Читать книгу Der Arzt vom Tegernsee Staffel 5 – Arztroman - Laura Martens - Страница 9
Оглавление»Sind die beiden nicht ein schönes Paar?« Annemarie Lindenmaier blickte stolz zu ihrem Sohn und Corinna hinüber, die an diesem Samstag kirchlich getraut worden waren. Die jungen Leute unterhielten sich mit einer älteren Frau, die jedes Jahr drei, vier Wochen im »Seeschlößchen« verbrachte und sich mit der Familie so verbunden fühlte, daß man sie auch zur Hochzeit eingeladen hatte.
»Ja, das sind sie wirklich«, bestätigte Dr. Eric Baumann. Als Ehrengast saß er mit am Tisch der Familie. Corinna lebte noch keine zwei Jahre in Bad Wiessee und hätte es sich, als sie im »Seeschlößchen« als Hotelsekretärin angefangen hatte, sicher nicht träumen lassen, eines Tages den Sohn der Besitzer zu heiraten. Er hatte die junge Frau sehr gern und mochte auch Fabian. Es stand für ihn außer Zweifel, daß sie eine glückliche Ehe führen würden.
»Als nächstes seid ihr an der Reihe«, wandte sich Ludwig Lindenmaier an Jörg Thomson und Melanie Berger, die rechts von ihm saßen. Schmunzelnd bemerkte er, wie Melanies Gesicht eine feine Röte überflog.
Jörg nahm liebevoll die Hand seiner Verlobten. »Wir können es kaum erwarten«, sagte er. »Im Mai wird es endlich soweit sein.« Er atmete tief durch. »Zum Glück haben meine Eltern inzwischen erkannt, was sie für eine phantastische Schwiegertochter bekommen.«
»Für uns stand von Anfang an fest, daß ihr beide wie füreinander geschaffen seid«, bemerkte Annemarie Lindenmaier. Sie lehnte sich zurück und versuchte, die Schmerzen in ihrer Brust zu ignorieren.
Dr. Baumann fiel auf, wie abgespannt Fabians Mutter wirkte. »Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte er leise.
Annemarie Lindenmaier zögerte einen Augenblick mit ihrer Antwort. »Nein, mit mir ist alles in Ordnung«, versicherte sie, aber er glaubte ihr nicht.
Das Brautpaar kehrte an den Tisch zurück. »Stoßen wir noch einmal alle miteinander an«, schlug Fabian vor und griff nach einer Weinflasche, um die Gläser zu füllen.
»Für mich bitte nicht«, bat Corinna. »Ich habe heute schon etwas zuviel getrunken.«
»Dann will ich dich natürlich nicht verführen, Liebling.« Fabian zwinkerte ihr zu.
Sein Vater blickte zur Uhr. »Bitte, entschuldigt mich einen Moment«, bat er und stand auf. Er stieg die kurze Treppe zur Bühne hinauf und ergriff das Mikrofon.
Augenblicklich wurde es im Saal still. »Da mein Sohn und meine Schwiegertochter ihre Flitterwochen in Irland verbringen werden, sollen sie im Laufe der nächsten Stunde darauf eingestimmt werden«, sagte er. »Ich habe großes Glück gehabt, denn mir ist es gelungen, die irische Sängerin Ireen Kelligan für den heutigen Abend zu engagieren. Sie wird von ihrer Freundin Helen Field auf der Harfe begleitet.
Ireen Kelligan befindet sich zur Zeit auf einer Europa-Tournee. Noch gestern abend hat sie in München gastiert.«
Auf ein Zeichen des Hotelier hob sich der Vorhang, und das Licht der Scheinwerfer fiel auf eine wundervoll gearbeitete Harfe. Direkt neben ihr saß eine blonde Frau in einem blauen weichfließenden Abendkleid. Beifall klang auf und er verstärkte sich noch, als Ireen Kelligan jetzt die Bühne betrat.
Sie bewegte sich so graziös, daß es Dr. Baumann vorkam, als würden ihre Füße kaum den Boden berühren. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden. Sie erschien ihm wie ein Wesen aus einer anderen Welt, auch wenn er sich gleichzeitig sagte, daß die junge Sängerin ein ganz normaler Mensch aus Fleisch und Blut war.
Ireen Kelligan neigte anmutig den Kopf. »Ich freue mich sehr, heute abend bei Ihnen sein zu dürfen, zumal bei einem so wundervollen Anlaß wie einer Hochzeit«, meinte sie. Ihr Deutsch klang fremdartig und dunkel, doch das verstärkte nur noch den Zauber ihrer Stimme.
Die junge Frau wandte sich halb zur Seite und wies mit einer charmanten Geste zu ihrer Freundin, die aufstand und sich verneigte. »Helen und ich hoffen, Ihnen durch unsere Musik und unsere Lieder meine irische Heimat näherzubringen. Irland ist ein wundervolles Land, voller Mystik und Geheimnisse, die zum großen Teil noch unter seinen grünen Hügeln verborgen liegen. Die Lieder, die wir Ihnen spielen und singen wollen, sind sehr alt und haben ihre Ursprünge in Zeiten, die längst vergangen sind und dennoch in uns fortleben.«
»Es ist uns eine große Freude, Sie und Mrs. Field heute abend bei uns begrüßen zu dürfen.« Ludwig Lindenmaier schüttelte die Hand der Künstlerin, dann verließ er die Bühne und kehrte zu seinem Tisch zurück.
Ireen Kelligan griff nach dem großen Heft, das ihr Helen reichte, und schlug es auf. »Ich möchte Ihnen zu jedem unserer Lieder eine deutsche Erklärung geben«, sagte sie und lachte. »Leider ist mein Deutsch nicht so gut, daß ich es ohne Hilfe könnte. Verzeihen Sie mir also, wenn ich ab und zu einen Blick auf meine Notizen oder, wie man bei Ihnen sagen würde, Spickzettel werfen muß.«
Die Zuschauer lachten und klatschten Beifall. Auch Eric, obwohl er die Menschen um sich herum kaum noch wahrnahm. Er blickte wie gebannt zur Bühne, ließ sich kein Wort der jungen Sängerin entgehen und bewahrte es in seinem Herzen.
Helens Finger zupften an den Saiten der Harfe, während ihre Freundin den Text des ersten Liedes erklärte. Ihr Spiel klang wie das leise Raunen des Windes. Es wehte durch den Saal, erfüllte ihn ganz, nahm jeden der Zuhörer gefangen. Doch dann, als Ireen zu singen begann, verwandelte es sich in das Rauschen der Brandung, die gegen Irlands Klippen schlug, unterstrich die Stimme der Sängerin, half ihr, das Leben vergangener Zeiten auferstehen zu lassen.
In Gedanken begleitete Eric Ireen zu den uralten Stätten der Kelten. Er hatte nie zuvor gälisch gehört, dennoch erschien es ihm, als sei er in dieser Sprache zu Hause. Er befand sich inmitten gigantischer Steinkreise, hörte die Beschwörungen der Druiden und tanzte mit den Barden.
Heftiger Beifall rief den Arzt in die Gegenwart zurück. Automatisch bewegten sich seine Hände, während er zur Bühne blickte und nur Ireen Kelligan sah. Was ist nur los mit mir, dachte er und fragte sich, ob er zuviel Wein getrunken hatte. Aber das konnte nicht sein.
»Ist Miss Kelligan nicht fabelhaft?« fragte Ludwig Lindenmaier. »Ich bin so froh, daß sie zugestimmt hat, heute abend bei uns aufzutreten.« Er wandte sich an Dr. Baumann: »Sieht aus, als hätte die junge Dame Sie völlig beeindruckt.«
Eric riß sich zusammen. »Ja, das hat sie«, gab er zu. »Miss Kelligan hat eine wirklich außergewöhnliche Stimme.«
»Ja, das hat sie«, pflichtete ihm Annemarie Lindenmaier bei. »Ludwig und ich haben Miss Kelligan zum ersten Mal vor einem Jahr in London gehört. Damals wurde sie von einem Mann auf der Harfe begleitet. Liam O’Connor.«
»Man sagte uns, bei diesem Liam O’Connor würde es sich um einen sehr engen Freund handeln«, fügte der Hotelier hinzu. »Sie scheinen nicht mehr zusammen zu sein.«
Seine Frau stand auf. »Ich werde mal nach den Damen sehen«, sagte sie und verließ den Tisch.
»Es gehört zwar nicht zu diesem Abend, doch ich mache mir Sorgen um Annemarie«, raunte Ludwig Lindenmaier dem Arzt zu. »Sie hat in letzter Zeit öfter über Brustschmerzen geklagt. Leider hält sie ihre Schmerzen nicht für so wichtig, um in Ihre Praxis zu kommen.«
»Das sollte sie aber«, meinte Eric nachdenklich. »Mir ist bereits aufgefallen, daß sich Ihre Frau heute nicht wohl zu fühlen scheint.«
»Ich werde noch einmal ein gewichtiges Wörtchen mit ihr reden«, versprach der Hotelier.
Wenig später kehrte Annemarie Lindenmaier in Begleitung der jungen Sängerin zurück. »Mrs. Field hat leider Kopfschmerzen«, sagte sie, als sie an den Tisch traten. »Sie hat sich ein paar Minuten hingelegt.« Liebenswürdig machte sie Ireen mit ihren Freunden bekannt.
»Woher sprechen Sie so gut deutsch?« erkundigte sich Jörg Thomson, nachdem sie Platz genommen hatten.
»Meine Mutter ist Deutsche«, erwiderte Ireen. »Mit ihr habe ich stets deutsch gesprochen. Mit meinem Vater dagegen gälisch. Englisch habe ich in der Schule und auf der Straße gelernt.«
»Sprechen Sie noch mehr Sprachen?« fragte Melanie.
»Ein wenig französisch«, antwortete sie. »Leider nicht viel. Meine Musik läßt mir nur wenig Zeit, all die Dinge zu lernen, die ich gern noch lernen würde.«
Die Kapelle spielte einen Walzer. Fabian forderte Corinna auf. Arm in Arm gingen sie zur Tanzfläche. Plötzlich rannte ein schwarzer Kater auf sie zu. Corinna bückte sich und hob ihn hoch. »Rasputin, was tust du denn hier?« fragte sie.
»Vielleicht will er uns Glück wünschen.« Ihr Mann winkte eine der Kellnerinnen herbei und legte ihr Rasputin in die Arme. »Man soll ihm in der Küche etwas Gutes zu fressen geben«, sagte er, »und danach soll ihn jemand zu Frau Seminas zurückbringen. Sie wird ihn bestimmt schon vermissen. Ach ja, und schicken Sie bitte Kuchen mit.«
»Gehört Ihnen die Katze?« erkundigte sich Ireen Kelligan bei Annemarie Lindenmaier.
»Nein, einer alten Dame aus Bad Wiessee. Rasputin treibt sich oft bei uns herum. Anfangs dachten wir, er sei herrenlos. Corinna und Fabian hatten ihn bereits Merlin getauft.«
»Merlin?« Ireen hob die Augenbrauen.
»Ja, nach dem Zauberer aus der Artus-Sage. Es war die Zeit, in der sich mein Sohn und Corinna ineinander verliebten.«
Die junge Irin stellte keine weiteren Fragen, obwohl sie nicht verstand, was Merlin mit dem Brautpaar zu tun hatte. Sie schaute zu den beiden hinüber. Wie glücklich sie waren, so unendlich glücklich. Sie mußte an Liam denken und spürte tief in ihrem Herzen einen schneidenden Schmerz. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit sie zuletzt miteinander getanzt hatten.
»Tanzen Sie?«
Ireen schaute auf. Sie besaß ein sehr gutes Namengedächtnis, deshalb wußte sie sofort, daß es sich bei dem gutaussehenden Mann, der vor ihr stand, um Dr. Baumann handelte. »Ja«, erwiderte sie und stand auf.
Eric führte Ireen zur Tanzfläche. Er fühlte sich in ihrer Gegenwart wie verzaubert. Nie zuvor hatte eine Frau eine derartige Macht auf ihn ausgeübt. Sie nahm ihn völlig gefangen. Als sie
miteinander tanzten, kam es ihm vor, als hätten sie nie etwas anderes getan, und er wünschte sich, mit ihr bis in alle Ewigkeit so
weitertanzen zu können. Der Gedanke, sich wieder von Ireen trennen zu müssen, machte ihm angst.
»Bleiben Sie noch lange in Deutschland?« erkundigte er sich.
