Читать книгу Der Arzt vom Tegernsee Staffel 5 – Arztroman - Laura Martens - Страница 12

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»So, da wären wir, Herr Bach«, meinte Werner Hofer und fuhr mit seinem Taxi in die Auffahrt des Doktorhauses. Kurz darauf hielt er an. »Warten Sie, ich helfe Ihnen beim Aussteigen.« Er ging um den Wagen herum und öffnete auf der Beifahrerseite den Schlag.

Amos Bach hatte bereits seinen Gurt gelöst. Er zog etwas den Kopf ein und stieg aus. Tief atmete er den Duft der Frühlingsblumen ein, die rechts und links der Auffahrt blühten. Was hätte er darum gegeben, nur eine einzige dieser Blumen auch sehen zu können, aber das war seit zwanzig Jahren vorbei. Schmerzlich wurde ihm bewußt, daß er damals auf die Schönheiten der Natur keinen Wert gelegt hatte und achtlos an Blumen und Bäumen vorübergegangen war. – Nein, er wollte nicht darüber nachdenken. Es tat zu weh. Auch nach all den Jahren konnte er sich nicht mit seiner Blindheit abfinden.

Werner Hofer reichte ihm seinen Stock und öffnete die Fondtür. »Komm, Nero«, forderte er den schwarzen Labrador auf, der auf dem Rücksitz lag und schläfrig blinzelte.

Nero richtete sich schwerfällig auf und kletterte aus dem Wagen. Gähnend streckte er sich, bevor er sich zu Füßen seines Herrchens niederließ. Liebevoll stieß er mit dem Kopf gegen Amos’ Bein. Der alte Mann griff nach der Führungsleine.

»Ich hole Sie nachher wieder ab, Herr Bach«, versprach Werner Hofer entgegenkommend. »Sie wissen, ein Anruf genügt, und ich bin da.«

»Gott sei Dank kann ich mich auf Sie verlassen, Herr Hofer.« Amos Bach nickte in die Richtung des Mannes. »Sie sind mir wirklich eine große Hilfe. Bei Ihnen weiß ich wenigstens, woran ich bin. In fremde Wagen steige ich nicht gern.«

»Das kann ich gut verstehen«, erwiderte Werner Hofer. Er stellte es sich schrecklich vor, blind zu sein und sich dadurch fast in allen Dingen auf andere verlassen zu müssen.

Katharina Wittenberg kam aus dem Haus. Sie hatte vom Küchenfenster aus die Ankunft des Blinden beobachtet. Freundlich begrüßte sie den alten Mann und strich Nero über den Kopf. »Hätten Sie Lust, nachher mit mir eine Tasse Kaffee zu trinken, Herr Bach?« fragte sie. »Ich habe heute vormittag Schneckennudeln gebacken. Wenn ich mich recht erinnere, Ihr Lieblingskuchen.«

»Da kann ich natürlich nicht nein sagen«, erklärte Amos. Er verabschiedete sich von Werner Hofer, der ins Taxi stieg und davonfuhr.

»Und du bestimmt auch nicht, Nero.« Katharina beugte sich über den Hund. »Na, so was, deine Schnauze wird ja bereits weiß. Sieht aus, als würdest du langsam in die Jahre kommen.«

»Nero ist letztes Jahr zwölf geworden«, sagte Herr Bach aufseufzend. »Leider«, fügte er hinzu. »Ich wünschte mir, er wäre noch ein paar Jährchen jünger. Was hätte ich ohne seine Hilfe getan? Und jetzt…« Er schüttelte den Kopf. »Das Leben kann verdammt grausam sein.«

»Da haben Sie allerdings recht«, pflichtete ihm die Haushälterin bei. »Ah, da ist ja auch Franzl.« Sie schaute dem Hund entgegen, der aus dem hinteren Teil des Gartens kam. »Sieht aus, als hätte er nach Mäusen gegraben. Seine Schnauze ist voller Erde.«

Franzl rannte zu Nero und begrüßte ihn schwanzwedelnd. Die beiden Hunde kannten sich seit Jahren. Nachdem sie einander ausgiebig beschnuppert hatten, schmiegte sich Franzl an den Blinden. Der alte Mann verstand und begann, ihn ausgiebig zu kraulen.

»So, Franzl, es ist genug«, meinte Katharina Wittenberg. Sie ging Amos voraus und öffnete für ihm die Praxistür. »Vergessen Sie nicht, nachher wartet eine Tasse Kaffee auf Sie, Herr Bach.«

»Wie könnte ich das vergessen?« fragte er und betrat mit seinem Hund die Praxis von Dr. Baumann.

»Halt, du nicht!« Katharina packte Franzl, der hinter Amos Bach und Nero in die Praxis schlüpfen wollte, am Halsband. Er wußte genau, daß er dort nichts verloren hatte, trotzdem probierte er es stets von neuem.

Tina Martens kam Herrn Bach entgegen. Da er übermäßige Hilfe haßte, behandelte sie ihn nicht anders als die übrigen Patienten. »Es wird noch ein paar Minuten dauern. Frau Bölzle ist bei Dr. Baumann«, sagte sie, nachdem sie ihn zu einem Sessel gebracht hatte, der zwischen Aufnahme und dem Behandlungsraum der Krankengymnastin stand. »So, Nero, du kannst dich hier hinlegen.« Sie wies auf die linke Seite des Sessels. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Nero einen Keks gebe, Herr Bach?«

»Nein, er hat es durchaus verdient, ein bißchen verwöhnt zu werden.« Amos beugte sich zu Nero hinunter und tätschelte dessen Kopf.

Franziska Löbl trat in den Gang. Sie wollte ihren nächsten Patienten aus dem Wartezimmer holen. Als sie Amos Bach bemerkte, blieb sie für einen Augenblick stehen, bevor sie weiterging. Sie hätte sich gern mit dem alten Herrn unterhalten, aber da er blind war und sie nicht sprechen konnte, war das unmöglich. Die junge Krankengymnastin hatte sich an und für sich damit abgefunden, daß sie durch einen Unfall in ihrer Kindheit die Fähigkeit zum Sprechen verloren hatte. Meist unterhielt sie sich mit anderen Leuten, in dem sie aufschrieb, was sie sagen wollte, doch in Momenten wie diesem fühlte sie sich absolut hilflos.

Dr. Baumann brachte Frau Bölzle zur Aufnahme und bat seine Sprechstundenhilfe, einen Termin zur Blutuntersuchung mit ihr zu vereinbaren, dann wandte er sich dem Blinden zu und begrüßte ihn. »Wir haben uns ja schon ein paar Wochen nicht mehr gesehen«, meinte er, als er zusammen mit ihm und Nero ins Sprechzimmer ging.

Amos Bach wartete, bis der Arzt die Tür hinter sich geschlossen hatte, bevor er erwiderte: »Mir ging es auch ganz gut, Dr. Baumann, doch seit einigen Tagen habe ich ab und zu Schmerzen in der Nierengegend. Außerdem ist mir leicht übel, ich muß erbrechen und ich schwitze ziemlich viel.«

»Dann sollten Sie sich erst einmal freimachen, Herr Bach«, sagte Eric und führte den alten Mann zur Untersuchungsliege.

Nero legte sich neben die Tür. Früher hätte er sein Herrchen keinen Moment aus den Augen gelassen, jetzt döste er, den Kopf in den Pfoten vergraben, nur vor sich hin.

Nach der Untersuchung setzte sich Amos Bach dem Arzt gegenüber an den Schreibtisch. »Wie sieht es aus?« fragte er. »Könnte ich etwas mit den Nieren haben?«

»Das kann ich Ihnen im Moment noch nicht sagen, Herr Bach«, antwortete Dr. Baumann. »Auf jeden Fall sollten wir der Sache auf den Grund gehen. Wäre es Ihnen möglich, morgen früh zur Blutabnahme zu kommen? Und bringen Sie bitte Urin mit. Außerdem möchte ich eine Ultraschalluntersuchung machen.«

»Was vermuten Sie denn?«

»Ihre Schmerzen könnten zwar auch von der Wirbelsäule kommen«, sagte Eric nach kurzem Nachdenken, »aber ich nehme eher an, daß Sie womöglich Nierensteine haben. Jedenfalls deuten alle Anzeichen darauf hin.«

Amos Bach lehnte sich zurück. »Oder sie sind psychischer Natur«, meinte er, »weil ich mir so große Sorgen um Nero mache. Wie Ihre Haushälterin vorhin schon feststellte, er bekommt bereits weiße Haare und ich merke ja auch, daß er alt wird. Seine Aufmerksamkeit läßt nach.«

Das konnte Eric nur bestätigen. So wie Nero neben der Tür lag, machte er auf ihn den Eindruck eines müden, alten Herrn.

»Sie kennen den jungen Mann, der mich betreut, Jürgen Mangold, ein wirklich netter Bursche«, fuhr Amos fort. »Wir sind in den letzten Jahren gute Freunde geworden. Jürgen kommt auch oft außerhalb seiner Dienstzeit zu mir. Er tut vieles, was er eigentlich gar nicht machen müßte. Schon vor einigen Wochen hat er mir gesagt, daß Nero für seinen Dienst langsam zu alt wird und ich mich mit dem Gedanken anfreunden müßte, ihn gegen einen jungen Hund einzutauschen. Ich…« Sekundenlang vergrub er sein Gesicht in den Händen. »Ich will Nero nicht aufgeben. Ich kann ihn nicht aufgeben. Er ist wie ein Stück von mir. Im Grunde ist er alles, was ich habe.«

Dr. Baumann stand auf und legte eine Hand auf die Schulter des alten Mannes. »Ich kann sehr gut verstehen, wie erschreckend dieser Gedanke für Sie ist, Herr Bach«, sagte er. »Und ich weiß auch, es ist für Sie kein Trost, daß die Hunde, die dienstuntauglich geworden sind, sehr gut untergebracht werden. Nero wird es an nichts fehlen.«

»Das hat mir Herr Mangold auch versichert, nur Nero wird nicht verstehen können, warum ich ihn aufgegeben habe. Es ist, als würde man mir einen lieben Sohn entreißen.« Amos Bach schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde Nero behalten, solange es geht. Lieber verzichte ich auf einige Annehmlichkeiten. Ich besitze einen sehr schönen Garten und muß nicht unbedingt spazierengehen. Was spricht dagegen, es mir im Garten gemütlich zu machen?«

»Die Tatsache, daß Ihnen dann sie nötige Bewegung fehlt«, erwiderte Eric.

Amos Bach wollte nicht länger über seinen Kummer sprechen. Er erzählte dem Arzt, daß er die Wohnung im ersten Stock seines Hauses an eine junge Frau vermietet hatte, die in der Privatklinik von Dr. Hauser als Ernährungsexpertin arbeiten wollte.

»Das nenn’ ich eine gute Nachricht.« Eric lehnte sich gegen seinen Schreibtisch. »So sind Sie in Ihrem Haus wenigstens nicht mehr allein.« Er wußte, daß Amos Bach mit seinen letzten Mietern ziemlich Pech gehabt hatte. Sie hatten seine Blindheit ausgenutzt, und er war zu schwach gewesen, um sich gegen sie zu wehren. Deshalb hatte er die Wohnung nach ihrem Auszug sehr lange leerstehen lassen. »Ich nehme an, daß es sich um eine nette, junge Frau handelt«, meinte er.

»Ich habe Frau Maurer noch nicht kennengelernt. Wie mir mein Makler jedoch versichert, werde ich diesmal bestimmt nicht enttäuscht werden. Am Donnerstag wird sie einziehen. Ich freue mich schon darauf, wieder jemanden im Haus zu haben. Manchmal ist es halt ziemlich einsam.«

Dr. Baumann brachte Amos Bach und Nero zur Aufnahme. »Wir sehen uns morgen früh«, sagte er und reichte dem Blinden die Hand. »Und vergessen Sie nicht, falls etwas sein sollte, Sie können mich jederzeit anrufen.«

»Ich werde daran denken«, versprach der alte Mann. »Danke, Dr. Baumann.«

»Schon gut.« Der Arzt verabschiedete sich von ihm. »Rufen Sie bitte den nächsten Patienten auf«, bat er Tina Martens und kehrte ins Sprechzimmer zurück. Als er die Tür hinter sich schloß, hörte er noch, wie Lina Becker die Praxis betrat und lautstark Amos Bach, der in ihrer Nähe wohnte, begrüßte.

*

Evelyn Maurer parkte ihren Wagen am Straßenrand, stieg aus und schaute auf das Tegernseer Tal hinunter. Es war einen Monat her, seit sie sich in der Privatklinik von Dr. Hauser vorgestellt hatte. Wie damals beschlich sie das Gefühl, als würde sie nach Hause kommen, dabei wußte sie genau, daß sie hier noch niemals zu Hause gewesen war. Ihre Eltern stammten aus Augsburg, und auch sie war dort geboren worden. In den Ferien waren sie meistens in den Süden gefahren. Nicht ein einziges Mal hatten sie in dieser Umgebung Urlaub gemacht.

Die junge Frau beschattete die Augen mit der Hand und blickte zu den schneebedeckten Gipfeln der Berge. Es war eine Landschaft wie aus dem Bilderbuch. Sie freute sich schon darauf, in ihrer Freizeit die Umgebung zu erkunden. Sie war schon immer gern gewandert, und sie genoß es, an einsamen Plätzen Rast zu machen und sich ihren Träumen hinzugeben.

Von der Sonne geblendet, schloß Evelyn die Augen. Im selben Moment glaubte sie entsetzliche Schreie zu hören. Sie sah blitzende Messer und hörte das Lachen rauher Männerkehlen. Erschrocken riß sie die Augen wieder auf und drehte sich um. Bis auf die Insassen eines Wagens, der an ihrem vorbeifuhr, gab es nicht einen einzigen Menschen um sie herum.

Was kann das nur sein, dachte die junge Frau. In letzter Zeit glaubte sie oft, etwas zu hören, was in Wirklichkeit nicht existierte. Auch wenn sie es sich nicht gern eingestand, manchmal hatte sie Angst, den Verstand zu verlieren.

Mach dich nicht verrückt, befahl sie sich. Du bist erst fünfundzwanzig. Weder in der Familie deines Vaters noch in der deiner Mutter hat es Geisteskranke gegeben. Also, warum solltest ausgerechnet du den Verstand verlieren?

Evelyn kehrte zu ihrem Wagen zurück und setzte sich hinein. Als sie nach dem Zündschlüssel griff, spürte sie plötzlich einen dumpfen Schmerz in ihrem Unterleib, der von Sekunde zu Sekunde stärker wurde. Alles in ihr krampfte sich zusammen. Auch das noch, dachte sie und öffnete automatisch das Handschuhfach, um eine Schachtel mit Schmerztabletten herauszunehmen. Mit einem Schluck Kaffee aus der Thermoskanne spülte sie zwei von ihnen hinunter.

Natürlich war es nicht gut, ständig Schmerztabletten zu nehmen, aber die junge Frau wußte sich keinen anderen Rat. Diese seltsamen Leibschmerzen plagten sie schon seit Monaten. Bisher hatte kein Arzt herausfinden können, was sie auslöste. Sie war überzeugt, daß man sie für eine Hypochonderin hielt.

Langsam ließen die Schmerzen nach. Evelyn legte die Tabletten ins Handschuhfach zurück und fuhr weiter. Sie erreichte die kleine Gemeinde Gmund und bog kurz darauf nach Tegernsee ab.

Es wird der Streß sein, überlegte sie. Ja, sicherlich hängen meine Leibschmerzen mit dem Streß zusammen, den sich seit dem letzten Jahr habe. Daß keiner der Ärzte etwas gefunden hatte, erschien ihr mit einem Mal als gutes Zeichen. Während ihrer Ausbildung hatte sie sich auch für Medizin interessiert, und daher wußte sie, daß Schmerzen auch die Psyche ausgelöst werden konnten. Kein Wunder, wenn man sie für eine Hypochonderin hielt. Schließlich hatte sie verlangt, daß man einem Phantom nachjagte.

Die junge Frau hielt erneut an und suchte nach dem Stadtplan, den ihr der Makler zusammen mit dem Mietvertrag geschickt hatte. Sie konnte ihn nicht finden. Vermutlich hatte sie ihn im letzten Autobahnrestaurant liegenlassen. Also würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als Passanten nach dem Hyazinthenweg zu fragen.

Evelyn fuhr noch ein Stück weiter und bog in den Narzissenweg ein. Dunkel erinnerte sie sich, daß der Hyazinthenweg ganz in der Nähe sein mußte. Als sie eine Frau mit einem Hund die Straße entlangkommen sah, hielt sie an und kurbelte das Seitenfenster hinunter.

»Entschuldigen Sie bitte!« rief sie.

Lina Becker überquerte mit Harvard die Fahrbahn. »Bitte?« Neugierig spähte sie in den Sharan. Ihr entgingen weder die Bücherkisten noch die Koffer und auch nicht der alte Teddy, dessen Kopf aus einer Bodenvase herausschaute.

»Ich suche den Hyazinthenweg.« Evelyn wandte sich Harvard zu, der treuherzig zu ihr hinaufblickte. »Wie heißt du denn?« fragte sie.

»Harvard heißt er«, erwiderte Lina Becker.

»Was für ein seltsamer Name.«

»Ein Onkel von mir, der in Amerika lebt, hat in Harvard studiert. Deshalb haben wir ihn so genannt. Er ist Jurist«, sagte Lina.

Der Hund, hätte Evelyn beinahe gefragt, konnte sich jedoch noch im letzten Moment beherrschen.

»Sie müssen die nächste Querstraße links fahren.« Lina trat noch einen Schritt näher an den Wagen heran. »Sind Sie die junge Dame, die in das Haus von Herrn Bach ziehen wird?« erkundigte sie sich.

Die junge Frau nickte.

»Ich freue mich so für Herrn Bach, daß er wieder jemanden in seinem Haus haben wird. Der arme Mann kann einem wirklich leid tun. Es ist sicher nicht einfach, blind zu sein und allein leben zu müssen.«

Evelyn hatte keine Ahnung gehabt, daß ihr Vermieter blind war. Der Makler hatte es nicht erwähnt. »Ist Herr Bach von Geburt an blind?« fragte sie.

»Nein, man sagte mir, seit einem Unfall vor etwa zwanzig Jahren.« Lina Becker hob die Schultern. »Wir haben damals noch nicht hier gewohnt. Wir sind erst vor einigen Jahren in diese Gegend gezogen. Früher lebten wir in München, dann ist mein Mann Rentner geworden und… Nun, das wird Sie nicht interessieren. Ich muß auch weiter.« Sie umfaßte die Leine etwas fester. »Komm, Harvard.«

»Danke für die Hilfe«, sagte Evelyn. Sie nickte der Frau zu und kurbelte das Fenster nach oben.

Lina kehrte mit Harvard auf den Bürgersteig zurück. Sie wartete, bis Evelyn weitergefahren war, bevor sie zum See hinunterging. »Daß Herr Bach an eine so junge Frau vermietet, hätte ich nun wirklich nicht erwartet«, meinte sie zu ihrem Hund. »Ich weiß nicht. So etwas kann nicht gutgehen. Nun ja, wir werden sehen.«

Es dauerte nicht lange, bis Evelyn Maurer das Haus von Amos Bach erreicht hatte. Auf den ersten Blick machte es einen genauso einladenden Eindruck wie auf dem Foto, das ihr der Makler geschickt hatte.

Die junge Frau freute sich schon darauf, ihre Wohnung einzurichten. Sie hatte noch über eine Woche Zeit, bevor sie ihre neue Stelle antreten mußte, und war überzeugt, daß sie in Tegernsee oder Rottach-Egern alles finden würde, was sie an Möbeln für ihre eigenen vier Wände brauchte. Die letzten Jahre hatte sie in einem möblierten Appartement gewohnt, deshalb hatte sie auch bis auf eine Campingliege nichts an Mobiliar dabei.

Evelyn durchquerte den kleinen Vorgarten und klingelte an der Haustür. Ein Hund bellte kurz auf. »Bitte, wer ist da?« hörte sie eine sympathische Stimme durch die Wechselsprechanlage fragen.

»Evelyn Maurer, Herr Bach«, antwortete sie. Im selben Moment öffnete sich summend die Haustür.

Amos Bach stand mit Nero vor seiner Wohnung. Mit der linken Hand stützte er sich auf einen schwarzgelben Stock. Der Hund betrachtete die junge Frau aufmerksam, bevor er verhalten mit der Rute zu wedeln begann.

Evelyn ging auf den alten Mann zu. Sie nahm seine Hand und stellte sich noch einmal vor.

»Schön, daß Sie gekommen sind, Frau Maurer«, sagte Amos. »Ich weiß nicht, ob Ihnen der Makler gesagt hat, daß ich blind bin. Erschrecken Sie bitte nicht.«

»Da gibt es nichts, worüber ich erschrecken müßte«, antwortete Evelyn. Amos Bach erinnerte sie an ihren längst verstorbenen Großvater. Er war auch sehr hager gewesen und hatte ein so liebenswertes Wesen gehabt, wie es der alte Herr ausstrahlte. Sie fühlte sofort, daß sie gute Freunde werden würde. »Der Makler hat mit nichts davon gesagt, daß Sie blind sind, aber als ich im Nelkenweg eine Frau fragte, wo Ihr Haus liegt, hat sie es erwähnt.«

»Könnten Sie mir die Frau beschreiben?«

Das fiel Evelyn nicht schwer. »Sie hatte einen Hund namens Harvard dabei«, sagte sie.

»O je, da haben Sie ja gleich mit der Zeitung vom Narzissenweg Bekanntschaft gemacht«, meinte Amos amüsiert. »Frau Becker ist mit Abstand die größte Klatschbase weit und breit, andererseits hat sie auch ihre guten Seiten. Wenn sie mich an einer Straße stehen sieht, fragt sie nicht lange, sondern packt meinen Arm und führt mich zur anderen Seite, ob ich will oder nicht.« Er lachte. »Nun, das passiert mir nicht nur mit Frau Becker.«

»Wie heißt Ihr Hund?« erkundigte sich Evelyn. »Wenn ich gewußt hätte, daß Sie einen Hund haben, hätte ich ihm einen Kauknochen mitgebracht.« Sie hielt die Hand vor Neros Schnauze. »Du bist ein lieber Kerl, nicht wahr?«

»Nero ist der beste Hund, den man sich denken kann.« Amos tätschelte den Kopf des alten Labradors. »Möchten Sie gleich Ihre Wohnung sehen oder zuerst eine Tasse Tee oder Kaffee trinken?«

»Am liebsten würde ich gleich einen Blick in meine Wohnung tun«, gestand Evelyn.

