte mir noch seinen Lieblingsstrand zeigen. Wir fahren hin, dort gibt es ein tolles Restaurant, Heinz lädt mich ein zweites Mal ein, obwohl es schon nach zwölf ist und ich mir etwas Sorgen mache, dass er wegen mir seinen Flug womöglich verpassen könnte. Aber Heinz ist ganz entspannt, wir sitzen im Freien, direkt am Meer in einer kleinen Bucht, es ist ein FKK-Strand, ein paar Opis und Omis lassen ihre Falten brutzeln. Es gibt eine undefinierbare Vorspeise, dazu Salat und als Hauptgang Steak mit Pommes und Letscho. Nebenbei plaudern wir weiter herzhaft, lachen viel … er freut sich auf mein Buch über diese Reise, scheint in keinster Weise zu zweifeln, dass er dieses Buch mal in den Händen halten wird, während ich noch etwas skeptisch bin. Denn zuallererst muss ich die klitzekleine Bedingung erfüllen, zum Nordkap zu laufen. Er selbst wäre zu gern mit mir ein paar Tage herumgewandert, aber die Termine … es ist wie es ist und in der Kürze liegt oft viel mehr Zauber als in der Länge. Zum Abschluss gibt es ein Espresso, viertel zwei fahren wir wieder rauf zur Küstenstraße N340. Heinz schwärmt von diesem Küstenabschnitt, wo man auf der alten N340 um die Berge herumlaufen und die Aussicht genießen kann. Dort lässt er mich auch raus, wir verabschieden uns herzlich, er reicht mir noch eine kleine Packung mit Keksen, genau vier Stück … wir haben den Einfall, dass ich in den kommenden vier Nächten an meinem Schlafplatz jeweils einen Keks esse und dabei an Heinz denke – der Gedanke gefällt mir und ich werde diese Abmachung einhalten, das ist doch Ehrensache, auch wenn ich es sonst nicht so mit der Ehre habe. Ich danke Heinz für die letzten Stunden … „bleib gesund“, sagt er und düst mit einem Hupen davon.

Ich laufe die schöne Küstenstraße nach Maro und weiter nach Nerja, möchte während einer Pause mein vom Mittag eingepacktes Steakbrötchen vertilgen, finde dabei jedoch eine Unmenge an Ameisen in meinem Rucksack wieder, ich muss alles auspacken und den Kammerjäger machen … allein in meiner Brötchentüte etwa einhundert Ameisen, das Fett muss sie angelockt haben … normalerweise wirft man solch ein Brötchen nun weit von sich, aber unterwegs gibt man nicht so einfach klein bei … ich kratze die Viecher vom Brötchen und lass es mir anschließend schmecken, ohne jeden Ekel, wieder einmal bin ich über mich selbst überrascht. An der Playa de Vilchez verdrücke ich den ersten Zitronenkeks von Heinz, schaue zum Sternenhimmel hinauf und richte ein paar Worte des Dankes an ihn … vielleicht sitzt er ja gerade zuhause in München und spricht zu seiner Frau über unsere gemeinsamen Stunden. An diesem 3. März bin ich mit 21 Kilometern die bisher wenigsten Tageskilometer gelaufen, der Körper kann die Verschnaufpause gut gebrauchen. In meinem Schlafsack liegend blicke ich zum Mond, Vergangenheitsbewältigung ist mal wieder angesagt … der Gedanke, dass sie monatelang einsam und traurig ist, beklemmt mich … wäre es mir lieber, dass sie mit einem anderen Mann zusammen und dafür glücklich ist? Ich weiß nicht …