»Leider nicht. Ich kehre Dienstag nach Irland zurück«, erwiderte sie. »Meine Eltern erwarten mich dort. In drei Wochen geht es nach Frankreich, von dort über Spanien und Italien nach Griechenland.«
»Wo werden Sie in Frankreich auftreten?«
»Ich werde mehrere Konzerte in der Bretagne geben, aber auch in Paris und Nizza.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Planen Sie
etwa eine Reise nach Frankreich?«
»Im Moment kann ich keinen Urlaub nehmen«, meinte er bedauernd und fragte sich, ob es nicht doch eine Möglichkeit geben würde, nach Frankreich zu reisen, dann riß er sich zusammen. Er benahm sich wie ein verliebter Pennäler. Abgesehen davon, daß er bereits die Vierzig überschritten hatte, war er immer stolz darauf gewesen, niemals den Kopf zu verlieren.
»Sie haben einen wundervollen Beruf«, meinte sie. »Es muß sehr befriedigend sein, kranken Menschen helfen zu können.«
»Ja, das ist es«, antwortete er. »Haben Sie morgen abend schon etwas vor? Wir könnten miteinander zum Essen gehen.«
Ireen sah ihn lange an, bevor sie den Kopf schüttelte. »Nein, ich habe noch nichts vor, Doktor Baumann«, sagte sie bedächtig. »Ich nehme Ihre Einladung gern an.«
»Wunderbar.« Eric konnte es kaum fassen, daß sie so einfach ja gesagt hatte. »Ich werde Sie morgen abend um sieben Uhr vom Seeschlößchen abholen.«
»Ich freue mich darauf«, antwortete die junge Sängerin und schaute ihm in die Augen. »Ja, ich freue mich darauf.«
*
Die Bewohner des Löblhofes waren kaum vom Sonntagsgottesdienst zurückgekehrt, als ein fremder Wagen auf den Hof fuhr und neben dem Ziehbrunnen hielt. Paul Walkhofer blickte aus dem Küchenfenster. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er den Mann sah, der ausstieg und kläffend von Artus, dem alten Hofhund, begrüßt wurde.
»Das kann nicht wahr sein!« stieß er verblüfft hervor. »Manfred Kessler und ich haben in derselben Einheit gedient. Es ist eine Ewigkeit her, seit ich zuletzt von ihm gehört habe.« Er eilte in den Hof hinaus.
»Gell, da machst du Augen«, meinte Manfred Kessler und ging dem Freund entgegen. »Du hast bestimmt nicht damit gerechnet, daß du mich noch einmal wiedersiehst.«
»Ja, so ungefähr könnte man sagen«, bestätigte Paul. »Ich habe dir mehrmals geschrieben. Du hast meine Briefe nie beantwortet.«
»Du müßtest wissen, daß ich noch nie ein großer Briefschreiber gewesen bin.« Manfred umfaßte die Schultern des jungen Bauern. »Es ist verdammt schön, dich zu sehen. Wie habe ich mich während der letzten Tage auf dein Gesicht gefreut.«
»Was tust du hier?« fragte Paul. »Machst du am Tegernsee Urlaub?«
Manfred schüttelte den Kopf. »Nein, Urlaub würde ich es nicht nennen. Seit letzter Woche arbeite ich als Empfangschef im Hotel Sonnenwinkel. Es liegt in Bad Wiessee.« Er lachte. »Und weil ich dich überraschen wollte, habe ich absichtlich nicht angerufen.«
»Komm herein.« Paul nahm den Arm seines Freundes und führte ihn in die Küche, um ihn mit seiner Familie bekannt zu machen. »Sicher habe ich euch irgendwann von Manfred erzählt«, meinte er. »Das ist allerdings schon so lange her, daß ihr bestimmt vergessen habt, wer er ist. Manfred hat nie seinen Humor verloren, selbst wenn wir bei strömenden Regen durch den Schlamm robben mußten.«
»Mit Humor läßt sich alles leichter ertragen«, erklärte Manfred, sah dabei jedoch nur Franziska an. »Warum hast du mir nie erzählt, wie hübsch deine Cousine ist?« wandte er sich an Paul. »Du kannst dir sicher sein, daß ich dann schon eher gekommen wäre.« Er ergriff grinsend die Hand der jungen Frau.
Franziska bat Paul durch ein Zeichen, seinem Freund zu erklären, daß sie nicht sprechen konnte. Paul war es gewohnt, so etwas zu tun, und es machte ihm nichts aus. Es freute ihn, daß Manfred so leicht darüber hinwegging, als sei es etwas Selbstverständliches.
Auch Anton Löbl gefiel es. »In einer Stunde gibt es Essen«, sagte er zu dem jungen Mann. »Sie bleiben doch sicher?«
»Gern«, antwortete Manfred. »Ich habe erst am späten Nachmittag wieder Dienst.«
»Gut, dann werde ich dich jetzt erst einmal für ein Weilchen entführen.« Paul legte die Hand auf die Schulter seines Freundes. »Komm, wir gehen auf mein Zimmer hinauf und sprechen über alte Zeiten.«
Magdalena Walkhofer wartete, bis sich die Tür hinter den Männern geschlossen hatte, bevor sie zu ihrer Nichte sagte: »Sieht aus, als hättest du diesem Herrn Kessler bereits den Kopf verdreht.«
»Was du nur immer denkst, Tante Magdalena«, schrieb die junge Krankengymnastin auf ihren Block, errötete jedoch. Manfred gefiel ihr. Sein nettes, offenes Wesen hatte im Sturm ihr Herz gewonnen. Sie hielt ihn für einen Mann, mit dem man Pferde stehlen konnte. Jedenfalls sah es nicht aus, als hätte er Angst vor seinem eigenen Schatten.
Eine Stunde später saßen sie alle um den großen Küchentisch und ließen es sich schmecken. Manfred zierte sich nicht, langte zu und lobte das Essen in den höchsten Tönen. »Ein Hoch auf die Köchin«, meinte er. »Ich werde sie meinem Chef empfehlen.«
»Unterstehen Sie sich, meine Schwester bleibt auf dem Hof«, erklärte Anton Löbl entschieden. »Und wenn ich sie mit Ketten binden müßte.«
»Es gehören stets zwei dazu, Anton«, erwiderte Magdalena Walkhofer amüsiert. »Einer, der bindet, und ein anderer, der es sich gefallen läßt.«
»Sei unbesorgt, Magdalena, wir werden nicht zulassen, daß Anton dich fesselt«, mischte sich Hermann Walkhofer ein, der mit seiner Frau seit einigen Monaten auf dem Löblhof wohnte, weil sie zu alt geworden waren, um allein zu leben. Er zwinkerte dem Bauern zu. »Allerdings werden wir auch zu verhindern wissen, daß du gehst.«
»Sieht nicht aus, als hätte ich Erfolg«, bemerkte Manfred Kessler. Er ließ den Blick um den Tisch wandern. »Ich finde es herrlich, inmitten einer so großen Familie zu leben, wo einer für den anderen einsteht. Ich mußte als Einzelkind aufwachsen und hatte zudem weder Tante noch Großeltern.«
»Möchten Sie sich nachher den Hof anschauen?« fragte Anton Löbl. »Paul wird Sie bestimmt gern herumführen. Das heißt natürlich, wenn Sie sich für Landwirtschaft interessieren.«
»Sehr sogar«, erwiderte Manfred, und es klang, als sei er wirklich begeistert, sich alles anschauen zu dürfen. Er wandte sich Franziska zu und meinte: »Sie müssen Paul und mich unbedingt dabei begleiten.«
Paul runzelte unwillig die Stirn. So gut er sich auch mit Manfred während seiner Dienstzeit verstanden hatte, ihm gefiel es nicht, daß sein Freund Franziska schöne Augen machte. Er liebte seine Stiefcousine nach wie vor. Auch wenn es nicht den Anschein hatte, als würde sie seine Liebe jemals erwidern, war er bereit, sie auf Händen zu tragen.
»Ich komme gern mit«, schrieb sie.
Um den Abwasch nach dem Mittagessen kümmerte sich Lena, die Hausmagd. Später wollte sie mit den beiden Knechten nach Bad Wiessee fahren, wo im Gasthof »Zur Post« das Theaterstadl gastierte.
Franziska und ihr Stiefcousin wollten eben mit dem Gast zur Hofbesichtigung aufbrechen, als ein Anruf für Paul kam. »Geht schon immer voraus«, schlug der junge Bauer vor. Seiner Stimme war anzumerken, daß er es nicht gern tat.
Anton Löbl saß mit seiner Schwester in der Wohnstube und las die Zeitung, während Paul im Nebenzimmer telefonierte. Die Verbindungstür stand halb offen. Sie hörten, daß er sich beeilte, den Anrufer möglichst rasch zu verabschieden.
»Herr Kessler gefällt mir«, meinte der Bauer, als sein Stiefneffe ins Wohnzimmer trat. »Er macht einen guten Eindruck auf mich und scheint ein wirklich netter Bursche zu sein.«
»Manfred ist ein netter Kerl«, bestätigte Paul, »allerdings auch ein Hallodri. Was Frauen betrifft, so kann man ihm nicht trauen.«
»Und du bist nicht nur eifersüchtig, weil er Franziska schöne Augen macht?« fragte seine Stiefmutter.
»Ich habe aufgegeben, um Franziska zu freien«, erklärte Paul. »Nur wäre es schade, wenn sie auf jemanden wie Manfred hereinfallen würde. Entschuldigt mich.« Eilig verließ er das Haus.
»Das glaubt er doch selbst nicht, daß er aufgegeben hat«, bemerkte Magdalena Walkhofer zu ihrem Bruder.
»Ich bin froh, daß der Bub nicht aufgibt«, antwortete Anton Löbl und lachte verschmitzt. »Beharrlichkeit führt bekanntlich zum Ziel.«
Seine Schwester schüttelte den Kopf. »Hör auf, dir etwas vorzumachen, Anton. Franziska ist mit Paul aufgewachsen. Möglicherweise kann er deshalb nie mehr als ein Bruder für sie sein. Ich kann ja verstehen, daß du nach wie vor darauf hoffst, den Hof eines Tages einem leiblichen Enkelkind übergeben zu können, aber…«
»Was abgemacht ist, bleibt abgemacht, Magdalena, verlaß dich darauf«, erklärte Anton Löbl. »Natürlich wäre es schön, wenn Franziska und Paul heiraten würden, doch wenn es nicht so ist, soll es eben nicht so sein. Es ist sinnlos, gegen Windmühlen zu kämpfen. Den Löblhof bekommt eines Tages der Paul. Ich könnte mir keinen besseren Nachfolger wünschen.«
Franziska und Manfred erwarteten Paul bei den Stallungen. Artus hatte es sich zwischen ihnen bequem gemacht. Schwanzwedelnd blickte er dem jungen Bauern entgegen.
»Ich habe deine Cousine für Mittwochabend in die Disko eingeladen«, sagte Manfred, als der junge Bauer sie erreicht hatte.
»Und?« Paul sah Franziska an. Er hoffte, daß sie abgelehnt hatte.
»Sie hat zugesagt«, erklärte Manfred zufrieden.
»Ist das wahr, Franziska?«
Die junge Frau nickte. Sie mochte Manfred. Warum sollte sie also nicht mit ihm in die Disko gehen?
»Auf geht’s!« Paul öffnete die Stalltür. Während er und Franziska den Besuch durch die einzelnen Bereiche führten, überlegte er, daß Manfreds Auftauchen auf dem Löblhof keine so glückliche Fügung gewesen war.
*
Katharina Wittenberg, die Haushälterin von Dr. Baumann, stand im Bügelzimmer und dämpfte Erics Jackett. Bester Laune trällerte sie dabei vergnügt vor sich hin. Seit Erics Rückkehr aus Kenia hoffte sie darauf, daß er sich wieder verlieben würde. Nun war es anscheinend geschehen. Beim Frühstück hatte er kaum von etwas anderem gesprochen als von der gestrigen Hochzeit im »Seeschlößchen« und Ireen Kelligan. Ihr brannten hundert Fragen auf der Seele, aber hielt sich zurück, weil sie befürchtete, ihm lästig zu fallen. Auf jeden Fall mußte es sich bei dieser Sängerin um eine außergewöhnliche Frau handeln.
»Katharina, wo ist denn mein Jackett?« rief Dr. Baumann aus dem Schlafzimmer.
»Ich dämpfe es gerade noch einmal«, antwortete sie und sang weiter vor sich hin.
Eric kam ins Bügelzimmer. Er lachte auf. »Tut mir ja leid, Katharina, es heißt nicht ›mein ist dein ganzes Herz‹, sondern ›dein ist mein ganzes Herz‹.«
»Ach, was macht das? Auf jeden Fall ist es ein schönes Lied«, erklärte die Haushälterin. Sie schaute auf und musterte ihn kritisch. »Du siehst aus wie ein junger Gott.«
»Nur, weil ich heute abend ausgehe?« fragte er. »Sonst machst du auch nicht so ein Theater, wenn ich jemanden eingeladen habe.«
»Diesmal ist es etwas anderes, das spüre ich«, meinte sie und legte das Jackett über das Bügelbrett.