»Das kann ich sehr gut verstehen.« Amos Bach ließ Nero los. »Lauf uns voraus«, forderte er ihn auf und ging so sicher, als könnte er sehen, zur Treppe.

Die Wohnung erwies sich als genauso schön und geräumig, wie sie ihr der Makler beschrieben hatte. Es gab ein großes Wohnzimmer mit einem breiten Balkon, von dem aus man sogar ein Stückchen des Tegernsees sehen konnte, ein kleines Schlafzimmer und zwei weitere Räume, die als Kinderzimmer gedacht waren. Einen von ihnen wollte Evelyn als Eßzimmer einrichten. Für den anderen hatte sie noch keine Verwendung. Ihr Schreibtisch sollte im Wohnzimmer stehen. Besonders begeisterte sie die im ländlichen Stil gehaltene Einbauküche.

»Ich bin überzeugt, daß ich mich hier sehr wohl fühlen werde«, sagte sie zu Amos. »Die nächsten Tage werde ich vermutlich mit dem Aussuchen der Möbel verbringen.«

»Dabei kann ich Ihnen nur viel Freude wünschen.« Der alte Mann lehnte an der Balkontür und genoß die Sonnenstrahlen, die über sein Gesicht strichen. »Machen Sie sich keine Sorgen, ich könnte etwas gegen Musik haben. Ich höre sehr gern Musik, selbst moderne.«

»Ich liebe auch Musik, allerdings keine laute«, antwortete Evelyn. »Besuchen Sie oft Konzerte?«

Amos Bach nickte. »Sehr oft sogar. Ich lasse mir kein Konzert entgehen, das in Tegernsee oder in der Umgebung stattfindet. Manchmal nehmen mich Bekannte mit, oder Herr Mangold fährt mich. Jürgen Mangold gehört zu einer Organisation, die Menschen wie mich betreut. Sie werden ihn sicher bald kennenlernen.« Er drehte sich um und wies durch das Wohnzimmer. »Meine Putzfrau hat gestern hier saubergemacht. Ich hoffe, sie hat nichts vergessen.«

»Die Wohnung strahlt vor Sauberkeit«, versicherte Evelyn.

»Fein. Wenn Sie möchten, können wir jetzt hinuntergehen und Kaffee trinken. Ich habe auch zwei Stück Kuchen im Kühlschrank. Erdbeerkuchen.«

»Eß ich besonders gern«, sagte die junge Frau. »Vorher würde ich jedoch gern meine Sachen nach oben bringen. Es wird nicht lange dauern. Es handelt sich nur um ein paar Kartons und Koffer.«

»Was haben Sie denn für einen Wagen?«

»Einen Sharan. Er ist so geräumig, daß man in ihm sogar eine zehnköpfige Familie unterbringen könnte.« Evelyn tätschelte den Kopf des Labradors. »Für dich wäre auch Platz, Nero. Ich habe mir vorgenommen, nach und nach die ganze Umgebung kennenzulernen. Wenn Sie möchten, Herr Bach, könnten Sie mich ab und zu auf meinen Ausflügen begleiten.«

»Führen Sie mich nicht in Versuchung, Sie derart auszunutzen«, meinte der alte Mann.

»Das wäre nicht ausgenutzt«, widersprach sie und meinte es durchaus ehrlich. »Sie könnten mir sicherlich viel über das Tegernseer Tal erzählen.« Schmunzelnd fügte sie hinzu: Und auch über Leute wie Frau Becker.«

»Das allerdings«, bestätigte er. »Das allerdings.«

*

Dr. Mara Bertram fuhr die schmale Straße entlang, die zur Privatklinik von Dr. Hauser führte. Sie hatte an diesem Nachmittag keinen Dienst gehabt und es sich zu Hause gemütlich gemacht. Jetzt freute sie sich auf den Abend, den sie mit ihrem Freund verbringen wollte. Dr. Martin Hellwert arbeitete und wohnte in der Klinik. Sie hatten sich am Sonntag zum letzten Mal gesehen, und sie konnte es kaum noch erwarten, mit ihm zusammenzusein. Je länger sie Martin kannte, um so wichtiger wurde er für ihr Leben. Allein schon der Gedanke, es könnte irgendwann zwischen ihnen aus sein, versetzte sie in Panik.

Die Privatklinik befand sich am Abhang des Leebergs. Das im bayerischen Stil gehaltene, dreiflügelige Gebäude wurde von einem weitläufigen Park umgeben, in dem es Tennisplätze, Swimmingpools und einen Sportplatz gab. In einem beheizten Glaspavillon lag ein weiterer Swimmingpool.

Bei den meisten Patienten von Dr. Hauser handelte es sich um wohlhabende oder reiche Leute. Sie kamen nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Amerika und Asien, um sich hier behandeln zu lassen. Dr. Hauser hatte einen ausgezeichneten Ruf, zumal er sich nicht der Schulmedizin verschrieben hatte, sondern alternative Wege ging. Er und seine Frau lebten in einem renovierten Bauernhaus, das am Ende des Parks lag. Die Appartements der Angestellten befanden sich im Dachgeschoß der Klinik.

Mara stellte ihren Wagen auf dem mit Kiefern umgebenen Parkplatz ab. Mit beschwingten Schritten betrat sie das Foyer der Klinik. Sie rief dem Portier einen Gruß zu und stieg die breite Treppe hinauf, die in den ersten Stock des rechten Flügels führte. Ihr Freund arbeitete auf der Inneren. Auf dem Wg zu ihm begegneten ihr nur wenige Patienten. Die meisten hielten sich um diese Zeit in den Aufenthaltsräumen oder in ihren Zimmern auf.

Mara bog in den Gang ein, der zum Ärztezimmer der Inneren führte. Abrupt blieb sie stehen. Martin stand mit dem Rücken zu ihr vor dem Fenster. Seinen rechten Arm hatte er um die Schultern einer schlanken dunkelhaarigen Frau gelegt. »Störe ich?« fragte sie eisig und ballte unbewußt die Hände.

Martin Hellwert ließ erschrocken seinen Arm sinken. »Nein, du störst nicht, Mara.« Er drehte sich ihr zu. »Tamara und ich haben uns über eine Patientin unterhalten, die neu auf die Station gekommen ist.«

»Ein sehr interessanter Fall, Frau Bertram«, fügte Dr. Tamara Kern hinzu und wandte sich um.

»Hätte ich gewußt, daß du so früh kommst, hätte ich mich bereits umgezogen«, sagte Martin und trat zu seiner Freundin. »Tut mir leid, ich hatte noch nicht mit dir gerechnet.«

»Das war offensichtlich.« Mara betrachtete die Psychologin mit einem alles andere als liebenswürdigen Blick.

Tamaras Lippen umhuschte ein flüchtiges Lächeln. Sie spürte schon seit Wochen Maras Eifersucht, die sie für absolut lächerlich hielt. So gern sie auch ihren Kollegen hatte, er war nicht ihr Typ. »Ich möchte nicht länger stören«, meinte sie und ging in die entgegengesetzte Richtung davon.

Mara zählte in Gedanken bis zehn. Sie wäre der Ärztin am liebsten nachgerannt und hätte sie durchgeschüttelt. Auch wenn Dr. Baumann meinte, daß ihre Eifersucht völlig unbegründet war, sie mißtraute dieser Frau zutiefst. Zudem ahnte sie, daß sich Tamara Kern über sie amüsierte, und das machte sie noch wütender.

Dr. Hellwert ärgerte sich über sich selbst, weil er so unbedacht gewesen war, den Arm um die Schultern der Psychologin zu legen. Es war nur eine freundschaftliche Geste gewesen, nichts, wofür er sich schämen mußte, aber immerhin kannte er die Eifersucht seiner Freundin. »Ich geh mich schnell umziehen«, sagte er. »Kommst du mit nach oben?«

Mara nickte. Im Moment war sie zu wütend, um mit Martin zu reden. Schweigend folgte sie ihm die Treppe zum Dachgeschoß hinauf. Während sich ihr Freund umzog, schaute sie aus dem Fenster seines Zimmers. Die Aussicht auf den Tegernsee war atemberaubend. Langsam begann sie, sich zu beruhigen. Trotzdem sagte sie noch immer kein Wort, als er aus dem Bad kam und meinte, das sie nun gehen könnten.

Erst als sie im Wagen saßen und in Richtung Tegernsee fuhren, fragte sie: »Seit wann bist du so vertraut mit Frau Dr. Kern?«

»Mara, Liebling, red dir bitte nicht etwas ein, was nicht ist«, bat er, froh darüber, daß sie endlich ihr Schweigen aufgegeben hatte. »Tamara und ich sind Kollegen, nicht mehr. Ich halte sie für eine außerordentliche Psychologin. Allein wie sie es schafft, Mariam

Probst von Sitzung zu Sitzung mehr Selbstbewußtsein zu geben, ist eine hervorragende Leistung.«

Das mußte auch Mara anerkennen. Mariam war in eine extreme Sekte hineingeboren worden. Erst im Januar war es ihr gelungen, sich mit ihren Großeltern in Verbindung zu setzen und nach Deutschland zu kommen. Gerade, als sie angefangen hatte, sich von ihren furchtbaren Erlebnissen zu erholen, hatten Sektenmitglieder sie entführt und in der Bretagne gefangengehalten. Nach ihrer Befreiung hatte sie geheiratet und war dadurch für die Sekte wertlos geworden. Dank Frau Dr. Kern schaffte es die junge Frau, mit beiden Beinen fest im Leben zu stehen, doch sie wußte, daß es noch jahrelanger psychologischer Betreuung bedurfte, bis Mariam die Schrecken der Vergangenheit verarbeitet hatte.

»Wie gesagt, wir haben über eine Patientin gesprochen, die heute zu uns gekommen ist. Sie leidet an unerklärlichen Schmerzen. Wir sind uns beide sicher, daß diese Schmerzen auf etwas zurückzuführen sind, was in ihrer Kindheit liegt«, berichtete Martin Hellwert.

»Wenn Eric und ich etwas besprechen, pflegt er mir nicht dabei den Arm um die Schultern zu legen«, sagte die junge Ärztin.

Ihr Freund hielt am Straßenrand. »Meinst du nicht auch, daß du dich lächerlich machst, Mara? fragte er. »Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen und ich denke nicht daran, mich für etwas zu entschuldigen, wofür es keinen Grund gibt. Ich hatte mich so auf den Abend mit dir gefreut. Müssen wir uns unbedingt streiten? Wenn du möchtest, kann ich im Benji anrufen und unseren Tisch abbestellen. Und daß ich bereits Kinokarten habe, ist auch nicht weiter wichtig. Es gibt bestimmt Leute, die sich über sie freuen.«

Vielleicht hatte sie wirklich überreagiert. Erst seit sie Martin kannte, wurde sie so schnell eifersüchtig. Letztes Jahr um diese Zeit hatte sie noch nicht einmal gewußt, daß es ihn gab. Wie konnte man einen Menschen so sehr lieben, daß man ständig befürchtete, ihn zu verlieren?

»Weißt du denn nicht, wie sehr ich dich liebe, Mara?« fragte Dr. Hellwert, als sie nicht sofort antwortete. »Nach meinem Fiasko mit Elvira bin ich so froh und glücklich, einen Menschen wie dich gefunden zu haben. Im Grunde genommen bist du mein einziger Halt. Ohne dich würde ich in das Chaos zurückgestoßen, das seit meiner Scheidung mein Leben gewesen ist.« Er nahm ihre Hände. »Ich liebe dich, wirklich, Mara, ich liebe dich.«

»Ich bin manchmal ein richtiger Esel«, bekannte seine Freundin zerknirscht.

»Wenn schon, dann eine Eselin«, widersprach Martin. »Außerdem hat man herausgefunden, daß Esel keineswegs dumm sind, sondern sehr gescheit.« Er löste seinen Gurt und nahm sie in die Arme, um sie sanft auf die Lippen zu küssen.

*

Evelyn Maurer fiel es nicht schwer, sich in Tegernsee einzuleben, zumal sie nach wie vor das Gefühl hatte, von einer langen Reise heimgekehrt zu sein. Sie verstand sich ausgezeichnet mit Amos Bach. Er hatte viel mit ihrem verstorbenen Großvater gemeinsam. Sie liebte es mit ihm Kaffee zu trinken oder unten am See spazierenzugehen.

Die junge Frau wußte inzwischen, daß ihr Hauswirt an Nierensteinen litt. Sie hatte auch Jürgen Mangold kennengelernt, der den alten Herrn regelmäßig besuchte. Amos Bach erhielt Essen auf Rädern. Das Futter für Nero besorgte Herr Mangold. Obwohl sie erst knapp eine Woche im Hyazinthenweg lebte, gehörte sie schon irgendwie dazu, und es machte sie froh, denn seit dem Tod ihrer Eltern vor sieben Jahren hatte sie so etwas wie eine Familie nicht mehr kennengelernt.

An diesem Freitag wurden die Möbel geliefert, die Evelyn im Laufe der letzten Tage ausgesucht hatte. Sie waren nicht besonders teuer gewesen, doch sie gefielen ihr. Jedes einzelne Stück paßte zu ihr, und sie wußte auch schon genau, wo es stehen sollte.

Drei junge Männer trugen die Möbel in ihre Wohnung hinauf. Die Regale mußten noch zusammengebaut werden. Evelyn hatte angenommen, daß das im Preis inbegriffen war, wurde jedoch enttäuscht.

»Wir müssen gleich weiter«, sagte einer der Männer zu ihr und setzte das letzte Stück der Couchgarnitur im Wohnzimmer ab. »Tut mir leid, der nächste Kunde wartet bereits.«

»Da kann man nichts machen«, meinte Evelyn resignierend. Sie versuchte erst gar nicht, die Männer zu überreden, ihr beim Zusammenbauen zu helfen, sondern gab ihnen ein Trinkgeld und schaute vom Küchenfenster zu, wie sie davonfuhren.

Was mache ich nun, dachte sie. Unten vor dem Haus hielt der rote Wagen Jürgen Mangolds. Als er ausstieg und sie am Fenster sah, winkte er zu ihr hinauf, dann zog er seinen Schlüssel aus der Tasche und betrat das Haus. Nero bellte flüchtig auf. Gleich darauf wurde es still.

Die junge Frau vertiefte sich in die Aufbauanleitung eines der Regale. Sie hatte nie zuvor ein Regal zusammengebaut und war überzeugt, daß sie es auch nicht schaffen würde. Trotzdem, sie mußte es wenigstens versuchen.

Evelyn stand bereits am Rande des Nervenzusammenbruchs, als es klingelte. Sie legte den Schraubendreher beiseite, strich sich rasch mit einer Hand durch die Haare und öffnete die Wohnungstür. »Ach, Sie sind es, Herr Mangold«, meinte sie und schaute verlegen an sich hinunter. Sie trug ihre ältesten Hosen und ein schlabberiges T-Shirt.

»Sie sehen zum Anbeißen aus«, bemerkte Jürgen grinsend.

»Wenn ich arbeite, kann man mich auch nicht als Dressman vorführen. Herr Bach schickt mich. Er meint, daß Sie womöglich Hilfe brauchen würden.

»Womit er den Nagel auf den Kopf getroffen hat«, bekannte Evelyn aufseufzend. Sie erzählte ihr Mißgeschick mit den Regalen. »Ich besitze zwei linke Hände, was handwerkliche Dinge betrifft. Um ehrlich zu sein, wahrscheinlich habe ich nicht einmal die Aufbauanleitung verstanden. Jedenfalls wirkt alles, was ich bisher zusammengebaut habe, wie ein Zwilling des schiefen Turms von Pisa.«

»Nun, das macht nichts. Ich bin sehr geschickt in solchen Dingen. Mein Vater ist Schreiner gewesen, und ich habe ihm oft geholfen.«

»Dann werden Sie für die nächsten Stunden zu tun haben«, meinte Evelyn, griff nach dem Schraubendreher und drückte ihn dem jungen Mann in die Hand.

Während der nächsten zwei Stunden arbeiteten sie Hand in Hand. Jürgen verlangte von Evelyn nicht sehr viel, außer, daß sie ihm das Werkzeug zureichte und die Teile zusammenhielt. Er erzählte ihr von seiner Arbeit bei der Blindenorganisation und den Menschen, die er betreute.

»Mit den meisten meiner Schützlinge verbindet mich ein überaus herzliches Verhältnis«, sagte er, »und mit Amos Bach ist es vor allen Dingen Freundschaft. Ich habe den alten Herrn schon gemocht, als wir uns das erste Mal begegneten.«

»Genauso ist es mir ergangen«, bekannte Evelyn. »Wir kommen ausgezeichnet miteinander zurecht.«

»Ich weiß. Herr Bach ist ganz begeistert von Ihnen.« Jürgen sah sie an. »Aber wer wäre das nicht?«

Die junge Frau errötete. »Ich kann Ihnen eine ganze Menge Leute nennen, die da anderer Ansicht sind«, sagte sie.

»Ich verzichte darauf, diese Leute kennenzulernen«, erwiderte er. »Um auf Herrn Bach zurückzukommen, er ist ein wirklich liebenswerter Mensch. Mein Vater starb kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag. ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können, für mich ist der alter Herr so etwas wie ein Vaterersatz.«

Evelyn lachte. »Und für mich wie mein Großvater.«

»Sieht aus, als würden wir uns blendend verstehen«, meinte er und reichte ihr die Hand.

Lachend schlug sie ein.

Jürgen Mangold konnte nur bis sieben Uhr bleiben, aber er schaffte es, daß die Regale, als er ging, dort standen, wo sie hingehörten. Über das Wochenende wollte Evelyn sie einräumen, jetzt hatte sie sich erst einmal eine Pause verdient. Sie zog sich um und ging zu ihrem Vermieter hinunter, um ihn zu fragen, ob er Lust auf einen Spaziergang hatte, oder ob sie Nero mitnehmen sollte.

Es dauerte ein paar Minuten, bis der alte Mann die Tür öffnete. Sie sah ihm an, daß er sich nicht besonders wohl fühlte. »Sieht aus, als hätte ich mein Abendessen nicht vertragen«, sagte er. »Ja, es wäre schön, wenn Sie Nero mitnehmen würden. Er muß noch ein bißchen an die frische Luft.«

»Sie sollten Ihren Arzt anrufen«, meinte Evelyn.

»Nein, das ist nicht nötig. Die Schmerzen werden schon wieder vergehen.« Amos Bach reichte der jungen Frau Neros Leine. »Sei schön brav«, wandte er sich an seinen Hund. »Mach mir keine Schande.«

Nero schaute zu ihm auf. »Wuw«, machte er und schmiegte sich vertrauensvoll an sein Herrchen.

Evelyn ging mit Nero zum Wasser hinunter. Sie löste seine Leine, damit er herumtoben konnte, aber Nero dachte gar nicht daran, durch die Gegend zu rennen, Gemächlich trottete er neben der jungen Frau her, blieb alle paar Meter stehen und schnüffelte an einem Grasbüschel oder einer Blume, bevor er ohne Eile seinen Weg fortsetzte.

Die Beckers kamen ihr mit Harvard entgegen. Nero setzte sich auf sein Hinterteil. Geduldig ließ er es über sich ergehen, daß Harvard um ihn herumtänzelte und ihn unaufhörlich mit der Schnauze anstieß.

»Es ist schön, daß Sie sich ein wenig Neros annehmen«, lobte Lina Becker. »Da hat er wenigstens genügend Auslauf.« Sie sah Evelyn leutselig an. »Scheint, als würden Sie mit Herrn Bach gut auskommen. Mit seinen früheren Mietern hatte er ziemliches Pech. Was waren das für schreckliche Leute! Sie haben den armen, alten Mann regelrecht tyrannisiert.« Sie tätschelte Neros Rücken. »Wie geht es Herrn Bach?«

»Ich glaube ganz gut.« Evelyn wollte nicht mit den Beckers über ihren Vermieter sprechen. Inzwischen war sie dahintergekommen, daß sich Frau Becker ihren Titel »Zeitung vom Narzissenweg« redlich verdient hatte. »Ich muß zurück«, sagte sie. »Herr Bach wird schon auf Nero warten.«

»Wir wollen Sie natürlich nicht aufhalten«, bemerkte Fred Becker. »Einen schönen Abend noch, Frau Maurer.«

»Ihnen auch«, wünschte die junge Frau. Sie nahm Nero an die Leine und machte sich mit ihm auf den Heimweg.

Amos Bach ging es nicht besser, sondern schlechter. Er zitterte am ganzen Körper, als er ihr die Tür öffnete. Sein Gesicht schien jegliche Farbe verloren zu haben. Winzige Schweißtröpfchen bedeckten seine Haut. »Ich…« Er krümmt sich vor Schmerzen zusammen. »Es sieht nach einer Nierenkolik aus«, preßte er zwischen den Zähnen hervor. »Ich glaube, ich sollte doch Dr. Baumann anrufen.«

Evelyn fragte nicht lange. Sie hob den Telefonhörer ab und ließ sich von ihm die Nummer Dr. Baumanns geben. Bereits nach dem zweiten Klingelton meldete sich Katharina Wittenberg.

»Der Herr Doktor ist mit seinem Hund spazierengegangen«, sagte sie, als sie von der jungen Frau erfuhr um was es sich handelte. »Ich werde sofort nach ihm suchen. Es kann nicht länger als zwanzig, dreißig Minuten dauern, bis er bei Herrn Bach ist.«

»Danke.« Evelyn legte auf. Sie half Amos Bach, sich auf die Couch im Wohnzimmer zu legen, und deckte ihn zu.

Der alte Mann hatte sich auf die Couch im Wohnzimmer gelegt. Er litt unter so heftigen Schüttelfrost, daß seine Zähne aufeinanderschlugen. Stöhnend wälzte er sich von seiner Seite auf die andere.

