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2. Valencia – Almería

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Martin ist bereits unterwegs nach Granada, ich gehe es gemütlicher an, trinke in der Küche meinen ersten Kaffee dieser Reise, verputze den letzten Proviant aus der Heimat, genieße die Vorzüge des zivilisierten Lebens. Zehn nach zehn verlasse ich die Herberge, verlasse das Zentrum, verlasse die Stadt gen Süden. Die Hände jucken fürchterlich, es ist kaum auszuhalten; obwohl ich beim Laufen nur meine Beine brauche, zumindest meistens, muss ich im Vorort Sedaví eine Pause einlegen. Die Handrücken sehen furchtbar aus, wie nach jeweils einhundert Mückenstichen und genauso krabbeln sie auch. Von Sedaví aus braucht es noch sechs Kilometer auf der Landstraße, bis ich zurück in Küstennähe bin, jedoch vorerst im Nationalpark L'Albufera. Dort endlich mal ein größeres Stück Wald, wo Wanderrouten mit Wegsymbolen lang führen. Das Meer ist nicht zu sehen, jedoch zu hören. Ich bin gut drauf und fühle, dass ich jetzt wirklich in Spanien angekommen bin, kann die Landschaft nun mehr genießen und bin zufrieden so einfach aus Valencia herausgekommen zu sein, anders als in Barcelona hat sich mir nichts in den Weg gestellt.

Auf gewohnten Bahnen, nämlich auf Sand und Strandpromenaden passiere ich verschiedene Orte. Hinter Cullera – wo ich die Nacht oberhalb des Leuchtturms verbringe – versperrt dann doch einmal ein Fluss den Weg; bisher hilft der trockene Winter und die meisten Flussmündungen liegen trocken. Aber so laufe ich einen Kilometer am Ufer des Júcars entlang, ehe die erste Brücke kommt und es auf der anderen Seite des Flusses den Kilometer wieder zurück zum Meer geht. Pause direkt an der Mündung, wo für manchen Wassertropfen eine fünfhundert Kilometer lange Reise zu Ende geht. Damit haben sie ein paar Kilometer mehr zurückgelegt als ich bisher. Sie sind ein gutes Vorbild. Ein Vorbild sollten aber auch die unzähligen Zugvögel hier sein, die ganze Strandabschnitte bevölkern und ich mir etwas unwohl in meiner Haut fühle, da ich als unberechenbares Monster sie in ihrer Ruhe störe und ich sie an einigen Stellen kilometerweit vor mich hertreibe, dabei erlernen die Kleinsten – etwa hundert Tiere auf zehn Quadratmetern – erst gerade das Fliegen. Aber nützt ja nichts, irgendwer fühlt sich immer gestört und wir alle müssen sehen wo wir bleiben oder besser noch, wo es uns hin verschlägt. Ich sehe weiterhin die meiste Zeit des Tages keine Menschen, was bleibt sind die hässlichen, hohen Betonklötze, die immer wieder einen Keil zwischen Sonne und mir treiben. Ich versuche voranzukommen, es gelingt gut. Auch wenn sich mir schon bald ein zweiter Fluss in den Weg stellt und ich diesmal drei Kilometer flussaufwärts und schließlich wieder flussabwärts laufen muss. Das Problem hierbei ist ein Bachtümpel, der in die für mich falsche Richtung gabelt … da weit und breit keine Brücke zu sehen ist, mache ich kurzen Prozess und versuche drüber zu springen … nur dass ich dabei vergesse, einen Rucksack auf dem Buckel zu tragen, was meine Sprungkraft um dreihundert Prozent minimiert … so versinke ich mit beiden Füßen tief im Morast, bin mächtig eingesaut und – noch mehr – angefressen. Auf der anderen Seite befindet sich eine riesige Orangenplantage, ein Irrgarten aus dem ich schließlich herausfinde und mitten vor einem drei Meter hohen Tor stehe, natürlich verschlossen. Ich versuche drüber zu klettern, scheitere aber an den spitzen Torzacken, die mir an beiden Füßen die Gewissheit geben, noch zu leben. Der kurze Schmerz ist nicht das Problem, ich ärgere mich aber maßlos, so leichtfertig meine Schuhe beschädigt zu haben. Leichtfertig und überflüssig, denn nur zwanzig Meter neben dem Tor hat mutmaßlich die Orangenmafia ein zerstörtes und passierbares Stück des Zaunes hinterlassen. Dahinter beginnt ein Schotterweg, im Sauseschritt weg von der Plantage, ja nicht in Erklärungsnot geraten. Ich sehe vier Bauern auf einem anderen Feld, leicht verwundert betrachten sie mich und die Schlammklumpen an meinen Beinen, sie feixen, was mir nur recht sein kann. Ohne Ärger zu bekommen gelange ich endlich auf eine Straße, wo ich den Fluss überqueren kann; nun ärgere ich mich über mich selbst, dass ich meinen Rucksack nicht mit reifen Orangen gefüllt habe. Ich fühle mich dreckig, bin es ja auch … und fühle mich erst wieder wohl in meiner Haut, als ich den ganzen Dreck an einer Wassersäule am Strand bereinigen kann und die Sonne nach einem kurzen Nieselregen beim Trocknen hilft. Die Warterei ist kein Problem, denn ich habe Bier und Kippen dabei und komme nach der äußeren Wäsche auch in mir drinnen wieder ins Reine. Ich knipse Musik an, dann fällt sowieso alles viel leichter …

Erreiche Gandia, wo ich am Hafen bei Sternenhimmel und Musik vor mich hin träume … hoffentlich werde ich mein ganzes Leben lang die Herrlichkeit solcher Momente fühlen … Wenn dann am nächsten Tag die Sonne aufgeht, der Himmel bereits blau ist, fühle ich, dass es ein schöner Tag werden wird … solch ein Gefühl am Morgen eines neuen Tages hatte ich lange nicht … mein 500. Kilometer am Strand von Oliva … die Hände jucken weiterhin, merkwürdigerweise aber immer nur zwischen 10 und 13 Uhr, immerhin brennen sie jetzt nicht mehr … auch die anderen Blessuren (Blasen, Knie, Schienbein) haben deutlich nachgelassen, ich habe also keinen Grund zu klagen. Da am Strand immer mal wieder knie- oder oberschenkeltiefe Rinnsale zu passieren sind, wechsle ich auf meine Strumpfhose, die ich nach oben krempele und so ohne Probleme durchs Wasser waten kann. Der ein oder andere verwunderte Blick von manch einem Spaziergänger lässt sich dabei nicht vermeiden, aber unterwegs kümmert man sich um solche Dinge nicht. Hinter Dénia, innerhalb der Steilklippen des San Antonio Kaps liegen die Höhlen von Les Rotes, ein einsamer Platz mit beeindruckender Aussicht. In die Höhlen trau ich mich nicht, was auch daran liegt, dass bereits Nacht ist … also schlag ich direkt am Eingang mein Nachtquartier auf … Sträucher und Bäume neben mir schützen gegen den Wind von Meeresseite. Die Steilklippe aus Kalkstein, das laute Meer der Costa Blanca, Sternenhimmel und das Licht des Leuchtturms in der Ferne … mehr geht nicht, zumal ich keine Häuser um mich herum sehe, auch Menschen und Straßen halten sich weiterhin fern. Erstmals schwitze ich nachts.