Eric nahm sie in den Arm. »Danke für alles, Katharina«, sagte er und küßte sie gerührt auf die Stirn.
Katharina wand sich aus seinen Armen. »Ach, da gibt es nichts zu danken«, wehrte sie ab und sah ihn mit strahlenden Augen an. »Mach, daß du fertig wirst. Laß Mrs. Kelligan nicht warten.«
Vor sich hin summend ging die Haushälterin in die Küche hinunter, um sich etwas zum Abendessen zu machen. Sie füllte Franzls Napf und gab ihm noch ein paar extra Leckerbissen, weil sie so glücklich war. In Gedanken hörte sie bereits Babygeschrei und sah sich mit dem Kind auf der Terrasse sitzen. Katharina Wittenberg hatte niemals eigene Kinder gehabt. Deshalb war ihr Eric, den sie aufgezogen hatte, so ans Herz gewachsen. Sie liebte ihn, wie sie einen eigenen Sohn nicht mehr hätte lieben können. Vor einigen Jahren hatte er sich nach einer großen Enttäuschung entschlossen, in Kenia zu leben und zu arbeiten. Damals war ihr fast das Herz gebrochen.
Als Eric hinunterkam, begleiteten ihn sein Hund und Katharina bis zur Haustür. »Es kann spät werden«, meinte er. »Also warte nicht auf mich.«
»Ich werde mir einen Film im Fernsehen anschauen und danach schlafen gehen«, erwiderte sie. »Viel Spaß, Eric.«
»Den werde ich haben«, versicherte der Arzt, strich Franzl über den Kopf und eilte zu seinem Wagen. Er hörte, wie hinter ihm die Haustür geschlossen wurde, war sich jedoch sicher, daß ihm seine Haushälterin vom Küchenfenster aus nachschauen würde. Es amüsierte und rührte ihn zugleich.
Auf der Fahrt nach Bad Wiessee mußte Eric daran denken, wie Katharina Wittenberg versucht hatte, ihm die Mutter zu ersetzen, und daß er seine unbeschwerte Kindheit zum großen Teil ihr zu verdanken hatte. Ohne Katharina wäre sein Leben bestimmt ganz anders verlaufen.
Ireen Kelligan erwartete Dr. Baumann im Foyer des »Seeschlößchen«. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid, dessen breiter Saum mit goldfarbenen Fäden durchwirkt war, und eine dazu passende Jacke. Ihre rotblonden Haare fielen weich auf die Schultern, und als Eric sie ansah, glaubte er, daß sich in ihren grünen Augen die Seele Irlands spiegelte. Wieder fühlte er sich in ihrer Gegenwart wie verzaubert. Er hoffte, daß
Ireen nicht bemerkte, wie aufgeregt er war, und daß er wie ein junger Mann bei seinem ersten Rendezvous befürchtete, etwas Falsches zu tun oder zu sagen.
»Ich habe mich den ganzen Tag auf den heutigen Abend gefreut, Doktor Baumann«, bemerkte
Ireen, als sie in seinem Wagen zum Anlegesteg der »Seemarie« fuhren. »Meine Freundin leidet noch immer an Kopfschmerzen, allerdings glaube ich, daß sie mit der Sehnsucht zusammenhängen, die sie nach ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn hat.«
»Und auf Sie wartet in Irland außer Ihren Eltern niemand?« erkundigte er sich und hielt unbewußt den Atem an.
Ireen zögerte einen Augenblick, weil sie an Liam dachte, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, mich erwarten nur meine Eltern«, antwortete sie.
Um draußen essen zu können, war es noch zu kalt, deshalb gab es an diesem Abend auf der »Seemarie« auch nur Tische unter Deck. Ein Steward führte sie zu ihren Plätzen und entzündete die Kerze, die auf dem Tisch stand. »Darf ich Ihnen die Weinkarte bringen?« fragte er.
»Ja, bitte«, erwidert Eric und rückte für seine Begleiterin den Stuhl zurecht.
Anna und Florian Mergenthaler betraten das Bordrestaurant. Als sie Dr. Baumann sahen, kamen sie an seinen Tisch und begrüßten ihn. Der Arzt stellte ihnen Ireen Kelligan vor.
»Wir feiern heute unseren Hochzeitstag.« Florian sah seine Frau verliebt an.
»Ein Grund, herzlich zu gratulieren.« Eric reichte erst Anna, dann ihm die Hand.
»Meine Schwiegermutter ist alles andere als begeistert gewesen, als wir ihr sagten, daß wir diesen Abend für uns haben wollen«, bemerkte Anna. »So leicht wird sie uns das nicht verzeihen.«
»Wir lassen meine Mutter wirklich gern an allem teilnehmen, doch dieser Abend gehört uns«, fügte Florian hinzu.
»Das kann ich gut verstehen«, sagte Eric. »Viel Spaß.«
»Den werden wir haben.« Der Kreditsachbearbeiter legte den Arm um seine Frau und führte sie zu dem für sie reservierten Tisch.
»Ein nettes Paar«, bemerkte Ireen Kelligan. »Gehören sie zu Ihren Patienten, Dr. Baumann?«
»Ja.« Eric nickte. »Ich habe die beiden gern.« Schmunzelnd fügte er hinzu: »Herr Mergenthaler arbeitet bei einer Bank und schreibt in seiner Freizeit Gedichte.«
»Gute Gedichte?«
»Darüber möchte ich mir lieber kein Urteil erlauben«, erklärte er und dachte an die Verse, für die Florian Mergenthaler der erste Preis im Dichterwettbewerb der Bäckervereinigung verliehen worden war.
»Der geborene Diplomat«, meinte die junge Sängerin lächelnd.
Der Wein kam und wenig später das Essen. Ireen sprach von ihren Eltern. Sie erzählte, daß ihre Mutter nur nach Irland gekommen war, um dort die Geschichte der Kelten zu studieren. »Dann hat sie meinen Vater kennengelernt und alles andere darüber vergessen.«
»Sieht aus, als würde sie ihn sehr lieben.«
»Ja, meine Eltern lieben sich. Das habe ich schon als Kleinkind gespürt. Mein Vater ist Professor für irische Geschichte. Er arbeitet an der Universität, macht von Zeit zu Zeit jedoch auch Vortragsreisen. Meistens wird er dabei von meiner Mutter begleitet. Sie kann kaum einen Tag ohne ihn sein.« Ireen nahm einen Schluck Wein. »Und Ihre Eltern?«
»Sie sind tot«, antwortete Eric. »Als meine Mutter starb, bin ich noch ein kleiner Bub gewesen. Mein Vater war Arzt wie ich. Er stellte eine junge Frau ein, die den Haushalt führen und sich um mich kümmern sollte. Katharina Wittenberg ist ein herzensguter Mensch. Sie ist noch immer bei mir.«
»Klingt, als hätten Sie Ihre Haushälterin sehr gern.«
»Ja, das habe ich«, gestand er.
Dr. Baumann wußte nicht, warum, aber es erschien ihm wichtig, daß Ireen alles von ihm wußte, und so hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung von seiner früheren Verlobten sprechen.
»Als mich Lydia kurz vor unserer Hochzeit wegen eines anderen verließ, bin ich aus Enttäuschung nach Kenia gegangen, um dort zu arbeiten«, erzählte er. »Ich hatte nicht vorgehabt, jemals für längere Zeit nach Deutschland zurückzukehren, doch dann starb mein Vater. Ich kam zu seiner Beerdigung nach Tegernsee. In der Nacht darauf ging ich in sein Sprechzimmer hinunter und blätterte in den Krankenkarteien.« Er hob die Schultern. »Ich habe es nicht fertiggebracht, nach Kenia zurückzukehren, weil ich wußte, daß mein Vater von mir erwartete, daß ich seine Praxis übernehme.«
»Haben Sie es bereut?«
»Nein, ich habe es nicht bereut, nicht einen einzigen Tag.«
»Ich bin auch ziemlich enttäuscht worden«, gestand Ireen und sprach von Liam O’Connor. »Er ist ein paar Jahre älter als ich, vor wenigen Wochen dreißig geworden. Von Anfang an sind wir zusammen aufgetreten. Liam ist der beste Harfenist, den ich kenne. Wenn er spielt, ist es, als würden die Töne direkt aus dem Himmel kommen.«
»Und warum sind Sie nicht mehr zusammen?«
»Weil Liam glaubt, bei den Auftritten in meinem Schatten zu stehen. Außerdem ist er auf jeden Mann, der mich nur ansieht, entsetzlich eifersüchtig. Dazu kommt noch, daß er nicht bereit ist, auch neue Wege zu gehen. Jedesmal, wenn ich in der Musik etwas Neues ausprobieren will, sagt er stopp. Wir haben uns schrecklich gestritten.«
»Lieben Sie ihn noch?« fragte Eric und umklammerte so fest den Stiel seines Weinglases, daß er fast abbrach.
»Nein. Ich glaube auch nicht, daß ich Liam je geliebt habe. Obwohl…« Ireen schüttelte den Kopf. »Wenn jemals etwas gewesen ist, ist es vorbei. Ich kann nicht mit jemandem leben, der befürchtet, der Beifall würde stets nur mir gelten.« Sie holte tief Luft. »Deshalb bin ich ja auch so froh, daß Helen bereit ist, mich vorläufig auf meinen Konzertreisen zu begleiten. Sie ist genau wie meine Mutter aus Liebe in Irland hängengeblieben. Harfe spielt sie seit ihrer Kindheit. Sie hat sogar schon mehrere Preise gewonnen.«
Nach dem Essen gingen sie auf das Deck hinaus. Es war kühl. Dr. Baumann zog sein Jackett aus und legte es um Ireens Schultern.
Die junge Sängerin blickte zum sternenklaren Himmel hinauf. »Wissen Sie, was mir eben bewußt wird?« fragte sie leise. »Daß es dieselben Sterne und derselbe Mond sind, die bereits die Kelten gesehen haben.« Sie wandte ihm das Gesicht zu. »Ich habe heute beschlossen, noch am Tegernsee zu bleiben. Es gefällt mir hier. Helen wird am Dienstag allein nach Irland zurückfliegen.«
»Ist das wirklich wahr?« Eric konnte es kaum glauben. Am liebsten hätte er Ireen spontan in den Arm gezogen. Es kostete ihn Mühe, ihr nicht zu zeigen, wieviel ihm ihre Worte bedeuteten.
»Ja, es ist wahr«, erwiderte sie und schaute ihm in die Augen.
Liebevoll ergriff er ihre Hand und berührte mit den Lippen sanft ihre Fingerspitzen.
*
Es war kurz vor Mitternacht, als Dr. Baumann nach Hause zurückkehrte. Er hatte Ireen ins Hotel gebracht und dort noch zusammen mit ihr etwas getrunken. Der Abend war so wunderschön gewesen, daß er befürchtete, in dieser Nacht nicht einschlafen zu können. Noch immer glaubte er, ihre Stimme zu hören und ihre Nähe zu spüren. Mit geschlossenen Augen blieb er hinter dem Steuer seines Wagens sitzen und dachte an die vergangenen Stunden zurück.
Doch er konnte nicht ewig so sitzenbleiben. Schließlich erwartete ihn ein langer Arbeitstag. Er mußte wenigstens versuchen, noch ein paar Stunden zu schlafen.
Leise schloß der Arzt die Haustür auf und wollte eben in die Küche gehen, um zu sehen, ob Katharina Wittenberg für ihn eine Thermoskanne mit Tee bereitgestellt hatte, als er Franzl die Treppe hinuntertapsen hörte.
»Psst«, machte Eric. »Vielleicht schläft Katharina schon, obwohl ich es mir eigentlich nicht denken kann.« Er beugte sich zu Franzl hinunter und umarmte ihn. »Kannst du dir vorstellen, daß ich mich verliebt habe?«
Franzl gähnte.
»Das ist deutlich gewesen«, meinte er. »Komm, für einen Hundekuchen ist es bestimmt noch nicht zu spät.«
So schläfrig Franzl eben noch ausgesehen hatte, jetzt rannte er freudig in die Küche.
Auf dem Küchentisch stand tatsächlich eine Kanne mit heißem Tee. Dr. Baumann stellte einmal mehr fest, daß er sich auf seine Haushälterin absolut verlassen konnte. Er holte einen Hundekuchen aus der Speisekammer, gab ihn Franzl und trug Kanne und Becher zu seinem Schlafzimmer hinauf. Sein Hund folgte ihm schwanzwedelnd.
»Schlaf gut, Franzl«, sagte er.
Franzl zog sich mit seinem Kuchen in den Korb zurück, der seitlich der Schlafzimmertür des Arztes stand.
Eric warf einen Blick zu Katharinas Zimmer. Er konnte sich nicht vorstellen, daß sie tatsächlich schon schlief. Immerhin kannte er sie gut genug, um zu wissen, wie neugierig sie war. Es amüsierte ihn, daß sie sich nicht blicken ließ. Glaubte sie wirklich, ihm etwas vormachen zu können?