Nero schlich mit eingezogenem Schwanz zur Couch und ließ sich neben ihr auf den Boden nieder. Winselnd sah er Evelyn an, die vergeblich versuchte, ihn zu beruhigen. Plötzlich richtete er sich auf und strich mit der Zunge über die Hand seines Herrchens. Die junge Frau hinderte ihn nicht daran, weil sie ahnte, wie wichtig es für Amos war, die Nähe seines Hundes zu spüren.

Dr. Baumann kam früher, als Evelyn erwartet hatte. Sie stellte sich ihm kurz vor und blieb in der Küche, als er zu seinem Patienten ging. Beruhigend klang seine Stimme aus dem Wohnzimmer. Nach ein paar Minuten hörte sie, wie er den alten Mann ins Schlafzimmer hinüberbrachte.

»Herr Bach wird bald einschlafen«, sagte Eric, als er kurz darauf in die Küche trat. »Ich habe ihm eine Spritze gegeben. Zum Glück sind Sie bei ihm gewesen. Herr Bach zögert immer viel zu lange, bevor er mich ruft.«

»Meinen Sie, daß man ihn über Nacht allein lassen kann?« fragte Evelyn und überlegte, ob sie nicht unten schlafen sollte.

»Ich habe Herrn Bach ins Schlafzimmer gebracht und ihm beim Zubettgehen geholfen.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nicht nötig, daß Sie bei ihm bleiben. Allerdings wäre es gut, wenn Sie, bevor Sie selbst zu Bett gehen, noch einmal nach ihm sehen würden.« Er schmunzelte. »Herr Bach hat mir gesagt, daß Sie ihm wie ein Engel erscheinen. Mit Ihnen sei das Glück in sein Haus eingekehrt.«

»Er übertreibt«, wehrte Evelyn ab. »Ich mag den alten Herrn nur sehr gern.«

»Das sieht man«, antwortete Dr. Baumann und verabschiedete sich von ihr. »Scheuen Sie sich nicht, mich anzurufen, wenn irgend etwas sein sollte. Gute Nacht, Frau Maurer.«

»Gute Nacht, Dr. Baumann.« Evelyn wartete bei der Tür, bis der Arzt abgefahren war, dann betrat sie leise das Schlafzimmer des alten Herrn und stellte fest, daß Amos Bach tatsächlich schlief. Nero hatte es sich vor dem Bett gemütlich gemacht. Müde schaute er sie an.

*

Auf in den Kampf, dachte Evelyn Maurer, als sie am Montagmorgen um halb acht auf dem Parkplatz der Privatklinik ihren Wagen abstellte. Sie hatte noch fast eine halbe Stunde Zeit, doch sie war absichtlich so früh losgefahren, um nicht abgehetzt in der Klinik anzukommen.

Die junge Frau lehnte sich einen Moment zurück und schloß die Augen. Das Wochenende war ziemlich ruhig verlaufen. Amos Bach war es bereits am Samstag etwas besser gegangen, aber er hatte noch das Bett hüten müssen, und so hatte sie es übernommen, Nero auszuführen. Außerdem hatte Jürgen Mangold am Samstag und Sonntag nach ihm gesehen. Sie hatten gemeinsam Kaffee getrunken und sich dabei nett unterhalten. Sie konnte durchaus verstehen, daß Herr Bach den jungen Mann schätzte. Jürgen machte den Eindruck, als könnte man sich hundertprozentig auf ihn verlassen.

Evelyn stieg langsam aus, schloß den Wagen ab und ging zur Klinik hinüber. Ihr war ziemlich beklommen zumute. Immerhin handelte es sich um ihren ersten Tag auf einer neuen Arbeitsstelle und sie fragte sich, ob sie die richtige Wahl getroffen hatte. Die Klinik hatte zwar vor fünf Wochen einen ausgezeichneten Eindruck auf sie gemacht, trotzdem hatte sie mit einem Mal Angst vor dem Neuen, das sie erwartete. Auch wenn es ihr nichts ausmachte, fremde Menschen kennenzulernen, es hing alles davon ab, wie die anderen sie aufnehmen würden.

Die junge Frau holte tief Luft und trat ins Foyer der Klinik. »Guten Morgen, ich möchte zu Dr. Hauser«, wandte sie sich an den Portier und nannte ihren Namen.

»Fein, daß Sie schon da sind, Frau Maurer«, erwiderte der ältere Mann freundlich. »Dr. Hauser ist bereits in seinem Büro. Kennen Sie den Weg?« Er griff nach dem Telefonhörer.

»Ja.« Evelyn nickte.

»Dann werde ich Sie anmelden.«

»Danke.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, durchquerte das Foyer und öffnete die Schwingtür, die in den Bürotrakt führte.

Dr. Uwe Hauser kam ihr mit wehendem Mantel im Gang entgegen. Impulsiv ergriff er ihre Hand. »Herzlich willkommen, Frau Maurer«, sagte er. »Sie werden schon sehnsüchtig erwartet. Ihre Vorgängerin mußte früher in den Mutterschaftsurlaub, als wir erwartet haben, und so ist die Stelle im Moment verwaist.«

Evelyns Angst löste sich im Nichts auf.

Dr. Hauser stellte die junge Frau seinem Ärzteteam vor und übergab sie anschließend der Obhut von Oberschwester Erika, damit diese sie durch das Haus führte und mit seinen Einrichtungen vertraut machte.

»Sie haben heute schon ein volles Programm«, meinte die Oberschwester. »Um elf werden Sie von einigen Diabetikern zur Schulung erwartet. Es ist ihre erste Unterweisung und es sind ein paar Leute dabei, die alles andere als begeistert davon sind, zukünftig mit einer Diät leben zu müssen.«

»Wer ist davon schon begeistert?« fragte Evelyn. Sie konnte durchaus verstehen, daß sich jemand dagegen wehrte, Diabetes zu akzeptieren und mit Einschränkungen leben zu müssen.

Ihr Büro und der Schulungsraum befanden sich in der Nähe des Küchentraktes. Sie hatte gerade noch Zeit, einiges Material herzurichten, als auch schon die Patienten kamen, die sie unterweisen sollte. Anhand der Unterlagen, die man ihr gegeben hatte, erkannte sie, daß einige von ihnen hochgradig Zucker hatten und sich keine Entgleisung von ihrer Diät mehr leisten konnten.

Im Laufe ihrer Ausbildung hatte es Evelyn gelernt, mit Menschen umzugehen. So hatte sie keine Schwierigkeiten, die Schulung durchzuführen. Trotzdem war sie ziemlich erschöpft, als sie danach in die Kantine ging, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Essen wollte sie nichts. Sie hatte wieder Leibschmerzen. Die Tablette, die sie dagegen genommen hatte, hatte bis jetzt noch keine Linderung gebracht.

Wenig später saß Evelyn an ihrem Schreibtisch und überlegte, ob sie eine zweite Tablette schlucken sollte, als der Chefkoch zu ihr kam, um mit ihr den Speiseplan für die nächste Woche zu besprechen. »Es ist bestimmt

ein bißchen viel für den ersten Tag«, meinte Harald Merkle mitfühlend und setzte sich ihr gegenüber.

Die junge Frau nickte. »Ich hatte nicht erwartet, schon an meinem ersten Tag so in den Klinikbetrieb eingebunden zu werden«, gab sie zu.

»Wir hatten ja damit gerechnet, daß Frau Siebert noch vierzehn Tage bleiben würde. Ihr Kind hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht.« Der Chefkoch lachte. »Während einer Besprechung stand sie plötzlich auf und sagte: ›Ich glaube, es ist soweit.‹ Zuerst hielten wir es für einen Scherz. Immerhin war sie erst im achten Monat, aber bereits am Nachmittag brachte sie ein Söhnchen zur Welt. Der Kleine ist sofort in eine Kinderklinik nach München gebracht worden. Inzwischen geht es ihm so gut, daß er nächste Woche nach Hause darf.«

»Schön, daß alles gutgegangen ist«, meinte Evelyn. Es hatte den Anschein, als würde hier ein sehr angenehmes Betriebsklima herrschen. Jeder schien jedermanns Freund zu sein. Sie machte eine diesbezügliche Bemerkung.

»So friedlich geht es bei uns nicht immer zu, doch im allgemeinen sorgt Dr. Hauser dafür, daß wir miteinander und nicht gegeneinander arbeiten. Er legt sehr viel Wert darauf, daß sich unsere Patienten bei uns geborgen fühlen, und das können sie nur, wenn das Personal nicht untereinander zerstritten ist.«

»Es scheint ein sehr netter Mann zu sein.«

»Ja, das ist er.« Harald Merkle nickte. »Nur sollte man sich in ihm nicht täuschen. Er kann auch sehr aufbrausend sein. Vor allen Dingen, wenn er dahinterkommt, daß jemand seine Anweisungen nicht befolgt.«

Es klopfte. Gleich darauf trat ein junges Mädchen mit einem riesigen Blumenstrauß ein. »Die Blumen sind eben für Sie abgegeben worden, Frau Maurer«, sagte sie.

»Für mich?« Evelyn konnte es nicht fassen. »Das muß ein Irrtum sein. Ich kenne hier niemanden.«

»Es ist ein Kärtchen dabei.« Das Mädchen legte die Blumen auf den Schreibtisch. »Ich muß weiter.« Mit einem Gruß verließ es das Büro.

»Kaum angekommen und schon einen heimlichen Verehrer«, bemerkte Harald Merkle schmunzelnd. »Warum schauen Sie nicht endlich nach, wer Ihnen die Blumen geschickt hat?« Er wies auf das Kärtchen. »Los, worauf warten Sie noch?«

Evelyns Hand zitterte, als sie nach dem Kärtchen griff und es öffnete. »Viel Glück auf Ihrer neuen Arbeitsstelle, Jürgen.« Die junge Frau konnte es nicht fassen. Jürgen Mangold hatte so viel zu tun, trotzdem dachte er an sie.

»Die Blumen sind von einem Bekannten«, bemerkte sie mit einem verträumten Lächeln. Im selben Moment wurde ihr bewußt, daß sie keine Leibschmerzen mehr hatte. Also tatsächlich nur die Nerven, dachte sie. Es gab nicht den geringsten Grund, sich Sorgen zu machen. So unrecht hatten die Ärzte anscheinend nicht gehabt. Sie bildete sich ihre Schmerzen nur ein.

Harald Merkle verließ da Büro und kam gleich darauf mit einer Vase zurück. »Sieht aus, als sei der junge Mann an Ihnen interessiert.«

»Wir kennen uns kaum«, meinte Evelyn und füllte die Vase mit Wasser. Sie beschloß, Jürgen am Abend anzurufen. Der Blumenstrauß erschien ihr wie ein gutes Omen. Auch wenn sie schon jetzt bis über beide Ohren in Arbeit steckte, ihre Tätigkeit in dieser Klinik schien unter einem guten Stern zu stehen. Glücklich stellte sie die Vase auf den Schreibtisch, ordnete die Blumen hinein und widmete sich wieder dem Speiseplan.

*

Evelyn parkte gegenüber der Praxis von Dr. Baumann am Straßenrand. Sie hatte fast den ganzen Tag unter heftigen Leibschmerzen gelitten. Erst kurz vor Feierabend hatten sie etwas nachgelassen. In ihrer Verzweiflung hatte sie schon Dr. Hauser um Rat bitten wollen, sich jedoch gesagt, daß es besser sein würde, sich einen Arzt zu suchen, bei dem sie nicht angestellt war. Deshalb hatte sie in der Praxis von Dr. Baumann angerufen und mit seiner Sprechstundenhilfe einen Termin für sechs Uhr vereinbart.

Evelyn überquerte die Straße und betrat den gepflegten Vorgarten des Doktorhauses. Franzl, der unter dem Apfelbaum vor sich hin gedöst hatte, sprang auf und rannte ihr entgegen. Schwanzwedelnd blieb er einen halben Meter von ihr entfernt stehen. Er wußte, daß er die Patienten seines Herrchens nicht belästigen durfte.

»Wer bist du denn?« fragte Evelyn und streckte die Hand aus.

Franzl kam näher und schnüffelte an ihren Fingern.

»Was soll das, Franzl?« fragte Katharina Wittenberg und schloß die Haustür hinter sich. »Du weißt ganz genau, daß du während der Sprechstunden im hinteren Teil des Gartens zu bleiben hast.« Sie wandte sich an Evelyn. »Entschuldigen Sie bitte, der Bursche hat einfach keine Manieren.«

»Das ist schon in Ordnung«, erwiderte die junge Frau und tätschelte Franzls Kopf. »Vermutlich riecht er den Hund meines Vermieters.« Sie schaute auf. »Es könnte sogar sein, daß sich die beiden kennen. Nero begleitet ja jedesmal Herrn Bach, wenn dieser Dr. Baumann aufsucht.«

»Dann sind Sie also die junge Dame, die jetzt bei Herrn Bach wohnt. Wir haben neulich miteinander telefoniert.« Katharina reichte ihr die Hand und stellte sich vor. »Wir sind alle sehr froh, daß der alte Herr nicht mehr allein im Haus ist.«

»Ich mag Herrn Bach sehr«, bekannte Evelyn. Sie wechselte noch ein paar Worte mit der Haushälterin, strich ein letztes Mal über Franzls Kopf und betrat die Praxis.

Tina Martens blickte von den Unterlagen auf, die sie gerade durchsah, als Evelyn die Aufnahme betrat. »Bitte?« fragte sie mit einem freundlichen Lächeln.

»Ich habe gegen zwölf angerufen«, sagte die junge Frau und nannte ihren Namen. »Im Moment habe ich zwar keine Schmerzen und…«

»Was Sie nicht daran hindern sollte, mit Dr. Baumann zu sprechen«, meinte die Sprechstundenhilfe und hakte Evelyns Namen im Meldebuch ab. »Bitte, nehmen Sie noch ein paar Minuten im Wartezimmer Platz.«

»In Ordnung.« Evelyn wandte sich dem Wartezimmer zu. Ach, du meinte Güte, dachte sie, als sie die Tür öffnete und sofort Lina Becker entdeckte. Sie saß vor einem der Fenster und sprach mit einer jungen Frau, die einen kleinen Buben auf dem Schoß hielt, dessen rechtes Bein in einer Schiene steckte. Außer den beiden Frauen befand sich nur noch ein etwa fünfzehnjähriger Bub im Raum. Er studierte ein Mathematikbuch.

»Na, das nenn’ ich eine Überraschung«, meinte Lina zufrieden, als Evelyn die Tür hinter sich schloß. »Wie sage ich immer? – Man muß nur zu Dr. Baumann gehen und schon trifft man halb Tegernsee«, wandte sie sich an die junge Frau, mit der sie sich unterhalten hatte.

»Ja, da ist schon etwas Wahres dran«, meinte diese.

»Kommen Sie, Frau Maurer, setzen Sie sich.« Lina wies auf einen Stuhl, der rechts von ihr stand.

Evelyn blieb nichts anderes übrig, als die Einladung anzunehmen. Demonstrativ griff sie nach einer Zeitschrift. Viel Hoffnung hatte sie allerdings nicht, sie auch lesen zu können. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Lina die Gelegenheit zu einem ausgiebigen Gespräch ungenutzt verstreichen lassen würde.

»Ich habe Herrn Bach schon einige Tage nicht mehr gesehen«, sagte Lina Becker. »Ist er wieder krank?«

»Nein, es geht ihm gut«, antwortete Evelyn. »Vermutlich werden Sie nur zu verschiedenen Zeiten spazierengegangen sein.« Sie schlug die Zeitschrift auf.

»Ja, das wird es sein.« Lina nickte. Sie erklärte der jungen Mutter, daß es sich bei Herrn Bach um eine alten Mann handelte, der in ihrer Nähe wohnte und blind war. »Ich halte es für sehr wichtig, sich ein bißchen um seine Nachbarn zu kümmern«, fügte sie hinzu und wandte sich erneut an Evelyn: »Man macht sich halt Sorgen, wenn man Leute in dieser Situation kennt. Für einen Blinden ist es bestimmt nicht einfach, das Leben zu bewältigen. Ich stelle es mir jedenfalls ziemlich hart vor. Um ehrlich zu sein, ich würde verrückt werden, wenn ich nicht sehen könnte.«

»Vermutlich ist es auch für Herrn Bach nicht leicht gewesen, sich mit seiner Blindheit abzufinden«, sagte Evelyn. »Ich bewundere, wie er damit fertig wird. Er weiß, daß ihm nur ein Wunder sein Augenlicht zurückgeben könnte, und Wunder in unserer Zeit rar geworden sind.«

»Wem sagen Sie das?« Lina Becker nickte. »Jedenfalls freut es mich so, daß Sie gut mit ihm auskommen. Wie gesagt, seine letzten Mieter sind geradezu asozial gewesen. Die ganze Gegend hat aufgeatmet, als sie endlich das Weite gesucht haben.«

»Jens Mergenthaler bitte«, tönte die Stimme der Sprechstundenhilfe durch den Lautsprecher.

Jens klappte das Mathematikbuch zu, steckte es in die Schultasche und verließ das Wartezimmer. Er war am Morgen mit Halsschmerzen aufgewacht, deshalb hatte seine Mutter darauf bestanden, daß er nach der Schule Dr. Baumann aufsuchte. Sie wollte ihn später abholen.

Lina Becker schaute zur geschlossenen Tür. »Das ist Jens Mergenthaler gewesen«, sagte sie völlig überflüssigerweise zu Evelyn. »Sein Vater arbeitet als Kreditsachbearbeiter in einer Tegernseer Bank. Am Feierabend verfaßt er Gedichte.«

»Gute Gedichte?« erkundigte sich Evelyn, obwohl es sie nicht im geringsten interessierte. Sie wollte nicht unhöflich sein.

»Gedichte sind Geschmackssache«, erklärte Lina diplomatisch. »Einige von ihnen gefallen mir, andere nicht. Letztes Jahr hat Herr Mergenthaler den ersten Preis in einem Wettbewerb gewonnen. Seitdem erscheint ab und zu eines seiner Gedichte in unserer Zeitung. Um ehrlich zu sein, ich verstehe nicht allzuviel von Lyrik, ich habe es mehr mit der Prosa.« Sie nahm aus ihrer Handtasche eine Tüte Pfefferminzbonbons und bot sie Evelyn und der jungen Frau an.

»Danke.« Evelyn griff zu.

»Mein Mann schreibt auch«, erzählte Lina. »In Kürze wird sein erstes Buch erscheinen.« Sie lachte gekünstelt auf. »Dabei hatte mein Mann nie vorgehabt, es zu veröffentlichen. Alles fing mit dem Kauf eines Computers an. Er wollte unsere Familiengeschichte aufschreiben, damit unsere Enkel nicht vergessen, wo ihre Wurzeln liegen.« Sie öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse. »Clemens, unser Sohn, hat ihn darauf gebracht, daß mehr aus seiner Arbeit werden könnte, als ein Schnellhefter voller beschriebener Blätter. Er meinte, daß die Geschichte auch andere Leute interessieren würde. Was blieb meinem Mann also anderes übrig, als sich an einen Verlag zu wenden.«

»Und da hat er gleich Erfolg gehabt?« fragte Evelyn skeptisch. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß die Familiengeschichte der Beckers so außergewöhnlich war, daß sich die Verlage um sie rissen.

»Ja, der erste Verlag hat gleich zugegriffen«, erklärte Lina Becker stolz und verschwieg, daß sie das Buch selbst finanzieren mußten. Sie erzählte von den Lesungen, die ihr Mann nach Erscheinen des Buches halten wollte. »Selbst der Landfrauenverein hat sich schon für eine Lesung vormerken lassen.«

Franziska Löbl kam ins Wartezimmer und bat mit Gesten die junge Mutter, ihr mit dem Buben zu folgen.

Die Tür hatte sich kaum hinter ihnen geschlossen, als Lina Becker auch schon Evelyn erzählte, was sie über Franziska wußte. »Es ist ein Jammer, daß eine so nette, hübsche Frau nicht sprechen kann«, meinte sie. »Ohne dieses Handikap wäre sie bestimmt längst verheiratet.« Vertraulich senkte sie die Stimme. »Es heißt, Frau Löbl sei heimlich in Dr. Baumann verliebt. Nun, die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist. Sie ahnen ja nicht, was allein in unserem Viertel so alles geklatscht wird.« Sie verdrehte die Augen. »Was soll’s? Ich habe jedenfalls Frau Löbl erst vor einigen Tagen mit einem Mann gesehen, bei dem es sich eindeutig nicht um Dr. Baumann gehandelt hat.«

Evelyn war froh, als Frau Becker endlich aufgerufen und ins Sprechzimmer von Frau Dr. Bertram gebeten wurde. Erleichtert lehnte sie sich zurück und blätterte in der Zeitschrift. Auch wenn sie es sich nicht gern eingestand, mit Leuten wie Frau Becker verlor sie leicht die Geduld. Sie haßte Klatsch und konnte auch nicht verstehen, daß es manchen Leuten schwerfiel, den Mund auch nur für fünf Minuten zu halten. Schon als Kind hatte sie es nicht gemocht, wenn jemand ununterbrochen auf sie eingesprochen hatte.

Es dauerte keine zehn Minuten, bis auch Evelyn an die Reihe kam. Dr. Baumann begrüßte sie überaus herzlich. Er hatte bisher nur Gutes über die junge Frau gehört. Amos Bach, der am Vortag bei ihm gewesen war, hatte ganz begeistert von ihr gesprochen. »Ich bin froh, daß Sie in das Haus von Herrn Bach gezogen sind«, sagte er. »Sie sind dem alten Mann eine große Hilfe.«

»Ich habe ihn sehr gern«, erwiderte sie. »Er erinnert mich an meinen verstorbenen Großvater.«

»Und es gibt noch jemanden, der wahre Lobeshymnen auf Sie gesungen hat«, meinte Eric und bot ihr Platz an. »Wie es aussieht, haben Sie großen Eindruck auf Herrn Mangold gemacht.«

Evelyn errötete. »Herr Bach und Herr Mangold kennen mich noch nicht sehr lange«, wehrte sie ab. »Ich bin nicht der Engel, für den sie mich anscheinend halten.«

»Mag sein, doch Sie haben das Herz auf dem rechten Fleck«,

antwortete Dr. Baumann und fragte sie nach ihren Beschwerden.

Evelyn sprach von ihren Leibschmerzen, verschwieg ihm jedoch nicht, daß sie schon bei verschiedenen Ärzten gewesen war und den Eindruck gewonnen hatte, für eine Hypochonderin gehalten zu werden.

