Читать книгу Ibsen - Norwegens großer Dramatiker - Lars Roar Langslet - Страница 3
Оглавление1900, als Henrik Ibsen 72 Jahre alt und schon seit geraumer Zeit als Dramatiker weltberühmt war, wurde der Debütartikel eines 18jährigen irischen Literaturstudenten abgedruckt, und zwar über »Wenn wir Tote erwachen« (Ibsens »dramatischen Epilog«, der ein Jahr zuvor erschienen war).
Der Student hieß James Joyce.
»Man fragt sich, ob irgendein anderer Mensch der modernen Zeit so einen enormen Einfluß auf die denkende Welt gehabt hat«, schreibt Joyce und antwortet darauf: »Weder Rousseau, noch Emerson, und auch nicht Carlyle ... Sein Künstlergenie ist furchtlos, weicht vor nichts zurück ... Die großen Schätze der Weltdramen, die klassischen und modernen Theaterstücke können nur sehr wenige so erlesene Perlen wie diese vorweisen, was die dramaturgische Vollkommenheit, die Menschenschilderung und die Fähigkeit betrifft, unser Interesse zu wecken.«
Ibsen habe sich mühsam durch den Artikel »durchgestochert«, wie er seinem englischen Freund William Archer schrieb (Ibsen beherrschte die englische Sprache nicht) – und bat diesen, dem jungen, unbekannten Schreiber seinen Dank zu übermitteln.
Im April 1901 reagierte Joyce mit einem langen Brief an seinen großen Helden, und zwar in einem holprigen Norwegisch, das er sich angeeignet hatte, um Ibsen in Originalsprache lesen zu können. Später sollte ein anderer der offenkundigen Genies des 20. Jahrhunderts, der Philosoph Ludwig Wittgenstein, Norwegisch aus dem gleichen Grunde lernen.
Joyce schreibt: »Ihr unglaublich starker Wille, dem Leben seine Geheimnisse zu entreißen, gab mir Mut ... Ihr Wirken auf der Erde nähert sich dem Ende, und das Schweigen steht bevor. Es verdunkelt sich für Sie ... Aber ich bin mir sicher, daß eine heiligere und erhabenere Erleuchtung Sie erwartet – weit entfernt. Als ein Vertreter der jungen Generation, deren Fürsprecher Sie waren, grüße ich Sie – nicht unterwürfig, weil ich unbekannt bin und Sie selbst im hellen Glanz stehen, nicht traurig, weil Sie alt sind und ich jung, nicht prätentiös, nicht sentimental – sondern mit Freude, mit Hoffnung und aller Liebe grüße ich Sie.«
Das ist eine ergreifende Geste: Joyce, der eine Hauptfigur der modernistischen Prosaliteratur des 20. Jahrhunderts werden soll, grüßt den Meister des Dramas des Jahrhunderts, das nun abgeschlossen war, und spricht von einer geistigen Verwandtschaft, die Joyces’ gesamtes Werk prägen wird.
Auf den ersten Blick sind die beiden Dichter so unterschiedlich wie die beiden Zeitalter, die sie jeweils repräsentieren. Aber es gab verborgene Verbindungslinien zwischen ihnen: Sie gingen neue Wege, um »das Geheimnis des Lebens« zu finden.
Solche Linien verlaufen auch zwischen dem alternden Ibsen und dem jungen norwegischen Maler Edvard Munch, der zu einer bahnbrechenden Gestalt in der Malerei des 20. Jahrhunderts werden sollte.
Sie trafen einander mehrmals in den 90er Jahren, und als Munch 1895 seine »Skandalausstellung« des »Lebensfries’« in Kristiania (heute Oslo) hatte, war es Ibsen, der den Maler ausdrücklich unterstützte, wie konventionell ansonsten auch Ibsens Geschmack in der Malerei gewesen sein mochte: Er besuchte die Ausstellung (das wurde sogar in französischen Zeitungen berichtet!), zeigte Munch sein Interesse und seine Sympathie und betrachtete besonders lange das Bild »Die Frau in drei Stadien«. Als Munch das Stück »Wenn wir Toten erwachen« las, war er fest davon überzeugt, daß sein eigenes Gemälde das visuelle Vorbild für die drei Frauengestalten im Drama gewesen war.
Das ist jedenfalls das einzige Beispiel dafür, daß Munchs Bilder Ibsen beeinflußt haben. Dagegen gibt es unzählige Belege dafür, daß Impulse von Ibsen sich in Munchs Bildwelt niederschlugen.
Denn Ibsens Dichtung war eine der Quellen, aus denen Munch unermüdlich seine Nahrung zog. Sie zieht sich wie eine Linie durch sein gesamtes Werk, von den Kinderzeichnungen bis hin zu den letzten Gemälden in den 40er Jahren dieses Jahrhunderts. Er identifizierte sich mit Ibsens Hauptfiguren: dem zweifelnden Herzog Skule, dem fabulierenden Peer Gynt, dem gescheiterten John Gabriel Borkman. Aber in besonderem Maße sah er sein Schicksal in Osvald aus »Die Gespenster« widergespiegelt – in dem jungen, lebenshungrigen Maler, der unter dem Fluch des Erbes zerbricht, und für Max Reinhardts Gedächtnis-Aufführung des Stückes in Berlin im Herbst 1906, kurz nach Ibsens Tod, schuf er seine epochemachenden szenographischen Skizzen.
In dem Frühling, als Ibsen im Sterben lag, schickte Munch ihm mittels einer weiblichen Verwandten, die den kranken Dichter pflegte, Grüße.
Im Februar des gleichen Jahres kam die italienische Schauspielerin Eleonora Duse nach Kristiania – vielleicht die größte zeitgenössische Theaterkünstlerin. Ihr für sie so wichtiges Anliegen bestand darin, daß sie hoffte, Ibsen treffen und ihm ihre Dankbarkeit ausdrücken zu können.
Aber Ibsen war so krank, daß er niemanden empfangen konnte. Und die berühmte Primadonna mußte statt dessen im Schneematsch zur Ecke der Arbinsgate laufen, um zumindest die Silhouette des Dichters kurz hinter den Gardinen erspähen zu können. Dort blieb sie lange stehen und nahm stumm Abschied.
So nahmen drei Künstler, jeder auf seine Weise, Abschied von einer der zentralen Gestalten der Weltliteratur.
Ibsen hatte »Wenn wir Toten erwachen« einen »dramatischen Epilog« genannt, obwohl er offensichtlich Pläne für weitere Stücke hatte, aber in neuen Bahnen. Doch er hatte das Unheil heraufbeschworen: Es wurde sein letztes Stück. Sein dramatisches Werk wurde in dem Jahrhundert, in das es gehörte, auch abgeschlossen, und setzte diesem deutlich den Stempel auf.
Aber es sollte sich zeigen, daß das Werk größere Überlebenskraft in sich besaß als die meisten Stücke seiner Zeit, Tschechov und Strindberg bilden dabei die wichtigsten Ausnahmen. Heute können wir außerdem konstatieren, daß es stärker strahlt als die meisten Dramen, die auf dem Weg ins 20. Jahrhundert umjubelt wurden.
Ibsen ist mittlerweile Europas meistgespielter Dramatiker – neben Shakespeare, der ihm fast den Rang streitig macht. Er gehört zu den Spitzen der Weltliteratur.