Nach einem letzten Blick auf Franzl betrat er sein Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich. Er war überzeugt, daß Katharina ihre Neugier höchstens bis zum Frühstück zurückhalten konnte.
Der Arzt wollte sich eben zu Bett legen, als das Telefon klingelte. Das nenn’ ich timing, dachte er, hob den Hörer ab und meldete sich.
»Tut mir leid, daß ich Ihre Nachtruhe stören muß, Doktor Baumann«, sagte Ludwig Lindenmaier. »Meiner Frau geht es sehr schlecht. Sie hat starke Herzschmerzen. Wenn sie sich nach vorne beugt, werden die Schmerzen schlimmer.«
»Strahlen sie auch in Schulter und Arm aus?« fragte Eric, ohne sich lange mit einem Gruß aufzuhalten.
»Nein, im Arm spürt sie nur ein Ziehen«, antwortete der Hotelier.
»Ich bin so schnell es geht bei Ihnen, Herr Lindenmaier«, versprach Eric.
»Könnte es ein Herzinfarkt sein?« fragte Fabians Vater.
»Das glaube ich nicht«, erwiderte der Arzt. »Versuchen Sie, es Ihrer Frau so bequem wie möglich zu machen. Vor allen Dingen sollte sie nichts Beengendes tragen.«
»In Ordnung.« Der Hotelier legte auf.
Eilig zog sich Dr. Baumann wieder an. Franzl hob erstaunt den Kopf, als sein Herrchen in den Gang trat. »Ich bin bald zurück«, raunte Eric seinem Hund zu. »Bleib schön liegen.« Er lief die Treppe hinunter und verließ das Haus.
Auf der Fahrt zum »Seeschlößchen« bedauerte Dr. Baumann, noch nicht gewußt zu haben, wie schlecht es Annemarie Lindenmaier ging, als er Ireen Kelligan ins Hotel zurückgebracht hatte. Auch wenn er nicht annahm, daß es sich um einen Herzinfarkt handelte, weil die Symptome dem widersprachen, machte er sich große Sorgen um seine Patientin. Annemarie Lindenmaier hatte seit ihrer Kindheit mit dem Herzen zu tun und war in dieser Hinsicht nie ganz gesund gewesen. Eric vermutete, daß das mit dem rheumatischen Fieber zusammenhing, das sie im Alter von acht Jahren gehabt hatte. Die Lindenmaiers waren über Jahre hinweg Patienten seines Vaters gewesen. Er mochte sie sehr.
Der Nachtportier des »Seeschlößchens« wußte Bescheid. »Nehmen Sie den Privatlift, Doktor Baumann«, bat er, als Eric das Foyer des Hotels betrat.
»Danke, Herr Koch.« Erik nickte ihm zu und eilte zum Bürotrakt.
Der Lift brachte den Arzt innerhalb Sekunden in das oberste Stockwerk des Hotels. Als die Tür beiseite glitt, kam ihm Ludwig Lindenmaier bereits entgegen.
»Gott sei Dank, daß Sie schon da sind, Doktor Baumann«, sagte er. »Sie können sich sicher denken, was ich mir für Sorgen um meine Frau mache. Ich wünschte nur, sie hätte meinen Rat befolgt und Sie längst aufgesucht.«
»Daran ist nun nichts mehr zu ändern, Herr Lindenmaier«, meinte Eric. »Machen Sie sich deswegen keine Vorwürfe.«
»Es hätte auch wenig Sinn«, antwortete der Hotelier und führte ihn zum Schlafzimmer.
Annemarie Lindenmaier saß mit schweißüberströmtem Gesicht in ihrem Bett. An ihren Augen erkannte der Arzt sofort, daß sie Fieber hatte. Krampfhaft atmete sie ein und aus.
Dr. Baumann stellte seine Tasche auf einen Stuhl und griff nach der Hand der Kranken. »Was machen Sie nur für Sachen, Frau Lindenmaier?« fragte er. »Man darf Sie wirklich keine fünf Minuten aus den Augen lassen.«
»Ich wollte Sie um Ihre Nachtruhe bringen«, versuchte Frau Lindenmaier trotz ihrer Schmerzen zu scherzen, aber ihr Lächeln mißlang.
Dr. Baumann ließ sich ihre Beschwerden beschreiben. Außer den Schmerzen, wenn Annemarie den Oberkörper vorbeugte, spürte sie einen heftigen Schmerz hinter dem linken Brustbein, der unabhängig von Atem und Bewegung existierte. »Kann es ein Herzinfarkt sein?« fragte sie.
»Nein.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Darin kann ich Sie auf jeden Fall beruhigen.« Er nahm sein Stethoskop aus der Tasche und bat sie, das Oberteil ihres Pyjamas aufzuknöpfen. Deutlich hörte er Reibegeräusche, nachdem er das Stethoskop angesetzt hatte. »Das sieht mir eher nach einer Perikarditis, einer Herzbeutelentzündung aus«, sagte er und maß den Blutdruck seiner Patientin. Er war erstaunlich niedrig.
Ludwig Lindenmaier beobachtete vom Fenster aus jede Bewegung des Arztes. »Muß meine Frau ins Krankenhaus?« wollte er wissen.
Dr. Baumann wandte sich ihm zu. »Auf jeden Fall. Da bei einer Perikarditis meist die Gefahr einer Tamponade gegeben ist, einer Auffüllung des Herzbeutels mit Blut infolge einer gerissenen Herzwand.« Er lächelte seiner Patientin beruhigend zu. »Doch soweit muß es nicht kommen. Ich werde gleich Ihre Einweisung in die Klinik verfügen.«
Er stand auf, ging um das Bett herum und nahm den Hörer des Telefons ab, das dort auf dem Nachttisch stand. Während er mit dem Krankenhaus sprach, setzte sich Ludwig Lindenmaier neben seine Frau und ergriff ihre Hand. Zärtlich drückte er sie.
Gemeinsam warteten sie auf den Krankenwagen. Eric gab Annemarie Lindenmaier noch eine kreislaufstärkende Spritze und etwas gegen die Schmerzen, so daß sie sich nach und nach entspannte. Müde schloß sie die Augen.
»Kann ich mit ins Krankenhaus fahren?« erkundigte sich der Hotelier. Er hielt noch immer die Hand seiner Frau.
»Das sollten Sie sogar«, erwiderte Eric. »Ich vermute, daß Ihre Frau auf die Intensivstation kommt. Bleiben Sie bei ihr, solange es geht.« Er legte eine Hand auf die Schulter des Mannes. »Kopf hoch, Herr Lindenmaier, Ihre Frau wird wieder gesund werden. Natürlich wäre es besser gewesen, sie hätte nicht so lange gewartet, sondern mich längst aufgesucht.«
»Frauen können manchmal verdammt unvernünftig sein«, bemerkte Ludwig Lindenmaier, allerdings so leise, daß Annemarie es nicht hören konnte.
»Nicht nur Frauen, Herr Lindenmaier, wir Männer sind gegen Unvernunft auch nicht gefeit«, bemerkte Eric und nickte ihm ermutigend zu.
*
Katharina Wittenberg stand in der Küche und deckte gerade den Frühstückstisch, als Dr. Baumann mit Franzl vom Morgenspaziergang zurückkehrte. Pfeifend betrat er das Haus und rief seiner Haushälterin einen fröhlichen »guten Morgen« zu.
»Du scheinst ja strahlendster Laune zu sein«, meinte sie und erwiderte seinen Gruß. »Sag mir, warum du so früh aufgestanden bist. Ich habe nach Mitternacht das Telefon klingeln gehört und dann bist du erst kurz nach zwei nach Hause gekommen. An sich müßtest du todmüde sein.«
»Nein, bin ich nicht. Ich fühle mich so frisch und ausgeruht, als hätte ich mindestens acht Stunden geschlafen.« Eric ging ans Waschbecken und wusch sich die Hände. »Ich mußte in der vergangenen Nacht Frau Lindenmaier ins Krankenhaus einweisen«, sagte er.
Katharina hätte ihn gern gefragt, was Annemarie Lindenmaier fehlte, aber sie wußte, daß er ihr darauf keine Antwort geben würde, da es unter seine ärztliche Schweigepflicht fiel. »Wie geht es ihr?« erkundigte sie sich deshalb nur.
»Als ich heute morgen im Krankenhaus anrief, konnte ich leider nur die Nachtschwester erreichen. Frau Lindenmaier hat die letzten Stunden ruhig verbracht. Ich werde es nachher noch einmal versuchen.« Eric setzte sich an den Tisch. »Oh, Croissants, eine fabelhafte Idee«, meinte er und griff nach der Butter.
»Und wie ist dein Abend mit Miss Kelligan verlaufen?« erkundigte sich die Haushälterin so beiläufig, als würde sie nur aus Höflichkeit fragen. Sie schenkte ihm Kaffee ein und setzte sich ebenfalls an den Tisch. Als er ihr nicht antwortete, sondern nur amüsiert schmunzelte, lachte sie. »Laß nur, du mußt mir nichts sagen. Ich sehe deinen Augen an, wie schön der Abend gewesen ist.«
»Ja, das kann ich nur bestätigen.« Eric warf Franzl, der neben ihm saß und ihn verlangend anschaute, eine Scheibe Wurst zu. Der Hund zog sich mit seiner Beute unter den Tisch zurück.
»Wie lange bleibt Miss Kelligan noch am Tegernsee?« erkundigte sich Katharina Wittenberg.
»In drei Wochen geht sie auf eine Konzertreise durch Frankreich. Bis dahin will sie am Tegernsee bleiben«, erwiderte er. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich das freut.« In Gedanken sah er sich wieder mit Ireen an der Reling der »Seemarie« stehen und zu den Sternen hinaufschauen.
»Wie alt ist Miss Kalligan eigentlich?«
»Dreiundzwanzig.«
Die Haushälterin zuckte zusammen. »Da ist sie ja fast noch ein halbes Kind«, meinte sie bestürzt und stellte ihre Tasse ziemlich geräuschvoll auf den Tisch zurück.
»Behaupte nur nicht, ich sei ein alter Mann.«
»Nun ja, taufrisch kann man dich auch nicht mehr nennen«, meinte sie herausfordernd.
»Gott sei Dank«, erklärte Eric lachend und biß in sein Croissant. »Ich möchte um keine Stunde jünger sein.«
Eine halbe Stunde später ging Dr. Baumann durch die Verbindungstür in seine Praxis hinüber. Tina Martens, seine Sprechstundenhilfe, die meistens erst in letzter Minute kam, war bereits da und suchte die Krankenakten der Patienten, die an diesem Vormittag erwartet wurden, aus den Aktenschränken. Sie wirkte übernächtigt und erwiderte den Gruß des Arztes gähnend.
»Sieht mir nicht nach einem erholsamen Wochenende aus, Tina«, bemerkte Eric belustigt. »Sie werden doch nicht die Nacht zum Tag gemacht haben?«
»Das nicht«, antwortete sie, »aber anstrengend ist das Wochenende schon gewesen. Mein Freund ist zu mir gezogen. Man sollte nicht glauben, was so ein Umzug für Arbeit macht.« Ihr Gesicht überflog ein glückliches Lächeln.
»Es wird eine gewaltige Umstellung für Sie und Herrn Staiger sein«, meinte er.
Tina nickte. »Bisher haben wir meistens nur das Wochenende miteinander verbracht, jetzt müssen wir lernen, aufeinander Rücksicht zu nehmen, und wenn es nur darum geht, wer frühmorgens zuerst das Bad benutzt«, sagte sie. »Nun, ich bin überzeugt, daß wir fabelhaft miteinander auskommen werden. Timon ist jedenfalls begeistert, daß Joachim nun bei mir wohnt. Mein Freund hat ihn schon bei seinen Besuchen immer schrecklich verwöhnt. Ich bin überzeugt, daß Timon jetzt glauben wird, im Schlaraffenland zu sein.«
Dr. Baumann wußte, daß es sich bei Timon um Tinas Kater handelte. Er wollte sich schon seinem Sprechzimmer zuwenden, als Florian Mergenthaler die Praxis betrat. »Guten Morgen«, sagte er zu ihm.