»Das hat nichts zu bedeuten.« Eric stellte oft fest, daß einige seiner Kollegen, wenn sie nicht mehr weiter wußten, zu schnell bereit waren, einen Patienten als Hypochonder abzustempeln. »Bitte, machen Sie sich frei«, bat er, nachdem er ihre persönlichen Daten und ihre Krankengeschichte aufgenommen hatte, und wies auf die Untersuchungsliege, die auf der anderen Seite des Raumes stand.

Dr. Baumann tastete den Leib der jungen Frau gründlich ab und konnte dabei keine Abnormalitäten feststellen. Aber das besagte noch gar nichts. »Können Sie am Montag zur Blutabnahme und zu einer Ultraschalluntersuchung kommen?« fragte er, als sie sich wieder am Schreibtisch gegenüber saßen. »Verlassen Sie sich darauf, wir werden nicht eher ruhen, bis wir herausgefunden haben, was Ihnen fehlt.«

Evelyn atmete erleichtert auf. »Noch vor einigen Tagen fragte ich mich, ob ich nicht vielleicht aus einer Mücke einen Elefanten mache und es psychische Gründe für meine Leibschmerzen gibt«, gestand sie. »Aber mein Leben gefällt mir. Ich habe keinen Grund, mich in eine Krankheit zu flüchten.«

»Und mit Ihrer Arbeit ist auch alles in Ordnung?«

»Ja, ich kann mich wirklich nicht beklagen.«

»Ein guter Freund von mir, Dr. Hellwert, arbeitet auch in der Privatklinik von Dr. Hauser«, sagte Eric.

»Ich habe ihn inzwischen kennengelernt. Er ist ein wirklich netter Mann«, meinte Evelyn. »Dr. Hellwert gehört zu den Leuten, mit denen man auch einmal scherzen kann.«

Noch vor einigen Monaten hatte es ausgesehen, als würde Martin Hellwert nie wieder seinen früheren Humor zurückgewinnen, doch seit er Mara kannte, gelang es ihm langsam, darüber hinwegzukommen, was ihm seine erste Frau angetan hatte. Dr. Baumann war sehr froh darüber. Er hatte sich lange Zeit große Sorgen um seinen Freund gemacht, zumal Martin in seinem Haß und seiner Verbitterung oft zu weit gegangen war.

Eric brachte Evelyn zu Aufnahme und kehrte in sein Sprechzimmer zurück, um den letzten Patienten an diesem Tag zu empfangen, doch noch bevor er Tina bitten konnte, Herrn Reichelt aufzurufen, kam Franziska Löbl zu ihm.

»Hast du einen Moment Zeit?« fragte die Krankengymnastin schriftlich.

»Für dich immer.« Er wies auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand.

Franziska setzte sich. »Ich wollte dich nur fragen, ob du Lust hast, den Sonntag auf unserem Hof zu verbringen«, schrieb sie. »Erst gestern meinte mein Vater, er hätte schon ewig nicht mehr mit dir Schach gespielt.«

Eric hatte am Sonntag noch nichts vor. »Ich komme gern«, erwiderte er. »Wir könnten gemeinsam den Gottesdienst besuchen und danach zu euch fahren.«

»Eine gute Idee.«

»Wird dein Freund auch da sein?«

Franziska nickte. »Ja, ich habe Manfred eingeladen, auch wenn mein Vater und Paul etwas gegen ihn haben.« Ihr Stift huschte über das Papier. »Sie sollten endlich akzeptieren, daß ich volljährig bin und nicht daran denke, mich wie ein Kind gängeln zu lassen.« Die junge Frau schaute flüchtig auf und fügte noch hinzu: »Ich bin überzeugt, daß dir Manfred auch gefallen wird. Bis jetzt hast du ihn ja nur einmal flüchtig gesehen.«

»Es wird auf jeden Fall Zeit, daß ich deinen Freund endlich kennenlerne«, meinte der Arzt. Von Anton Löbl hatte er nicht viel Gutes über den jungen Mann gehört, was allerdings nicht allzuviel zu besagen hatte, weil der Bauer Manfred Kessler als zukünftigen Schwiegersohn von vornherein ablehnte.

Es enttäuschte Franziska, daß Eric nach wie vor nicht die geringste Eifersucht zeigte, dann sagte sie sich, daß es irrsinnig war, überhaupt darauf zu hoffen. Eric sah in ihr ja nur eine gute Freundin. »Meine Tante hat versprochen, eines deiner Lieblingsgerichte zu kochen«, verriet sie.

»Schon ein Grund mehr, den Sonntag bei euch zu verbringen«, scherzte er.

Franziska stand auf, winkte ihm flüchtig zu und verließ das Zimmer. Aufseufzend schaute ihr Dr. Baumann nach. So gern er die junge Frau hatte, es bedrückte ihn, daß sie selbst jetzt noch versuchte, ihn eifersüchtig zu machen. Er befürchtete, daß sie sich womöglich nur mit Manfred Kessler einließ, weil sie einen Ersatz für ihn suchte.

Obwohl sich Eric vorgenommen hatte, Ireen Kelligan zu vergessen, öffnete er die unterste Schublade seines Schreibtisches und nahm das Foto der jungen Sängerin heraus. Es verging kaum ein Tag, an dem er nicht an Ireen dachte und glaubte, ihre Stimme zu hören. Seit sie ihn verlassen hatte, fühlte er sich verloren.

Zärtlich berührte er mit den Fingerspitzen Ireens Gesicht, dann riß er sich zusammen, ließ das Foto wieder in der Schublade verschwinden und bat seine Sprechstundenhilfe, Hannes Reichelt hereinzuschicken.

*

Evelyn Maurer stand am Küchenfenster und blickte auf die Straße hinaus. Es war Samstag. Sie hatte den Vormittag mit Einkaufen verbracht, eine Kleinigkeit gegessen und überlegte jetzt, ob sie einen Ausflug nach Kreuth machen sollte, um sich dort ein bißchen umzusehen.

Amos Bach kehrte mit Nero von einem Spaziergang zurück. Kurz darauf hielt der Wagen Jürgen Mangolds vor dem Haus. Evelyn winkte dem jungen Mann zu und ging in ihr Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Sie streifte sich eben ein neues T-Shirt über den Kopf, als es klingelte. »Einen Moment bitte!« rief sie und fuhr mit dem Kamm durch ihre Haare.

»Störe ich?« fragte Jürgen Mangold, nachdem sie ihm die Tür geöffnet hatte.

»Sie stören niemals«, behauptete sie.

»So etwas hört man gern«, meinte er. »Herr Bach und ich wollen einen Ausflug machen. Haben Sie Lust mitzukommen?«

»Sehr gern«, erwiderte die junge Frau spontan. »Wo soll es denn hingehen?«

»Richtung Althof-Mühle«, sagte Jürgen. »In zwanzig Minuten brechen wir auf.« Er wandte sich der Treppe zu.

»Ich werde fertig sein«, versprach sie und schloß die Wohnungstür.

Evelyn war noch nie bei der Althof-Mühle gewesen, aber schon, als sie auf den Parkplatz in ihrer Nähe hielten, hatte sie das Gefühl, als würde sie den Weg kennen, der durch den Wald zur Ruine führte. Alles war ihr so vertraut, daß sie versucht war, die Augen zu schließen und nur ihrem Instinkt zu folgen. Sie war sich sicher, selbst mit geschlossenen Augen auf dem Weg zur Mühle nicht ein einziges Mal zu stolpern.

Je näher sie der Lichtung kamen, auf der die Ruine der Mühle stand, um so vertrauter wurde der jungen Frau die Umgebung. Sie hätte gern mit den beiden Männern darüber gesprochen, befürchtete jedoch, sie könnten glauben, daß sie sich nur wichtig machen wollte. Alle paar Schritte blieb sie stehen und schaute sich um. Jeder einzelne Baum schien ihr ein Willkommen entgegenzurufen.

»Etwa dreihundert Meter oberhalb der Mühle gibt es seit einem Jahr einen Picknickplatz«, sagte Jürgen. »Er liegt sehr idyllisch und wenn man Glück hat, kommen ein paar neugierige Eichhörnchen, um Futter zu erbetteln.«

Evelyn hörte seine Stimme nur wie aus weiter Ferne. Gebannt starrte sie zu den teilweise von Schlingpflanzen und wilden Blumen überwucherten Mauern der Ruine, die vor ihnen auftauchte, und machte ein paar Schritte auf sie zu. Ihr Blick fiel auf das zerbrochene Mühlrad. Es lag neben dem ausgetrockneten Bach, der es früher betrieben hatte. Sekundenlang verschwamm die Umgebung vor ihren Augen. Die junge Frau hörte entsetzliche Schreie und wieder dieses rauhe Lachen, das sie schon einmal vernommen hatte. Entsetzt hielt sie sich die Ohren zu. »Nein«, stammelte sie, »nein.« Taumelnd wich sie zurück.

»Was haben Sie denn?« fragte Jürgen erschrocken und griff nach ihrem Arm.

»Fehlt Ihnen etwas, Frau Maurer?« fragte Amos Bach. »Fühlen Sie sich nicht wohl?« Geistesabwesend strich er über Neros Rücken.

Evelyn schüttelte den Kopf, um ihn klarzubekommen. »Mit mir ist alles in Ordnung«, versicherte sie. »Ich…« Sie holte tief Luft. »Nein, es ist nichts in Ordnung«, gestand sie dann. »Seit ich in Tegernsee bin, habe ich das Gefühl, früher in dieser Gegend gelebt zu haben. Eben hörte ich laut Menschen um Hilfe schreien. Es war entsetzlich.«

»Das ist seltsam.« Jürgen sah sie forschend an. »Sehr seltsam sogar.«

»Hat Ihnen jemand die schreckliche Geschichte erzählt, die hier passiert ist?« fragte Bach. Er stützte sich schwer auf seinen Stock.

»Nein, bis heute habe ich noch nie von der Mühle gehört«, antwortete Evelyn. Sie empfand mit einem Mal eine unendliche Traurigkeit.

»Sieht aus, als hätten Sie ein außergewöhnliches Wahrnehmungsvermögen«, meinte der Blinde. »Vor etwa zweihundert Jahren trocknete der Bach aus, der die Mühle betrieb. Man riß sie nicht ab, sondern vermietete sie an einen reichen Stoffhändler aus München, der mit seinem unheilbar kranken Sohn oft den ganzen Sommer hier verbrachte. Seine Frau und seine Tochter besuchten ihn nur selten. Vermutlich ist die Ehe nicht besonders glücklich gewesen. Als seine Frau eines Tages wieder zu Besuch kam, fand sie ihren Mann, den Sohn und die Dienstmagd, die beide betreut hatte, mit durchschnittenen Kehlen im Wohnzimmer.«

Evelyn trat ein Stückchen näher an die Mühle heran. Zögernd streckte sie die Hand aus und berührte die mit Balken verrammelte Eingangstür. Sie schloß die Augen und sah einige verwildert wirkende Männer eine Treppe hinunterstürzen. »Sie haben nach dem Schatz gesucht«, flüsterte sie heiser. »Wenn…« Erschrocken trat sie zurück. »Was sage ich da?« fragte sie und sah Jürgen bestürzt an. »Wie komme ich auf so verrückte Ideen.«

»Nach welchem Schatz haben sie gesucht?« fragte Jürgen und legte die Hände auf ihre Schultern. »Sind Sie sich sicher, wirklich nie von der Mühle gehört zu haben?« Er wußte nicht recht, ob er Evelyn glauben sollte, sagte sich jedoch auch, daß die junge Frau keine Veranlassung hatte, sie anzulügen.

»Nein, wirklich noch nie«, versicherte sie.

»Der Überlieferung nach soll es in der Ruine tatsächlich einen Schatz geben«, antwortete Jürgen. Er wies auf die mit dicken Balken verrammelten Fenster und Türen. »Generationen von Kindern haben bereits nach diesem Schatz gesucht. Einige von ihnen sind dabei verunglückt.«

»Sie scheinen hellsichtig zu sein, Frau Maurer«, meinte Amos Bach. In seiner Stimme schwang Bewunderung. »Das ist nichts Schlimmes. Ich gehe jede Wette ein, daß viele Menschen Sie um diese Gabe beneiden.«

»Wenn ich tatsächlich hellsichtig bin, habe ich erst in Tegernsee etwas davon gemerkt«, sagte Evelyn bedrückt. »Und um ehrlich zu sein, ich könnte gern darauf verzichten.« Sie warf einen letzten Blick auf die Ruine. »Gehen wir lieber weiter. Dieser Ort hat etwas Unheimliches an sich und macht mir Angst.«

Auf dem Weg zum Picknickplatz erzählte Amos Bach, daß er in seiner Jugend auch nach dem angeblichen Schatz gesucht hatte. »Die fünf Männer, die den Stoffhändler, seinen Sohn und die Dienstmagd ermordet haben, wurden schon bald darauf gefaßt«, fuhr er fort. »Sie behaupteten, der Stoffhändler sei der Kopf ihrer Räuberbande gewesen und hätte das gestohlene Gut in der Mühle versteckt, sich dann jedoch geweigert, mit ihnen zu teilen. Wieviel an dieser Geschichte wahr ist, weiß man bis heute nicht.«

»Auf jeden Fall regt sie die Phantasie an und wird noch jahrzehntelang den Kindern als Alibi für ihre Schatzsuche dienen«, meinte Jürgen.

Trotz ihres Erlebnisses bei der Mühle wurde es auch für Evelyn ein schöner Ausflug. Sie fühlte sich ausgesprochen wohl in der Gesellschaft der beiden Männer. Jeder von ihnen zeigte ihr auf seine Weise, wie sehr er sie schätzte.

Als sie den Picknickplatz erreichten, wollte sich Amos Bach etwas ausruhen. Er setzte sich auf eine der Bänke und forderte Jürgen auf, der jungen Frau den kleinen See zu zeigen, der rund hundert Meter weiter versteckt zwischen den Bäumen lag.

Evelyn blieb nach einigen Schritten stehen und schaute zurück. Bach hatte sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Seine Finger strichen zärtlich durch Neros Fell, der vertrauensvoll seinen Kopf in den Schoß des alten Mannes gelegt hatte. Das Bild wirkte so rührend, daß ihr ganz eigenartig zumute wurde.

»Herr Bach wird sich bald von Nero trennen müssen«, sagte Jürgen bedeutend.

»Warum denn das?« fragte sie bestürzt.

»Neros Aufmerksamkeit läßt erheblich nach. Mit seinen zwölf Jahren ist er einfach zu alt, um noch diensttauglich zu sein.«

»Aber man kann doch die beiden nicht trennen. Sie brauchen einander.« Evelyn blickte erneut zurück. »Nein, Herr Mangold, das ist unmöglich. Es würde ihnen das Herz brechen.«

»Leider gibt es keinen anderen Weg«, antwortete Jürgen bekümmert. »Ich habe schon mehrmals versucht, mit Herrn Bach darüber zu sprechen. Er will nicht einsehen, daß er einen neuen Blindenhund braucht. Wir stehen sehr oft vor diesem Problem, und es ist jedesmal sehr schmerzlich, wenn sich ein blinder Mensch von seinem Hund trennen muß, weil dieser seiner Aufgabe nicht mehr gerecht wird. Natürlich bemühen wir uns, für die Hunde die optimale Familie zu finden, bei der sie ihren Lebensabend verbringen können.«

»Nero könnte trotzdem im Haus bleiben«, wandte Evelyn ein. »Ich würde gern für ihn sorgen. Es würde mir nichts ausmachen, mittags nach Hause zu fahren, um mit ihm spazierenzugehen.«

Jürgen legte den Arm um sie. »Das wäre eine fabelhafte Lösung, nur leider ist sie nicht akzeptabel«, antwortete er. »Es wäre weder für Herrn Bach noch für den neuen Hund gut, wenn Nero im Haus bleiben würde. Nein, die einzige Lösung ist es, für Nero eine neue Familie zu suchen. Und das ist nicht allzu schwer. So einen netten Kerl wie ihn bringt man schnell unter.«

Die jungen Leute gingen langsam weiter. Schon nach wenigen Minuten erreichten sie den kleinen See. Die verschiedensten Wasserpflanzen bedeckten einen großen Teil seiner Oberfläche. Libellen, Mücken, Fliegen und andere Insekten flogen kreuz und quer über ihn hinweg und schienen miteinander fangen zu spielen. Auf dem Blatt einer Seerose entdeckten sie sogar einen Frosch, der dort auf die nächste Mahlzeit wartete.

»Wie ruhig und friedlich es hier ist«, meinte Evelyn.

»Ja, weil der Mensch noch nicht eingegriffen hat«, sagte Jürgen und fragte ohne jeden Zusammenhang: »Haben Sie Lust, mit mir am Dienstag ins Kino zu gehen?«

»Gern«, antwortete sie und machte erst gar nicht den Versuch, ihm nicht zu zeigen, wie sehr sie sich über seine Einladung freute.

»Als hätte ich nicht geahnt, daß Sie ein gutes Herz haben und einem alten Mann nichts abschlagen können«, scherzte er vergnügt.

»Ja, ich habe heute meinen sozialen Tag«, konterte sie.

Der junge Mann zog sie impulsiv an sich. »Sieht aus, als hätten wir uns gesucht und gefunden«, meinte er. »Ich wußte vom ersten Augenblick an, daß man mit Ihnen Pferde stehlen kann.«

»Solange Sie es nicht zu wörtlich nehmen, bin ich zu jeder Schandtat bereit«, erklärte Evelyn und schaute ihm lachend in die Augen.

*

Dr. Baumann nahm am Sonntagvormittag mit seinen Freunden vom Löblhof am Gottesdienst in der Katholischen Pfarrkirche von Tegernsee teil. Manfred lernte er bei dieser Gelegenheit allerdings noch nicht kennen. Der junge Mann hatte in aller Frühe auf dem Löblhof angerufen und gesagt, daß er mit einem Kollegen den Dienst tauschen mußte. Eric hielt es für eine Ausrede und war überzeugt, das Franziskas Freund nur keine Lust gehabt hatte, in die Kirche zu gehen. Da er wußte, wieviel Wert Anton Löbl auf den sonntäglichen Gottesdienstbesuch legte, war es nicht sehr klug von ihm gewesen, darauf zu verzichten.

Auch zum Mittagessen erschien Manfred Kessler nicht. Franziska wurde von Minute zu Minute nervöser. Da sie nicht sprechen konnte, hatte sie nicht einmal die Möglichkeit, ihn anzurufen. Am liebsten hätte ihr Eric angeboten, es für sie zu tun. Er befürchtete jedoch, damit ihren Stolz zu verletzten. Anscheinend war wirklich nicht viel Verlaß auf den jungen Mann. Wie es aussah, irrte sich Paul Walkhofer nicht und Manfred spielte nur mit Franziska.

Nach dem Mittagessen saßen Anton Löbl und Dr. Baumann in der Wohnstube bei einer Partie Schach. Eric spürte, daß sein väterlicher Freund sich an diesem Nachmittag nicht auf das Spiel konzentrieren konnte. Er machte unverzeihliche Fehler und verlor innerhalb kurzer Zeit die meisten seiner Spielsteine.

»Was bedrückt dich, Anton?« fragte er.

»Du meinst, außer der Tatsache, daß du dabei bist, mich bis aufs Hemd auszuziehen?« erkundigte sich der Bauer grimmig und schaute auf das Schachbrett. »Es sieht nicht aus, als wäre das heute mein Tag.«

»In der Tat nicht«, bestätigte Eric und rückte weiter auf Antons König zu.

»Ich mache mir Sorgen um Franziska«, gestand Anton Löbl nach einer Weile aufseufzend und lehnte sich im Sessel zurück. »Glaubst du etwa, daß dieser Kerl heute morgen Dienst hatte? Er wollte sich nur davor drücken, mit uns in die Kirche zu gehen.« Er winkte ab. »Nun gut, das ist seine Angelegenheit. Ich finde es nur unfair gegenüber meiner Tochter, und es zeigt mir, daß auf ihn kein Verlaß ist. Paul hat sicher hundertprozentig recht. Dieser Mann ist ein Hans Dampf in allen Gassen. Wäre er nur niemals auf unseren Hof gekommen.«

»Und wenn Herr Kessler heute morgen doch Dienst hatte?« fragte Eric, wenngleich er es nicht glauben konnte. »Womöglich tun wir ihm unrecht, und aus dir sprechen nur die Eifersucht und der Wunsch, daß aus deiner Tochter und Paul vielleicht eines Tages trotz allem noch ein Paar wird.«

Sein Freund sah ihn lange an. »Stimmt, ich habe meinen Wunschtraum noch nicht aufgegeben, andererseits habe ich inzwischen jedoch erkannt, daß man nichts erzwingen kann. Davon abgesehen machen Magdalena und ich uns Sorgen, daß Paul aus seiner Liebe zu Franziska heraus an seinem Glück vorbeigehen könnte. Manchmal kommt es uns vor, als würde er vor lauter Bäumen keinen Wald mehr sehen. Langsam müßte er erkannt haben, daß es keinen Sinn hat, auf meine Tochter zu warten.« Anton Löbl starrte aus dem Fenster. »Ich habe mir immer Enkel aus meinem Fleisch und Blut gewünscht. Nun, es soll nicht sein. Außerdem ist Paul für mich wie ein eigener Sohn, und ich weiß auch, daß der Löblhof bei ihm in guten Händen sein wird.«

»Eines Tages wird Paul bestimmt die Richtige über den Weg laufen.«

»Hoffen wir es«, meinte der Bauer, »hoffen wir es.«

Paul Walkhofer betrat die Wohnstube. »Manfred ist vor zwei Minuten gekommen«, sagte er wütend und schlug mit der flachen Hand auf die Vitrine, die neben der Tür stand. »Ein Wort von dir, Onkel Anton, und ich jage ihn mit der Mistgabel zum Hoftor hinaus. Wie habe ich mich nur jemals mit diesem Menschen anfreunden können?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich…«

Franziska öffnete die Tür. Sie hatte sich umgezogen und trug nun eine grüne Hose und einen leichten, dazu passenden Pullover. Lächelnd winkte sie ihren Freund, der hinter ihr stand, in die Wohnstube, dann nahm sie seine Hand führte ihn zu Eric. »Manfred Kessler«, schrieb sie auf ihren Block.