Ich bin an der Costa del Sol, die hier recht flach ist … Torrox-Costa … Lagos … Mezquitilla … La Caleta de Vélez … Torre del Mar … Benajarafe … Rincón de la Victoria … ein Fünfzigkilometerritt nach Málaga, bei dreißig Grad in der Sonne … die kilometerlange Strandpromenade übervoll, auch die Freisitze der Restaurants, ich ernte viele Blicke, fühle mich unwohl. Mein Ziel, den Sonnenuntergang auf der Alcazaba zu verbringen, spornt an und ich schaffe es fast auf die Sekunde genau. Ich sitze kurz nach 19 Uhr auf einer Mauer auf einem Aussichtspunkt oben bei der Burg; ein paar Grüppchen, Spanier, Franzosen und Deutsche, ich blicke nach Westen und erfreue mich am Sonnenuntergang, ein schöner Lohn nach dem Gewaltmarsch … dazu gibt es Bier und Kippen, die Aussicht auf die Stadt mit Hafen, Stierkampfarena, Altstadt und Boulevard ist großartig … nun habe ich Zeit, träume vor mich hin, verbringe die ganze Abenddämmerung hier oben, es ist ein weiterer unvergesslicher Moment … Ich verlasse die Maurenburg, durchlaufe die Altstadt mit der hübschen, beleuchteten Kathedrale … laufe an Picassos Geburtshaus vorbei, gehe in ein Internetcafé, um mich über die Lichtverhältnisse am Nordkap zu informieren … alles okay, die Polarnacht beginnt erst Ende November … bis Anfang November kann man noch jeden Tag ein paar Stunden bei Tageslicht laufen … Die Altstadt verlassen, zum Hafen, Blick zur beleuchteten Alcazaba … zum zweiten Mal während dieser Reise gönne ich mir einen Barbesuch, ich trinke Espresso und Bier, lass dabei die Seele baumeln, nebenbei schenkt Real Madrid dem Gegner Espanyol Barcelona fünf Tore ein … Mitternacht ist die Bar leer, auch ich breche auf, frage beim Bezahlen ob irgendwelche Essensreste übriggeblieben sind … die jungen Barmänner verstehen kein Englisch und es dauert etwas, bis sie begreifen was ich von ihnen möchte und anscheinend davon peinlich berührt sind … es ist nichts mehr da, aber zwei Brötchen haben sie dann doch noch für mich. Es ist auch mehr nur ein Testlauf, nämlich ob ich mich dazu überwinden kann, nach Essen zu fragen … kann ja sein, dass es bald notwendig sein wird … Ich bin ganz zufrieden, dass es mir gelingt über meinen Schatten zu springen und Hemmungen zu überwinden. Hemmungen sind der Mantel der eigenen inneren Unsicherheit, den es abzustreifen gilt. Zum Nachtquartier laufe ich noch drei Kilometer auf dem Uferspazierweg, raus aus der Stadt und am letzten Strand von Málaga, beim Fluss Guadalhorce, verbringe ich die Nacht. Die Stadt ist gar nicht übel, der Abend war jedenfalls gut. Der zweite Keks muss dran glauben.

Auf Schnellstraße und Autobahn muss ich weiter, den Fluss überqueren, das Flughafengelände umlaufen … im Urlaubsort Torremolinos bin ich zurück am Meer … ab da an ein Megaurlaubszentrum, übergangslos geht es an der Strandpromenade zum Ort Benalmádena … an einem Montag Anfang März schon ordentlich Betrieb, ich bin mir sicher, hier nicht an einem Sommerwochenende sein zu wollen. Etwas wehmütig denke ich an die leeren Strände im Februar zurück. Die Souvenirgeschäfte florieren, die modebewussten und tipptopp gepflegten Afrikaner werden immerhin mal ein paar Sonnenbrillen los. Erstmals sehe ich Badende und Sonnenanbeter … Burg von Fuengirola … neben der A7 nach Cala de Mijas … ich erfahre, dass Magdalena Neuner Gold gewonnen hat, freue mich für sie und noch mehr für Kurt … auf Heinz gibt es den dritten Zitronenkeks, die nächste Strandnacht …