»Guten Morgen, Doktor Baumann, guten Morgen, Tina.« Florian Mergenthaler reichte dem Arzt die Hand. »Ich bin zur Blutabnahme bestellt.« Er sah ihn vergnügt an. »So ein Abend auf der Seemarie ist stets etwas Besonderes. Allerdings hätte ich nicht erwartet, Sie mit Miss Kelligan dort zu treffen. Sie ist eine bemerkenswerte junge Frau. Ich besitze eine CD von ihr. Schade, daß ich nicht daran gedacht habe, mir von ihr ein Autogramm geben zu lassen.«
Franziska Löbl stand in dem kleinen Raum neben der Aufnahme und brühte Kaffee auf. Es fiel ihr nicht schwer, zwei und zwei zusammenzuzählen. Sie wußte, daß Ludwig Lindenmaier für die Hochzeit seines Sohnes Ireen Kelligan engagiert hatte und Eric einer der Hochzeitsgäste gewesen war. Anscheinend hatte Eric nichts Eiligeres zu tun gehabt, als den gestrigen Abend mit dieser Sängerin zu verbringen. Niedergeschlagen machte sie sich wieder einmal bewußt, daß sie für ihn nie mehr als eine gute Freundin sein würde. Als Frau schien er sie überhaupt nicht wahrzunehmen.
Frau Dr. Bertram kam aus ihrem Sprechzimmer. Eric und sie trafen sich in der Mitte des Ganges. »Na, wie war der gestrige Abend?« fragte sie leise.
»Es scheint sich ja blitzschnell herumgesprochen zu haben, daß ich gestern abend ausgewesen bin«, meinte ihr Kollege überrascht.
»Martin hat versucht, dich zu erreichen, und deine Haushälterin hat ihm gesagt, daß du mit Miss Kelligan auf der Seemarie bist.«
»Es ist ein wunderschöner Abend gewesen«, gab Eric zu. »Ich habe jede Minute genossen.«
»Das freut mich«, sagte Mara Bertram. Sie öffnete die Tür des Wartezimmers und bat einen älteren Mann, ihr zur Ozonbehandlung zu folgen.
Dr. Baumann schaute die Krankenkarteien durch, die Tina Martens inzwischen auf seinen Schreibtisch gelegt hatte. Er wollte sie eben durch den Wechselsprecher bitten, Frau Bölzle aufzurufen, als Franziska mit dem Kaffee kam.
»Guten Morgen«, sagte er freundlich. »Du weißt eben immer, was mit guttut. Es ist eine ziemlich harte Nacht gewesen.«
Franziska Löbl stellte die Kaffeebecher ab und schrieb auf ihren Block: »Meinst du in bezug auf Frau Lindenmaier oder deinen Abend mit Miss Kelligan?«
Eric zuckte innerlich zusammen. Es gab nur wenige Menschen, die er so gern hatte wie Franziska, aber daß ihn die junge Frau seit ihrer Kindheit liebte, bedeutete für ihn eine ziemliche Belastung. Er hatte schon oft versucht, ihr klarzumachen, daß sie nichts weiter als Freunde sein konnten. Manchmal sah es aus, als würde sie sich damit abfinden, doch von Zeit zu Zeit spürte er ihre Eifersucht, wenn er mit einer anderen Frau ausging.
»Ich meinte in bezug auf Frau Lindenmaier«, antwortete er. »Und was meinen Abend mit Miss Kelligan betrifft, er ist sehr schön gewesen. Ireen Kelligan hat sich übrigens entschlossen, ein paar Wochen am Tegernsee zu bleiben.«
Die Krankengymnastin atmete tief durch. Sie griff nach ihrem Kaffeebecher und setzte sich ihm gegenüber an den Schreibtisch. Erst nachdem sie einen Schluck Kaffee genommen hatte, griff sie erneut nach ihrem Block. Sie erzählte ihm schriftlich von Manfred Kessler, der am Sonntagvormittag ganz unverhofft auf dem Löblhof aufgetaucht war. »Paul und er müssen früher gute Freunde gewesen sein. Ich meine, während der Zeit, als sie in derselben Einheit dienten.«
»Magst du Herrn Kessler?« erkundigte sich Eric.
Franziska nickte. »Manfred hat mich in die Disko eingeladen.«
»Soso, Manfred«, bemerkte der Arzt.
»Manfred meint, es wäre Unsinn, wenn wir einander mit Sie ansprechen würden, nachdem Paul und er doch so gute Freunde seien.« Franziska seufzte innerlich auf. Es schien Eric nichts auszumachen, daß sich Manfred
Kessler anscheinend für sie interessierte.
»Das freut mich, daß du einen schönen Sonntag verbracht hast, Franziska«, meinte er und trank seinen Kaffee aus.
Auf dem Schreibtisch klingelte das Telefon. Hastig stellte Dr. Baumann seinen Becher auf den Tisch zurück und nahm den Hörer ab. Sein Kollege, Dr. Frank, meldete sich. Er arbeitete auf der Intensivstation des Krankenhauses.
»Ich hörte, daß Sie heute morgen schon in aller Frühe angerufen haben, um sich nach Frau Lindenmaier zu erkundigen«, sagte er. »Es geht ihr etwas besser.«
Franziska stand auf. Sie ergriff die leeren Becher und verließ bedrückt das Sprechzimmer von Dr. Baumann. Männer, dachte sie verächtlich, wußte jedoch genau, daß sie es nicht so meinte. Resignierend öffnete sie die Tür des Wartezimmers und winkte Nadine Müller, die mit ihrer Stieftochter Anna zur Krankengymnastik gekommen war.
*
Ireen Kelligan hatte sich am Montag für ihren Aufenthalt am Tegernsee einen Wagen gemietet, weil sie gründlich die Umgebung kennenlernen wollte. Im Hotel hatte sie einen Plan bekommen, in dem Ausflugsziele und Wanderwege eingetragen waren. Sie konnte es kaum noch erwarten, auf Entdeckungsreisen zu gehen.
An diesem Dienstagvormittag fuhr sie mit ihrer Freundin zum Münchener Flughafen. Helen Field fieberte geradezu ihrem Wiedersehen mit Mann und Sohn entgegen. Die Wochen, die sie voneinander getrennt gewesen waren, erschienen ihr wie eine Ewigkeit. Sie hatte sich bereits zu fragen begonnen, ob es richtig gewesen war, mit Ireen auf Tournee zu gehen.
Während ihrer Kindheit hatte die junge Frau von einer Karriere als Harfenistin geträumt und alles getan, um dieses Ziel auch zu erreichen. Doch seit ihrer ersten Begegnung mit Roger war ihr die Karriere unwichtig geworden, und seit der Geburt ihres Sohnes hätte es ihr durchaus gereicht, ab und zu für die Familie zu spielen.
»Und du bist dir ganz sicher, daß du noch am Tegernsee bleiben möchtest?« fragte sie Ireen. Sie wandte ihrer Freundin das Gesicht zu. »Roger und ich haben immer gehofft, daß du dich eines Tages wieder mit Liam versöhnen würdest.«
»Nein, Helen, zwischen mir und Liam ist es endgültig aus«, behauptete Ireen, fühlte jedoch tief in ihrem Herzen einen so heftigen Schmerz, daß sie fast aufgeschrien hätte. »Ich freue mich auf die Wochen, die ich hier verbringen darf«, fügte sie betont munter hinzu. »Ich will nicht abstreiten, daß ich meine Eltern gern wiedergesehen hätte, aber ich bin schon öfter sehr lange von zu Hause fortgewesen. Außerdem können mich meine Eltern verstehen. Ich habe gestern abend mit ihnen telefoniert.«
»Hast du ihnen auch von Doktor Baumann erzählt?« fragte Helen und lachte leise auf. »Bitte, versuch nicht, mir weiszumachen, es sei der Tegernsee, der dich in Deutschland hält.«
»Ich mag Eric«, gestand Ireen errötend.
Helen hob die Augenbrauen. »Es ist also schon soweit, daß ihr einander bei den Vornamen nennt«, bemerkte sie mit leichtem Spott.
»Was ist dabei?« Die junge Sängerin hob die Schultern. »Ich habe nie zuvor einen Mann kennengelernt, der mir so sehr das Gefühl gegeben hat, begehrt zu sein. In seiner Gegenwart fühle ich mich wie eine Königin. Jede seiner Gesten, der Klang seiner Stimme sagen mir, wieviel ich ihm bedeute. Außerdem hat er vollendete Manieren, ist charmant, besitzt Humor…«
»Und ist fast zwanzig Jahre älter als du«, fiel ihr Helen ins Wort. Sie berührte den Arm ihrer Freundin. »Ich möchte dir nicht weh tun, Ireen, aber hast du jemals darüber nachgedacht, was das bedeutet? Dazu kommt noch, daß es ihm bestimmt nicht gefallen würde, wochen-, vielleicht sogar monatelang von dir getrennt zu sein, während du auf Tournee bist.«
»Helen, du spinnst«, erklärte Ireen empört. »Wir sind Freunde, sehr gute Freunde sogar, aber wir kennen uns noch viel zu wenig, um schon an die Zukunft zu denken.«
»Trotzdem sollte man rechtzeitig daran denken«, sagte Helen. »Hinterher kann es zu spät sein.«
Ireen mußte sich eingestehen, daß ihre Freundin nicht einmal so unrecht hatte. Wenn sie ehrlich war, konnte sie sich Dr. Baumann nicht als Mann einer Künstlerin vorstellen. Ganz sicher würde er darunter leiden, wochenlang von ihr getrennt zu sein. »Ach, das ist alles Unsinn«, sagte sie. »Ich finde Eric zwar liebenswürdig und charmant, verliebt habe ich mich jedoch nicht in ihn, auch wenn ich jede Minute seiner Gegenwart genieße. Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun.«
»Es ist und bleibt ein Spiel mit dem Feuer«, erklärte Helen. »Und wenn ich du wäre, würde ich beizeiten Schluß machen. Wenn man den richtigen Zeitpunkt verpaßt, kann so etwas sehr, sehr schmerzen.«
Ireen dachte nicht daran, länger mit ihrer Freundin über Eric Baumann zu sprechen. Zum Glück gab es genügend andere Themen, über die sie sich unterhalten konnten und die weit unverfänglicher waren als ihre Beziehung zu Eric. Allerdings klammerte sie auch Liam aus. Sie wußte, wie sehr Helen und ihr Mann Liam O’Connor schätzten. So sprachen sie über die Konzerte, die sie gemeinsam in Frankreich geben wollten. Vorsichtshalber erwähnte die junge Sängerin auch nicht, daß sie hoffte, Eric könnte eines dieser Konzerte besuchen.
Nachdem sie den Flughafen erreicht und das Gepäck eingecheckt hatten, gingen sie noch Kaffee trinken. Helen trug ihrer Freundin auf, gut auf ihre Harfe aufzupassen, die sie im »Seeschlößchen« gelassen hatte. Die Harfe sollte in drei Wochen direkt von Tegernsee nach Frankreich gebracht werden. Es wäre unsinnig gewesen, sie nach Irland mitzunehmen.
»Vergiß nicht, allen viele Grüße zu bestellen«, bat Ireen, als sie von ihrer Freundin Abschied nahm.
»Nein, das vergesse ich nicht«, versprach Helen und schaute ihr in die Augen. »Ich möchte dir wirklich nicht auf die Nerven fallen, aber denk gut darüber nach, was du tust. Ein Fehler wäre für alle Seiten bitter.«
»Ich werde nichts tun, über das ich nicht gründlich nachgedacht habe«, versprach Ireen.
»Manchmal fehlt die Zeit dazu«, gab Helen zu bedenken. »Es gibt Augenblicke…« Sie winkte ab. »Was soll’s? Du bist erwachsen, und ich sollte endlich aufhören, mir über dich den Kopf zu zerbrechen.«
»Ein weiser Entschluß«, erklärte Ireen. Sie blickte ihrer Freundin nach, bis diese hinter der Zollkontrolle verschwunden war, dann drehte sie sich um und verließ die Abflughalle, um ihren Wagen zu holen und nach Tegernsee zurückzukehren.
Während der Rückfahrt dachte die junge Frau über sich und Eric nach. Immer wieder fragte sie sich, ob sie sich nicht doch in ihn verliebt hatte. Aber es war nur Freundschaft, Freundschaft und Zuneigung, was sie für ihn empfand. Es stimmte schon, noch war es Zeit, dem ganzen ein Ende zu machen, und es würde weder ihr noch ihm allzu weh tun. Andererseits, woher sollte sie wissen, ob es ihnen nicht bestimmt war, zueinander zu finden. Bei ihren Eltern war es zwar Liebe auf den ersten Blick gewesen, nur wem war so etwas schon vergönnt?
Ireen hielt auf einer Anhöhe und schaute ins Tal hinunter. Der Tegernsee wirkte von hier aus wie ein kostbares Juwel. Plötzlich mußte sie daran denken, wie Liam und sie noch oft nach einem Konzert spazierengegangen waren. Sie spürte eine tiefe Sehnsucht nach ihrem früheren Freund und fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.
Die junge Frau kehrte rasch zum Wagen zurück und schaltete, um sich abzulenken, im Weiterfahren das Radio ein. Anna Marie Kaufmann und Peter Hofmann sangen ein Stück aus dem »Phantom der Oper«. Abrupt hielt sie am Straßenrand und fragte sich, ob Eric auch für sie nur als Maske diente, die verbergen sollte, wieviel ihr Liam noch bedeutete.
