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Die fatale Ausbreitung

Der Mythos um das »Spiel Null«: Bergamo vs Valencia

Claudio Galimberti ist es gewohnt, ganz vorne zu stehen. »Il Bocia«, der Junge, wie ihn alle nennen, ist Vorsänger der Ultras »Curva Nord« von Atalanta Bergamo und sieht so gar nicht nach »Junge« aus. 46 Jahre ist Galimberti alt, Tattoos bis zum Hals, polizeibekannt. Hauptsächlich wegen seiner Rolle in zahlreichen Auseinandersetzungen mit Vertretern anderer Ultraszenen in Italien. Atalantas Curva Nord ist berüchtigt in Italien. Immer wieder haben Mitglieder der Gruppe Ärger mit der Justiz. Meistens sind es Gewaltdelikte, Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. Doch speziell die sich politisch klar links verortende Curva Nord ist bekannt für ihr soziales und solidarisches Engagement in Bergamo – und das zeigt sie gerade auch in Zeiten von Corona. Aber der Reihe nach.

Das »Spiel null«

Sportlich hat Atalanta Bergamo jahrelang nicht unbedingt zu den ersten Adressen im italienischen Fußball gezählt. Der größte Vereinserfolg liegt Jahrzehnte zurück. 1963 wurde der Klub aus der Lombardei italienischer Pokalsieger. Nach vielen Jahren in der zweiten Liga haben sich die Schwarz-Blauen mit der Spielzeit 2016/17 zurück ins Blickfeld gespielt, haben zweimal an der Europa League teilgenommen und sich im letzten Jahr sogar für die Champions League qualifiziert. Dort überraschen sie in dieser Saison mit couragierten Auftritten. Das Team von Gian Piero Gasperini hat sich in der Gruppe C hinter Favorit Manchester City für die K.-o.-Runde qualifiziert – und dabei Donezk und Zagreb hinter sich gelassen. Ein Meilenstein für Atalanta, das im Achtelfinale den FC Valencia zugelost erhält. Mit 4:1 gewinnt Bergamo das Hinspiel am 19. Februar, um das sich in der Folge zahlreiche Gerüchte ranken, was die Ausbreitung des Corona-Virus in Norditalien und Spanien anbelangt. Weil nach dem Spiel insbesondere in Italien die Fallzahlen stark zunehmen, wird die Partie in den Medien häufig als »Spiel null« bezeichnet – als sportliches Epizentrum der Pandemie. Der Bürgermeister von Bergamo, Giorgio Gori, spricht in diesem Zusammenhang von Fans, die wie eine »biologische Bombe« gewirkt hätten. Das Spiel, das im Mailänder Stadion San Siro ausgetragen worden ist, weil die Arena in Bergamo umgebaut wird, sei maßgeblich für die Verbreitung der Krankheit mitverantwortlich gewesen. Gori: »Nicht nur viele der 44.000 Zuschauer im San Siro könnten sich infiziert haben. Viele Fans haben sich in Bergamo in Lokalen oder Wohnungen versammelt, um das Spiel im Fernsehen zu schauen.« Weil auch Atalanta-Kapitän Alejandro Gomez sagt, dass die Partie eine Rolle bei der Verbreitung des Virus in Italien gespielt haben könnte, ist für viele die Sache klar – kurz darauf sind acht Corona-Tote im unmittelbaren Umfeld von Atalanta zu beklagen. Die Süddeutsche Zeitung schreibt : »Fataler Speichelflug in Mailand«.


19. Februar 2020, San Siro, Mailand: Dicht gedrängt stehen die Fans von Atalanta Bergamo im Achtelfinalhinspiel der Champions League gegen den FC Valencia. Die Partie geht in die Annalen der Corona-Krise als »Spiel null« ein.