Kurz vor Marbella spricht mich ein Mann an, der auf der Düne zwischen Bäumen sein Zelt stehen hat … ein Serbe in den 50ern, wohnt in Vancouver und eine selten unangenehme Gesellschaft … ich sitze neben ihm, während er schnattert und schnattert und bei seiner Themenwahl Weltrekordsprünge in Rekordzeit fabriziert … ich übersetze: Europäer sind Idioten, denn sie lieben die Nigger; die Nigger (Affen) sind faul und an ihrem Schicksal selbst Schuld; Israel verteidigt sich, Iran will Europa zerbomben; Kanada und USA sind die besten Völker der Welt, aber die dummen Europäer hassen ja die Amis; Reisen ist die beste Bildung, nicht Universitäten oder Schulen (endlich mal Zustimmung!); in Europa ähnelt der eine dem anderen, Produkte der Gesellschaft und des Massenkonsums; die Leute glauben das was sie im TV sehen, dabei muss man zwischen den Zeilen lesen (oder gar nicht erst anschalten!); man soll man selbst sein, ist man ein Mörder, dann soll man es auch ausleben (hm, ich muss dabei irgendwie an Srebrenica denken); die Europäer lassen sich von ihren Herzen leiten, wenn sie zum Beispiel mit Bildern aus der Dritten Welt konfrontiert werden, sie sollten aber viel mehr mit ihrem Hirn die Angelegenheiten betrachten … kurz: ein breites Allgemeinwissen, aber das Fundament ist im Arsch … sein pausenloses Gequatsche ist extrem anstrengend, er will gar nicht dass ich was zum Gespräch beitrage, was auch schwierig wäre … zum einen weil mein Schulenglisch für solche Themen ungenügend ist, zum anderen weil ich gerade etwas über Israel sagen will, wo er schon wieder nach Somalia rüber springt … „Ich bin kein Rassist, aber die da drüben sind alle Gorillas“ … dies wiederum erinnert mich ein wenig an: „Ich habe nichts gegen Ausländer, solang wie sie nicht nach Deutschland kommen“ … In Gesellschaftsfragen und was das Reisen betrifft haben wir ähnliche Meinungen, aber irgendwie habe ich das alles (Israel, USA, Palästina und so weiter) hinter mir gelassen, weil es meinem Leben keinen Sinn gibt, nein stattdessen hat es mir das Leben kotzelend gemacht … ich kümmere mich um mich, denn darauf habe ich Einfluss; ich versuche ein „guter“ Mensch zu sein, mehr ist nicht drin … Es ist echt schwer von der Düne wieder runterzukommen, falsche Höflichkeit, normalerweise hätte ich ja nach der Gleichsetzung von Afrikanern mit Affen aufspringen und gehen müssen … aber was hätte mir das schon gebracht … ist es nicht interessant zu erfahren, warum einer so denkt, außerdem spendiert er mir ein Frühstück und für eine kostenlose Mahlzeit setze ich mich sogar an den „Tisch“ eines Rassisten, da darf man nicht zu zimperlich sein … nun gelingt es mir sogar doch noch etwas dazwischenzufunken … Die Afrikaner wären also selbst schuld? Wenn man nur die Gegenwart betrachtet, könnte man das schon fast wirklich glauben … ich hole aber weit aus, und das erste Beispiel das mir einfällt, um das Argument der Selbstverschuldung zu schwächen, ist Leopold und Kongo … ich bin überrascht, dass er nichts über die belgischen Machenschaften im Kongo weiß … Die Afrikaner sollen nichtsnutzige Affen sein? Ich spreche von meiner Zeit in Gambia, wo ich die hilfsbereitesten Menschen überhaupt getroffen habe, die das wenige was sie hatten mit mir geteilt haben … er schaut mich skeptisch an, als erzähle ich hier ein Märchen aus Tausendundeine Nacht … er selbst war noch nie in Afrika; er glaubt das was er glauben möchte, er weiß das was er wissen möchte … und dass sein Horizont unsäglich klein ist, beweist er indem er mir die Zustimmung verwehrt, als ich behaupte, dass es doch völliger Humbug ist, über