*
Franziska Löbl stand vor ihrem Kleiderschrank und überlegte, was sie für die Disko anziehen sollte, und was Manfred Kessler gefallen würde. Leise seufzte sie auf. Auch wenn es ihr nicht leicht fiel, es sich einzugestehen, sie war sich nicht sicher, ob sie sich auf den Abend mit Pauls Freund freute, obwohl sie ihn mochte und er sie mit Komplimenten überschüttete. In gewisser Hinsicht hatte sie sogar Angst, mit ihm auszugehen, weil sie sich davor fürchtete, was daraus werden konnte. Sie war schon einmal auf einen Mann hereingefallen, der ihr erst den Himmel auf Erden versprochen hatte, um ihr nach einigen Wochen zu erklären, daß es ihm unmöglich sein würde, eine Frau zu heiraten, die nicht sprechen konnte.
Die junge Krankengymnastin entschied sich für ein langärmeliges T-Shirt mit Artus’ Konterfei. Paul hatte es ihr zu Weihnachten geschenkt. Wie hatte sie sich darüber gefreut! Manchmal tat es ihr direkt leid, daß sie in ihrem Stiefcousin nur einen Bruder sehen und sich nicht in ihn verlieben konnte.
Franziska hatte sich kaum angezogen, als es klopfte. Gleich darauf trat Paul ein. »Sieht aus, als wolltest du tatsächlich mit Manfred ausgehen«, bemerkte er verbittert, als er sah, daß sie sich umgezogen hatte.
Sie nickte.
»Habe ich dir nicht gesagt, was für ein Hallodri er ist?«
»Ich finde ihn nett«, antwortete die junge Frau schriftlich. »Außerdem bin ich erwachsen und weiß mich sehr gut meiner Haut zu wehren, falls er zudringlich werden sollte.«
»Franziska, bitte sei vernünftig. Es kommt nichts dabei heraus, wenn du mit Manfred etwas anfängst.« Paul stützte sich auf eine Stuhllehne. »Gut, Manfred und ich haben uns während unserer Dienstzeit angefreundet. Ich mag ihn auch, aber in bezug auf Frauen kann man ihm nicht trauen. Er wechselt seine Freundinnen wie andere Leute ihre Hemden.«
»Bist du dir sicher, daß aus dir nicht nur die Eifersucht spricht?« schrieb Franziska. Sie hob den Kopf. »Wann wirst du endlich aufgeben? Aus uns kann nichts werden. Bitte, zerstör nicht unsere Freundschaft.«
Paul warf einen kurzen Blick auf den Block, dann nahm er ihn ihr aus der Hand und legte ihn auf die Kommode. »Ich mache mir Sorgen um dich. Das hat nichts mit Eifersucht zu tun«, sagte er und umfaßte ihre Schultern. »Du bist mir einfach für einen Mann wie Manfred zu schade.«
Franziska schob seine Hände beiseite. Sie griff wieder nach ihrem Block. »Ich habe es satt, mir ständig von dir Vorschriften machen zu lassen«, erwiderte sie. »Nur weil ich dich nicht liebe, ist für dich jeder Mann, der sich für mich interessiert, ein Hallodri.«
»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, sagte er grob. Der junge Bauer spürte, wie er langsam die Beherrschung verlor. »Denkst du denn wirklich, ich würde ruhig zuschauen, wie du in dein Unglück läufst? Ich will ja nicht abstreiten, daß Manfred auf Frauen wirkt. Er besitzt nun einmal dieses gewisse Etwas, was allerdings noch lange nicht bedeutet, daß er auch ein anständiger Kerl ist.«
»In diesem Fall wundert es mich, daß ihr miteinander befreundet seid.«
»Franziska, warum willst du so blind und taub sein? Du mußt nicht gleich mit jedem Mann ausgehen, der dir schöne Augen macht.« Paul ballte die Hände.
»Das klingt, als hätte ich jede Woche einen anderen«, schrieb die junge Frau. Wie immer, wenn sie wütend war, vergrößerte sich ihre Schrift. »Kannst du mich nicht endlich in Ruhe lassen? Vor deinen Augen wird nie ein anderer Mann Gnade finden. Sieh endlich ein, daß wir nicht füreinander bestimmt sind.«
Paul merkte, daß er seine Stiefcousine nicht davon abhalten konnte, mit Manfred Kessler auszugehen. »Mach, was du willst!« stieß er außer sich hervor. »Ich bitte dich nur um eines, beschwer dich hinterher nicht, wenn du auf der Nase liegst.« Zornig verließ er ihr Zimmer und warf die Tür schallend hinter sich ins Schloß.
Franziska setzte sich an den Frisiertisch und schaute in ihr Spiegelbild. Tief in ihrem Herzen wußte sie, daß Paul es nur gut meinte, und sie schämte sich, so wütend geworden zu sein. Als sie aufstand und ans Fenster trat, sah sie, wie Paul mit Artus den Hof verließ. Er warf nicht einen einzigen Blick zurück.
Manfred Kessler war auf die Minute pünktlich. Die junge Frau stieg eben die Treppe hinunter, als sein Wagen neben dem Ziehbrunnen hielt. Sie öffnete die Haustür und bat ihn mit einer Handbewegung hereinzukommen.
»Gern.« Mit wenigen Schritten war er bei ihr. »Ich freue mich so, mit dir auszugehen«, versicherte er und drückte ihre Hand. Manfred holte tief Luft. »Das ist heute ein Tag gewesen! Lauter An- und Abmeldungen. Ich weiß kaum noch, wo mir der Kopf steht.«
Franziska schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln. Sie führte ihn in die Küche, wo ihr Vater bei einem Becher Kaffee saß.
»Guten Abend«, grüßte Manfred Kessler gutgelaunt.
»Ihnen auch«, antwortete Anton Löbl, während Lena, die am Herd stand und Zwiebeln schnitt, nur nickte. »Vergessen Sie nicht, daß meine Tochter morgen früh arbeiten muß«, mahnte er. »Also bringen Sie Franziska bitte nicht erst nach Mitternacht zurück.«
»Ich werde mich bemühen.« Manfred zwinkerte der jungen Frau verstohlen zu.
Es fiel Franziska schwer, nicht zu lachen. Sie küßte ihren Vater auf die Stirn und deutete ein »Servus« an.
»Ich hoffe, du weißt, was du tust«, bemerkte der Bauer sarkastisch. So sympathisch ihm Manfred zuerst gewesen war, daß er sich an Franziska heranmachte, gefiel ihm nicht.
Die junge Frau nickte ihrem Vater und Lena zu, dann folgte sie Manfred aus der Küche. Kurz darauf fiel die Haustür hinter ihnen zu.
Anton Löbl seufzte laut auf. »Man könnte manchmal wirklich an ihrem Verstand zweifeln«, murmelte er vor sich hin und vertiefte sich in die Zeitung, die neben ihm auf dem Tisch lag.
Schweigend verließen die jungen Leute den Hof. Erst, als sie in die Straße nach Rottach-Egern einbogen, bemerkte Manfred: »Es sieht nicht aus, als wäre ich heute noch genauso auf dem Hof deines Vaters gelitten wie am Sonntag. Paul ist nicht dagewesen, um mich zu begrüßen, und dein Vater hat mich gewiß nicht gern mit dir ziehen lassen.«
»Er ist eifersüchtig wie alle Väter«, schrieb Franziska.
»Ja, das könnte sein«, meinte er lachend. »Welcher Vater gibt schon gern seine Tochter her.« Besitzergreifend legte er ihr die Hand aufs Knie.
Franziska wollte sie zuerst abschütteln, befürchtete jedoch, daß Manfred sie womöglich für zickig halten konnte, also duldete und ignorierte sie seine Berührung gleichzeitig. Trotz aller Sympathie mochte sie es nicht, wenn jemand sie nach kurzem Kennenlernen schon als sein Eigentum betrachtete.
Die Disko, in die Manfred die junge Frau führte, befand sich am Fuß des Wallbergs in einer alten, umgebauten Scheune. »Ein Kollege hat sie mir empfohlen«, verriet er. »Peter scheint hier sehr oft zu verkehren. Er meint, es würde auch uns gefallen.«
Die Musik war jedenfalls sehr laut, viel lauter, als es Franziska liebte, doch bereits nach kurzer Zeit stellte sie fest, daß sie sich daran gewöhnt hatte. Sie versuchte auch zu vergessen, daß derart laute Musik den Ohren schadete. Einmal ist keinmal, dachte sie, als Manfred sie zum Tanzen aufforderte und sie ihm zur Tanzfläche folgte. Wie von selbst bewegte sich die junge Frau im Rhythmus eines Liedes der Spice Girls und plötzlich glaubte sie, wieder sechzehn zu sein und von ihrem Vater zum ersten Mal die Erlaubnis erhalten zu haben, eine Disko zu besuchen. Damals war allerdings Paul bei ihr gewesen.
Während der nächsten beiden Stunden tanzten Manfred und sie fast ununterbrochen. Je länger Franziska Pauls Freund kannte, um so besser gefiel er ihr. Es
schien ihm Spaß zu machen, sie von anderen Männern abzuschirmen. Wenn auch nur einer wagte, sich ihr zu nähern, legte er den Arm um sie.
»Bei mir bist du sicher wie in Abrahams Schoß«, meinte er. »Deine Familie kann wirklich unbesorgt sein. Ich werde dich wohlbehalten nach Hause zurückbringen.«
Glaubte er denn, sie sei noch nie allein ausgegangen? Franziska wollte schon nach ihrem Block greifen, um ärgerlich aufzubegehren, als ein junger Bursche sie anrempelte. Manfred bedachte ihn mit einigen harschen Worten. Er will mich tatsächlich beschützen, dachte sie gerührt. Paul irrte sich ganz bestimmt. Vielleicht war Manfred früher ein Hallodri gewesen. Inzwischen hatte er sich jedoch bestimmt geändert.
»Gehen wir ein bißchen Luft schnappen«, schlug ihr Begleiter vor, nachdem sie an ihren Tisch zurückgekehrt waren. »Langsam wird es hier drinnen zu laut und zu stickig.« Er half ihr in ihre Jacke, hakte sie unter und führte sie durch einen Seiteneingang nach draußen. »Ist es hier nicht viel schöner?« Tief atmete er ein.
Franziska nickte. Nach dem Lärm und dem Rauch genoß auch sie die frische Luft. Gehen wir ein Stückchen, deutete sie mit den Händen.
»Eine gute Idee.« Manfred lachte auf. »Was Paul wohl jetzt macht? Um ehrlich zu sein, hatte ich damit gerechnet, daß er uns heimlich folgen und wie zufällig in der Disko auftauchen würde.«
»So etwas würde Paul niemals tun«, schrieb sie, ertappte sich jedoch dabei, daß sie sich verstohlen umblickte.
»So ganz sicher scheinst du dir also doch nicht zu sein.« Manfred schaute ihr in die Augen. »Ich habe schon lange keinen so schönen Abend mehr verbracht, Franziska, das darfst du mir glauben«, sagte er, und bevor die junge Frau noch recht wußte, wie ihr geschah, zog er sie bereits an sich und küßte sie.
Franziska versuchte, sich gegen ihn zu wehren und ihn wegzustoßen, doch dann erlahmte ihr Widerstand. Es kam ihr vor, als würde er wie ein Orkan über sie hinwegfegen. Sie fragte sich noch, was mit ihr geschah, als sie sich ihm auch schon ergab und seinen Kuß erwiderte.
*
Dr. Baumann parkte vor dem Tegernseer Krankenhaus. Bevor die Nachmittagssprechstunde begann, hatte er noch Zeit und deshalb beschlossen, Annemarie Lindenmaier einen Besuch abzustatten. Als er das Foyer betrat, sah er den Sohn und die Schwiegertochter seiner Patientin. Überrascht blieb er stehen.
Die jungen Leute kamen ihm entgegen. »Wir sind vor drei Tagen nach Deutschland zurückgekehrt«, sagte Fabian. Er hob die Schultern. »Eine etwas kurze Hochzeitsreise, aber verreisen können wir noch immer. Wir haben es einfach nicht mehr in Irland ausgehalten, nachdem wir erfahren hatten, wie krank meine Mutter ist.«
»Ich wünschte, mein Schwiegervater hätte uns schon früher angerufen«, fügte Corinna hinzu. »In so einer Situation muß die Familie doch zusammenhalten.«
»Du sagst es.« Fabian legte den Arm um ihre Schultern.
Eric fand es schön, daß die jungen Leute sofort ihre Reise abgebrochen hatten. Auch wenn Annemarie Lindenmaier sich nicht in absoluter Lebensgefahr befand, es tat ihr sicher wohl, ihre Familie bei sich zu haben.