»Freut mich, Sie endlich kennenzulernen, Dr. Baumann«, sagte Manfred mit einem gewinnenden Lächeln. »Franziska hat mir schon sehr viel von Ihnen erzählt.«

Dr. Baumann bot ihm die Hand. »Wie gefällt es Ihnen am Tegernsee, Herr Kessler?« fragte er.

»Bis jetzt ausgezeichnet. Ich könnte mir vorstellen, bis an das Ende meiner Tage hier zu leben.«

»Muß aber nicht sein«, bemerkte Anton Löbl bar jeder Freundlichkeit. »Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir Sie bereits heute vormittag erwartet, junger Mann.«

»Ich mußte den Dienst für einen Kollegen übernehmen.« Manfred wandte sich wieder an Dr. Baumann: »Vermutlich wissen Sie bereits, daß ich als Empfangschef im Hotel Sonnenwinkel arbeite?« Grinsend fügte er hinzu: »Bisher habe ich nur selten einen Arzt gebraucht, aber es ist gut zu wissen, daß es Sie gibt.« Er legte den Arm um die Taille seiner Freundin. »Nächsten Freitag gibt es abends im Hotel seine Show. Hätten Sie nicht Lust zu kommen?«

»Mal sehen«, erwiderte Eric diplomatisch.

»Wir werden ein Stückchen mit Artus spazierengehen«, schrieb Franziska. »Bis zum Kaffee sind wir zurück.«

»Warum begleitest du uns nicht, Paul?« erkundigte sich Manfred amüsiert. Er hatte längst erkannt und auch von Franziska erfahren, daß Paul etwas gegen ihre Beziehung hatte. Obwohl sie während ihrer Militärzeit befreundet gewesen waren, machte es ihm Spaß, den jungen Bauern zu reizen, zumal er sich denken konnte, daß ihn Paul momentan regelrecht haßte. Er wußte, wieviel Franziska seinem Freund bedeutete.

»Danke, ich verzichte«, erklärte der junge Bauer mit zornrotem Gesicht und verließ die Wohnstube. Gerade noch im letzten Moment konnte er sich beherrschen, sonst hätte er die Tür hinter sich zugeschmettert.

»Wir werden auch gehen«, meinte Manfred. »Bis später.« Er hakte Franziska unter und führte sie nach draußen. Kurz darauf hörten sie ihn nach Artus rufen.

»Na, was hältst du von diesem Kerl?« erkundigte sich Anton Löbl bei seinem Freund.

»Ich fälle nicht gern ein Urteil aus dem Stehgreif«, antwortete Dr. Baumann. Er wußte nicht recht, was er von dem jungen Mann halten sollte.

»Irgendeinen Eindruck mußt du doch gewonnen haben«, drängte der Bauer. »Du hast Augen im Kopf. Du…«

»Auf dem ersten Blick sieht es aus, als hätte sich Herr Kessler tatsächlich in Franziska verliebt.«

»Fragte sich nur, wie lange diese Liebe anhalten wird. Laut Paul gehört er zu den Männern, deren Interesse verlöscht sobald sie bekommen haben, worauf sie von Anfang an ausgewesen sind.« Anton Löbl stieß heftig den Atem aus. »Nun, wir müssen abwarten, was die Zukunft bringt, aber ich sehe schwarz, sehr schwarz,

Eric.«

»Hast du nicht schon oft sehr schwarz gesehen und dich geirrt?« fragte der Arzt und schlug seinem Freund auf die Schulter. »Der junge Mann könnte es trotz allem ehrlich mit Franziska meinen.«

Anton Löbl winkte ab. »Nein, Eric, nein, mein Gefühl sagt mir, daß ich mich nicht irre. Dieser Manfred Kessler ist nicht mehr als ein Wolf im Schafspelz, und vor solchen Leuten sollte man sich hüten.«

*

»Nun, was fehlt mir, Dr. Baumann?« fragte Evelyn Maurer, als sie dem Arzt gegenüber saß, um mit ihm die Ergebnisse seiner Untersuchungen zu besprechen.

»In Ihrem Körper haben sich drei verschiedene Pilze angesiedelt und im Darmbereich festgesetzt«, erwiderte Dr. Baumann. »Als Sie mir die Beschwerden schilderten, hatte ich sofort den vagen Verdacht, daß es sich um eine Pilzinfektion handeln könnte und habe Ihre Stuhlprobe und Ihr Blut auch daraufhin untersuchen lassen.«

»Und Sie meinen, meine sporadischen Leibschmerzen hängen damit zusammen?« fragte Evelyn skeptisch. »Warum ist keiner Ihrer Kollegen darauf gekommen, daß es sich um eine Pilzinfektion handeln könnte?«

»Weil keiner von ihnen an Pilze gedacht haben wird. Diese Infektionen sind sehr heimtückisch. Sie bleiben lange Zeit im Verborgenen, bevor sie mit offensichtlichen Beschwerden auf sich aufmerksam machen.«

Evelyn hatte während ihres Studiums auch einiges über Pilzinfektionen gelernt und wußte, daß manche Pilzarten einen Körper völlig zerstören konnten. Trotzdem war ihr nie der Verdacht gekommen, sie könnte selbst Pilze haben. »Ich nehme an, daß ich während der nächsten Zeit diät leben muß«, meinte sie.

»Ja, ich muß Ihnen leider eine strikte Pilzdiät verordnen. Außerdem verschreibe ich Ihnen Medikamente, die massiv den Pilzen zuleibe rücken.« Eric beugte sich ihr leicht zu. »Es wird nicht immer einfach für Sie sein, diese Diät auch einzuhalten. Sie ist mit vielen Einschränkungen verbunden. Aber wenn Sie geheilt werden wollen, bleibt Ihnen nichts anderes übrig als mitzuarbeiten, damit wir die Sache in den Griff bekommen.«

»Sie können sich auf mich verlassen«, versprach Evelyn. »Ich habe keine Lust, diese Leibschmerzen mein Leben lang zu ertragen.« Sie atmete tief durch. »Danke, Dr. Baumann, nun weiß ich wenigstens, was mir fehlt. Mit einer genauen Diagnose läßt es sich bedeutend leichter leben als mit der Angst, ernstlich krank zu sein.«

Eric schrieb ein Rezept aus und gab ihr ein schmales Buch, in dem genau verzeichnet war, was sie während der nächsten Wochen essen durfte und was nicht. »Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, scheuen Sie sich nicht anzurufen.« Er reichte ihr die Hand. »Wir sehen uns in zwei Wochen wieder, Frau Maurer.«

»Einverstanden, ich lasse mir gleich einen Termin geben«, sagte Evelyn. »Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Herr Bach läßt Sie grüßen.« Sie erzählte ihm von dem Ausflug zur Althof-Mühle, verschwieg ihm jedoch die Schreie, die sie gehört hatte, und sie sprach auch nicht von jenem sonderbaren Gefühl, früher einmal in Tegernsee gelebt zu haben.

Als die junge Frau nach Hause kam, stand Jürgens Wagen in der Auffahrt. Statt sich darüber zu freuen, empfand sie Angst. Ihr Instinkt sagte ihr, daß etwas passiert sein mußte. Deshalb stieg sie auch nicht sofort die Treppe hinauf, sondern klingelte an der Wohnungstür ihres Vermieters.

Nero bellte nur kurz auf. Gleich darauf öffnete ihr Jürgen. Sie hatte ihn noch nie so ernst und besorgt gesehen. »Gut, daß Sie schon da sind, Frau Maurer«, meinte er. »Ich brauche Ihre Hilfe. Herr Bach ist völlig verzweifelt. Als er und Nero heute nachmittag spazierengegangen sind, wäre er fast in einen offenen Kanalschacht gestürzt. Nero muß den Schacht übersehen haben.« Er strich sich mit einer Hand durch die Haare. »Man kann Nero nicht einmal einen Vorwurf machen. Er ist einfach zu alt für seinen Dienst. Sein Reaktionsvermögen hat sehr nachgelassen.«

Evelyn spürte, wie sich auf ihren Armen eine Gänsehaut bildete. »Kein Wunder, daß Herr Bach verzweifelt ist«, meinte sie bestürzt. »Immerhin weiß er nur zu gut, was das bedeutet.« Sie konnte sich nicht vorstellen, wie der alte Mann mit der Trennung von Nero fertigwerden sollte. Auch für Nero tat es ihr leid. Die beiden waren ein Herz und eine Seele. Er würde die Welt nicht mehr verstehen, wenn man ihn von seinem Herrchen trennte.

»Frau Becker hat Herrn Bach davor bewahrt, in den Schacht zu stürzen. Sie sagte mir, daß sie von einem Spaziergang mit Harvard gekommen sei, als dieser plötzlich entsetzt aufgebellt hätte. Sie hat Herrn Bach noch im letzten Moment zurufen können, sofort stehenzubleiben. Gott sei Dank, hat er sofort reagiert.«

»Ich nehme an, sie hat Ihre Dienststelle angerufen.«

»Ja. Zuerst hat sie jedoch Herrn Bach und Nero nach Hause gebracht.« Jürgen legte eine Hand auf Evelyns Schultern. »Versuchen Sie, ihm ein bißchen Mut zu machen.«

»Ich werde tun, was ich kann«, versprach Evelyn, »nur ich glaube nicht, daß es viel Erfolg haben wird. Wie ich Herrn Bach inzwischen kenne, wird er daran zerbrechen, wenn er Nero hergeben muß.« Niedergeschlagen ging sie ins Wohnzimmer.

Der alte Mann saß zusammengesunken in einem Sessel. Er weinte und strich ununterbrochen über den Kopf seines Hundes, der neben ihm hockte und leise winselte. Nero wirkte wie ein Häufchen Elend, so, als würde er verstehen, daß man sie trennen wollte.

Evelyn trat an den Sessel. »Es tut mir so leid«, sagte sie und berührte sanft Amos’ Hand. »Ich kann Ihren Schmerz sehr gut verstehen.«

Amos Bach reagierte nicht. Die junge Frau war sich nicht einmal sicher, ob er ihre Gegenwart überhaupt wahrnahm. »Warum bringt man mich nicht gleich um?« fragte er unvermutet. »Warum muß sich diese dumme Person in alles einmischen? Hätte sie mich doch in den Gully stürzen lassen. Was kümmert sie mein Leben?«

Evelyn überlegte, was sie erwidern konnte. Noch nie hatte sie sich so absolut hilflos gefühlt.

Jürgen Mangold kam aus der Küche. Er hielt ein Glas in der Hand. »Bitte, trinken Sie das, Herr Bach«, bat er und wollte dem alten Mann das Glas in die Hand drücken, aber dieser weigerte sich, es entgegenzunehmen.

»Was ist das?« fragte er.

»Ein leichtes Beruhigungsmittel«, antwortete Jürgen. »Bitte trinken Sie es. Es wird Ihnen guttun.«

Amos gab seinen Widerstand auf. »Zu was lebe ich überhaupt noch?« fragte er mit brüchiger Stimme und nahm das Glas. »Ich wünschte, man hätte mir vor zwanzig Jahren nicht das Leben gerettet, dann wäre jetzt alles vorbei.«

»Herr Bach, ich weiß, es ist für Sie kein Trost, doch Sie können sich darauf verlassen, daß Nero nur zu einer Familie kommt, bei der er es auch gut haben wird«, versicherte Jürgen. »Meinen Sie nicht, daß er es verdient hätte, etwas auszuruhen?« Er strich dem alten Mann über die Haare. »Wir haben Nero alle gern. Ich wünschte, es würde eine andere Lösung geben.«

Amos gab ihm keine Antwort. Er leerte das Glas und schloß die Augen. »Bitte, laßt mich allein«, bat er. »Laßt mich und Nero allein. Wir brauchen niemanden außer uns.«

»Ich bin in der Küche«, sagte Jürgen und nahm ihm das Glas ab. »Kommen Sie, Frau Maurer.« Er griff den Arm der jungen Frau und führte sie nach draußen.

Evelyn wechselte noch ein paar Worte mit ihm, dann ging sie in ihre Wohnung hinauf, um das Pilzbuch durchzulesen, das ihr Dr. Baumann gegeben hatte. Im Moment konnte sie Jürgen ohnehin nicht helfen, doch mit den Gedanken war sie bei Amos Bach und Nero. Sie fühlte sich so elend, daß sie am liebsten geweint hätte. Verzweifelt überlegte sie, was sie tun konnte, damit sich Herr Bach nicht von seinem Hund trennen mußte.

Die junge Frau hatte noch keine Lösung gefunden, als Jürgen Mangold klingelte. Es war halb zehn, und er sagte ihr, daß Herr Bach inzwischen eingeschlafen war und Nero vor seinem Bett lag. »Ich bin noch mit Nero draußen gewesen. Er hatte keine Lust, sehr weit zu gehen. Es sieht aus, als würde er ahnen, daß seine Welt nicht mehr in Ordnung ist.«

»Davon bin ich überzeugt«, meinte Evelyn. »Tiere haben ein sehr feines Gespür für solche Dinge.« Sie lud Jürgen zu einer Tasse Tee ein.

Schweigend saßen sie sich im Wohnzimmer gegenüber. Ihre Gedanken kreisten um den alten Mann und Nero. »Schade, daß es keine Wunder mehr gibt«, meinte Jürgen nach einer Weile. »Könnte nicht eine Fee auftauchen und nach unseren Wünschen fragen?«

»Kümmern Sie sich um all Ihre Schutzbefohlenen so intensiv?« erkundigte sich Evelyn.

»Nein, das könnte ich gar nicht, doch es gibt Situationen, die es erfordern, daß man mehr tut als nur seinen Dienst.« Er griff nach seiner Tasse. »Als hätte ich geahnt, wie eilig es ist, habe ich mich bereits heute morgen nach einer Familie für Nero umgesehen. Ein Münchener Kollege hat mir geholfen. Die Familie, an die wir denken, lebt in einem eigenen Haus in einem Vorort, hat zwei halbwüchsige Kinder, und ihr Hund ist vor einem halben Jahr gestorben. Er ist sechzehn geworden, und wie man mir versichert hat, hatte er bei diesen Leuten den Himmel auf Erden. Sie wären bereit, einen alten Blindenhund aufzunehmen.«

»Und wann?«

»Sobald wie möglich, da es schon einen neuen Hund für Herrn Bach gibt. Eine reizende Labradorhündin namens Sita. Sie ist zwei Jahre alt, hat ihre Ausbildung als Blindenhund erfolgreich abgeschlossen und wartet nun auf ein Herrchen. Herr Bach könnte bereits nächste Woche mit ihr zusammen an einen Training teilnehmen, das sie miteinander vertraut machen wird.« Jürgen holte tief Luft. »Sie ahnen nicht, wie sehr ich es hasse, ihm diesen Schmerz zufügen zu müssen. Ich kann nur gut verstehen, daß er sich nicht von Nero trennen will. Ich…« Er vergrub sein Gesicht in den Händen.

Evelyn spürte, daß ihr der junge Mann nichts vormachte. Ihm ging diese Geschichte wirklich so nahe, daß er darüber fast selbst verzweifelte. Impulsiv legte sie eine Hand auf seine Schulter. »Ich werde dich nicht im Stich lassen, Jürgen«, sagte sie und bemerkte nicht einmal, daß sie ihn mit du und seinem Vornamen ansprach.

Er ließ die Hände sinken. »Danke«, antwortete er und zwang sich zu einem Lächeln, das ziemlich mißlang. »Danke, Evelyn. Nun ist mir nicht mehr so angst. Gemeinsam werden wir es schon schaffen, dem alten Herrn zu helfen.« Liebevoll sah er sie an. »Dich muß der Himmel nach Tegernsee geschickt haben, anders kann ich es mir nicht erklären.« Er beugte sich vor und küßte sie leicht auf sie Wange.

*

Franzl rannte zum Doktorhaus voraus. Kurz vor der Treppe blieb er stehen, hob den Kopf und zog genießerisch den Duft nach gebratenem Schinken und Eiern ein. »Wuw«, machte er, drehte sich zu seinem Herrchen um und scharrte ungeduldig mit der rechten Vorderpfote im Gras.

»Nur Geduld, Franzl«, meinte Dr. Baumann. »Was du da riechst, ist sowieso nicht dein Frühstück, sondern meines. Und glaube ja nicht, daß ich dir etwas abgeben werde.«

Franzl legte den Kopf schief und schaute zu seinem Herrchen auf. Seine Rute ging wie ein kleiner Propeller. Es war ihm anzumerken, daß er Eric nicht ein einziges Wort glaubte.

»Du bist schrecklich, Franzl«, stellte der Arzt einmal mehr fest und schloß die Haustür auf.

Sein Hund drängte sich an ihm vorbei und stürmte in die Küche. Laut begrüßte er Mara Bertram, die an diesem Morgen gekommen war, weil Eric Bereitschaftsdienst hatte, aber zu Amos Bach mußte, um ihm beizustehen.

Katharina Wittenberg hatte Franzls Napf bereits mit Dosenfutter gefüllt. »Schling nicht so«, mahnte sie, als sich der Hund heißhungrig über sein Futter hermachte.

»Diese Mahnung ist vergebliche Liebesmüh.« Eric reichte Mara die Hand. »Hoffentlich ist mir Martin nicht böse, weil ich dir deinen freien Tag nehme«, sagte er, als er sich an den Tisch setzte.

»Wir hatten nichts Besonderes vor.« Die junge Ärztin lächelte ihm ermutigend zu. »Mach dir keine Sorgen. Herr Bach ist im Moment wichtiger. Martin sieht das voll und ganz ein. Der arme Mann tut mir so leid.« Sie rührte in ihrem Kaffee. »Das Leben kann machmal verdammt hart sein.«

Noch immer kauend legte sich Franzl neben Maras Stuhl. Seine Schnauze schob er auf ihren rechten Fuß. Zufrieden schloß er die Augen. Was gab es Schöneres, als nach einem ausgiebigen Spaziergang und einem reichhaltigen Frühstück ein bißchen zu dösen und von der nächsten Mahlzeit zu träumen?

Mara schaute auf den Hund hinunter. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie große Angst vor Franzl gehabt, doch inzwischen wußte sie, daß es dazu keinen Grund gab. Sie kannte auch Nero und hatte ihn in den letzten Monaten liebgewonnen. Ihr war flau bei dem Gedanken, daß sich Herr Bach an diesem Morgen von ihn trennen mußte. »Ich wünschte, wir könnten ihm irgendwie helfen«, meinte sie aus ihren Gedanken heraus.

»Herr Bach muß völlig verzweifelt sein«, bemerkte Katharina. »Nero ist sein bester Freund. Ehrlich gesagt, ich begreife auch nicht, weshalb Nero nicht im Haus bleiben darf, wenn der neue Hund kommt.«

»Die Sache hat schon Sinn«, antwortete Eric. »Nero würde nicht begreifen, daß Sita jetzt seine Aufgaben übernimmt. Zwischen den beiden Hunden wäre ein ständiger Konkurrenzkampf, der Herrn Bach gefährden könnte. Außerdem würde er nicht einmal mit Hilfe Frau Maurers mit zwei Hunden fertig werden. Ihr dürft nicht vergessen, daß sie tagsüber nicht da ist.«

»Trotzdem ist es ein großes Glück, daß sie bei ihm wohnt«, warf Mara ein. »Ich habe zwar die junge Frau noch nicht näher kennengelernt, weiß jedoch von Martin, wie nett sie ist. Er ist ganz begeistert von ihr.«

»Eifersüchtig?« neckte Eric.

»Ich habe keinen Grund, auf sie eifersüchtig zu sein«, erwiderte die Ärztin. Sie dachte an Tamara Kern. Wenn Martin von der Psychologin sprach, klang das ganz anders als von Evelyn Maurer. Nach wie vor war sie sich nicht sicher, ob es nicht mehr als Bewunderung war, was er für Frau Dr. Kern empfand.

Dr. Baumann beeilte sich mit seinem Frühstück und fuhr in den Hyazinthenweg. Unweit von Jürgens Wagen hielt er am Straßenrand. »Wo sind die anderen?« fragte er, als er den jungen

Mann allein in der Wohnung antraf.

»Evelyn ist mit Herrn Bach und Nero spazierengegangen«, antwortete Jürgen. »Eigentlich wollte Herr Bach allein gehen, aber wir haben uns Sorgen gemacht. Er ist so verzweifelt, daß man nicht wissen kann, auf was für Gedanken er kommt. Immerhin ist es sein letzter Spaziergang mit Nero.«

»Ja, es ist wirklich besser, es ist jemand bei ihm«, meinte Eric und schaute aus dem Fenster, weil er es nicht fertigbrachte, auf den großen Karton mit Neros Sachen zu sehen, die Jürgen zusammengepackt hatte.

»Es gibt Tage, die würde ich am liebsten aus dem Kalender streichen«, meinte Jürgen. »Auch wenn ich weiß, daß die Familie, zu der Nero kommt, alle Voraussetzungen erfüllt, es wird für beide entsetzlich sein.« Er griff nach dem Karton, um ihn zum Wagen zu bringen. »Danke, daß Sie gekommen sind. Wenn Herr Bach einen Zusammenbruch erleidet, sind Sie wenigstens bei ihm.«

»Wir können Herrn Bach nicht vierundzwanzig Stunden am Tag überwachen«, wandte Eric ein. »Wer sagt uns, daß er in seiner Verzweiflung nicht versucht, heute nacht seinem Leben ein Ende zu setzen?«

»Heute nacht bleibe ich wieder hier.« Jürgen trat neben Eric ans Fenster und schaute die Straße hinunter. Er sah, wie seine Freundin mit dem alten Herrn und Nero vom See her kam. »Ich werde erst aufatmen können, wenn ich Herrn Bach morgen ins Trainingszentrum gebracht habe und andere die Verantwortung für ihn übernehmen. Außerdem kann er dort etwas Abstand gewinnen. Er wird auch keine Zeit haben, sehr lange seinen Gedanken nachzuhängen. Sita wird ununterbrochen um ihn sein. Sie wird schon dafür sorgen, daß er beschäftigt ist.«

Evelyn wünschte sich, der Heimweg würde nie ein Ende nehmen. Während sie langsam neben Amos Bach und Nero herging, dachte sie daran, wie sie die beiden in der Tür hatte stehen sehen, als sie ihnen zum ersten Mal begegnet war. Es war noch keine vier Wochen her, dennoch erschien es ihr wie eine Ewigkeit. Sie hatte Nero gern und wußte, sie würde ihn vermissen. Um wieviel schwerer mußte erst Amos Bach der Abschied von seinem Hund werden! Sie hatte Angst um den alten Mann und sie war wütend auf sich selbst, weil es ihr nicht gelungen war, eine Lösung zu finden, die es ermöglicht hätte, die beiden nicht zu trennen. Während das ganzen Spazierganges hatte Amos Bach nicht ein einziges Wort gesprochen. Wie sollte es nur weitergehen?