Eine schöne Morgenröte rings um das Kap treibt mich aus meinem Schlafsack nach oben zu den Klippen hinauf. Ich laufe durch einen Nationalpark am Fuß des fast 800 Meter hohen Montgó-Berges, bis ich endlich die Stadt Xàbia erreiche. Von Xàbia aus laufe ich in verschiedene Sackgassen, einsame Buchten oder Wanderwege, die im Nichts enden. Wenn sich die Sackgassen häufen, steigt die Frustration und die findet ihr Ventil im Supermarkt, wo in der Regel immer derselbe billige Kram eingekauft wird: Baguette, Cola, Bier und Kekse … alles andere ist zu teuer; das Bier gibt es in der Regel zum Feierabend, wobei ich mich nicht immer beherrschen kann und manchmal schon vorher zulange. Es geht auf 400 Meter hoch, die Aussicht ist toll, auch der Frühling klopft an Bäumen und Wiesen an, die ersten Bienen tauchen auf … von Mücken und Fliegen bleibt die Natur noch verschont. Die Pusteln an den Händen platzen auf, meine Hände scheinen um 40 Jahre gealtert zu sein. Ich versuche direkt am Meer unterhalb der Steilklippen voranzukommen, aber auch hier gibt es trotz aller Kletterbemühungen keine Aussicht auf Erfolg. Es bedarf dreißig Wanderkilometer, um eine Entfernung von zehn Kilometern zurückzulegen. In Moraira falle ich schließlich auf eine Bank oberhalb des Jachthafens, blicke in den Sternenhimmel, lass erstmals den bisherigen Reiseverlauf Revue passieren, bin zufrieden, fast euphorisch, so sehr, dass ich beginne mir auszumalen, nach Abschluss der Reise ein Buch zu schreiben. Nachts kratze ich täglich meine verbrannte Nase auf, so dass es immer wieder aufs Neue beginnt zu bluten …

Beim Marsch nach Calp sieht es so aus, wie ich mir Gibraltar vorstelle … ein etwa ein Kilometer langer und dreihundert Meter hoher Felsen auf einer Halbinsel, die praktisch nur aus diesem Felsen, dem Penyal d'Ifac, besteht. Allemal ein Hingucker! An der Küste geht es hoch und runter, ich schwitze, die Tage werden immer wärmer, es geht immer weiter nach Süden, die Touris vermehren sich hier schneller als im „Norden“. Bei Altea laufe ich einen schönen Wanderweg (Aussicht!) den Berg hinauf, muss dann auf der anderen Seite des Berges nach unten klettern, was mit Rucksack eine mühsame und schweißtreibende Angelegenheit wird … der steinige Untergrund hilft etwas, dennoch rutsche ich mehr als dass ich laufe. In einem kleinen Supermarkt an der Strandpromenade von Altea findet der Verkäufer Gefallen an mir und spendiert mir ein Bier … „Mein Bruder macht das auch … herumziehen und irgendwo schlafen … das ist toll!“ … er will mehr über meine Pläne wissen und scheint mich nicht einmal für verrückt zu halten, während der Großteil der Spanier mich wohl für ziemlich bekloppt hält. Warum laufen? Es gibt doch Autos. Mir geben jedoch kurze Gespräche, wie hier mit dem Verkäufer, Auftrieb … es gibt also auch noch andere Menschen, die sich nach solch einer Tour sehnen, einmal im Leben ein freier Vogel sein … Zuspruch ist Wind unter meinen Flügeln, die ich jahrelang ungepflegt vergammeln ließ.

In Benidorm ist zum Freitagabend ordentlich was los, wirkt etwas wie das Las Vegas der Costa Blanca; ich nehme nur passiv daran teil, stolpere meine Kilometer an der Strandpromenade ab. Anders als früher stört mich der Menschentrubel und Lärm nicht mehr, es ist ein ganz angenehmer Kontrast zur sonstigen Einsamkeit … in der Einsamkeit halte ich es länger aus, aber auf Dauer ist wahrscheinlich beides nicht ertragbar, zumindest für mich, es wird Zeit dass ich mir das endlich eingestehe … und unter uns: es gefällt mir, schöne Frauen auf mich zulaufen zu sehen … wenn mir dann eine von ihnen auch noch ein Lächeln schenkt, dann wird mir ganz warm ums Herz … in der Heimat schenkt mir keine Frau ein Lächeln, zuletzt nicht mal mehr meine Partnerin.

Am nächsten Tag geht es knapp vierzig Kilometer von Benidorm über Villajoyosa und El Campello nach Alicante – das Unterbewusstsein mit der grün-weißen Fußballbrille hebt den Finger. Was mir an Spanien gefällt: überall entlang der Küste findet man Bänke und Wassersäulen. Am Strand von Alicante stehen die Bänke zuweilen zwischen den Palmen, ich nehme Platz, trinke Bier und rauche. Vor mir spielt ein Pärchen Beachvolleyball, mit viel Einsatz, schön anzusehen … vor allem sie … gerade wühlen sie sich im Sand, lachen, beißen aneinander herum, küssen sich zärtlich … so schön ungezwungen, so dass ich nicht einmal peinlich berührt bin, wie es ja oft in solchen Fällen ist. Sie bekommen gar nichts von ihrer Umwelt mit, das ist schön zu beobachten, aber klar macht es mich auch traurig … so wird es gemacht und nicht anders! Ich wünsche ihnen, dass die Routine noch etwas die Hände von ihrer Liebe lässt … sollen sie sich doch noch in vierzig Jahren so herumwühlen und Purzelbäume schlagen, wenn es sein muss halt mit dem Krückstock, vielleicht sitze ich dann wieder hier auf dieser Bank und schaue ihnen bei ihren verliebten Spielereien zu, das würde mir gefallen. Aber … NEIN, kein aber … Du Realität hältst jetzt mal schön die Fresse! Meine Bierdose leert sich nicht so recht, was ein gutes Indiz dafür ist, dass ich gerade nicht auf Wolke sieben schwebe.