imago images/Insidefoto

Journalisten haben im Zuge des Spiels zwischen Bergamo und Valencia von regelrechten Verbrüderungsszenen zwischen italienischen und spanischen Fans berichtet. Es habe zahlreiche Umarmungen gegeben, Getränkebecher seien von Leuten geteilt worden. Diesen Schilderungen zufolge hätte sich das Virus unter den 44.000 Anhängern problemlos verbreiten können. Doch taugt diese Theorie über das Spiel als »Brandbeschleuniger«? Wenn man den Recherchen der Wochenzeitung Die Zeit vertraut, offenbar nur bedingt. Dort wird Gerolmina Ciancio zitiert, die Sprecherin des Istituto Superiore della Sanità aus Rom, einer koordinierenden Gesundheitsbehörde: »Informationen, die belegen, dass das Match die Infektionen massiv weiterverbreitet hat, haben wir auch nicht.« Wahrscheinlicher ist, dass die Champions-League-Partie ein Hotspot von mehreren gewesen ist. Hinzu dürften etwa die fortbestehende Öffnung von Geschäften und Arbeitsstätten in der Lombardei sowie die erst später angeordnete Einschränkung der Bewegungsfreiheit gekommen sein – obschon die Pandemie in Norditalien in vollem Gange war. Sogar Bergamos Bürgermeister Gori muss relativierend zum »Spiel null« eingestehen: »Es war eine Gelegenheit für starke Ansteckungen, aber ich glaube nicht, dass es der Anfang von allem war.« Vielleicht ist Gori auch aufgefallen, dass die von ihm initiierte Social-Media-Kampagne #bergamoisrunning bei der Eindämmung des Virus möglicherweise wenig hilfreich gewesen war, weil sie – trotz Corona – die Öffnung von Arbeitsstätten und Geschäften propagierte. Später wird noch eine weitere Gegenthese zur Theorie »Spiel null« in die öffentliche Diskussion eingebracht: Maßgeblich für die Verbreitung des tödlichen Virus in der Region sei ein Krankenhauspatient gewesen, der nicht als Covid-19-Kranker erkannt worden ist.

Curva Nord – Helfer mit großem Herz

In der öffentlichen Wahrnehmung gilt das »Spiel null« zumindest eine Zeit lang als ursächlich für die Ausbreitung der Corona-Fälle in der Lombardei. Bis zum 26. März hat die Region Bergamo allein 7.000 Infizierte und mehr als 1.000 Tote zu verzeichnen. Laut Medienberichten werden Fußballfans wie Gilamberti und seine Curva Nord sogar mitverantworlich gemacht für die Verbreitung des Virus. Dabei sind es gerade die Ultras von Atalanta Bergamo, die im Zuge der Corona-Pandemie ein ganz anderes Bild abgeben, als weite Teile der Öffentlichkeit es dieser Gruppierung gemeinhin zuschreiben. In einem Brief an Atalanta-Präsident Percassi bittet die Curva Nord darum, ihren Klub aus der Meisterschaft zurückzuziehen, »aus Rücksicht auf die zu vielen Todesopfer des Corona-Virus in Bergamo«. In Zeiten wie diesen tritt ihr geliebter Fußball hinter die Menschen ihrer geliebten Stadt zurück: Nach einem Hilferuf der italienischen Gebirgsjäger, die in Bergamo ein provisorisches Feldkrankenhaus zur Entlastung der herkömmlichen Kliniken errichten, rückt die Curva Nord an und packt mit an. Die Helferinnen und Helfer aus der Fanszene ziehen Wände hoch, verlegen Böden, transportieren Krankenbetten – bis das Feldlazarett einsatzbreit ist. Dabei haben sich die Ultras mit ihrer Rolle als Helfer des Militärs erst anfreunden müssen. »Warum wir, die Curva Nord?«, antworteten sie via Facebook auf die in einem Posting vorgetragene Bitte der Gebirgsjäger. Die Soldaten entgegneten entwaffnend emotional: »Wir wollten euch, weil ihr ein großes Herz habt.«

Doch dabei lassen es die Bergamo-Ultras nicht bewenden. Nach dem mit 4:1 gewonnenen Champions-League-Hinspiel gegen Valencia ist der Einzug ins Viertelfinale, und damit der größte internationale Erfolg in der Vereinsgeschichte Atalantas, zum Greifen nah. Tausende Tifosi aus der Lombardei freuen sich auf das Rückspiel in Spanien, Covid-19 macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Die UEFA deklariert die Partie im Estadio Mestalla von Valencia zum Geisterspiel. Besonders für die Curva Nord ein schwerer Schlag. »Dieser Abend hätte der schönste unserer Geschichte werden sollen. Aber die schwierige Situation in unserer Stadt stellt alles andere in den Hintergrund«, heißt es in einer Mitteilung der Ultras. Da das Rückspiel ohne Zuschauer stattfindet (Bergamo gewinnt mit 4:3 und zieht ins Viertelfinale ein), werden den Fans die Ticketpreise zurückerstattet. Die Mitglieder der Curva Nord reichen diese umgehend weiter. »In unserer Stadt, in unserer Provinz arbeiten Helden mit vollem Einsatz und unzureichenden Mitteln für die Gesundheit von uns allen. Deswegen werden wir die Summe der rückerstatteten Eintrittskarten in Höhe von 40.000 Euro in den nächsten Tagen an das Bergamo Hospital [gemeint ist das Papa Giovanni XXIII Hospital, d. A.] spenden.«