Jürgen Mangold und Dr. Baumann kamen ihnen entgegen. »Ich habe heute zufällig nichts zu tun und da dachte ich, daß ich ein wenig bei Ihnen bleiben könnte, Herr Bach«, meinte Eric, als er den alten Mann begrüßte. »Natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist.«

»Sie wollen bei mir bleiben, weil man Nero fortbringt«, antwortete Amos Bach dumpf. »Sie machen sich Sorgen um mich. Das ist lieb von Ihnen, Herr Doktor, nur um einen alten Mann wie mich sollten Sie sich nicht sorgen. Ich habe ohnehin nichts mehr auf der Welt verloren. Ich weiß nicht, weshalb ich überhaupt noch lebe.«

»So etwas sollten Sie nicht sagen, Herr Bach.« Eric berührte Amos’ Schulter. »Keiner weiß, was die Zukunft bringen wird und…«

»Sie wissen nicht, wie das ist, seit zwanzig Jahren weder Mond noch Sterne zu sehen und nur die Strahlen der Sonne auf der Haut zu spüren.« Amos Bach hob sein Gesicht dem Himmel entgegen. »Alles um mich herum hat nur noch in meiner Erinnerung Formen und Farben. Vor mir könnte sich ein Abgrund auftun, ohne Hund würde ich davon nichts bemerken.« Der alte Mann beugte sich zu Nero hinunter und strich ihm über den Kopf. »Er ist in der vergangenen Jahren mein Augenlicht gewesen. Er hat mich sicher überall hingeführt. Und was ist der Dank für ihn? Ich lasse es zu, daß man uns trennt.«

»Sie müssen sich deshalb nicht schuldig fühlen, Herr Bach.« Eric nahm Amos’ Arm. »Nero wird es gut haben. Seine neue Familie freut sich schon auf ihn.«

Amos gab ihm keine Antwort. Wortlos ging er neben ihm her und umklammerte Neros Führungsleine so fest, als wollte er sie nicht mehr loslassen. Erst als sie das Haus erreicht hatten, sagte er: »Ich möchte noch ein paar Minuten mit Nero allein sein. Ich hoffe, es hat keiner etwas dagegen.«

»Nein, gehen Sie nur, Herr Bach.« Jürgen gab ihm die Hundeschokolade, die er besorgt hatte.

Amos ging mit Nero in den Garten. Sie hörten, wie er leise auf ihn einsprach, konnten jedoch kein Wort verstehen. Aus der Ferne sahen sie, daß Nero von der Schokolade nichts wissen wollte. Immer wieder stieß er mit dem Kopf gegen Amos’ Bein. Plötzlich begann er leise zu winseln.

Der alte Mann richtete sich auf. »Du mußt gehen, Nero«, meinte er. »Es hilft nichts, das Ganze hinauszuzögern. Außerdem wartet Herr Mangold, und deine neue Familie kann es sicher kaum noch abwarten, dich in Empfang zu nehmen. Mach mir keine Schande. Und wenn du uns beiden einen Gefallen tun willst, vergiß mich ganz schnell. Es hat keinen Sinn, in der Vergangenheit zu leben.« Entschlossen kehrte er mit Nero zu den anderen zurück. »Ich würde gern sein Geschirr behalten«, wandte er sich an Jürgen.

»Das ist in Ordnung, Herr Bach.« Jürgen nahm Nero das Geschirr ab und reichte es dem alten Mann.

»Sind Neros Sachen eingepackt?« wollte Amos wissen.

»Ja, sie sind in meinem Wagen.«

»Auf was warten Sie dann noch? Bringen Sie Nero endlich fort.« Amos klammerte sich an Evelyn. »Bitte, beeilen Sie sich.«

»Komm, Nero.« Jürgen öffnete die Fondtür seines Wagens. »Hinein mit dir.«

Nero drehte sich um. Er schaute zu seinem Herrchen, Dr. Baumann und Evelyn zurück. Die junge Frau winkte. Einen Moment lang sah es aus, als wollte er zu ihnen zurückkehren, dann stieg er in den Wagen und setzte sich auf den Rücksitz. Jürgen schlug hinter ihm die Fondtür zu.

»Fahren Sie vorsichtig, Herr Mangold!« rief Amos Bach. »Fahren Sie vorsichtig, damit ihm kein Leid geschieht.«

»Ich werde auf ihn aufpassen«, versicherte Jürgen, stieg in den Wagen und gab Gas. Nero starrte verloren aus dem Fenster.

»Am besten, wir gehen hinein«, schlug Dr. Baumann vor. »Kommen Sie, Herr Bach.«

Der alte Mann leistete keinen Wiederstand. Wortlos ging er zwischen Dr. Baumann und Evelyn in seine Wohnung. Mit einer Hand umklammerte er das Geschirr. »Ich kann mich noch an den Tag erinnern, an dem ich Nero bekommen habe«, sagte er, als er sich in seinen Sessel setzte. »Vom ersten Augenblick an sind wir Freunde gewesen. Wie hätte er auch wissen sollen, daß ich ihn eines Tages im Stich lassen werde.«

»Sie haben Nero nicht im Stich gelassen, Herr Bach«, versuchte Evelyn ihm begreiflich zu machen. »Es gab leider keinen anderen Weg. Vergessen Sie nicht, Nero wird es schön haben. Man wird ihn nach Strich und Faden verwöhnen.« Sie wußte selbst, daß ihre Worte ihm kein Trost sein konnten.

»Er wird nicht verstehen, daß ich nicht mehr bei ihm bin«, schluchzte der Blinde und fragte wieder verzweifelt, was sein Leben denn jetzt noch für einen Wert hatte.

Evelyn sah Dr. Baumann an. Sie wußten beide, daß sie dem alten Herrn im Grunde nicht helfen konnten. Sie konnten weiter nichts tun, als bei ihm zu bleiben und ihn wissen zu lassen, daß er Freunde hatte, die ihm zur Seite standen.

*

Mara Bertram schaute zufrieden über den gedeckten Tisch, dann blickte sie zur Uhr und stellte fest, daß es höchstens noch ein paar Minuten dauern konnte, bis Dr. Hellwert kam. Rasch ging sie in die Küche, um nach dem Essen zu sehen. Vorsichtig, um nicht ihr Kleid zu beschmutzen, schaute sie in den Backofen. Der Käse auf dem Gemüsegratin begann gerade zu schmelzen.

Es klingelte.

Die junge Ärztin eilte zur Wohnungstür und öffnete sie. »Pünktlich wie die Maurer«, bemerkte sie, als Martin vor ihr stand. Er hielt eine Hand hinter dem Rücken verborgen, aber der wundervolle Duft, der das ganze Treppenhaus erfüllte, verriet ihr bereits, daß er ihr Rosen mitgebracht hatte.

»So soll es sein«, meinte er und reichte ihr die Blumen.

»Womit habe ich denn das verdient?« fragte sie mit einem hinreißenden Lächeln und berührte vorsichtig eine der halb aufgeblühten Rosenknospen.

»Allein schon dafür, daß es dich gibt.« Er zog sie an sich. »Ich habe mich den ganzen Tag auf den Abend mit dir gefreut, Mara. Du ahnst nicht, wieviel Sehnsucht ich oft nach dir habe. Du bist für mich das A und O des Lebens, wie…«

»Bitte, schwärme ruhig weiter. Ich muß schnell den Backofen ausschalten.« Sie wand sich vergnügt aus seinen Armen und kehrte in die Küche zurück.

»So schlägt man jede romantische Stimmung tot«, scherzte Martin, als er ihr in die Küche folgte. »Kann ich dir irgendwie helfen, Liebling?«

»Im Moment nicht.« Mara dachte nach. »Doch, du könntest schon die Weinflasche öffnen, die auf dem Tisch steht, die Kerzen anzünden und den CD-Player einschalten. Ich habe gestern eine CD mit Filmmelodien gekauft.«

»Dein Wunsch ist mir Befehl«, erklärte der Arzt und ging ins Wohnzimmer. Gleich darauf hörte Mara, »when a man loves a woman« aus dem Film Platoon.

Die junge Frau schaltete den Backofen aus und nahm die Sojaschnitzel vom Herd, um sie auf eine Platte zu legen, dann brachte sie die Rosen ins Wohnzimmer.

Ihr Freund nahm ihr die Vase ab und stellte sie auf den Tisch. »Kann draußen etwas anbrennen?« erkundigte er sich.

»Im Moment nicht.«

»Gut.« Zärtlich nahm er sie in die Arme und küßte sie. Aus dem CD-Player klang »who wants to live forever«. Martin schaute ihr in die Augen. »Mit dir würde ich gern für immer leben, Liebling«, sagte er. »Bis zum Ende aller Tage würde es mir mit dir niemals langweilig werden.«

»Bist du dir da so sicher?« fragte sie, ohne seinem Blick auszuweichen.

»So sicher, wie sich ein Mensch nur sein kann«, erwiderte er und küßte sie erneut.

Gemeinsam trugen sie das Essen herein. Außer dem Gemüsegratin und den Sojaschnitzeln gab es gemischten Salat und zum Nachtisch Schokoladencreme. Martin hatte sich daran gewöhnt, daß seine Freundin Vegetarierin war. Er hielt sie für eine hervorragende Köchin. Bisher hatte es noch nie etwas gegeben, was ihm nicht geschmeckt hatte.

Während des Essens sprachen sie über Dr. Baumann. Mara erzählte ihrem Freund, wie bedrückt Eric den ganzen Tag über gewesen war.

»Meinst du, es hängt noch mit Miss Kelligan zusammen?« fragte er und nahm sich Salat. »Diese Geschichte hat ihm ziemlich hart zugesetzt. Mich würde interessieren, ob sie noch Kontakt miteinander haben.«

»Nein, das haben sie nicht«, antwortete die Ärztin. »Eric meint, es hätte keinen Sinn. Womit er auf jeden Fall recht hat. Miss Kelligan hat sich für einen anderen entschieden. Es wäre für Eric nur schmerzlich, sich mit ihr zu schreiben oder sie anzurufen.« Sie legte ihr Besteck an den Tellerrand. »Seine trübe Stimmung hängt nicht mit Miss Kelligan zusammen, da bin ich mir ganz sicher. Ich nehme an, daß es wegen Herrn Bach ist.«

»Das kann ich gut verstehen. Ich kenne Herrn Bach und Nero zwar nur flüchtig, aber diese Geschichte bedrückt auch mich.« Martin Hellwert nahm einen Schluck Wein. »Sein Betreuer hat ihn doch gestern ins Trainingszentrum gebracht. Habt ihr schon etwas von ihm gehört?«

»Nur, daß er gut angekommen ist. Herr Mangold wird heute mit ihm telefoniert haben, aber mit Eric hat er sicher noch nicht gesprochen, sonst hätte er mir davon erzählt.«

»Wir können nur hoffen, daß Herrn Bach der neue Hund hilft, über Neros Verlust hinwegzukommen«, meinte Martin.

Seine Freundin schloß die Augen. »Ich stelle es mir entsetzlich vor, nichts sehen zu können. Ein Blinder muß sich jedem Sehenden ausgeliefert fühlen.«

»Ich kann mir kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als mein Augenlicht zu verlieren«, meinte Martin. »Und um ehrlich zu sein, davor habe ich auch Angst. Deshalb bin ich so froh, daß meine Augen momentan noch völlig in Ordnung sind.«

Nach dem Essen brühte Mara Kaffee auf, und sie gingen auf den Balkon hinaus, um ihn dort zu trinken. Der Abend war warm genug, um schon im Freien zu sitzen. Langsam wurde es dunkel. Hoch über dem Tegernsee stand der Mond.

Martin legte den Arm um die Schultern seiner Freundin. »Ja, mit dir möchte ich bis in alle Ewigkeit leben«, sagte er. »Da gibt es gar keine Frage.«

»Und ich mit dir«, antwortete sie und schmiegte den Kopf an seine Schulter. »Ich…« Im Wohnzimmer klingelte das Telefon.

»Laß es klingeln«, schlug Martin vor. »Wer es auch sein mag, er kann bis morgen warten.«

»Und wenn es Eric ist?« fragte Mara. »Vielleicht braucht er mich. Es könnte etwas passiert sein.« Widerstrebend wand sie sich aus den Armen ihres Freundes und ging ins Wohnzimmer, um den Telefonhörer abzunehmen. »Bertram«, meldete sie sich, um gleich darauf die Stimme von Frau Dr. Kern zu hören.

»Entschuldigen Sie die Störung, Frau Bertram«, bat die Psychologin. »Könnte ich wohl Dr. Hellwert einen Moment sprechen?«

Mara umklammerte den Telefonhörer so fest, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie überlegte, ob sie einfach auflegen sollte. Wie konnte diese Frau es wagen, bei ihr anzurufen?

»Wer ist es denn, Liebling?«

Mara holte tief Luft. »Frau Dr. Kern«, antwortete sie und legte den Hörer einfach neben das Telefon.

Martin Hellwert kam ins Wohnzimmer. »Hat sie gesagt, was sie will?« fragte er leise.

»Nein, ich habe sie auch nicht danach gefragt«, erklärte sie ärgerlich und trat auf den Balkon.

Die junge Frau fühlte eine unsagbare Wut in sich. Impulsiv streckte sie die Hand nach einer der Kaffeetassen aus, um sie gegen die Wand zu werfen. Im letzten Moment siegte zum Glück ihre Vernunft. Sie war kein kleines Kind, das seinen Zorn abreagieren durfte, in dem es mit dem Fuß stampfte. Verbittert lehnte sie sich gegen die Brüstung und schaute zum Tegernsee hinunter.

Martins Gespräch mit der Psychologin dauerte ziemlich lange. Mara brauchte ihre ganze Beherrschung, um nicht ins Wohnzimmer zu gehen und den Telefonstecker zu ziehen. Sie wußte nicht, um was es ging, weil sie zu stolz war, dem Gespräch zuzuhören, aber von Minute zu Minute wurde sie wütender. Hatte Martin denn vergessen, daß sie auf ihn wartete? Oder war es ihm nicht mehr wichtig? Bedeutete ihm diese Frau so viel, daß es ihm nichts ausmachte, sie warten zu lassen?

Endlich legte Martin auf. Mit schuldgewußtem Gesicht kehrte er auf den Balkon zurück. »Tut mir leid, Liebling, es ist wichtig gewesen. Tamara wollte etwas über eine gemeinsame Patientin wissen.«

»Das hätte wohl auch Zeit bis morgen gehabt«, antwortete Mara, ohne sich ihm zuzuwenden. Sie war einfach zu wütend, um ihn jetzt anschauen zu können.

»Nein, das hätte es nicht«, widersprach er. »Sie ist dabei, über die Patientin einen Fallbericht für eine Fachzeitschrift zu schreiben. Sie wollte wissen, ob ich mit ihrer Meinung konform gehe. Diese Patientin…«

»Mich interessiert diese Patientin nicht«, fiel sie ihm ins Wort. »Es überrascht mich nur, daß es Frau Dr. Kern erst heute abend eingefallen ist, daß sie deine Meinung braucht. Oder ist sie heute nicht in der Klinik gewesen?«

»Sie ist in der Klinik gewesen.« Martin überlegte, wie er seine Freundin beschwichtigen konnte. Natürlich war es nicht richtig von Tamara gewesen, ihn hier anzurufen. Im Grunde genommen hatte Mara recht. Die ganze Sache hätte bis morgen Zeit gehabt. »Bitte, schau mich an, Liebling. Es ist ein so schöner Abend. Wir sollten uns die Stimmung nicht verderben lassen.«

»Mir ist sie bereits gründlich verdorben«, erklärte sie eisig.

»Warum müssen wir uns ständig wegen Frau Dr. Kern streiten? Das ist absolut unnötig«, meinte Martin und versuchte, nicht ungeduldig zu werden. »Diese Frau bedeutet mir überhaupt nichts. Sie ist eine Kollegin, zugegeben, eine nette Kollegin, nur das ist auch alles.« Er legte den Arm um sie. »Jedenfalls könnte ich mir nicht vorstellen, mit ihr bis in alle Ewigkeit zu leben. Sie würde mich bereits nach wenigen Wochen langweilen, da bin ich mir ganz sicher.«

Die junge Frau wandte ihm das Gesicht zu. Er sah, daß in ihren Augen Tränen schimmerten. »Diese ständige Streiterei ist mir auch leid«, sagte sie. »Ich habe solche Angst, dich zu verlieren.«

»Das mußt du nicht, Liebling, dazu bedeuten wir einander viel zu viel.« Zärtlich tupfte Martin ihr die Tränen fort. »Tamara hätte uns nicht stören dürfen, doch für sie ist die Sache sehr wichtig gewesen und sie wußte, daß ich gewöhnlich bei dir bin, wenn man mich in meinem Appartement nicht erreichen kann.«

»Woher hatte sie überhaupt meine Nummer?«

»Vermutlich aus dem Telefonbuch.« Er tippte gegen ihre Nasenspitze. »Glaub mir, deine Eifersucht ist wirklich unsinnig. Ich liebe dich, Mara, nur dich allein. Es ist das einzige, was zählt.«

Die junge Ärztin legte die Arme um seinen Nacken. Sie wollte Martin so gern glauben, nur tief in ihrem Herzen spürte sie, daß seine Worte ihre Eifersucht nicht besiegen konnten und daß ihre Angst, ihn zu verlieren, alles andere überwog.

*

Jürgen Mangold war während der ganzen Woche so beschäftigt gewesen, daß er kaum Zeit gehabt hatte, Evelyn zu sehen. Dafür waren sie am Samstagmorgen schon in aller Frühe losgefahren, um Amos Bach im Trainingszentrum zu besuchen. Es war ein schöner Tag geworden. Der alte Mann hatte sich gefreut, daß sie an ihn dachten. Seine Fragen nach Nero hatte Jürgen beantworten können, da er am Dienstag in München gewesen war und sich unter anderem mit dem Ehepaar getroffen hatte, bei dem Amos’ Hund jetzt lebte. Sie hatten absichtlich ein Restaurant für ihr Treffen gewählt, weil es Nero nur neuen Schmerz bereitet hätte, ihn zu sehen und nicht wieder mitgenommen zu werden. Es ging ihm gut, doch er hatte sich bei seiner neuen Familie noch nicht eingewöhnt und trauerte sehr um sein altes Herrchen. Er wollte weder von den Spielen der Kinder etwas wissen noch von den Leckerbissen, die man ihm zusteckte. Davon erzählte Jürgen dem alten Mann jedoch nichts. Er wußte genau, wie sehr Amos Bach darunter leiden würde.

Am späten Nachmittag beschlossen die jungen Leute, nach Tegernsee zurückzukehren. Sie versprachen Amos, ihn am nächsten Sonntag noch einmal zu besuchen, und sagten ihm, wie sehr sie sich schon auf seine Heimkehr freuten.

»Sieht aus, als würde Herr Bach mit Sita gut zurechtkommen«, meinte Evelyn, nachdem sie das Trainingszentrum verlassen hatten. »Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, daß sie ihm jemals Nero ersetzen kann. Vermutlich wird es Jahre dauern, bis er seinen Schmerz überwunden hat. Hoffentlich läßt er es Sita nicht spüren.«

»Nein, das ist nicht anzunehmen«, erwiderte Jürgen. »Jedenfalls hatte ich nicht den Eindruck, als wir die beiden beim Training beobachten konnten. Außerdem würde es Sita auch nicht zulassen. Sie scheint mir sehr liebebedürftig zu sein, und wie es aussieht, hat sie Herrn Bach als Herrchen bereits anerkannt. Ist dir aufgefallen, daß sie ihn keinen Moment aus den Augen läßt?«

»Das allerdings«, mußte Evelyn zugeben. Sie hatte sich nicht vorstellen können, den neuen Hund ihres Vermieters sofort zu mögen, aber Sita hatte ihr gar keine andere Wahl gelassen. Mit ihrem reizenden Wesen und ihrer Anschmiegsamkeit eroberte sie alle Herzen im Sturm.

»Hast du es sehr eilig, nach Hause zu kommen?« fragte Jürgen.

»Nein, eigentlich nicht. Mich erwartet nur ein Abend vor dem Fernseher.« Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. »Das heißt, falls wir nicht noch gemeinsam essen gehen.«

»Ich würde gern mit dir den Abend verbringen, Evelyn«, gestand der junge Mann. »Morgen erwartet mich ein ziemlich anstrengender Tag. Da tut es gut, den heutigen Abend in lieber Gesellschaft zu verbringen.«

Evelyn errötete. Sie mochte Jürgen mit jedem Tag lieber und ahnte längst, daß sie sich in ihn verliebt hatte, doch sie war sich nicht sicher, was er für sie empfand. Auch wenn er nicht mit Komplimenten sparte, es konnte durchaus nur Freundschaft sein.

»Ich würde vorschlagen, daß wir erst einmal eine Tasse Kaffee trinken gehen«, meinte Jürgen. Ohne Evelyns Antwort abzuwarten, bog er von der Straße ab und hielt kurz darauf vor einem Restaurant, dessen Terrasse auf einen kleinen See hinausging.

Sie hatten Glück und auf der Terrasse gab es noch einen freien Tisch. Eine Kellnerin brachte ihnen die Speisekarte. Sie wirkte enttäuscht, als sie ihr sagten, daß sie nur Kaffee wollten. »Kommt sofort«, versprach sie und wandte sich dem nächsten Tisch zu.