In der Bild steht auf der Titelseite etwas vom Rücktritt des Bundespräsidenten, in Deutschland scheint zurzeit also auch nichts Wichtiges zu passieren. Wie an allen gutbesuchten Strandpromenaden tummeln sich auch hier die Afrikaner, die auf dem Fußweg ihre Handtaschen, Raubkopien (Filme) oder Sonnenbrillen anbieten, was kaum Beachtung findet, obwohl sie so gut wie jeden Passanten ansprechen, nur bei mir versuchen sie es erst gar nicht … ich fühle mich nicht gekränkt. Ein nobel gekleideter Spaziergänger betrachtet mich und streckt wortlos den Daumen nach oben, na warum auch nicht. Ich laufe ins Zentrum rein, auf der Suche nach einer Jugendherberge, die letzte Dusche liegt schließlich gut eine Woche zurück … und ein warmes Bett würde auch mal wieder fetzen. Dabei fällt auf: Von Fußball abgesehen hat die Stadt nichts weiter zu bieten oder es ist mir einfach schlichtweg ein zu weiter Spaziergang entfernt. Ich stehe schließlich dort, wo laut Stadtkarte die Jugendherberge sein soll, aber bis auf ein Wohnblock ist da nichts … frustriert irre ich weiter umher … als ich über eine Straße gehe, höre ich jemanden hinter mir etwas rufen … eine etwa fünfzigjährige Frau mit ihrem kleinen Hund schaut zu mir, etwas ungläubig zeige ich mit dem Finger auf mich … ja, sie meint mich … also zu ihr hin … ich suche doch bestimmt die Jugendherberge? Und ob! Sie beschreibt mir den Weg, ich bedanke mich und laufe die dreihundert Meter zum Ziel, dabei beeindruckt wie aufmerksam manche Menschen ihre Umwelt wahrnehmen. Ein Mann in einer Stadt, mit einem großen Rucksack, etwas planlos umherlaufend, ist gleich auf der Suche nach der Jugendherberge, wie einfach, wenn man einmal auf die richtige Formel gekommen ist. Nur wenige Menschen haben ein Gespür dafür, wenn jemand Hilfe braucht, und falls sie es bemerken, geht es sie in der Regel einfach nichts an. Ich bin auch so einer, aber ich hoffe durch diese Reise zu lernen; nicht nur Nehmen, auch Geben …

Etwas irritiert stehe ich vor der Jugendherberge, großes Eingangstor, Sicherheitsleute, dahinter ein kleiner Hof, wirkt eher wie ein nobles Hotel … schüchtern an den Sicherheitsleuten vorbei; mir wird sogar die Tür geöffnet, Donnerwetter. Da ich mittlerweile ein alter Sack bin, kosten für mich die Jugendherbergen in den meisten Fällen ein paar Euro mehr. Aber hey, ein Einzelzimmer für dreizehn Euro, dazu Frühstück für einen Euro oben drauf … da kann selbst ein alter, verbitterter Kauz nicht meckern. Die Rezeptionsdame prustet als sie meinen Vornamen liest, wusste gar nicht, dass der so bescheuert ist. Englisch spricht hier keiner, mir Schnuppe, der schnellste Weg aufs Zimmer ist ein einfaches „si“, auf alles was halt so geplappert wird. Nach etwa zwanzig Mal „si“ bin ich endlich in meinem Zimmer, lass alles fallen, bin erschöpft. Eine Unterkunft hat bei mir den Effekt, dass ich schlagartig nur noch in Zeitlupe funktioniere. Ein Blick in den Spiegel: au Backe oder eher Nase … blutig und sich schälend … zum Glück sehe ich mich selbst nicht, wenn ich unterwegs bin; bei all den schönen Frauen hier in Spanien wäre mir das Bewusstsein einer solch verunstalteten Nase schon ziemlich peinlich. Dass eine Unterkunft ein Privileg ist, wird mir erst so richtig bewusst, als ich auf der Schüssel sitze – endlich mal wieder beim Scheißen Zeit lassen können … ach Mist, ich hätte doch die Bild kaufen sollen. Für einen Abendspaziergang fehlt mir die Motivation und Energie.

Das langärmlige Shirt hat seinen Dienst getan, ich wechsle auf kurzärmlig. Das Frühstück ist der Brüller: Für meinen Euro bekomme ich per Selbstbedienung drei Gläser Melonensaft, zwei Tassen Kaffee, eine Mandarine, einen Apfel, Cracker, Baguette und vier Toastscheiben mit Käse, Salami und Marmelade … Saft, Toastbrot und Marmelade gab es bisher noch gar nicht auf dieser Reise. Bei solch einem Frühstück ist ein Gewaltmarsch ohne jedes Klagen angesagt! Auf dem Randstreifen der zweispurigen Fernverkehrsstraße gelange ich aus der Stadt heraus, fühle mich bärenstark. Nur die Gedanken an die Beiden bremsen mich etwas ein. Ich frage mich, wann ich endlich akzeptieren kann, dass sie nicht mehr meine Frau ist. Dabei hatten wir doch zuletzt kaum noch schöne Momente. In Gedanken versunken überquere ich den Fluss Segura (acht Kilometer Umweg für fünfzig Meter Luftlinie) und erreiche dahinter Guardamar del Segura, wo ich auf einer einzelnen Stegplatte am Strand penne. Nachts bin ich weiterhin viel wach, frage mich ob ich zufrieden bin … manchmal ja, was schon mal eine Verbesserung ist, mit Hinblick auf die letzten Wochen in Deutschland … aber oft bin ich auch noch am zweifeln, irgendetwas fehlt …

Schöner Sonnenaufgang in Torrevieja, die Wolken tragen ihren Teil dazu bei. Zum Frühstück gibt es acht Scheiben Toastbrot mit Salami, dazu eine Tafel Schokolade, irgendwie muss man sich ja am Leben halten. Schöne Wanderwege entlang der Küste bleiben die Regel, etwa neunzig Prozent der bisherigen 700 Kilometer konnte ich direkt am Mittelmeer laufen, viel mehr als ich vorher gedacht habe. In San Pedro del Pinatar bin ich bereits in der Autonomen Gemeinschaft Murcia, der dritten von insgesamt siebzehn Comunidades Autónomas in Spanien, der ich nach Katalonien und Valencia einen Besuch abstatte … an der Lagune Mar Menor („Kleines Meer“) vorbei, die durch eine über zwanzig Kilometer lange Sandbank vom Meer abgetrennt ist … dabei Abenddämmerung in Santiago de la Ribera … umgehe schließlich den Flughafen Murcia-San Javier und verbringe die Nacht in Los Alcázares auf der Terrasse eines Strandrestaurants.