Völker, Nationen und Rassen zu pauschalisieren. Es gibt gute Afrikaner, genauso wie es dort Schweinehunde gibt … und Ärsche finden wir überall auf der Welt, unter den Weißen, den Schwarzen, den Gelben, den Roten, den Grünen (Partei oder Gemüse, einerlei), unter den Christen, Atheisten, Buddhisten, Hindus, Moslems und ich setze noch eins drauf: ja selbst unter den Juden … aber es gibt halt auch überall wahnsinnig tolle und interessante Menschen, jedoch mit Abstrichen was die Grünen betrifft. Ich bin auch nicht damit einverstanden, dass man immer nur alles völlig rational betrachten sollte … viel Verstand, viel Wissen mag eine gute Sache sein, fehlt es aber an Herz, kann es verdammt gefährlich werden … eines der Beispiele aus jüngster Vergangenheit ist Breivik. Als der Serbe dann auch noch anfängt von den Deutschen zu schwärmen, ist das zu viel für mich, ich ergreife die Flucht. Diese dauert bis zum ersten Strand hinter dem Hafen von Marbella an; da dort nur wenig Leute unterwegs sind, auch auf der Strandpromenade, breite ich mein Zeug zum Lüften auf dem Sand aus, springe in Boxershorts ins Mittelmeer, anschließend geht es unter die Stranddusche … ich fühle mich danach frisch und munter. Im Vergleich zu den Urlaubszentren vorher geht es in Marbella an diesem Tag recht beschaulich zu, was mich überrascht.

Im Jachthafen Puerto Banús klotzen die Reichen, viele arabische Kennzeichen, riesige Luxusjachten. Ich bin der einzige Penner weit und breit; von Minderwertigkeitsgefühlen aber keine Spur, ich beginne wieder an mich zu glauben, wieder zu wissen wer ich bin und wenn etwas so gar nicht zu mir passt, dann ist es materieller Reichtum und Überfluss. Mittlerweile kann ich auch die Küste von Marokko mit dem Atlasgebirge erkennen … San Pedro de Alcántara … Playa Bella, auch der vierte Keks wird am Strand vertilgt, danke dir Heinz … Von Estepona aus sehe ich bereits den 423 Meter hohen Felsen von Gibraltar … ich laufe am Hafen vorbei, entdecke kurz nach zehn, ein paar Meter vom Meer und Weg entfernt, zwei alte bunte Wohnwagen, Kennzeichen Tübingen und München … ein Mann sitzt in einem Klappstuhl davor, liest Stephen King … ich spreche ihn an, frage ob er sich mit Online-Banking auskennt. Gerald (46) hat nicht einmal einen Email-Account, geschweige irgendwelcher Konten oder Versicherungen. Er legt sein Buch zur Seite und es entsteht ein angenehmer Plausch. Gleich am Anfang bekomme ich wertvolle Tipps, wie ich auch ohne Geld an Essen gelangen kann … fast in allen Städten gäbe es Mittagsküchen, meist von der Caritas, wo man eine warme kostenlose Mahlzeit erhalten kann, manchmal sogar etwas für unterwegs mitbekommt. Gerald hat sich so mal drei Monate in Sevilla über Bord gehalten und kreuzt in meiner Stadtkarte von Sevilla gleich mal die Stelle an, wo ich die Küche finde. Einfach ausprobieren! Ich bekomme einen großen Milchkaffee spendiert und nehme auf einem Stuhl Platz. Einer seiner beiden Hunde haut mir gleich darauf die volle Tasse über den Schenkel, gibt Schlimmeres. Im anderen Wohnwagen lebt seine Freundin, die ist aber zurzeit in Deutschland und kommt morgen wieder. Wir gehen in den Supermarkt, Gerald hat nur noch 1,20 Euro, diese investiert er in ein Sixpack Bier, die Dose für 19 Cent. Seine Freundin wird Geld mitbringen. Zurück am Campingwagen dauert es keine Stunde, bis das Bier schon wieder