Читать книгу Gelassene Eltern – glückliche Geschwister - Laura Markham - Страница 6
Einleitung
ОглавлениеAuf die Reaktion meines Sohnes, als seine kleine Schwester zur Welt kam, war ich in keiner Weise vorbereitet. Er war damals vier und hatte bis dato nur ein paar wenige Wutanfälle in seinem Leben gehabt. Doch als das Baby da war, geriet er in Panik. Er war anhänglich, wütend, verängstigt. Ich bin zwar eine ausgebildete Psychologin, aber ich wusste mir nicht zu helfen.
Wie auch ich freuen sich viele Eltern auf das Staunen im Gesicht des älteren Kindes, wenn er oder sie zum ersten Mal das Neugeborene zu Gesicht bekommt. Wir stellen uns vor, wie der große Bruder lustige Grimassen schneidet und das Baby dabei lacht. Verletzt sich ein Kind, eilt das andere herbei und lässt ihm die gleiche Zuwendung zuteil werden, die es von uns bekommen hat, und gibt dem Geschwisterchen eine Umarmung oder ein Deckchen. Mit der Zeit weicht das Spielen mit dem Wassersprenger dem Fahrradfahren und Zelten, danach folgen Diskussionen darüber, wer das Auto am Samstagabend bekommt, und man tröstet sich gegenseitig bei verlorenen Spielen und gebrochenen Herzen. Nach der Schule sind die Geschwister vielleicht unterschiedliche Wege gegangen, doch dieses Band begleitet sie durch die Höhen und Tiefen des Erwachsenenlebens. Wir möchten glauben, dass wir unseren Kindern ein unbezahlbares Geschenk geben: einen Freund fürs Leben.
Aber irgendwann im Laufe des ersten Jahres – vielleicht schon bevor das Kind zur Welt gekommen ist – erkennen die meisten Eltern, dass vieles nicht so einfach sein wird, wie mir zum Beispiel Familien erzählen, die ich berate:
»Sie liebt ihren Bruder … Ehrlich gesagt umarmt sie ihn so fest, dass es uns Angst macht … Ihre Hände scheinen am Ende irgendwie immer am Hals zu landen.«
»Ich kann noch nicht mal sicher Auto fahren, weil sie einfach nicht die Hände voneinander lassen können.«
»Als ich aus der Dusche kam und sah, dass er auf seinen neun Monate alten Bruder gepinkelt hat, stieß ich an meine Grenzen.«
Es führt kein Weg dran vorbei, Geschwisterrivalität gibt es auf der ganzen Welt. Denn letzten Endes ist jeder Mensch genetisch so programmiert, dass er die Ressourcen verteidigt, die ihm das Überleben sichern. Ihre Kinder sind darauf angewiesen und kämpfen um das, was in der Tat wertvolle Ressourcen sind: Ihre Zeit und Aufmerksamkeit. Auch wenn genügend Liebe vorhanden ist, die Impulskontrolle ist bei jungen Menschen noch nicht sehr weit entwickelt, sodass sie gezwungen sind, in Konflikte zu geraten. Schließlich färbt das Temperament jede Beziehung. Kinder, die dazu neigen, schwierig zu sein, werden noch schwieriger, wenn sie einen Bruder oder eine Schwester bekommen – und einige Geschwister rasseln einfach aneinander.
Bedauerlicherweise wissen viele Eltern nicht, wie sie den Kindern helfen können, mit diesen starken Emotionen umzugehen. Somit können verletzte Gefühle zu Aggressionen führen und wie beim Dominoeffekt negative Verhaltensmuster in Bezug auf den Umgang mit anderen Menschen zur Folge haben. Diese starken Gefühle können in einer Beziehung unter Geschwistern in der Teenagerzeit bestimmend sein und sogar während eines ganzen Lebens in schwierigen Momenten der Familie immer wieder auftauchen.
Aber es gibt auch gute Nachrichten. In der Geschwisterbeziehung werden die rauen Kanten unserer frühen Selbstbezogenheit geglättet und wir lernen, unsere schwierigsten Emotionen zu bewältigen. Geschwister werden oftmals gute FreundInnen, und da sie sich so gut kennen, sind sie in der Lage, sich gegenseitig ein tiefes Gefühl von Geborgenheit zu geben. Auch Geschwister, die sich viel streiten, entwickeln für gewöhnlich tatsächlich Respekt füreinander und kommen schlussendlich miteinander aus. Wenn sie erwachsen sind, fühlen viele Geschwister eine tiefe Verbundenheit zu den einzigen Menschen, die verstehen können, wie es war, in ihrem Zuhause aufzuwachsen.