Am Morgen ist militärisches Sperrgebiet zu umlaufen … Los Urrutias … Jeden Tag schlage ich mir zweitausend Kalorien Kekse in den Bauch, von daher kein Wunder dass meine Trommel nicht kleiner wird … nehme mir vor, disziplinierter zu sein … Los Nietos … die Lagune Mar Menor hinter mir lassend, meistere ich einen dreißig Kilometer langen Asphaltritt nach Cartagena, es wird bergig, Serpentinen über Serpentinen, bis ins letzte Tageslicht … ich muss mich beeilen, denn bei Dunkelheit ist die Straße zu gefährlich, deshalb lege ich ohne Pause sechs Kilometer pro Stunde zurück, die Beine nehmen es klaglos hin. Völlig kaputt erreiche ich nach fünfzig Kilometern an diesem Tag den Hafen, es ist bereits Nacht und ich stürze in eine Fast-Food-Bude, auch weil kein Supermarkt mehr geöffnet hat. Es ist angenehm leer, die wenigen anderen Gäste sprechen Deutsch … ich schreibe Deutsch, in meinem Tagebuch, das genügt mir als Unterhaltung. Burger, Pommes, Cola, Bier … ich belohne mich selbst. Die jungen Männer aus Deutschland grölen herum oder schauen leicht angewidert zu mir herüber, denn logisch: ich bin schmutzig … ihr Parfum stinkt mehr als mein Körper, und auch wenn ich es nicht sollte, ich komme nicht umhin mich ihnen überlegen zu fühlen, zu banal sind ihre Gespräche über Weiber und Schlägereien … In die Toilette gelangt man nur mit einem Tür-Code, auch nicht schlecht … draußen finde ich schnell beim Hafen eine Bank zwischen Palmen, wo ich mich aufs Ohr haue. Auch wenn ich meinen Rucksack beim Schlafen nicht mehr festhalte, so bin ich trotzdem weiterhin vorsichtig und verbinde die Schnur von meinem Kopfkissen – Schlafsackbeutel mit Jacke und Hose vollgestopft – mit dem Rucksack … falls den also jemand mitgehen lassen will, wird das Kopfkissen unter mir weggezogen und ich würde wach werden, so jedenfalls der Plan …

In Cartagena muss ich das Meer verlassen, das Arsenal und das riesige Schiffswerftgelände von Navantia machen den Umweg nötig. Überhaupt scheint am Morgen ganz Cartagena auf dem Weg zum Rüstungsriesen zu sein, selbst ich schwimme in dieser Welle mit, überall um mich herum fleißige Leute, die auf Arbeit gehen oder fahren … ich bekomme dabei ein flaues Gefühl im Magen, fühle mich asozial und faul. Schließlich stehe auch ich vor dem Eingangstor, Sicherheitsleute, ich muss umkehren und verlasse die Stadt noch vor Sonnenaufgang, dabei habe ich die Stadt mit seinen 200.000 Einwohnern erst nach Sonnenuntergang erreicht … aber intuitiv glaube ich hier nichts Sehenswertes vorzufinden. Was folgt, ist einer der bisher undurchsichtigsten Streckenabschnitte, es braucht 24 Kilometer bis ich zurück am Meer bin. Ich lasse die Siedlungen hinter mir, komme auf schmale Wanderpfade, die über die Berge führen … da nichts markiert oder ausgeschildert ist, laufe ich in zwanzig Metern Abstand hinter zwei Wanderern hinterher, mit der etwas dreisten Hoffnung, dass sie auch ans Meer wollen. Nach gut einem Kilometer drehen sich beide (etwa 45 und 60 Jahre) zu mir um und fragen wo ich hinmöchte. Zur Playa? Ich versuche mir aus ihrem Spanisch etwas zusammenzureimen. Der Weg scheint schwierig zu sein, zwischen den Bergen der Sierra de la Muela wäre es für einen Ortsunkundigen praktisch unmöglich, den richtigen Weg zu finden, zumal es an manchen Stellen doch sehr steil hinauf und auch wieder steil nach unten ginge. Die Beiden schlagen mir vor, dass ich ihnen folge, worüber ich erleichtert bin. Immer wieder stoppen die beiden Wanderer und beraten sich wo es am besten weitergeht, ich verstehe so gut wie kein Wort, laufe als treues Hündchen einfach hinterher. Wir versuchen etwas zu plaudern, nach einigen Anläufen begreifen sie, dass ich von Barcelona losgelaufen bin und sind sichtlich beeindruckt, nicht zuletzt dafür, dass ich hierzu nur zwanzig Tage benötigt habe. Wo mich meine Reise hinführen soll, fragen sie mich. Um nicht völlig für bekloppt gehalten zu werden, spreche ich von Tarifa, den südlichsten Punkt der Iberischen Halbinsel … Sie gehen mit mir die Orte durch, die ich dabei noch zu passieren habe: Almería, Malaga, Marbella, Gibraltar … wenn sie diese Namen aussprechen, klingt es wie Musik … wir sind einander sympathisch; der Wandervogel hat zwei Wanderhasen gefunden … und so wandern wir fast zehn Kilometer zusammen durch ein Labyrinth aus Bergpfaden und kleinen Straßen, eine anspruchsvolle Strecke. Nun bin ich wiederum ganz begeistert, wie der Ältere von den beiden das forsche Wandertempo mithält, auch bei den Anstiegen. Er zeigt auf meine verbrannte Nase und reicht mir anschließend sein Basecap, ich setze es auf, freue mich, danke und bin ab sofort Fan von Club Basket Cartagena. Schließlich erreichen wir die Hauptstraße nach Isla Plana … beide reichen mir die Hand und wünschen mir alles Gute, ich bedanke mich bei ihnen herzlich für ihre Unterstützung … ohne die Beiden hätte ich mich hier zig Mal verlaufen … sie sind denselben Weg wieder zurück ...

Von Puerto de Mazarrón geht es an der Costa Cálida weiter nach Bolnuevo, danach auf der Steilküste unterhalb der Sierra de las Moreras, ein schöner einsamer Wanderweg über zehn Kilometer, ohne Straßen und Ortschaften. Dort finde ich auch eine einsame Bucht, keine Menschenseele, ein schöner und weicher Schlafplatz direkt am Meer, mit einem ganz klaren Sternenhimmel. Ich liege noch zwei Stunden wach in meinem Schlafsack, blicke nach oben, lausche dem Meer, träume und denke an Stefanie: „Schau, ich bin noch immer unterwegs, nun bereits 800 Kilometer hinter mir ...“ In den ersten drei Wanderwochen bin ich im Schnitt 39 Kilometer pro Tag gelaufen, damit kann ich mehr als zufrieden sein. Zwölf Stunden verbringe ich hier, kein einziger Mensch taucht währenddessen auf, das sind mir die liebsten Schlafplätze.