verschwunden ist. Wir gehen noch mal los, kaufen ein weiteres Sechserpack. Diesmal bezahle ich. Auf den Klappstühlen sitzend trinken wir weiter Bier, Gerald sorgt für die Joints, ich für die Kippen. Nach eigener Aussage kommt niemand mit ihm klar, kaum einer versteht seine Lebensweise, Freunde hat er keine. Viele gleiche Anschauungen über die Welt, den Fortschritt, der Überwachung, kommen zum Vorschein … Revoluzzerblut in uns, das jedoch nicht zum Kochen kommt. Gerald lebt seit Jahren die meiste Zeit in Spanien, kehrt nur ab und an nach Deutschland (München) zurück, um nach seiner Mutter, den beiden Schwestern und der Tochter zu schauen … oder halt zu arbeiten, meist im Messebau, um etwas Geld für Spanien zusammenzusparen. Bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei verlor er letztes Jahr zwei Zähne in Deutschland. In Spanien stellt er Lederwaren her, zum Beispiel in Form von Armbändern oder Portemonnaies, manchmal auch andere handwerkliche Dinge wie Kupferspiralen. Damit fährt er auf Märkte und verkauft, jedoch mit Beginn der Krise vor ein paar Jahren nicht mehr so gut wie früher. Auf Ibiza klappt das Geschäft besser. Am Klapptisch draußen gibt es für mich vier Schüsseln Nudeln, die Gerald extra für mich mit leckerer Tomaten-Knoblauchsoße zubereitet, er selbst bleibt beim Bier, jede Stunde fünf bis sechs 0,33er Dosen. Zwischendurch besorge ich Nachschub. Vier Sixpacks sind schließlich leer, das vierte Mal in denselben Supermarkt, vier weitere Sixpacks besorgt, während Gerald ein kurzes Nickerchen hält. Als er die 24 Dosen sieht, drückt er mich, als hätte ich ihm gerade etwas zum Geburtstag geschenkt. Gerald scheint oft sehr einsam zu sein, in seinem Inneren toben so manche Kämpfe, auch wenn ich es ihm abnehme, dass er größtenteils zufrieden mit seinem Leben ist. Um die Schädlichkeit von Alkohol und Tabak weiß er, auch dass er Alkoholiker ist, schafft es aber nicht darauf zu verzichten. Die Stimmung ist gut, er mag mich, genießt offensichtlich meine Gesellschaft, nickt jetzt aber auch immer wieder ein … wenn er aufwacht, schnappt er sich eine Dose, leert diese in einem Zug und pennt weiter. Es wird dunkel, Vollmond, nach einem Tagebucheintrag hau ich mich auf die Werkbank in seinem Wagen, Gerald hat mir angeboten hier bei ihm drinnen zu pennen. Er hat allein vier Sixpacks geleert. Am Morgen gibt es noch drei große Kaffees für jeden, dazu Schwarzbrot und leckeres Spiegelei, das Gerald zubereitet, auch ein Joint wird noch geteilt. Die angenehme Unterhaltung vom Vortag wird fortgesetzt, bis es schließlich Zeit wird aufzubrechen, denn ich will am Abend Gibraltar erreichen und das liegt gut vierzig Kilometer entfernt. Ich bekomme noch Milch und Salami mit, auch ein Sixpack Bier passt noch in den Rucksack, bei meinen letzten Kippen machen wir halbe-halbe, Gerald winkt ab, aber ich bestehe darauf. Kurz nach elf verabschieden wir uns voneinander, nach tollen 25 gemeinsamen Stunden … wir drücken uns, lachen, tauschen bewusst keine Nummern aus – so Gott will, sehen wir uns mal wieder, wenn nicht, auch okay …