10. März 2020, Estadio Mestalla, Valencia: Das Rückspiel, das als Geisterspiel vor 55.000 leeren Rängen ausgetragen wird, gewinnt Atalanta in Valencia mit 4:3. Damit ziehen die Italiener ins Viertelfinale der Champions League ein, das bei Veröffentlichung dieses Buchs noch nicht ausgelost worden ist.

imago images/Agencia EFE

Das Virus in Valencia

Wenn es auch für Norditalien keine eindeutigen Beweise für eine Verantwortung des »Spiel null« bei der Ausbreitung des Virus gibt, sieht es mit Blick auf Spanien und Valencia anders aus. Inzwischen geht man davon aus, dass die Partie sehr wohl Auswirkungen auf den Verlauf der Corona-Pandemie in der spanischen Stadt genommen hat. So berichtet etwa Die Zeit von einem Journalisten aus Valencia, der sich beim Spiel in Mailand angesteckt habe. Kurze Zeit danach hätten sich auch mehrere Spieler und Klubmitarbeiter infiziert. Bis Mitte März wird mehr als ein Drittel der Belegschaft des FC Valencia positiv auf Covid-19 getestet worden sein. In Spanien gibt es am 19. Februar, dem Tag des Hinspiels, lediglich zwei bestätigte Corona-Fälle. 14 Tage später sind es schon 151. Die Verantwortlichen des spanischen Klubs machen keinen Hehl daraus, worin sie die Ursache für die rasche Ausbreitung sehen: »Trotz der vom Klub umgesetzten Maßnahmen nach dem Spiel (…) in Mailand (…) zeigen die jüngsten Resultate, dass die Teilnahme an solchen Spielen zwangsläufig mit der positiven Testrate von rund 35 Prozent zusammenhängt.«

Tatsächlich ist Mailand kein Virus-Erstkontakt für den FC Valencia. Der Klub hat in der heimischen Liga zuvor bei Deportivo Alavés in Vitoria gespielt. Wie sich später herausstellt, einer der Corona-Hotspots in Spanien. Der FC Valencia ruft die spanische Bevölkerung auf, in den eigenen vier Wänden zu bleiben.

Prominentes Todesopfer: Ex-Real Präsident stirbt an Corona

Im Zeitraum vom 4. bis 21. März steigt die Corona-Fallzahl in Spanien von 151 auf über 21.500 an, die Zahl von 1.000 Todesopfern durch die Krankheit wird in dem Land übertroffen. Unter ihnen, in der Statistik als Nummer 1.422 geführt, findet sich auch ein Mann, der über Jahre den spanischen Fußball geprägt hat: Lorenzo Sanz, ehemals Präsident von Real Madrid. Der 76-Jährige hat es vom Preisboxer zum Multimillionär gebracht und ist über Jahre einer der schillerndsten Figuren im spanischen Fußball gewesen. Als Präsident von Real Madrid gewann er mit seinem Trainer Jupp Heynckes 1998 die Champions League. Im Jahr 2000 holten die Königlichen abermals den Henkelpott unter Sanz’ Ägide. Nach seiner Zeit bei Real Madrid kaufte er den FC Malaga und wäre fast wegen Steuerhinterziehung im Gefängnis gelandet.

Sanz ist kurz vor seinem Tod an Covid-19 erkrankt. Nach Tagen auf der Intensivstation hat er den Kampf gegen die Krankheit verloren. Seine Familie durfte nicht zu ihm, wie es das Protokoll der spanischen Behörden in der Corona-Zeit angeordnet hat. »Er hatte so ein Ende nicht verdient«, teilte sein Sohn Lorenzo Sanz jun. mit. Die spanische Profiliga spricht den Hinterbliebenen ihr Beileid aus. Der Spiegel schreibt: »Die Liebe zum Fußball, auch zu ihm als Zirkus, hat in Spanien bisher noch alles überdauert. Während Jahrzehnten von Diktatur, Abschottung und Fatalismus lernten ihn die Nachkriegsgenerationen als Zerstreuung und Projektionsfläche kennen. Rivalitäten wie die zwischen Madrid und Barcelona haben ihn dabei symbolisch überhöht – aber schafften auch ein verbindendes Interesse.« Auf den Fußball und seine einigende, kompensatorische Kraft kann die für ihr Krisenmanagement unter Beschuss stehende Regierung dieser Tag nicht bauen.



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