Und jetzt kommt die Beste aller Nachrichten: Eltern können bei der Gestaltung der Geschwisterbeziehung enorm viel bewegen. Eifersucht unter Geschwistern lässt sich nicht vermeiden, aber es ist fast immer möglich, den Kindern dabei zu helfen, eine starke, positive Bindung zu entwickeln, die die natürliche Eifersucht übertrumpft. Es ist nicht immer leicht, Geschwister so zu erziehen, dass sie sich gegenseitig schätzen und Freunde fürs Leben werden – aber engagierte Eltern können den Unterschied ausmachen. Um Ihnen zu zeigen, wie das geht, habe ich dieses Buch geschrieben.
Nach der Geburt meines zweiten Kindes hatte ich viel Mühe, und das einzige Buch über Geschwisterkinder, das ich finden konnte, war Hilfe, meine Kinder streiten: Ratschläge für erschöpfte Eltern von Adele Faber und Elaine Mazlish. Es lag jahrelang auf meinem Nachttisch. Eltern von schulpflichtigen Kindern, die Schwierigkeiten miteinander haben, empfehle ich zuerst noch immer dieses Buch. Doch als Mutter mit einem Säugling und einem Kleinkind sah ich mich tagtäglich mit Herausforderungen konfrontiert, nämlich wie z. B. beschäftige ich meinen Sohn, während ich seine Schwester stille, wie helfe ich ihm dabei, zu lernen, behutsam mit seiner Schwester umzugehen, wenn er sie übereifrig umarmt. Oder wie gehe ich damit um, wenn sie anfängt zu krabbeln und hinter seinen Spielsachen her ist. Zu Beginn unserer jungen Familie gab es permanent Herausforderungen. Ich wünschte mir konkrete Strategien, um diese Herausforderungen in Nähe zwischen meinen Kindern umzuwandeln. Ich hatte genügend Studien gelesen, um zu wissen, dass die Grundlage der Beziehung meiner Kinder in den ersten ein bis zwei Jahren geschaffen wurde. Aber ich fand keine Anleitung hierfür.
Im Laufe der Jahre machte ich meinen Doktor in Klinischer Psychologie an der Columbia University (USA) und rief die Webseite AhaParenting.com ins Leben. Bei meiner Arbeit als Coach für Kindererziehung erhielt ich Einblick in Zehntausende Familien und konnte so direkt erleben, was Familien bei ihren Schwierigkeiten half und was nicht. Ich baute auf dem von Faber und Mazlish und ihrem Mentor, Haim Ginott, einer der Urväter der heutigen Positive-Parenting-Bewegung, geförderten empathischen Modell auf, um neue Erkenntnisse aus der Forschung zu Emotionen, Bindung und Gehirnentwicklung zu integrieren (siehe Danksagungen).
Durch die Beobachtung der Dynamik in den Familien, mit denen ich arbeitete, und die Kombination mit meiner eigenen Achtsamkeitspraxis verstand ich, wie Eltern die Führung übernehmen können, um die Strukturen in ihren Familien zu ändern, indem sie nämlich nicht ihre Kinder kontrollieren, sondern ihre eigenen Gedanken, Gefühle, Worte und Handlungen ändern. Mir ist klar geworden, dass Kindererziehung sehr viel leichter wird, wenn wir als Eltern drei sehr schwierige Dinge leisten können:
1 Die eigenen Emotionen regulieren
2 In Kontakt mit unserem Kind bleiben, auch wenn wir Grenzen setzen oder das Kind verärgert ist.
3 Coachen statt Kontrollieren, indem emotionale Intelligenz gefördert wird, empathische Grenzen gesetzt werden, anstatt zu bestrafen, und Beherrschung unterstützt wird.