Gemeinsam fuhren sie zur Intensivstation hinauf. An und für sich durften immer nur zwei Besucher auf einmal zu den Patienten und auch nur für einige Minuten. Da man Eric hier jedoch gut kannte, machte man ihnen keine Schwierigkeiten, Frau Lindenmaier zu dritt zu besuchen.
Annemarie ging es schon erheblich besser. Dank der Medikamente hatten auch ihre Schmerzen nachgelassen. »Ist es nicht verrückt, daß die beiden ihre Hochzeitsreise abgebrochen haben?« fragte sie Dr. Baumann, als er ihr die Hand reichte. »Ich habe schon mit ihnen geschimpft. Aber sie wollen nicht hören und nach Irland zurückkehren.«
»Wir bleiben in Bad Wiessee, bis wir hundertprozentig überzeugt sein können, daß es dir wieder gutgeht«, erklärte ihr Sohn unerbittlich.
»Ich beginne mich zu langweilen, also befinde ich mich auf dem Weg der Besserung«, behauptete die Kranke. »Habt ihr die Zeitschriften mitgebracht, um die ich euch gebeten habe?«
»Natürlich.« Corinna legte ihr zwei Zeitschriften auf das Bett. »Vergiß nicht, was Dr. Faber gesagt hat. Nicht zuviel lesen, das strengt dich nämlich auch an.«
»Wann werde ich endlich wieder Herr meiner selbst sein?« meinte Annemarie Lindenmaier aufseufzend. Sie schaute zum Monitor. »Finden Sie nicht auch, daß es ganz gut aussieht, Doktor Baumann? Können Sie nicht veranlassen, daß man mich vor lästigen Besuchern schützt?« Sie lachte. »Womit natürlich nicht Sie gemeint sind.«
»Und hoffentlich auch nicht wir«, bemerkte Fabian grinsend.
»Sonst sehe ich hier keinen.« Seine Mutter lehnte sich zurück. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, das Gespräch hatte sie bereits erschöpft. Sie griff nach der Hand ihres Sohnes. »Ich bin froh, daß ihr gekommen seid, so leid es mir auch tut.«
»Und wir sind gern gekommen«, versicherte Corinna.
Die Kranke schloß die Augen.
»Ich glaube, wir sollten gehen«, raunte Dr. Baumann den jungen Leuten zu.
Fabian nickte. »Vater kommt dich heute abend besuchen«, sagte er zu seiner Mutter. »Und uns siehst du morgen wieder.« Er beugte sich über sie und küßte sie auf beide Wangen. »Halt dich wacker und mach uns ja keinen Kummer.«
»Habe ich auch nicht vor«, versprach Annemarie müde. »Schließlich möchte ich hundertdreißig werden.«
»Das wirst du bestimmt«, versicherte ihr Sohn. Zusammen mit seiner Frau und Dr. Baumann verließ er die Intensivstation.
Als Eric nach Hause zurückkehrte, wurde er schon sehnsüchtig von Franzl erwartet. Er beschloß, mit seinem Hund einen langen Spaziergang zu machen. Das würde ihm ausgiebig Gelegenheit geben, über sein Verhältnis zu Ireen nachzudenken. Am Dienstag waren sie im Kino gewesen und hatten sich den Film »Titanic« angeschaut. Nach ihrer Rückkehr ins Hotel hatten sie noch bei einem Glas Wein in der Bar zusammengesessen.
Noch immer kam es Eric vor, als hätte ihn die junge Sängerin verzaubert. In ihrer Gegenwart wurde alles andere bedeutungslos, gab es nur noch sie. Seine Gedanken wanderten in der Zeit voraus, und er sah sich bereits an Bord eines Schiffes, das ihn nach Irland brachte, damit er ihre Eltern kennenlernen konnte. Er war sich ganz sicher, daß Ireen wundervolle Eltern hatte. Etwas anderes war gar nicht möglich.
Wie lange kennen wir uns jetzt, überlegte der Arzt. Morgen ist es genau eine Woche. Es war verrückt, schon an Heirat zu denken, das wußte er genau, und doch war er sich sicher, daß Ireen die richtige Frau für ihn sein würde. Es kam ihm vor, als hätte er unbewußt sein Leben lang auf sie gewartet. Seine Beziehung zu Lydia verblaßte im Vergleich mit ihr zu einer unwichtigen Episode. Er konnte nicht einmal mehr verstehen, daß er damals aus seiner Enttäuschung heraus Deutschland verlassen hatte.
Katharina Wittenberg war dabei, gründlich den Küchenschrank zu putzen, als Eric von seinem Spaziergang mit Franzl zurückkehrte. »Hättest du gern eine Tasse Kaffee, bevor die Sprechstunde beginnt?« fragte sie. »Ich habe Nußplätzchen gebacken.«
Das Wort »Nußplätzchen« ließ Franzl aufhorchen. Demonstrativ wandte er sich der Speisekammer zu.
»Dich hatte ich nicht gemeint«, sagte die Haushälterin lachend.
»Kaffee und ein paar Plätzchen wären nicht zu verachten«, erwiderte Eric und wusch sich die Hände.
Katharina schaltete die Kaffeemaschine ein und holte die Plätzchen aus der Speisekammer. Franzl wich nicht von ihrer Seite. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als ihm ein Plätzchen zu geben. »Du scheinst vergessen zu haben, daß du erst vor deinem Spaziergang einige Hundekuchen bekommen hast«, bemerkte sie und stellte die Gebäckschüssel auf den Tisch.
»Was sind Hundekuchen gegen Plätzchen, die so wunderbar duften?« fragte Dr. Baumann. Er griff in die Schüssel. »Denkst du daran, daß ich heute abend mit Miss Kelligan essen gehe?«
»Ja, ich denke daran.« Katharina Wittenberg nahm einen Kaffeebecher aus dem Schrank. Sie atmete tief durch und wandte sich langsam um. »Eric, es geht mich nichts an, aber hast du dir das wirklich gut überlegt?« fragte sie. »Diese Frau ist noch so jung. Sie kommt aus einer ganz anderen Welt. Es gibt auch in Tegernsee schöne Mädchen und…«
Eric stand auf. »Es geht dich tatsächlich nichts an«, fiel er ihr ärgerlich ins Wort. Nicht zum ersten Mal versuchte seine Haushälterin, seit sie erfahren hatte, daß Ireen erst vor kurzem dreiundzwanzig geworden war, ihm die junge Frau auszureden.
»Du mußt nicht gleich wütend werden«, sagte Katharina bedrückt und schenkte ihm Kaffee ein. »Ich mache mir nur Sorgen. Willst du das denn nicht verstehen? Miss Kelligan ist in Irland zu Hause. Sie ist Sängerin und…«
»Wenn mich jemand sucht, ich bin in der Praxis«, erklärte der Arzt gereizt und verließ ganz einfach die Küche.
Seine Haushälterin starrte ihm sprachlos nach. Sie war es nicht gewohnt, daß Eric einfach davonging, statt mit ihr über eine Sache, in der sie geteilter Meinung waren, zu diskutieren. »Sieht aus, als sei ich deinem Herrchen ganz gewaltig auf die Nerven gefallen«, bemerkte sie zu Franzl und beugte sich zu ihm hinunter. »Ich will doch nur sein Bestes.«
Dr. Baumann schloß die Praxistür hinter sich. Tina Martens war noch nicht da, das hatte er allerdings auch nicht erwartet. Dafür kam ihm Mara Bertram entgegen. Die junge Ärztin wirkte verärgert. Damit wären wir schon zwei, dachte er. »Was ist denn passiert, Mara?« fragte er.
»Martin hat eben angerufen«, erwiderte sie. »Wir wollten eigentlich heute abend miteinander ausgehen, aber er hat abgesagt. Sein Chef hat ihn zusammen mit Frau Doktor Kern zum Abendessen eingeladen.« Unwillig verzog sich ihr Gesicht. »Ehrlich, Eric, für meinen Geschmack ist Martin etwas viel mit dieser Dame zusammen.«
»Du machst dir ganz gewiß unnütz Sorgen«, versuchte ihr Kollege sie zu beruhigen. »Tamara Kern gehört nicht zu den Frauen, die es nötig hätten, anderen den Freund auszuspannen.«
Mara sah ihn an. »Hoffentlich kennt sie deine gute Meinung«, bemerkte sie. »Ich bin mir nämlich da gar nicht so sicher. Du müßtest mal hören, wie Martin ihr Loblied singt. Man könnte meinen, sie würde zur Elite der Psychotherapeuten gehören.«
»Martin liebt dich, Mara, nur dich allein.« Eric zog die junge Frau kurz an sich. »Verlaß dich darauf. Er würde sich niemals auf ein Abenteuer mit einer anderen Frau einlassen, weil er genau weiß, daß er dich dann verloren hätte.«
»Hoffen wir’s«, meinte sie und ging in die Aufnahme.
Dr. Baumann setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Durch die geschlossene Tür hörte er, wie Tina Martens kam und kurz darauf einer seiner Patienten. Mit den Gedanken war er bei Katharina. Was war nur mit ihr los? Er konnte sich nicht denken, daß sie eifersüchtig war. Ihr Verhalten ließ für ihn jedoch keinen anderen Schluß zu. Andererseits wünschte sich Katharina nichts mehr, als daß
er endlich eine Familie gründete.
Ireen war Irin. Vielleicht befürchtete seine Haushälterin auch, er könnte der jungen Frau nach Irland folgen. Immerhin hatte er einmal sogar beschlossen gehabt, den Rest seines Lebens in Kenia zu verbringen.
Aufseufzend stand er auf und blickte mit auf dem Rücken verschränkten Händen aus dem Fenster. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, daß er sich von Katharina im Streit getrennt hatte. Dazu mochte er sie viel zu sehr, nur mußte sie endlich begreifen, daß er nicht bereit war, ihretwegen Ireen aufzugeben.
Eric kehrte an den Schreibtisch zurück und öffnete das oberste Schubfach. Ireen hatte ihm eines ihrer Autogrammfotos geschenkt. Zärtlich berührte er mit den Fingerspitzen ihr Gesicht. Er konnte kaum noch den Augenblick ihres Wiedersehens erwarten.
*
Michaela Sanwald betrat die Küche des »Benji«, wo ihr Verlobter gerade dabei war, ein Stück Sauerbraten aufzuschneiden. Er trocknete sich die Hände ab und eilte ihr entgegen. »Schön, daß du da bist, Liebling«, sagte er, nachdem sie sich geküßt hatten. »Ich befürchtete schon, dir sei etwas dazwischengekommen.«
»Versprochen ist versprochen, Benjamin«, erwiderte die junge Frau. »Ich mußte noch etwas für Arno erledigen. Deshalb habe ich mich ein paar Minuten verspätet.« Sie tippte gegen seine Nasenspitze. »Ich hoffe, du bist mir nicht böse.«
»Großmütig, wie ich nun einmal bin, verzeihe ich dir noch einmal.« Benjamin Ahlert zog sie stürmisch an sich. »Ich wünschte, wir würden schon morgen und nicht erst nächsten Samstag heiraten. Ich habe Angst, daß du in letzter Minute nein sagen könntest.«
»Ich sollte es mir wirklich überlegen«, scherzte Michaela und legte die Arme um seinen Nacken. »Nein, Benjamin, es gibt nicht den geringsten Grund, dir einen Korb zu geben. So ein Juwel wie dich finde ich bestimmt kein zweites Mal.«
Bernd Klenk, einer der Kellner, räusperte sich. »Ich möchte ja nicht stören, Herr Ahlert, aber der Gast vom Tisch fünf wartet auf sein Roastbeef.«
»Dann wollen wir ihn nicht länger warten lassen«, erklärte Benjamin und kehrte an den Herd zurück.
Rasch zog sich die junge Frau in einem der Nebenräume um. Sie hatte ihrem Verlobten versprochen, an diesem Abend für Erna Schmitt einzuspringen, die wegen eines vereiterten Zahns nicht kommen konnte. Es machte ihr Spaß, im Restaurant zu bedienen. Sie hatte zwar vor, nach ihrer Heirat auch weiterhin in der Werbeagentur Vögele zu arbeiten, wußte jedoch schon jetzt, daß sie auch ihrem Mann helfen würde.