»Ich hätte ja gern ein Eis gegessen«, sagte Evelyn, »nur meine Diät!« Sie seufzte auf. »Ich kann nur hoffen, daß ich mit Dr. Baumanns Hilfe die Pilzinfektion bald in den Griff bekomme. Selbst Hefebrot ist mir verboten. Ich muß alles vermeiden, was die Pilze in meinem Körper aufjubeln läßt. Sie sollen ausgehungert werden.«

»Und ich wollte dich heute abend zu einer Pizza einladen. Schade, das geht nicht.«

»Nun, ich esse auch sehr gern Fisch, und das ist mir nicht verboten.«

»Also abgemacht, gehen wir Fisch essen.« Jürgen umfaßte ihre Hand. »Davon abgesehen, würde ich mich in deiner Gesellschaft auch mit einem Glas Wasser begnügen.«

»Du vielleicht, ich nicht«, erklärte sie.

Die Kellnerin brachte den Kaffee. »Falls Sie noch einen Wunsch haben, rufen Sie«, bot sie an.

»Wir werden daran denken«, versprach Jürgen. »Trotzdem würde ich gern zahlen.«

»Wie Sie wünschen.« Es fiel der Frau offensichtlich schwer, höflich zu bleiben. Bar jedes Lächelns nahm sie das Geld entgegen und bedankte sich nur knapp für die Mark, die ihr Jürgen zusätzlich gab.

»Nun, mit dieser Methode vergrault sie die Gäste«, bemerkte der junge Mann, als sie wieder allein waren. »Wir werden hier bestimmt nicht ein zweites Mal einkehren.« Er steckte seine Geldbörse weg.

»Wenigstens ist der Kaffee gut«, meinte Evelyn, nachdem sie einen Schluck genommen hatte.

»Ich habe eine Überraschung für dich.«

»Was für eine Überraschung?« Sie hob die Augenbrauen.

»Als ich am Dienstag in München gewesen bin, habe ich unter anderem einen früheren Schulfreund besucht, der sich mit Ahnenforschung beschäftigt. Ich habe ihm von dir erzählt, auch, daß du das Gefühl hast, schon einmal in Tegernsee gewesen zu sein, obwohl du genau weißt, daß das nicht stimmt.«

»Dann hast du ihm vermutlich auch von meiner Vision, oder was immer es gewesen sein mag, bei der Althof-Mühle erzählt?«

»Ja, es hat ihn sehr interessiert. Er ist wie ich davon überzeugt, daß es viele Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die wir uns nicht erklären können.«

»Willst du etwa behaupten, ich hätte in einem früheren Leben in Tegernsee gewohnt? Die meisten Menschen, die ich kenne, würden dich für verrückt halten.«

»Damit kann ich leben«, antwortete der junge Mann grinsend. »Jedenfalls hat Thomas mich gestern abend noch angerufen. Er hat nach den Nachfahren des Stoffhändlers geforscht, der damals zusammen mit seinem Sohn und der Magd umgebracht worden ist. Die Frau des Stoffhändlers stammte aus Tegernsee. Ihre Tochter Edeltraut heiratete fünfzehn Jahre nach dem Mord einen Augsburger Geschäftsmann namens Gustav Möhle. Sie schenkte ihm vier Kinder, darunter die Tochter namens Maria, die mit einem Freund der Familie verheiratet wurde. Und jetzt rate mal, wie dieser Freund hieß?«

Evelyn runzelte die Stirn. »Willst du etwa behaupten, ich sei eine Nachfahrin des Stoffhändlers?« fragte sie ungläubig.

Ihr Freund nickte. »Genauso ist es, Evelyn. Maria heiratete einen Heinz Maurer. Er dürfte

dein Ururgroßvater gewesen sein.«

»In unserer Familie ist der Name Heinz über Generationen hinweg stets dem ältesten Sohn gegeben worden.« Evelyn konnte es nicht fassen. »Bist du dir ganz sicher?«

»Mein Freund hat die Familie bis zu deiner Geburt verfolgt. Im Zeitalter der Computer ist das nicht mehr so schwer wie früher, und da er sich als Ahnenforscher einen Namen gemacht hat, hat er auch leicht Zugang zu den betreffenden Stellen erhalten.« Er nahm ihre Hände. »Evelyn, es gibt keinen Zweifel, du bist tatsächlich eine Nachfahrin des Stoffhändlers.«

»Selbst, wenn es so wäre, erklärt das noch lange nicht meine Visionen.«

»Wahrscheinlich bist du wirklich etwas hellsichtig, wie Herr Bach vermutet.« Jürgen trank seinen Kaffee.

»Schon, als ich das erste Mal auf Tegernsee hinuntergesehen habe, hatte ich das Gefühl, nach Hause zu kommen.« Evelyn blickte auf den See hinaus. »Ich hatte nur durch einen Zufall erfahren, daß an der Klinik von

Dr. Hauser eine Ernährungsexpertin gesucht wird. An und für sich hatte ich vor, mir eine Stelle in Norddeutschland zu suchen. Anscheinend sollte es sein, daß ich nach Tegernsee komme.«

»Das sollte es auch«, sagte Jürgen ernst, »denn sonst hätten wir uns niemals kennengelernt.« Er berührte liebevoll ihre Wange. »Ich bin froh, daß du hier bist und das nicht nur, weil du mir mit Herrn Bach geholfen hast, sondern weil ich durch dich erkannt habe, wie schön das Leben sein kann.«

»Danke, daß du deinen Freund beauftragt hast, der Familie des Stoffhändlers nachzuspüren.« Die junge Frau blickte ihm ins Gesicht. »Und auch danke dafür, daß du so ein lieber Kerl bist.« Bevor er noch etwas erwidern konnte, fügte sie hinzu: »Wenn wir heute abend essen gehen wollen, sollten wir aufbrechen.«

»Die Stimme der Vernunft«, meinte er und verdrehte die Augen, dann stand er auf und reichte ihr die Hand. »Sieht aus, als hätten wir uns gesucht und gefunden.«

Die Uhr der Evangelischen Pfarrkirche schlug sieben, als die jungen Leute Tegernsee erreichten. Kurz darauf bogen sie in die Einfahrt von Amos’ Haus ein. Weil sie sich miteinander unterhielten, bemerkten sie zuerst nicht das große, schwarze Bündel, das vor der Haustür lag. Doch dann schrie Evelyn auf. »Nero!« Bereits im nächsten Moment war sie aus dem Wagen gesprungen und rannte zu den Eingangsstufen des Hauses.

Nero hob langsam den Kopf und stand schwerfällig auf. Er zitterte vor Schwäche, konnte sich kaum auf den Beinen halten. »Wuw«, machte er müde und versuchte, mit der Rute zu wedeln, aber ihm fehlte die Kraft dazu. Aus einer tiefen Wunde auf seiner rechten Seite rann Blut.

»Er ist verletzt, Jürgen, er ist verletzt.« Ungeachtet ihres Kleides umarmte Evelyn den Hund behutsam. »Ist ja schon gut, Nero«, sprach sie leise auf ihn ein. »Hab keine Angst. Es kommt alles in Ordnung.«

Jürgen kniete sich neben Nero. »Wir fahren sofort zu Dr. Weingart«, sagte er. »Die Wunde sieht ja schlimm aus. Er…«

Nero taumelte. Seine Beine rutschten einfach unter ihm weg. Evelyn konnte gerade noch verhindern, daß der Körper des Hundes schwer auf die Treppe aufschlug.

»Was ist denn passiert?« fragte Lina Becker hinter ihnen. Sie hatten nicht bemerkt, daß die Frau mit Harvard über die Straße gekommen war. »Das ist ja eine furchtbare Wunde. Der arme Kerl. Sie sollten ihn sofort zu Dr. Weingart bringen.« Suchend schaute sie sich um. »Ist Herr Bach auch da?«

»Nein, Herr Bach ist im Trainingszentrum.« Jürgen stand auf. Er rannte zu seinem Wagen, öffnete die Fondtür und kehrte zu Nero zurück, der seinen Kopf auf Evelyns Hand gelegt hatte. »Komm, mein Alter.« Vorsichtig hob er Nero hoch. »Dr. Weingart wird dir helfen.«

»Soll ich den Arzt schon anrufen?« erkundigte sich Lina Becker. Sie war in ihrem Element. Auch wenn ihr Nero unendlich leid tat, freute sie sich gleichzeitig darüber, daß es mal wieder etwas Neues gab.

»Ja, es wäre schön, wenn Sie das täten«, meinte Evelyn und folgte ihrem Freund, der den verletzten Hund zum Wagen trug.

Harvard wollte Nero in den Wagen folgen und verstand nicht, warum man ihn daran hinderte. »Wir müssen uns beeilen, Harvard«, sagte Lina. Entschlossen eilte sie mit ihm in Richtung Nelkenweg davon.

Evelyn setzte sich neben Nero in den Fond des Wagens. Liebevoll bettete sie den Kopf des Hundes in ihren Schoß. Er hatte die Augen geschlossen und wimmerte fast lautlos vor sich hin.

»Er kann nicht erst heute ausgerissen sein«, meinte Jürgen, während sie durch Tegernsee zu Dr. Weingart fuhren, der am anderen Ende der Stadt wohnte. »Es ist unmöglich.«

»Er könnte als blinder Passagier auf einem Lastwagen mitgefahren sein.« Evelyn betrachtete Neros Pfoten. Sie waren wund und blutig. Nein, es sah nicht danach aus, als sei er den größten Teil der Strecke gefahren. Er mußte Stunde um Stunde gelaufen sein, nur mit dem Ziel vor Augen, endlich nach Hause zu kommen. Flüchtig wischte sie sich die Tränen fort, die über ihr Gesicht rannen. »Ich bin froh, daß Herr Bach nichts davon weiß.«

»Ich auch«, gestand Jürgen. »Ich nehme an, daß Nero angefahren worden ist. Er muß ziemlich viel Blut verloren haben.«

Evelyn strich zärtlich durch das Fell des Hundes. Er wirkte so schwach, so erledigt. Sie hatte Angst, daß man nichts mehr für ihn tun konnte.

Dr. Weingart und seine Frau erwarteten sie bereits. Julia Weingart schob einen Rolltisch zu Jürgens Wagen, kaum, daß die jungen Leute vor der Praxis gehalten hatten. Sie und ihr Mann hatten an diesem Abend ein Konzert besuchen wollen. In der Eile hatte sie sich nur einen weißen Kittel über ihr Seidenkleid gestreift. Unten schaute es hervor.

»Sieht nicht aus, als würden wir gelegen kommen«, bemerkte Evelyn und wies auf das Kleid der jungen Frau.

»Ein krankes Tier hat Vorrang.« Dr. Weingart hob Nero vorsichtig aus dem Wagen und legte ihn auf den Rolltisch. Besorgt schaute er auf die große Wunde. »Das sieht gar nicht gut aus«, bemerkte

er.

Nero winselte vor sich hin. Amir, der Rottweiler der Weingarts, kam aus dem hinteren Teil des Gartens und wollte mit in die Praxis. Julia hielt ihn zurück. »Das ist nichts für dich«, sagte sie. »Du bleibst draußen.«

Amir stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus, gehorchte jedoch.

»Er versucht es stets von neuem«, meinte Julia mit einem nachsichtigen Lächeln.

»Wie der Hund von Dr. Baumann«, erwiderte Jürgen und folgte dem Tierarzt mit den beiden Frauen ins Behandlungszimmer.

»Möchten Sie nicht lieber draußen warten?« wandte sich Dr. Weingart an Evelyn, nachdem er Nero auf den Behandlungstisch gelegt hatte. Er streifte sich seine Handschuhe über.

Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Nein, ich bleibe hier. Ich bin es ihm schuldig. Ich möchte ihn nicht allein lassen.« Sie umfaßte Neros rechte Vorderpfote. »Es ist alles halb so schlimm, mein Lieber. Du wirst sehen«, sprach sie auf ihn ein und wußte genau, daß ihre Worte auch sie beruhigen sollten.

Während der nächsten Minuten sprach niemand ein Wort. Dr. Weingart untersuchte schweigend den Hund. Seine Verletzungen waren weit schlimmer, als Evelyn und Jürgen angenommen hatten. »Es ist ein Wunder, daß Nero überhaupt noch lebt«, meinte er schließlich.

»Können Sie ihm helfen?« fragte Evelyn.

Er gab ihr keine Antwort. »Nero kann erst kurz bevor Sie ihn gefunden haben, angefahren worden sein«, fuhr er fort. »Ich bin überzeugt, daß es in der Nähe des Hyazinthenweg geschehen sein muß, sonst hätte er es nicht mehr schaffen können, nach Hause zu laufen.«

»Der Wunsch, endlich wieder daheim zu sein, wird seine letzten Kräfte mobilisiert haben.« Jürgen strich über Neros Kopf. Er fühlte eine unsagbare Wut auf die Leute, zu denen er den Hund gebracht hatte. Warum hatten sie ihn nicht angerufen, um ihm zu sagen, daß Nero ausgerissen war?

»Er ist so ein lieber Kerl.« Evelyn nahm Neros Pfote. Dr. Weingart hatte ihre Frage nicht beantwortet und sie ahnte, daß es keine Hoffnung mehr gab. »Können Sie denn nichts tun?« wandte sie sich dennoch an ihn.

»Neros Verletzungen sind so schwer, daß ich seinen Tod nur hinauszögern könnte«, sagte der Tierarzt bedauernd. »Es wäre eine sinnlose Quälerei. Das einzige, was wir für ihn tun können ist, ihn von seinen Schmerzen zu erlösen.« Mitfühlend berührte er den Kopf des Hundes.

»Tun Sie es bitte.« Jürgen legte den Arm um seine Freundin.

»Möchtest du nicht doch lieber hinausgehen?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf, während ihr die Tränen über das Gesicht rannen. »Das kann ich nicht.« Sie strich über Neros Kopf. Zärtlich berührten ihre Finger seine Schnauze. Sie versuchte zu ignorieren, das Dr. Weingart ein kleines Fläschchen aus seinem Arzneischrank nahm und eine Spritze aufzog.

Der Hund schlug die Augen auf und schaute zu ihr auf, seine Zunge fuhr über ihre Hand. »Ich habe dich lieb, Nero«, sagte sie, als der Arzt dem Hund behutsam die tödliche Injektion gab. Noch immer sah Nero sie an, dann schloß er die Augen und schlief ein.

*

»Ich möchte wissen, wo das viele Unkraut immer herkommt«, schimpfte Katharina Wittenberg, während sie rigoros ein Tulpenbeet von allem befreite, was ihrer Meinung nach dort nichts verloren hatte.

»Wie kann man nur so erbarmungslos sein?« fragte Dr. Baumann, als er sah, daß sie sogar Löwenzahn ausrupfte.

Seine Haushälterin schaute auf. »Wenn es nach dir ginge, würde unser Garten einem Dschungel gleichen«, sagte sie. »Ich habe durchaus nichts gegen Löwenzahn im Rasen, aber zwischen den Blumen hat er nichts verloren.«

Franzl, keineswegs erschöpft von dem Spaziergang mit seinem Herrchen, schien ihr beweisen zu wollen, daß er völlig ihrer Meinung war. Bevor ihn noch jemand daran hindern konnte, grub er mit den Vorderpfoten so rasch ein Loch ins Beet, daß die Erde nach allen Seiten flog.

»Hör auf!« Katharina packte ihn am Halsband.

»Er wollte dir nur helfen«, meinte Eric belustigt. »Ich glaube, wir sind hier nicht erwünscht, Franzl.« Er grüßte zu den Winklers hinüber, die mit ihrer Tochter und Bastian aus der Richtung des Sees kamen.

Katharina stand auf und klopfte sich ihren Rock ab. »Wann fährst du zu Herrn Bach?« fragte sie. »Ob er schon zu Hause ist?«

»Herr Mangold und Frau

Maurer wollten ihn gegen halb

elf vom Trainingszentrum abholen«, erwiderte der Arzt. Er

nickte. »Ja, ich glaube, er wird schon zu Hause sein. Vermutlich hält er gerade ein Mittagsschläfchen.«

Katharina überlegte, ob sie für diesen Tag mit der Gartenarbeit aufhören sollte. »Ich habe heute morgen Mohnschnecken gebacken«, sagte sie. »Wir könnten noch Kaffee trinken, bevor du zu ihm fährst. Ein Teil der Mohnschnecken sind für ihn.«

»Da wird er sich bestimmt freuen.« Eric nahm den Eimer mit Unkraut. Er schaute zum Himmel hinauf. »Ein Wetter wie aus dem Bilderbuch. Hoffentlich ist es morgen genauso schön. Ich möchte zum Angeln mit dem Boot hinausfahren.«

Während der Arzt das Unkraut zum Komposthaufen brachte, der sich in einem abgelegenen Teil des Gartens befand, ging seine Haushälterin ins Haus, um sich rasch zu waschen und die Kaffeemaschine einzuschalten. Franzl machte es sich unterdessen auf der Terrasse gemütlich. Mit sich und der Welt zufrieden, nagte er an einem Kauknochen.

»Meinst du, daß es richtig ist, Herrn Bach vorerst nichts von Neros Tod zu sagen?« fragte Katharina, als Eric in die Küche trat und sich am Spülstein die Hände wusch. Sie nahm Geschirr aus dem Schrank und stellte es auf ein Tablett.

»Darüber habe ich mehr als einmal nachgedacht«, erwiderte Eric. »Herr Bach wird immer wieder nach Nero fragen, da bin ich mir ganz sicher.« Nachdenklich lehnte er sich gegen die Anrichte. Nero war auf dem kleinen Tierfriedhof begraben worden, den Ilse Gabler mit Genehmigung der Behörden auf ihrem Grundstück angelegt hatte. Für Amos Bach würde es sicher ein Trost sein, daß sein Hund nicht an eine Tierverwertungsanstalt gegeben worden war.

»Also ich meine, man sollte ihm ganz einfach die Wahrheit sagen.« Katharina schaltete die Kaffeemaschine aus. »Wenn Herr Bach später von Neros Tod erfährt, wird es genauso schlimm für ihn sein.« Sie band sich die Schürze ab. »Ich wünsche ja nun wirklich niemandem etwas Schlechtes, aber ich kann diese Leute nicht verstehen, die Nero aufgenommen hatten. Hätten sie Herrn Mangold gleich angerufen, nachdem Nero ausgerissen ist, könnte er unter Umständen heute noch leben.«

»Natürlich wäre es besser gewesen, nur der Mensch ist oft feige, wenn es darum geht, etwas einzugestehen. Sie haben drei Tage nach Nero gesucht und konnten sich nicht vorstellen, daß er innerhalb dieser Zeit Tegernsee erreichen würde.« Eric griff nach dem Tablett, um es nach draußen zu bringen. »Man wird sehr oft schuldig, ohne es zu wollen.«

Amos Bach hielt sich mit Jürgen Mangold, dessen Freundin und seiner neuen Hündin im Garten auf, als Dr. Baumann ihn am späten Nachmittag besuchte. Sita rannte ihm sofort entgegen und blieb abwartend stehen. Sie

schien bereit zu sein, ihr neues Herrchen gegen jeden Eindringling zu verteidigen.

»Ich bin es, Herr Bach!« rief Eric. Er machte erst gar nicht den Versuch, an Sita vorbeizugehen.

»Es ist in Ordnung, Sita!« Amos Bach kam auf seinen Stock gestützt den Gartenweg hinunter. Augenblicklich war Sita an seiner Seite, doch hier im Garten brauchte er ihre Hilfe nicht, da kannte er jeden Zentimeter.

»Ich wollte nach Ihnen sehen, Herr Bach.« Eric ergriff Amos’ Hand. »Katharina schickt Ihnen mit den besten Wünschen ein paar Mohnschnecken.«

»Das ist lieb von ihr«, meinte der alte Mann. »Kommen Sie, Dr. Baumann, setzen Sie sich mit uns auf die Terrasse.« Er seufzte leise auf. »Es ist schön, zu Hause zu sein, nur Nero fehlt mir so. Ohne ihn fühle ich mich verloren. Ich glaube nicht, daß ich ihn jemals vergessen kann.«

»Das sollen Sie auch nicht, Herr Bach«, erwiderte Dr. Baumann. »Wir haben Nero alle sehr gern gehabt.«

»Ein Glück, daß er es wenigstens mit seinen neuen Besitzern so gut getroffen hat«, sagte Amos Bach. »Es ist mir ein großer Trost.« Er beugte sich zu Sita hinunter, die sich gegen sein Bein schmiegte. »Letzte Nacht habe ich von Nero geträumt. Wir sind unten am See entlanggelaufen. Es ist schön, daß ich wenigstens in meinen Träumen mit ihm zusammensein kann.«

Eric spürte den tiefen Schmerz, der aus seinen Worten sprach. Er fragte sich, ob es Amos’ überhaupt verkraften würde, wenn man ihm von Neros Tod erzählte. Vermutlich war es doch besser, vorläufig noch darüber zu schweigen. Trotzdem erschien es ihm wie ein Betrug an dem alten Mann. Hatte er nicht wie jeder andere Mensch ein Recht auf die Wahrheit?

»Frau Maurer und Herrn Mangold kennen Sie ja«, meinte Amos Bach, als sie die Terrasse erreichten. »Morgen wollen wir alle zusammen einen Ausflug mit der Seemarie machen. Das schöne Wetter muß man ausnutzen.«

»Ich möchte morgen angeln gehen«, erwiderte der Arzt und reichte erst Evelyn, dann Jürgen die Hand. Auf den ersten Blick erkannte er, daß sich die jungen Leute ineinander verliebt hatten. Sie machten auf ihn einen ausgesprochen glücklichen Eindruck.

»Ich bin schon eine Ewigkeit nicht mehr mit einem Dampfer gefahren.« Amos Bach setzte sich an den Tisch. »Bei diesem Ausflug können wir gleich mal erproben, wie seefest Sita ist.« Er tätschelte den Kopf der Hündin. »Die letzten drei Wochen sind äußerst interessant gewesen. Möchten Sie etwas über das Training erfahren, dem wir beide uns unterziehen mußten, Dr. Baumann?«

»Gern.« Eric lehnte sich zurück. Der kühle Wind, der durch die Bäume strich, tat ihm wohl.

»Ich hole Ihnen etwas Kühles zu trinken.« Evelyn stand auf und verschwand im Haus.

»Ich bin gleich wieder da.« Jürgen folgte seiner Freundin.