Diese drei Konzepte werden die Beziehung zu Ihren Kindern dahingehend verändern, dass sie glücklicher, emotional glücklicher und kooperativer sind – und Sie werden ruhiger und erfüllter als Eltern sein. Die Konzepte sind in meinem ersten Buch Gelassene Eltern – zufriedene Kinder: Wie Sie liebevoll bleiben, statt zu schreien, zu schimpfen oder zu drohen umfassend erklärt. Für mich sind diese Konzepte der Schlüssel glücklicher Elternschaft. Da sie die Grundlage sind, um glückliche Kinder zu erziehen, sind sie auch für eine glückliche Geschwisterbeziehung essenziell, wie es eine Leserin von mir beschreibt:
Seitdem ich Ihre drei wesentlichen Konzepte (Selbstregulierung, Verbindung, Coaching) anwende, verstehen sich meine Kinder im Alter von sechs, fünf und drei Jahren nun viel besser. Da sich jeder von ihnen stärker mit mir verbunden fühlt, scheinen sie weniger Angst in sich zu tragen und haben somit nicht mehr das Bedürfnis, dieses Gefühl auszuleben und sich mit ihren Geschwistern zu streiten.
Anna
Auch wenn diese Konzepte Veränderungen in der Familie bewirken können, stellen mir viele Eltern noch genau die Fragen, mit denen ich zu kämpfen hatte, als meine Kinder klein waren. Wie können sie:
kleinen Kindern dabei helfen, die Fähigkeiten zu entwickeln, um ihre Bedürfnisse ausdrücken und für sich einstehen zu können – und auch ihren Geschwistern zuzuhören?
zwei oder sogar drei kleinen Kindern gleichzeitig dabei helfen, starke Emotionen zu verarbeiten?
eine Familienkultur gestalten, die auf Kooperation und Unterstützung basiert und Geschwisterliebe die Chance gibt, letztlich über Geschwisterrivalität zu siegen?
Glücklicherweise gibt es Lösungen, die wirklich helfen. Jede Familie hat ihre ganz eigenen Herausforderungen. Aber es gibt belegte, forschungsgestützte Methoden, wie Sie dafür sorgen können, dass Ihre Kinder von Beginn eine gute Beziehung zueinander aufbauen und auf dem Weg zu einer erfüllenden Beziehung sind. Auch wenn Kinder vom Temperament her nicht gut zusammenpassen oder extrem konkurrenzfähig sind, gibt es Strategien, wie man Geschwisterrivalität minimieren und eine positive Bindung maximieren kann. Nicht alle Geschwister können beste Freunde sein, aber sie können alle lernen, sich zu respektieren und ihre Gegensätze zu würdigen. Dieses Buch beschreibt diese Strategien im Detail und gibt Ihnen Schritt-für-Schritt-Anleitungen, mit denen Sie die Beziehung Ihrer Kinder untereinander verändern können.
Wie Sie mit Sicherheit bereits festgestellt haben werden, lernen Kinder nicht, mit ihren Gefühlen umzugehen, ihre Bedürfnisse zu kommunizieren oder ihre Streitigkeiten zu lösen, wenn man ihnen einfach befiehlt, »sich zu vertragen«. Ein friedliches Miteinander entsteht nicht dadurch, dass man Konflikte unter den Teppich kehrt. Sie tauchen unweigerlich und unvermittelt wieder auf, und das meistens, wenn Sie im Auto sitzen, den Einkaufswagen schieben oder gerade bei den Großeltern zu Abend essen. Wenn Sie allerdings Ihren Kindern Fertigkeiten an die Hand geben, um sich in diesem komplexen Terrain der menschlichen Emotionen und Beziehungen zurechtzufinden, werden Sie Kinder großziehen, die Streitigkeiten unter sich ausmachen können. Sie werden in der Lage sein, sich für ihre eigenen Bedürfnisse einzusetzen und dabei die Bedürfnisse anderer zu respektieren. Darüber hinaus werden sie lernen, nach Win-win-Lösungen Ausschau zu halten, anstatt eine Opferrolle einzunehmen oder andere zu tyrannisieren. Kurz gesagt, Sie werden Kinder großziehen, die tiefe Liebe empfinden, ihre Emotionen regulieren und gesunde Beziehungen haben. Ihre Kinder werden nicht nur eine enge und lebenslange Bindung zu den Geschwistern aufbauen, sondern auch gut gedeihende Beziehungen mit FreundInnen, ArbeitskollegInnen und letztlich ihrer Lebensgefährtin bzw. Lebensgefährten erleben. Sie werden die Art Menschen sein, von denen wir noch mehr auf dieser Welt brauchen.
Familien sind die Schmelztiegel, die Säuglinge in reife Menschen verwandeln. Ganz gleich, wie schwer es gerade in Ihrer Familie ist, es ist möglich, ein Zuhause zu schaffen, in dem Streitigkeiten friedlich gelöst werden und in dem Kinder aufwachsen, die Freunde fürs Leben werden.