Auf dem Weg zum Nationalpark Puntas de Calnegre komme ich an einigen Campingplätzen vorbei, die sich entlang der ganzen Mittelmeerküste verteilen und mittlerweile gut gefüllt sind, zu neunzig Prozent durch Deutsche und Holländer. An einem einsamen Strand sonne ich mich zum ersten Mal, bin ja kreideweiß. Laufe anschließend weiter zum Cabo Cope, wieder so eine schmale Landzunge, auf der ein Felsen ragt. In Águilas ist ordentlich Betrieb, Faschingszeit … viele Marktbuden, ein großes Festzelt am Hafen, die ganze Stadt bunt geschmückt … ich bedaure es etwas, nicht am Wochenende hier angekommen zu sein, dann soll hier mächtig was los sein. Vom Hafen aus will ich zur Burg Castillo de San Juan de las Águilas (etwa 50 Meter über dem Meer), als auf einmal ein Punk von der anderen Straßenseite mir etwas zuruft. Ich gehe hin … „Bist du Deutscher?“ fragt er, seinerseits auch Deutscher … „Suchst was zum Schlafen? Kannst bei uns am Strand pennen.“ Abgemacht. Auf dem ebenso bunt geschmückten Marktplatz stellt Devil (in Spanien wird er demzufolge Diablo genannt), 41 Jahre, mir seine Punk-Kumpels vor … Mark, auch aus Deutschland und eine Gruppe aus Tschechien … eine Frau dabei, die mir zur Begrüßung ein Tetrapak Wein reicht, Prost … die Tschechen können kein Englisch, die Gruppe kommuniziert auf Spanisch. Bis auf einer von ihnen (Martin) verabschiedet sich die tschechische Gruppe, um sich am Strand pennen zu legen … so plaudere ich mit Devil, Mark und Martin … kurz unterbrochen weil Devil auf einmal Durst verspürt, zu einem vorbeilaufenden Spanier geht und um einen Euro bittet … er bekommt eins sechzig … verschwindet schnell im Supermarkt und kommt mit einer Literflasche Bier zurück, die von Hand zu Hand geht. Die drei nehmen mir den Vagabunden anscheinend vorbehaltlos ab, nennen mich den „vagabundo“, sie müssen es wissen, bezeichnen sich schließlich selbst als welche. Martin ist Anfang zwanzig, fragt mich immer mal etwas auf Spanisch. Devil und Mark können mir einige Überlebenstipps geben, schließlich schlagen sie sich schon seit zwanzig Jahren in Europa durch (Frankreich, Spanien, Portugal, Schweiz). Die obligatorischen Hunde fehlen nicht, Mark hat einen, Devil gleich drei … Kinder hat er gleich noch eins mehr, auch eins in Frankreich. Beide haben mit Deutschland abgeschlossen, zu viel kotzt sie in der alten Heimat an, ob nun Arbeitsmarkt, Faschisten, Fernsehen, Handys oder halt die Merkel. Devil trägt seit sieben Jahren eine zerfetzte, ungewaschene Weste mit Abzeichen von Che Guevara, den Ärzten und dem FC St. Pauli – er ist Hamburger. Eine deutsche Männergruppe in schicken Anzügen kommt an unserer Bank vorbei, die Punks und sie kennen bereits einander … zwei völlig gegensätzliche Welten … da die reichen Leute, gerade aus einem Restaurant kommend, auf dem Weg zum Eigenheim; und dort die, die ihren ganzen Besitz im Rucksack tragen … erschnorrtes Geld geben sie sofort aus, meist für Lebensmittel und wenn kein Geld übrig ist, wird halt geklaut … Einer der Geachteten reicht Devil einen Fünfer … Devil kommt grinsend auf mich zu: „Und du fragst wie man an Geld kommt?“ Das macht durchaus Eindruck auf mich. Devil verschwindet damit auch gleich wieder im Supermarkt, kommt mit einer Einkaufstüte zurück … Biernachschub und Essen für alle; ich soll nicht so schüchtern sein und kräftig zulangen, es gibt Baguette mit Käse und Wurst. Angeblich soll es in Spanien kein Problem sein, an Essen zu gelangen, auch ohne Geld, man muss nicht einmal kriminell dafür werden … einfach ins Restaurant gehen und höflich um ein paar Speisereste bitten; wenn man kein Spanisch kann, macht man halt kreisende Bewegungen um die Magengegend herum und ein „por favor“ für „bitte“ wird man sicherlich auch ausgespuckt bekommen. Martin bietet mir etwas aus seiner Konservendose an, irgendein undefinierbares Zeug, das er mit seinem Kamm heraus löffelt, ich lehne dankend ab … Sie leben zurzeit in einem besetzten Haus in Murcia, zusammen mit sechzehn anderen, dazu zwanzig Hunde; sie sind nach Águilas gekommen, um während der Karnevalszeit etwas Geld zu verdienen. Sie haben in einer Mülltonne Hühnerkostüme gefunden und als diese verkleidet machen sie riesige Seifenblasen, den Kindern scheint es zu gefallen. Wenn sie nicht in Águilas oder Murcia sind, leben sie in anderen besetzten Häusern, die anscheinend wie Pilze aus dem Boden sprießen. Hier in Águilas hat es sich bisher noch nicht gelohnt, deshalb pennen sie am Strand, was mich überrascht … hätte dabei Ärger mit der Polizei vermutet. Halb elf brechen wir schließlich zum Strand auf, Mark und Martin etwas vorneweg, an meiner Seite Devil mit seinen drei Hunden und einen Rolli mit seinem ganzen Besitz. In einer Seitenstraße findet er einen großen Pappkarton, diesen entleert er am Straßenrand und hinterlässt dabei einen Müllberg aus Papier (würde ich mir nie trauen) … ich nehme den leeren Karton, eine Seitenstraße weiter findet Devil auch noch Bettlaken und Tücher, ab in den Karton … Devil spricht fließend Englisch, Französisch und Spanisch … er hat einiges von Europa gesehen; hat die Lizenz zum Vagabundieren, die einzige Lizenz die es nicht Schwarz auf Weiß gibt, was sie in meinen Augen so wertvoll macht … „Ich will mal meinen Kindern sagen: Geht raus, entdeckt die Welt … dazu braucht ihr kein Geld oder eine Ausbildung … lernt auf der Straße zu überleben!“ Ich sage Devil dass mir diese Einstellung gefällt, auch wenn es etwas schwierig wird, seinen Kindern etwas mitzugeben, wenn man sie gar nicht sieht … natürlich meine ich damit aber vielmehr mich selbst … aber in einem bin ich mir sicher: Das Leben als Vagabund ist aufregender als das eines Musterbürgers. Devil bietet mir an, das Wochenende mit ihnen in Águilas zu verbringen, wäre durchaus interessant, nur – anders als er – habe ich dieses launige Biest mit dem Namen Zeitdruck noch nicht abschütteln können. Ich habe ein Ziel, das Nordkap, und davon weiche ich nicht zurück. Nach Erreichen meines Zieles habe ich vielleicht auch mal die Zeit, so wie er irgendwo länger zu verweilen oder mich dorthin zu begeben wo sich die Gelegenheit gerade bietet. Kontinenthopping würde mir ja zusagen … na Europa würde auch schon reichen … Devil hat mal Bekannte jahrelang nicht gesehen, das letzte Mal in Toulouse, um sie dann schließlich völlig überraschend in Valencia wiederzusehen … ich mag solche kleinen Streiche des Schicksals. Devil ist sich auch sicher, dass „der da oben, ich geb ihm keinen Namen, denn ich bin der Devil“ ihn zugeneigt ist und prächtig durchs Leben führt. Das kommt mir sehr vertraut vor, na ja vermutlich allen Narzissten. Am Strand ankommend, baut sich Devil aus dem Gefundenen ein Zelt, ich hau mich einfach nur auf meine Matte. Vier Tschechen, ein Pole und wir drei Deutschen liegen am Hauptstrand von Águilas, dazu etwa genauso viele Hunde … Devil dreht sein Radio voll auf, einer seiner Hunde jault fast pausenlos, andere Köder laufen über mich und meinen Schlafsack … mich wundert es jetzt noch mehr, dass es keinen Ärger mit der Polizei gibt. Der Tscheche neben mir flucht über das laute Radio und will den kläffenden Köder an die Gurgel … nach einer Stunde kann ich endlich einpennen … wache aber immer wieder wegen Devils Hund auf, Devil selbst schnarcht unbeeindruckt die Nacht durch … so lernt man die einsamen Nächte erst einmal zu schätzen … Kurz vor sieben stehe ich als erster auf, der Rest schläft noch tief und fest, mir Recht … ich packe leise zusammen und mache mich aus dem Staub.