Erreiche La Duquesa, wenig los, die großen Ferienzentren der Costa de Sol liegen hinter mir … Torreguardiaro … Puerto de Sotogrande, einer von der Security hält mich auf seinem Motorrad an … ich habe keine Ahnung warum, aber ich muss meinen Ausweis hingeben, mein Name und Geburtsdatum werden notiert, der Mann ist überaus unfreundlich … „Ich bin kein Krimineller“ … „Sicher, aber hier können sie nicht weiter“ … mit hier meint er den Hafen und alles drum herum, ich verstehe die Aufregung nicht, bin deswegen auch etwas verärgert, zumal die einzige Ausweichmöglichkeit die Autobahn ist … ich bekomme schließlich heraus, dass das riesige Areal Privatgelände ist, ein Auffangbecken der Reichen, gut abgeschirmt vom großen Rest, dem Abschaum, und die Security sorgt dafür, dass Dreck aus dem Becken entfernt wird, so wie in meinem Fall. Der Typ wartet an einer Straßenecke auf mich und überwacht, dass ich wirklich auch die Fliege mache. Er fragt mich noch, wo ich hin will … nach Gibraltar? Das seien 32 oder 33 Kilometer und das zu Fuß? Er scheint zu glauben, dass bei mir so manche Schraube locker ist und grinst höhnisch. „Ja grins du nur, du Arschloch“, denk ich mir und mach den Abgang. Auf Autobahn über den Rio Guadiaro, danach auf eine freie Parallelstraße, wo ich ein Mordstempo anschlage. Obwohl schon wieder drei Kilometer unterwegs, komme ich noch an zwei weiteren Checkpoints, die wie eine Kaserne bewacht werden, vorbei. Ein Sicherheitsmann spricht mich an, ich soll weiter die Straße langlaufen … nach Gibraltar seien es noch zehn Kilometer, wie der andere Sicherheitsmann liegt auch er zehn Kilometer daneben … es ist für mich unerklärlich wie man hier leben und bei Entfernungsangaben so gewaltig falsch liegen kann … weiter auf Nebenstraße oder auch auf Autobahn Richtung Gibraltar, schließlich ein Wanderweg neben der Autobahn, von einem Berg laufe ich runter auf die Halbinsel zu, der Blick auf den Felsen in einigen Kilometer Entfernung ist anspornend. Ohne Pause durch den unansehnlichen Ort La Línea de la Concepción … noch ein paar Kilometer am Meer, bis ich schließlich 20.22 Uhr nach einer kurzen Ausweiskontrolle die Grenze zu Gibraltar überschreite, für den Marathon habe ich neun Stunden gebraucht, ich bin zufrieden. Nur wenige Meter hinter der Grenze bin ich in einen der unzähligen Tabakläden hier, kaufe eine Stange Kippen für 14 Euro, eine Schachtel also für 1,40 Euro, das ist schon ein gewaltiger Unterschied zu den Preisen in Spanien (um die 4 Euro). Ich bin nach dem Kauf gleich noch etwas zufriedener, es läuft gut zurzeit, auch wenn mir nur noch 16 Euro bleiben. In Gibraltar muss man über das Rollfeld des Flughafens laufen, um zum Upper Rock und zur Stadt zu gelangen. Es ist bereits Nacht, ich beschließe die ruhigere Ostseite am Felsen langzulaufen, um mir einen Schlafplatz zu suchen. Am Strand finde ich ein ruhiges Plätzchen, blicke zum Sternenhimmel und zu dem gewaltigen, beleuchteten Felsen hinauf, die Mittelmeermöwen tänzeln um ihn herum … In Spanien gab es bisher kein einziges Mal ein Problem mit einem Schlafplatz, ich hoffe darauf, dass die Briten, falls mich jemand sieht, nicht rummosern, es ist ja nur eine Nacht. Ich kann nicht so recht einschlafen, liege stundenlang wach, genieße es aber auch, hier sein zu können, es ist ein spezieller Ort, hier direkt am Fuße des bekannten Felsens von Gibraltar, und ich bin mir dessen voll und ganz bewusst. Nach Mitternacht wird es stürmisch, das Meer brüllt und spuckt mir eine lärmende Brandung entgegen – beruhigend. Es wird eine Nacht der himmlisch süßen Träumerei.

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