»Ich nehme an, daß wir bald eine Verlobung feiern können«, bemerkte Amos Bach. »Ist es nicht seltsam, wie einem jemand innerhalb kurzer Zeit so ans Herz wachsen kann? Für mich ist Frau Maurer wie eine eigene Tochter. Hat sie Ihnen erzählt, daß der Stoffhändler, der in der Althof-Mühle mit seinem Sohn ermordet wurde, einer ihrer Vorfahren gewesen ist?«

»Nein«, sagte Eric überrascht.

»Herr Mangold hat es durch einen Freund herausgefunden.« Der alte Mann erzählte dem Arzt, was er darüber erfahren hatte, und erst jetzt hörte Dr. Baumann auch von Erics Visionen. Im Laufe seiner Tätigkeit hatte er schon vieles erlebt, wofür es eigentlich keine Erklärung gab, deshalb war er auch überzeugt, daß einige Menschen wirklich die Gabe besaßen, unter gewissen Umständen in die Vergangenheit sehen zu können.

Amos Bach lud Dr. Baumann zum Abendessen ein, und so ging es bereits auf acht zu, bevor der Arzt nach Hause fuhr. Auch Jürgen Mangold verabschiedete sich, nachdem sie alle zusammen noch einen Spaziergang mit Sita gemacht hatten.

»Bis morgen, Herr Bach«, sagte er. »Ich werde so gegen halb eins bei Ihnen sein.«

»Wir werden schon sehnsüchtig Ihrer erwarten«, meinte der Blinde und fügte hinzu: »Besonders Frau Maurer.« Er lachte. »Oder irre ich mich?«

»Nein, Sie irren sich nicht«, erwiderte die junge Frau errötend und begleitete ihren Freund zum Wagen.

Amos Bach beschloß, noch etwas auf der Terrasse zu bleiben und den Abend zu genießen. Aus dem CD-Player klang ein Vivaldi-Konzert. Sita machte es sich zu seinen Füßen bequem. Die Augen halb geschlossen, döste sie vor sich hin.

Auch wenn Amos versuchte, nicht ständig an Nero zu denken, plötzlich glaubte er, ihn bellen zu hören. Es konnte nicht sein, das wußte er genau, seine Phantasie gaukelte ihm dieses Bellen nur vor. »Weißt du was, wir gehen noch ein Stückchen spazieren«, sagte er zu seiner Hündin. »Das wird mich auf andere Gedanken bringen.«

Der alte Mann legte Sita das Geschirr an und nahm die Führungsleine. Sicher geleitete ihn die Hündin die Straße hinunter. Sie kannte bereits den Weg zum See, weil sie ihn an diesem Tag schon mehrmals gegangen war.

Lina Becker und Sabine Seitter unternahmen ebenfalls mit ihren Hunden noch einen letzten Spaziergang. Sie unterhielten sich eben darüber, daß das Leben von Tag zu Tag teurer wurde, als sie Amos Bach entdeckten, der mit Sita über die Straße ging.

»Wie schön, daß Sie wieder in Tegernsee sind, Herr Bach«, sagte Lina herzlich, während Harvard und Ida die Hündin des Blinden mißtrauisch musterten. Sita, die den Umgang mit anderen Hunden gewohnt war, wedelte freundschaftlich mit der Rute. Zögernd begannen auch Harvard und Ida zu wedeln.

»Herr Mangold und Frau Maurer haben uns heute nach Hause geholt«, erwiderte Amos. »Sita und ich sind schon gute Freunde geworden.«

»Das sieht man«, bemerkte Lina. »Es tut mir so leid wegen Nero«, fuhr sie fort. »Nun, wer hätte auch damit rechnen können, daß er ausreißen und nach Tegernsee zurücklaufen würde? Ich bin dabei gewesen, als…«

»Er ist ausgerissen?« fragte Amos Bach entsetzt. »Das kann nicht sein. Man hätte mir bestimmt davon erzählt.«

Sabine Seitter erkannte bestürzt, daß der alte Mann nichts davon wußte. »Es ist sicher nicht Ihr Nero gewesen, von dem Frau Becker spricht«, versuchte sie, Linas Fehler gutzumachen.

»Natürlich ist es der Hund von Herrn Bach gewesen«, widersprach Lina empört, ohne zu merken, was sie anrichtete. »Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich bin doch dabei gewesen, als er von Frau Maurer und Herrn Mangold blutend vor der Haustür gefunden worden ist, und habe noch Dr. Weingart angerufen.« Sie berührte Amos’ Arm. »Haben Sie denn wirklich nichts davon gewußt?«

»Nein«, antwortete er zutiefst getroffen. »Nein, ich habe nichts davon gewußt. Hat man Nero nach München zurückgebracht?«

»Er ist tot, Herr Bach«, sagte Sabine Seitter, weil es keinen Sinn hatte, noch irgend etwas zu verschweigen. »Dr. Weingart konnte ihn nicht mehr retten. Vielleicht ist es Ihnen ein Trost, daß er auf dem Tierfriedhof begraben wurde, den Frau Gabler auf ihrem Grundstück angelegt hat.«

Erst jetzt wurde Lina Becker bewußt, daß es besser gewesen wäre, sie hätte Nero nicht erwähnt. »Kann ich irgend etwas für Sie tun?« fragte sie.

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete er dumpf und bemühte sich, nicht die Fassung zu verlieren. »Nein, Sie können nichts für mich tun.« Er umfaßte Sitas Leine fester. »Nach Hause, Sita«, befahl er und kehrte mit ihr den Weg zurück, den sie gekommen waren.

*

Evelyn bügelte gerade das Kleid, das sie am nächsten Nachmittag tragen wollte, als sie hörte, wie Amos Bach mit Sita nach Hause kam. Sie überlegte, ob sie noch einmal nach ihm sehen sollte, wollte jedoch auch nicht zu fürsorglich sein, weil sie wußte, daß er übertriebene Hilfe haßte.

Nach dem Bügeln sah sie sich einen Fernsehfilm an, auf den sie sich schon seit einer Woche gefreut hatte. Aber sie konnte sich nicht auf die spannende Handlung konzentrieren. Neros Tod ging ihr nicht aus dem Kopf. Auf der Fahrt zum Trainingszentrum hatte sie mit ihrem Freund noch einmal darüber gesprochen, ob es nicht besser sein würde, Herrn Bach die Wahrheit zu gestehen. Jürgen war nach wie vor der Meinung gewesen, daß es noch zu früh dazu war. Nur, wann würde der richtige Zeitpunkt sein?

Die junge Frau schaltete den Fernsehapparat aus und trat auf den Balkon hinaus. Als sie sich über die Brüstung lehnte, sah sie, daß Amos Bach auf der Terrasse stand. Sie wollte ihm schon einen Gruß zurufen, als er sich umdrehte und hineinging.

Evelyn beschloß, ebenfalls schlafenzugehen. Sie und Amos Bach wollten am nächsten Morgen gemeinsam frühstücken. Resignierend dachte sie daran, daß sie keines der Brötchen, die sie zum Aufbacken gekauft hatte, essen durfte. »Jede Ausnahme bedeutet einen Rückschlag«, hatte Dr. Baumann sie gewarnt, dabei wünschte sie sich kaum mehr, als wieder essen zu können, was sie wollte.

Nachdem Evelyn noch eine Kurzgeschichte gelesen hatte, löschte sie das Licht, und war wenige Minuten später eingeschlafen. Sie ahnte nichts von der Verzweiflung ihres Vermieters und auch nicht, daß er in diesem Moment beschloß, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Es war kurz nach Mitternacht, als die junge Frau erwachte. Verwirrt schaute sie sich um. Durch die offene Balkontür schien der Mond. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie Sitas langgezogenes Jaulen wahrnahm. Es klang wie das Heulen eines Wolfes.

Evelyn sprang aus dem Bett und schlüpfte in ihre Hausschuhe. Sie verzichtete darauf, einen Morgenmantel überzuziehen, sondern nahm nur den Wohnungsschlüssel, den ihr Amos Bach schon vor Wochen gegeben hatte, und rannte die Treppe hinunter. Sita heulte nicht ohne Grund, da war sie sich sicher.

Die Wohnungstür war von innen verschlossen. Deshalb nützte ihr der Schlüssel überhaupt nichts. Die junge Frau stürzte aus dem Haus und rannte zur Terrasse. Auch die Terrassentür war abgeschlossen. Kurz entschlossen griff sie nach einem der Gartenstühle und schlug mit ihm die Scheibe ein.

Sitas Heulen verstummte. Mit hochgezogenen Lefzen baute sie sich knurrend vor der Terrassentür auf.

»Schon gut, Sita, ich bin es«, sagte Evelyn beschwichtigend. Der Hund begann zaghaft zu wedeln. »Herr Bach!« rief sie. »Herr Bach, ist etwas passiert?« Sie faßte durch die zerbrochene Scheibe und öffnete von innen die Tür.

Sita rannte in das Schlafzimmer des alten Herrn. Winselnd legte sie die Vorderpfoten auf sein Bett.

Evelyn schaltete das Licht ein. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie sah, daß sich ihr Vermieter die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Er war bereits bewußtlos geworden. Seine rechte Hand hing blutüberströmt über den Bettrand.

Die junge Frau riß sich zusammen. Es hatte keinen Sinn, jetzt die Nerven zu verlieren. Sie öffnete den Kleiderschrank. An der Innenseite der Tür hingen einige Krawatten. Eilig ergriff sie zwei und band mit ihnen die Arme des alten Mannes ab, dann wählte sie den Notruf. Sie wußte, es kam auf jede Sekunde an.

Es dauerte keine fünfzehn Minuten, bis der Notarztwagen vor dem Haus hielt. Kurz darauf trafen auch Dr. Baumann und ihr Freund ein, die sie ebenfalls angerufen hatte. Beide beschlossen, Herrn Bach ins Krankenhaus zu begleiten. Evelyn sollte bei Sita bleiben.

Die junge Frau ging mit der Hündin in ihre Wohnung hinauf. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie zog sich einen warmen Morgenmantel über und setzte sich mit Sita auf den Balkon. Immer wieder fragte sie sich, weshalb Amos Bach versucht hatte, sich das Leben zu nehmen und sie machte sich Vorwürfe, nicht doch noch einmal nach ihm gesehen zu haben.

Der Morgen graute bereits, als Jürgen Mangold aus der Klinik zurückkehrte. Evelyn hatte seinen Wagen gehört. Sie eilte ihm entgegen. »Wie geht es ihm?« fragte sie, kaum, daß ihr Freund die Haustür aufgeschlossen hatte.

»Herr Bach ist außer Lebensgefahr.« Jürgen nahm sie in die Arme. Er wirkte völlig erledigt. »Der alte Herr hat zwar ziemlich viel Blut verloren, aber Gott sei Dank hat er keine seltene Blutgruppe. Vor zwei Stunden ist er zu sich gekommen. Ich durfte ihn kurz sehen.«

»Hat Herr Bach dir gesagt, warum er sich das Leben nehmen wollte?«

Jürgen nickte. »Ich weiß zwar nicht, wer ihm erzählt hat, daß Nero tot ist, jedenfalls fühlt er sich an seinem Tod schuldig. Er meinte, ohne ihn würde Nero noch leben. Er hätte ihm kein Glück gebracht.«

»Das ist doch Unsinn!« Evelyn sah ihren Freund bestürzt an. »Wie kann er denn so etwas denken?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Jürgen, »nur eines steht fest, es wird nicht leicht sein, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.« Er ließ Evelyn los. »Ich bin entsetzlich müde. Bist du mir böse, wenn ich nach Hause fahre.«

»Du mußt nicht nach Hause fahren, du kannst auch bei mir schlafen«, erwiderte sie. »Sita und ich können ein bißchen Gesellschaft gebrauchen.«

»Ich auch«, gestand er und stieg mit ihr die Treppe hinauf.

*

Amos Bach spürte die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster ins Zimmer drangen. Er hatte nach dem Mittagessen ein bißchen geschlafen, lag jetzt jedoch schon seit fast einer Stunde wach und grübelte darüber nach, weshalb das Schicksal so grausam gewesen war, ihn nicht sterben zu lassen. Nach wie vor gab er sich die Schuld an Neros Tod.

Sein Hund war ihm treu ergeben gewesen, und er hatte ihn verraten.

Mit der Hand tastete er nach dem Gitter seines Bettes. Er überlegte, ob er darüber hinwegsteigen und zum Fenster gehen sollte. Nur, wer sagte ihm denn, daß er auch wirklich tot sein würde, wenn er sich aus dem Fenster stürzte? Bei seinem Pech brach er sich womöglich nur den Rücken und würde den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen müssen.

Der alte Mann hörte, wie leise die Tür geöffnet wurde. Ob ihn wieder der Klinikpfarrer besuchen wollte, den er vorhin weggeschickt hatte? Inzwischen bedauerte er, nicht mit ihm gesprochen zu haben. Vielleicht hätte er ihm sagen können, weshalb Gott es nicht zugelassen hatte, daß er aus dem Leben schied.

»Herr Bach, sind Sie wach?« fragte Dr. Baumann.

Amos wandte den Kopf in die Richtung der Tür. Er erinnerte sich dunkel, daß Dr. Baumann auch in der Nacht bei ihm gewesen war. »Ja, ich bin wach«, erwiderte er. »Wollten Sie heute nicht angeln gehen?«

»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.« Eric ergriff vorsichtig Amos’ Hand. »Am besten, ich frage Sie erst gar nicht, wie Sie sich fühlen. Ich kann es mir denken, vermutlich miserabel.«

»Gelinde ausgedrückt«, antwortete Amos. »Trotzdem freue ich mich über Ihren Besuch. So allein mit seinen Gedanken kann man sehr einsam sein.«

»Ja, das ist wahr.« Eric nahm sich einen Stuhl und setzte sich an das Bett des Blinden. »Möchten Sie nicht doch lieber in einem Zweibettzimmer liegen?« Amos Bach hatte am Vormittag darauf bestanden, ein Einzelzimmer zu bekommen.

Amos schüttelte den Kopf. »Ich würde jedem anderen Patienten nur zur Last fallen«, behauptete er. »Nein, es ist besser, wenn ich allein bleibe. Es gibt sehr viel, über das ich nachdenken muß.« Er schloß die Augen. »Vor allen Dingen auch darüber, weshalb ich immer noch hier bin. Sie werden das höchstwahrscheinlich anders sehen, doch ich habe mich unendlich schuldig gemacht, indem ich zugelassen habe, daß Nero von mir getrennt wird. Meinen besten Freund habe ich im Stich gelassen. Meinen…« Seine Stimme versagte.

»Sie haben Nero nicht im Stich gelassen, Herr Bach«, versuchte Eric ihn zu beschwichtigen. »Es gab keinen anderen Weg, als Nero in den Ruhestand zu entlassen. Keiner von uns kann in die Zukunft sehen. Deshalb konnten wir auch nicht wissen, daß Nero ausreißen würde.«

»Frau Becker sagte mir, daß Herr Mangold und Frau Maurer ihn blutend vor der Haustür gefunden haben. Was ist passiert? Hat ihn jemand geschlagen?«

Frau Becker also, dachte der Arzt erbost. Es war ein Fehler gewesen, Herrn Bach nicht sofort die Wahrheit zu sagen. Katharina hatte völlig recht gehabt. Mit

wenigen Worten erzählte er dem alten Mann, was geschehen

war.

»Ich bin froh, daß Dr. Weingart vernünftig genug gewesen ist, Nero gleich einzuschläfern, statt seinen Tod noch ein paar Tage hinauszuschieben«, sagte Amos Bach so leise, daß ihn Eric kaum verstehen konnte. »Ich habe Nero nie gesehen, trotzdem weiß ich genau, wie er ausgesehen hat. Wir sind so viele Jahre zusammengewesen, haben so viel miteinander erlebt. Einmal waren wir in Italien und…« Er holte tief Luft. »Nichts wird mehr sein, wie es früher gewesen ist. Ich mag Sita, dennnoch wird sie mir niemals Nero ersetzen können.«

»Man kann ohnehin kein Lebewesen durch ein anderes ersetzen«, antwortete Dr. Baumann. »Weder einen Menschen noch einen Hund.« Er nahm Amos’ Hand und drückte sie sanft. »Ich kann Ihre Verzweiflung sehr gut verstehen, Herr Bach, aber Sie haben jetzt auch eine Verantwortung Sita gegenüber. Außerdem dürfen Sie nicht vergessen, wie Nero stets darauf aufgepaßt hat, daß Ihnen nichts geschieht. Wenn Sie sich aus dem Leben stehlen, ist es sinnlos gewesen, daß er sie über zehn Jahre behütet und beschützt hat.«

Amos antwortete nicht sofort. Er dachte über die Worte des Arztes nach. »Ja, da ist etwas Wahres dran«, gab er nach einer Weile zu. »Sieht aus, als sollte ich froh darüber sein, daß Sita durch ihr Heulen Frau Maurer alarmiert hat.« Er strich mit der linken Hand über die Bettdecke. »Es ist alles ein bißchen viel in der letzten Zeit gewesen. Ehrlich, Herr Doktor, ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen.«

»Sie werden es schaffen«, versicherte Dr. Baumann. »Außerdem sind Sie nicht allein. Wenn…«

Es klopfte.

»Ja, bitte!« rief Amos Bach.

»Wir sind es nur, Herr Bach«, sagte Jürgen Mangold. »Hallo, Dr. Baumann.« Er nickte dem Arzt zu. »Stören wir?«

»Nein, ganz bestimmt nicht«, antwortete Eric.

Evelyn trat an das Bett ihres Vermieters. »Als wir heute vormittag angerufen haben, sagte man uns, daß es Ihnen besser geht.« Sie nahm Amos’ Hand. »Bitte, verzeihen Sie Jürgen und mir, daß wir Ihnen nicht sofort die Wahrheit gesagt haben.«

»Das ist schon in Ordnung«, meinte der alte Mann. »Sie haben es ja nur getan, um mich zu schützen. Woher hätten Sie wissen sollen, daß ich der guten Lina Becker in die Arme laufen werde?« Er dachte darüber nach, was ihm Dr. Baumann gesagt hatte. »Ich sollte dankbar dafür sein, daß Sie mir das Leben gerettet haben, Frau Maurer. Im Moment fällt es mir noch etwas schwer, doch…«

»Spätestens, wenn Sie unser erstes Kind im Arm halten, werden Sie wissen, wie schön das Leben sein kann«, warf Jürgen ein. Er legte den Arm um Evelyn. »Wir haben nämlich beschlossen zu heiraten.«

»Dann kann man wohl nur noch gratulieren.« Eric drückte die Hände der jungen Leute. »Ich freue mich für Sie.«

»Danke.« Evelyn lächelte ihm zu.

»Gestern sagte ich noch zu Dr. Baumann, daß wir wohl bald eine Verlobung feiern könnten«, warf Amos ein.

»Evelyn legte heute vormittag viel Wert darauf, mich mit einem so hervorragenden Frühstück zu verwöhnen, daß ich dachte, so könnte es in Zukunft immer sein«, scherzte Jürgen. »Also machte ich ihr einen Heiratsantrag.«

»Und ich war so überrascht, daß ich automatisch ja sagte«, fügte die junge Frau hinzu.

»Bereust du es?« fragte er und nahm sie in die Arme.

»Nein, keine Sekunde«, beteuerte sie. »Ich weiß zwar nicht warum, aber ich liebe dich nun einmal.« Sie küßte ihn auf die Wange, wand sich aus seinen Armen und ergriff erneut die Hand des Blinden. »Wir haben ein Attentat auf Sie vor, Herr Bach.«

»Ein Attentat?« wiederholte Amos. »Was für ein Attentat?«

»Jürgen und ich möchten zusammenziehen. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir gemeinsam in Ihrem Haus leben? Die Wohnung ist groß genug, um später auch noch Kindern Platz zu bieten.« Sie sah ihren zukünftigen Mann an, dann fügte sie hinzu: »Weder Jürgen noch ich haben Angehörige. Unsere Eltern sind tot, doch Kinder sollten zumindest einen Großvater haben. Möchten Sie ihr Großvater sein?«

»Fragen Sie das jetzt nicht nur, um mir etwas Hoffnung zu machen?« Amos umklammerte ihre Hand. »Sind Sie sich ganz sicher, Frau Maurer? Und auch Sie, Herr Mangold?«

»Für Evelyn und mich sind Sie längst zu einem Vater geworden, Herr Bach«, erwiderte Jürgen. »Es wäre wundervoll, wenn unsere Kinder in Ihnen einen Großvater hätten.«

»Den werden sie haben. Verlaßt euch darauf, den werden sie haben«, versprach Amos Bach und spürte, wie seine Verzweiflung neuem Lebensmut wich. »Dr. Baumann, Sie hatten völlig recht. Es gibt so vieles, was mich noch erwartet.« Verstohlen wischte er sich die Tränen fort, die über sein Gesicht rannen.

Zusammen mit Dr. Baumann verließen die jungen Leute eine halbe Stunde später das Krankenzimmer des alten Mannes. »Sie haben Herrn Bach sehr glücklich gemacht«, meinte der Arzt, als sie das Foyer durchquerten. »Ich glaube nicht, daß er noch einmal versuchen wird, sich das Leben zu nehmen.«

»Er hat wieder ein Ziel in seinem Leben«, erwiderte Jürgen. »Ohne Herrn Bach hätten Evelyn und ich uns niemals kennengelernt. Wir haben ihm unendlich viel zu verdanken.« Er sah verliebt seine zukünftige Frau an. »Er wird ein hingebungsvoller Großvater sein.«

Eric verabschiedete sich von den jungen Leuten und kehrte nach Hause zurück. Er war froh, Katharina berichten zu können, daß sich für Amos Bach alles zum Guten gewendet hatte.

Evelyn und Jürgen fuhren ein Stück den Leeberg hinauf und gingen dann mit Sita spazieren. Während die Hündin schnüffelnd von einem Baum zum nächsten rannte, folgten sie ihr Arm in Arm. Ab und zu blieben sie stehen, versicherten einander, wie sehr

sie sich liebten und küßten sich. Es waren erst sechsunddreißig Stunden vergangen, seit sie Amos Bach und Sita vom Trainigszentrum abgeholt hatten, dennoch hatte diese Zeit gereicht, um die Weichen ihres Lebens neu zu stellen.

Der Arzt vom Tegernsee Staffel 5 – Arztroman

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