Auf der Strandpromenade atme ich prompt viel freier und zufriedener. Keine Ahnung, warum ich so auf Gesellschaft – sogar nette – reagiere. Der Sonnenaufgang am Meer, Punkt 7.44 Uhr, bringt zusätzlich gute Laune, Blick zurück auf die Stadt und die Burg. Die Küste bleibt bergig, auf einem Wanderweg geht es nach Andalusien, ein Jugendtraum erfüllt sich. Nun kann ich auch den einzigen Reiseführer gebrauchen, den ich von Zuhause mitgeschleppt habe. Damit habe ich auch endlich mal ein paar Informationen über die Orte, die ich passiere … und Andalusien endet erst an der Grenze zu Portugal, das Buch wird mich also einige Wochen begleiten. Mein Leben lang „begleiten“ werden mich wahrscheinlich auch die Zeugen Jehovas, die mich irgendwie überall aufspüren und mir wankenden Seele Bibelinterpretationen aus erster Hand anbieten. Ich kann sie immer nur sehr schwer abwimmeln, und an sich macht es ja auch Spaß mit ihnen zu plaudern. In ihnen liegt in den meisten Fällen eine angenehme Ruhe, das Problem ist halt nur … na ja die Bibel … ich habe es echt versucht mit ihr, aber dieses Buch ist so gähnend langweilig, dass ich eher etwas mit Dornröschen, Goethes Faust oder Nietzsches Lästereien, in allen möglichen Sprachen dieser Welt und wahrscheinlich noch darüber hinaus, anfangen kann. Und das Ganze dann auch noch interpretieren? Das muss doch nicht sein, echt nicht. Aber wie geschrieben, einfach ignorant abwimmeln bekomme ich nicht übers Herz, zumal diesmal eine ältere Frau und eine junge hübsche Frau mit Sohnemann auf mich zukommen. Sie probieren es auf Spanisch, was immerhin die Folge hat, dass ich erst gar nicht anfange zu widersprechen. Ich versuche verständlich zu machen, dass der da oben auf irgendeine Art bei mir ist und das genügt völlig aus. Die drei blicken mich liebevoll an und reichen mir eine französischsprachige Broschüre mit einem Auszug aus der Bibel – na wenn ich mal Zeit habe. Gracias. Adios.

Gut drauf geht es entlang der Sierra Almagrera, an Villaricos vorbei, das trockene Flussbett des Almanzoras überquert, Puerto del Rey erreicht und am Abend weiter nach Garrucha. Dort am Hafen hält ein Jogger neben mir, bittet um eine Kippe, bekommt er … hoffentlich hat er keinen Personal Trainer. Damit ich beim Laufen die Motivation aufrechterhalten kann, versuche ich mich bei den Pausen – im Wind nach wie vor recht frisch – selbst zu belohnen, entweder mit Naschkram, Bier oder Tabak … oder halt alles zusammen. Jedoch sind meine täglichen Ausgaben von drei bis vier Euro deutlich zu hoch, da muss ich endlich disziplinierter werden, zumal ich doch im Sommer einen schönen flachen Bauch haben möchte – es darf ja noch geträumt werden. Geträumt im herkömmlichen Sinn wird dann auf ein paar Stegplatten an einem Fluss bei Mojácar.

Was mir an Spanien gefällt: Es gibt sehr viele, schöne bunte Spielplätze und jeder Zeit zugängliche Sportanlagen, die auch gut genutzt werden. Die Spanier radeln und joggen gern, bloß mit dem Wandern haben sie es nicht so. Ich komme am Morgen in den großen Nationalpark Parque Natural Cabo de Gata – Nijar auf einer ins Mittelmeer vorgeschobenen Landzunge, Vorfreude auf die nächsten Tage hier, fern vom Straßenlärm. Einer der ersten Orte: Carboneras, mit der angeblich größten Meerwasserentsalzungsanlage Europas (Reiseführer!).

Was ist das denn! Sollte ich solch ein Geschenk bekommen, eine der womöglich schönsten Nächte meines Lebens? beginne ich den Tagebucheintrag am Abend. Um diesen Platz zu erreichen, passiere ich vorher die kleine weiße Ortschaft Agua Amarga und muss schließlich die Klippe hinauf, anstrengend. Schmale, steinige Wege, die Wanderwegmarkierungen sind selten zu erkennen, aber mangels Baumwuchses kann ich mich gut orientieren. Ich befinde mich auf einer kleinen Landzunge auf der großen Landzunge, nennt sich Punta Javana. Als ich gegen 19 Uhr den höchsten Punkt (etwa 300 Meter hoch) erreiche, geht soeben die Sonne unter, wie so manches Mal im Westen. Ich bin ziemlich fertig, bin seit Stunden auf der Suche nach einer Wasserquelle und damit ich überhaupt etwas Flüssigkeit in den Körper bekomme, brauche ich meine Bierreserven auf. Dort oben saust ein unangenehmer Westwind und ich habe null Elan, nun noch den Abstieg zu bewältigen. Ich pausiere kurz, blicke entlang der Klippen und da sehe ich auf einmal, nur zwanzig Meter neben mir, einen kleinen Felseinlass. Ich gehe vorsichtig hin, bereits mit der großen Hoffnung dort meinen Schlafplatz für die kommende Nacht vorzufinden … was ich zwischen dem Vulkangestein entdecke, überwältigt und berauscht mich zugleich: ein zwei mal zwei Meter großes Himmelsbett, mit Heu, umgeben von Teelichtern und sogar eine dünne Decke liegt da, Aussicht kilometerweit übers offene Meer. Ich blicke skeptisch um mich, ob nicht doch irgendwo ein Pärchen ist, das hier die Liebesnacht verbringen möchte, aber um diese Jahreszeit? … Nein, das hier hat mal jemand vor unbestimmter Zeit eingerichtet … ich bewundere diesen Mut zur Romantik und auch die Mühen die es dafür bedurfte, musste ja schließlich erst einmal alles hier hoch geschleppt werden. Wenn hier jemand seinen Geliebten / seine Geliebte überraschen wollte, dann ist dies definitiv gelungen – warum fällt mir so etwas nie ein? Eine kleine Dose mit Jointresten und eine Botschaft auf einem kleinen Zettel … in Rosa steht da etwas auf Spanisch, sinngemäß so viel wie, dass man es sich hier gutgehen lassen soll. Vom Wind ist hier nichts zu spüren, er saust über meine kleine Höhle zum Meer hinaus. Aber ich kann ihn deutlich hören, hier oben ist er lauter als das Meer. Die Aussicht kann ich mit Worten nicht wiedergeben, es ist traumhaft schön, so eine riesige Fläche Wasser haben meine Augen selten betrachten dürfen, dazu der Blick entlang der Küste, auch kilometerweit und endet erst beim Leuchtturm auf dem Felsen von Punta de los Muertos. Da sitze ich im Heu, blicke zum Meer hinaus, kann mir sicher sein, an diesem einsamen Platz auf keinen anderen Menschen zu treffen. Es wird dunkel, die Teelichter werden angeknipst, ich habe noch ein Bier, genügend Tabak, muss nach einem kurzen Eintrag das Tagebuch weglegen, denn ich habe das überwältigende Bedürfnis zu schweigen … und es geschieht das, was für mich das Schönste überhaupt ist: mir kommen die Tränen der Glückseligkeit … zum ersten Mal auf dieser Reise, zum ersten Mal seit Jahren. Glückseligkeit ist für mich der Zustand, wo man nichts mehr denkt, wo man einfach nur auf einer Welle des Glückes schwimmt und dies in vollen Zügen Sekunde für Sekunde genießt, denn erst ihre Vergänglichkeit macht die Glückseligkeit so wertvoll. Für einen Moment absolut mit sich und seiner Umwelt im Reinen zu sein, vielleicht erreichen manche Menschen niemals diesen Zustand. Eine Stunde lang liege ich in meinem Schlafsack, blicke hinauf zum Sternenhimmel und denke an nichts; eine unendliche Dankbarkeit ist das einzige, was ich in diesem Moment verspüre.

Zur Morgendämmerung hole ich meinen Tagebucheintrag nach, ich habe absolut nicht den Drang, von hier sofort aufzubrechen. Erstmals verweile ich noch an meinem Schlafplatz. Schon eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang breitet sich vor mir eine herrliche Morgenröte am Horizont aus. Der Wind ist verstummt, nun lausche ich den sanften Tönen des Meeres. Vögel trällern an diesem paradiesischen Ort, der mir eine paradiesische Nacht geschenkt hat. Dass ich nachts immer mal aufwache, hat den schönen Nebeneffekt, dass ich mir meinem Glück häufiger bewusst bin. Ich frühstücke in aller Gemütlichkeit, knipse nebenbei massig Fotos, warte gespannt auf die Sonne … so warm war es mir an noch keinem Morgen … ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Nacht noch zu toppen ist. Die Sonne taucht vor mir auf, so weit entfernt und doch so nah … es wird noch wärmer, vor allem ums Herz herum … aber damit verbunden wird auch mein Denkvermögen reaktiviert und ich beschließe aufzubrechen … ein Abschied der mich berührt, wie so bei manchen Orten, die man für immer verlässt und nur noch in seinem Herzen mit sich trägt …

Abstieg in die Bucht Cala de San Pedro, wo sich eine Aussteigersiedlung befindet … kleine Hütten, Zelte, manche leben zwischen den Klippenwänden, keine Straßen, ich muss zwangsläufig an The Beach denken. Nur scheint hier wirklich alles ganz friedlich zu sein, Leute aus aller Welt leben hier zusammen. Am kleinen Strand zwischen den Steilklippen läuft eine verträumte Frau in meinem Alter hin und her … alles sehr sympathisch … auch etwas beneidenswert, dass Menschen eine Nische gefunden haben, um sich von der modernen Welt abzuwenden und stattdessen im Einklang mit der Natur leben. Der Geist Thoreaus lebt! Ich frage die Frau nach Wasser, sie verrät mir wo sich die siedlungseigene Wasserquelle befindet, ansonsten sehe ich niemand. An der Quelle bei einer Burgruine befindet sich eine Buddha-Statue, ich fühle mich pudelwohl an diesem schattigen Plätzchen, verweile hier in dieser Oase zwischen mir unbekannten Bäumen und Blütengewächsen. Die Aussteiger haben ein mehrsprachiges Schild angenagelt: Bring your rubbish to Las Negras. Use the toilets. Bury your shit. Respect the nature. Don't use chemical soaps. Thanks!! Ein leichtes Unwohlsein, da ich nicht weiß ob Besucher hier erwünscht sind, verflüchtigt sich etwas … ich meine, ich passe mit meinem Rucksack hier noch ganz gut rein; mir aber reiche Touris an diesem Ort vorzustellen, mutet doch etwas schräg an. Ich laufe weiter, auf der Suche nach dem Wanderweg, stolpere am Hang der felsigen Klippen vorwärts, scheuche eine junge Frau aus ihrem Schlafsack auf. Sie liegt zwischen den Klippenwänden wie ich letzte Nacht. Sie lächelt mich an, was mir Mut macht sie anzusprechen, um nach dem Weg zu fragen. Sie steht auf, barfüßig springt sie leicht wie ein Reh über den steinigen Boden und zeigt mir wo ich lang muss. Wir plaudern noch kurz, sie ist aus Lettland und bleibt hier für zwei Wochen, weil es normal sei, dass Leute, die an diesen stillen Ort kommen, auch für einige Tage hier rasten und sich daran auch niemand stört. Ein Deutscher läuft vorbei, um die vier Kilometer zum nächsten Ort, Las Negras, zu laufen, denn erst dort gibt es die nächste Einkaufsmöglichkeit. Die charmante Lettin lädt mich ein, hier ein paar Tage zu bleiben. Ich sage ihr, dass ich meinen Weg fortführen müsse – ich bin ein Gehetzter, ich bin auf der Flucht, nur was verfolgt mich? Die Routine, der Stillstand, die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft? Möglicherweise bin ich aber auch der Jäger, auf der Suche nach Adrenalin, Neuem, Leben, Erfahrungen, Glück … und meine Waffe sind meine Beine ...

Auch ich laufe nach Las Negras, ein schöner Wanderweg entlang der Klippen, mit beeindruckender Aussicht, weiterhin keine Straße in der Nähe, der Cabo Gata Nationalpark ist schon einmal ein erster Höhepunkt meiner Zeit in Andalusien. Im Ort kaufe ich mir Lebensmittel, picknicke anschließend auf einer Mauer am Ufer, vor mir ein paar Fischerboote. Eine Deutsche schnorrt bei mir erfolgreich um Kippen. Sie ist ziemlich fertig, ist vor einem Monat von Freiburg nach Spanien, nun pleite und weiß nicht weiter, das einzige was ihr geblieben ist: ein Fünfliterkanister Wasser und die Schwarzmalerei. Dazu bin ich – vor kurzem auch noch ziemlich fertig – nach meiner glücklichen Nacht ein mir selbst merkwürdig anmutendes Gegenstück; soviel positive Energie in mir, was ein völlig neues Gefühl ist. Neu ist auch, dass ich in einem Gespräch das Zepter schwänge, ich plappere und plappere, sie schweigt die meiste Zeit, glaubt von sich selber ein Kommunikationsproblem zu haben. Das stimmt und so ist es mir ganz recht, als sie mich wieder verlässt, mit ihrem Kanister in der Hand und sicherlich weiterhin auf der Suche nach Zigaretten. Mitleiderregende Menschen zu sehen hat zur Folge, dass man selbst nicht zu sehr in Selbstmitleid verfällt. Eigentlich weiß man ja, dass es immer Leute gibt, denen es noch beschissener geht, aber manchmal muss man es auch mal real vor Augen geführt bekommen. In Las Negras scheinen überhaupt recht viele Gestrandete herumzulungern, ein multikultureller Markt verlorener und gescheiterter Existenzen, durch deren Reihen der Teufel schwebt und nach brauchbaren Seelen Ausschau hält, auch hier und da fündig wird … der Rest hat Pech im Pech. Ich bin heilfroh ein Ziel zu haben, auch wenn es etwas bescheuert ist … doch lieber ein bescheuertes Ziel als gar keins.

Rodalquilar … San José … Playa de Los Genoveses und weiter zur Playa de Mónsul, wo ein einsamer Schlafplatz zwischen der Klippe aus Vulkangestein und dem Strand auf mich wartet … Wenn man im Freien pennt, gehört das Beobachten von Sternschnuppen fast jede Nacht dazu. Außerdem träume ich viel mehr, in dieser Nacht davon, dass ich die Tour abbreche und im Nachhinein deswegen völlig niedergeschlagen bin … eine gute Warnung … am nächsten Vormittag das Kap Cabo de Gata erreicht … weiter nach Almadraba de Monteleva, wo die Küste auf einmal flach wird und ich ein straffes Tempo anschlage, schließlich will ich Almería noch vor Sonnenuntergang erreichen. Hinter dem Ort El Cabo de Gata verlasse ich den schönen Nationalpark und erreiche dort Retamar, umlaufe den Flughafen und laufe ein längeres Stück immer an der Strandpromenade entlang, von Costacabana nach Almería, wo ich kurz vor 18 Uhr ankomme, pünktlich zum Sonnenuntergang, der mir bei meiner halbstündigen Abendessenspause am Strand Gesellschaft leistet. Anschließend in die Stadt (knapp 200.000 Einwohner) hinein. Seit ein paar Tagen habe ich den Verdacht, dass meine EC-Karte – warum auch immer – im Ausland nicht funktioniert. Da ich bereits anfange davon zu träumen, beschließe ich in Almería für Gewissheit zu sorgen. Und tatsächlich gibt es am ersten Automaten eine Fehlermeldung. Ich probiere es bei einem halben Dutzend weiterer Banken, aber immer dieselbe Fehlermeldung, dass mein Auftrag nicht bearbeitet werden kann und ich mich mit meiner Bank in Verbindung setzen soll. Rufe an, Hotline, muss sämtliche Nummern meiner Identität preisgeben, ehe die Maschine zum Abschluss nach meinem Tele-PIN fragt … habe ich nicht dabei, ich lege auf, zwei Euro verschenkt. Dabei brauche ich jetzt jeden Euro, denn was bleibt ist nicht viel: 60 Euro und 45 Cent. Schöne Bescherung zum Abschluss meines zweiten Kapitels, das mit einem Jubiläum endet: in Almería bin ich meinen tausendsten Kilometer gelaufen, es ist mein 26. Wandertag. Merkwürdigerweise bin ich jedoch nicht niedergeschlagen, eher erleichtert nun die Fakten zu kennen, auch wenn ich noch nicht so recht weiß, wie es weitergehen soll, so ganz ohne Geld … das mag jetzt mal wieder völlig bescheuert klingen, aber irgendwie sehe ich das Ganze jetzt als Herausforderung, wo ich zeigen kann, was in mir steckt. Ich muss auf die Leute zugehen, wenn ich nicht hungern will, völliges Neuland für mich. Das Ganze so betrachtet, muss ich schon wieder ein wenig lächeln.

Die geplante Jugendherberge fällt also wegen Sparzwängen aus. Von 21 bis 23 Uhr sitze ich auf einer Bank zwischen Jacht- und Fährhafen, das Tagebuchschreiben hilft das Gelddilemma zu verarbeiten. Anschließend laufe ich zur Maurenburg Alcazaba hinauf, wo ich überraschenderweise keine Menschen antreffe, weshalb ich dort auch gleich neben Burgmauer und Wehrturm mein Nachtquartier aufschlage, ein extravaganter Schlafplatz, was meine Stimmung zusätzlich aufhellt. Bevor ich mich schlafen lege, lass ich meine Beine die Burgmauern der beleuchteten Alcazaba herunterbaumeln und blicke auf die Stadt. Ich rauche, ich genieße die Ruhe hier oben, bei angenehmen dreizehn Grad Celsius um Mitternacht … die Temperaturen steigen von Tag zu Tag, mein finanzieller Rahmen wird von Tag zu Tag kleiner, ein fairer Deal ...

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