Michaela spähte durch das kleine Fenster neben der Küchentür ins Restaurant. Sie sah, wie Dr. Baumann mit einer jungen Frau eintrat. »Benjamin, hast du eine Ahnung, wer die Dame in Begleitung unseres Doktors ist?« fragte sie. »Ich habe sie hier noch nie gesehen.«
Der Wirt warf ebenfalls einen Blick durch das Fenster. »Ireen Kelligan«, antwortete er. »Miss Kelligan hat im Seeschlößchen bei der Hochzeit der Lindenmaiers ein Gastspiel gegeben und sich überraschend entschlossen, bis zu ihrer nächsten Konzertreise am Tegernsee zu bleiben.« Schmunzelnd fügte er hinzu: »Ich glaube, daß sich zwischen ihr und dem Doktor etwas anspinnt. Erst vor zwei Tagen habe ich die beiden zusammen gesehen.«
»Das würde mich freuen«, meinte Michaela. »Ein Mann wie Doktor Baumann sollte nicht allein bleiben. Es wird allerhöchste Zeit, daß er daran denkt, eine Familie zu gründen.«
Bernd Klenk führte Eric und Ireen zu dem Tisch, der für sie reserviert worden war. Er stand vor einem der großen Panoramafenster, die einen großartigen Blick über den Tegernsee boten. Die Hand des Kellners zitterte etwas, als er die Kerze auf dem Tisch anzündete.
»Danke«, sagte Dr. Baumann und griff nach der Speisekarte.
»Gern geschehen, Herr Doktor.« Bernd Klenk wandte sich einem anderen Tisch zu.
»Der Mann steht doch sicher kurz vor seiner Rente«, bemerkte Ireen leise.
»Herr Ahlert stellt bewußt ältere Leute für sein Restaurant ein«, erwiderte Eric, »weil er der Meinung ist, daß man auch ihnen eine Chance geben muß.«
»Das gefällt mir«, meinte seine Freundin.
Benjamin Ahlert trat mit einer Flasche Weißwein an den Tisch. »Schön, daß Sie uns wieder einmal die Ehre geben, Doktor Baumann«, sagte er. »Der Wein geht auf Kosten des Hauses.«
Eric bedankte sich und machte ihn mit Ireen Kelligan bekannt. »Sie haben bestimmt schon von ihr gehört.«
»Und ich habe Sie sogar schon im Fernsehen gesehen, Miss Kelligan«, erzählte der Wirt und wandte sich an Eric: »Vergessen Sie nicht, daß Sie nächsten Samstag einen wichtigen Termin haben, Doktor Baumann. Michaela und ich rechnen ganz fest damit, daß Sie zu unserer Hochzeit kommen.« Er drehte sich halb Ireen zu. »Sie sind natürlich auch herzlich eingeladen, Miss Kelligan. Freunde des Doktors sind auch unsere Freunde.«
»Ich nehme Ihre Einladung gern an«, versicherte Ireen. Sie hatte schon zuvor von Eric erfahren gehabt, daß der Besitzer des »Benji« am nächsten Samstag heiraten wollte.
»Das freut mich.« Benjamin nickte ihnen zu und kehrte in die Küche zurück.
Der Wein war ausgezeichnet. Sie hatten kaum das erste Glas getrunken, als auch schon das Essen gebracht wurde. Es gab Forelle in Mandelbutter, Kartoffeln und verschiedene Salate. Als Nachtisch bestellten sie Erdbeeren mit Sahne.
Ireen fühlte sich im »Benji« sehr wohl. Es gefiel ihr auch, daß die meisten der Gäste grüßend zu Dr. Baumann hinübernickten, bevor sie sich setzten. Als sie Eric darauf ansprach, meinte er allerdings: »Täusch dich nicht, Ireen, das Interesse gilt hauptsächlich dir. Es wird zwar nicht jeder hier wissen, wer du bist, aber auch ohne deinen Beruf erregst du Aufsehen.«
»Und das stört dich nicht?«
»Warum sollte es?« Der Arzt nahm ihre Hand. »Ich fühle mich ausgesprochen geschmeichelt.« Er prostete ihr zu. »Der Tag, an dem du nach Bad Wiessee gekommen bist, stand unter einem guten Stern. Ich bin so froh, dich kennengelernt zu haben. Du hast mein ganzes Leben verändert.«
Seine Worte machten die junge Frau glücklich und nachdenklich zugleich, denn noch immer war sie sich nicht sicher, was sie für Eric empfand. »Hoffentlich werde ich dich nicht irgendwann enttäuschen«, sagte sie.
»Das kannst du überhaupt nicht«, erklärte er und schaute ihr verliebt in die Augen.
Nach dem Essen beschlossen sie, ein Stückchen am Wasser entlang zu gehen. Es war kühl, und so blieb Ireen stehen, um erst einmal ihren Mantel zu schließen. »Vor einer Woche haben wir noch nichts voneinander gewußt«, meinte sie aus ihren Gedanken heraus.
»Das ist wahr.« Eric legte den Arm um sie. »Dabei kommt es mir vor, als würden wir uns bereits eine Ewigkeit kennen.«
Langsam schlenderten sie weiter. Jeder von ihnen hing seinen eigenen Gedanken nach. Erst nach einer Weile fragte Ireen: »Ob es Herrn Ahlert und seiner Verlobten Freude machen würde, wenn ich in der Kirche für sie singe?«
»Eine wundervolle Idee«, stimmte Eric spontan zu. »Die beiden werden begeistert sein. Ein schöneres Hochzeitsgeschenk könntest du ihnen nicht machen.«
»Das freut mich.« Sie schmiegte sich an ihn. »In zwei Wochen werde ich schon in Frankreich sein. Es erscheint mir so unwirklich, so…« Sie hob die Schultern.
»Ich möchte gar nicht daran denken«, sagte Dr. Baumann. »Mein Leben wird ohne dich leer sein.« Er blieb stehen und starrte auf den See. »Hättest du Lust, morgen mit mir einen Ausflug auf den Wallberg zu machen? Wir würden mit der Seilbahn fahren.« In einem Anflug von Galgenhumor fügte er hinzu: »Und um dem Ganzen etwas Spannung zu verleihen, mieten wir uns für den Rückweg zwei Flugdrachen.«
»Ohne mich.« Seine Freundin schüttelte sich. »Ich bin nicht fürs Fliegen geboren. Gestern habe ich einem dieser Drachenflieger zugeschaut. Nein, so viel Mut würde ich nie im Leben aufbringen.«
»Und ich würde dich auch niemals so einer Gefahr aussetzen. Es war nur ein Scherz.« Eric berührte zärtlich ihre Wange. »Was geschieht nur mit mir,
Ireen? Ich kann mich selbst nicht mehr verstehen. Dinge, die mir früher wichtig gewesen sind, zählen in deiner Gegenwart einfach nicht mehr. Durch dich sehe ich alles mit völlig neuen Augen und ich habe Angst, schreckliche Angst davor, dich zu verlieren.«
Ireen dachte an Helens Warnung. Würde es nicht besser sein, endlich Schluß zu machen und Eric zu sagen, daß sie ihn nicht liebte? Nur woher sollte sie wissen, ob es nicht doch Liebe war? Sie genoß seine Gesellschaft und war sich sicher, daß sie ihn während ihrer Konzertreise durch Frankreich schrecklich vermissen würde.
Eric nahm die junge Frau in die Arme. »Ich habe mich in dich verliebt«, sagte er. »Ja, ich habe mich in dich verliebt. Du bist für mich wie Mond und Sterne, wie die Sonne, ohne deren Strahlen wir nicht leben können. Du…« Impulsiv küßte er sie.
Ireen schmiegte sich an ihn und erwiderte seinen Kuß, obwohl sie sich gleichzeitig fragte, ob sie in ihm nicht doch nur einen Ersatz für Liam sah. Es verging kein Tag, an dem sie nicht an ihren früheren Freund dachte. Auch wenn sie versuchte, die Sehnsucht nach ihm zu verdrängen, tief in ihrem Herzen lebte sie fort. Es ist falsch, was du tust, dachte sie, es ist falsch. Aber sie brachte die Kraft nicht auf, sich der Wahrheit zu stellen.
*
Anton Löbl kam aus dem Stall, wo er nach einer Kuh gesehen hatte, der es seit einigen Tagen nicht gutging. Fassungslos blieb er stehen. Seine Tochter war gerade aus der Stadt zurückgekehrt. Artus begrüßte sie so stürmisch, als hätten sie sich tagelang nicht gesehen. »Was soll denn das?« fragte er entgeistert. Bisher hatte es Franziska noch niemals für nötig befunden, sich eine Dauerwelle machen zu lassen. Sie wirkte auf ihn wie eine Fremde. Am liebsten hätte er sie gepackt und eigenhändig dafür gesorgt, daß sich ihre Frisur in die frühere zurückverwandelte.
Lena kam aus dem Haus. »Schick siehst du aus, Franziska«, sagte sie. »Die neue Frisur steht dir ausgezeichnet.«
»Hör auf, ihr solche Flausen in den Kopf zu setzen«, fuhr Anton Löbl die junge Hausmagd an. Schwer auf seinen Stock gestützt, wandte er sich Franziska zu. »Vermutlich hast du dich wieder mit diesem Kessler verabredet. Merkst du denn nicht, daß der Kerl nicht zu dir paßt? Willst du noch einmal hereinfallen?«
Franziska seufzte innerlich auf. Es tat ihr weh, daß ihre Familie so gegen Manfred war. »Stimmt, ich habe mich mit Herrn Kessler verabredet«, schrieb sie auf ihren Block. »Vater, ich bin erwachsen. Hör endlich auf, dir über mein Leben den Kopf zu zerbrechen.«
»Damit höre ich erst auf, wenn du vernünftig geworden bist«, erklärte der Bauer aufgebracht. »Franziska, ich meine es nur gut. Dieser Mann ist dein Unglück.«
Seit dem Diskobesuch am vergangenen Mittwoch hatte die junge Frau mehr als einmal darüber nachgedacht, ob Manfred der Richtige für sie war. Im Grunde genommen gab es nur einen Mann, mit dem sie sich vorstellen konnte, den Rest ihres Lebens zu verbringen, aber dieser Mann liebte sie nicht. Sollte sie deswegen ledig bleiben? – Nein, sie mußte sich selbst beweisen, daß sie auch ohne Eric glücklich werden konnte.
»Du ahnst nicht, was für große Sorgen ich mir um dich mache«, sagte Anton Löbl beschwörend. »Du…« Er wurde von einem schmerzerfüllten Aufschrei unterbrochen, der aus der Scheune kam. »Das ist der Hermann!« stieß er erschrocken hervor und bemühte sich, auf seinen Stock gestützt, so schnell es ging, die Scheune zu erreichen.
Franziska war schneller. Mit wenigen Schritten erreichte sie die Scheune und riß die Tür auf.
Der Schwiegervater ihrer Tante stand zusammengekrümmt neben dem Klotz, auf dem er Holz gehackt hatte. Die Axt lag neben ihm. »Ein Hexenschuß«, murmelte Hermann Walkhofer stöhnend. »Wie konnte das nur passieren? Ich habe schon seit ewigen Zeiten nichts mehr mit dem Kreuz gehabt.« Artus legte sich ihm winselnd vor die Füße.
Franziska beeilte sich, den alten Mann zu stützen. Es war nicht das erste Mal, daß sich Hermann Walkhofer mit der Arbeit übernommen hatte.
»Wie kann man nur so verrückt sein, Hermann?« fragte Anton Löbl mitfühlend. »Mußt du in deinem Alter unbedingt Holz hacken? Das ist Peters Aufgabe.«
»Wer gehört schon gern zum alten Eisen?« jammerte Hermann Walkhofer. »Warum wird man überhaupt so alt, wenn man zu nichts mehr nütze ist?«
»Das ist absoluter Unsinn, Hermann«, erklärte Franziskas Vater resolut. »Es gibt für dich genügend Arbeit auf dem Hof, die nicht so schwer ist.« Er wandte sich an seine Tochter: »Werden wir es schaffen, Hermann ins Haus hinüberzubringen?«
Die junge Frau nickte.
»Ganz vorsichtig, Hermann«, sagte Anton Löbl. »Wenn wir im Haus sind, rufe ich gleich Doktor Baumann an.« Schritt für Schritt führten er und seine Tochter den alten Mann aus der Scheune. Sein Stock war ihm dabei mehr als hinderlich, aber er brauchte ihn, um nicht hinzustürzen.
Magdalena Walkhofer kam ihnen entgegen. »Laß nur, Anton, ich mach das schon«, meinte sie, weil sie wußte, wie schwer es ihrem Bruder fiel, den alten Mann zu stützen. Immerhin litt Anton immer noch an den Folgen seines schweren Traktorunfalls. »Noch ein paar Schritte, Vater, dann hast du es geschafft«, versuchte sie Hermann Walkhofer zu trösten.
»Holz hat er gehackt«, schimpfte Anton Löbl. »Wie kann man nur so unvernünftig sein?« Er ging voraus, um Eric anzurufen.
Sie betteten ihren Schwiegervater auf die Couch in der Wohnstube. Der alte Mann fühlte sich todunglücklich. Viel schlimmer als seine Schmerzen empfand er es, nicht mehr so helfen zu können, wie er es gern wollte. Früher hatte es ihm nicht das geringste ausgemacht, Holz zu hacken. Und nun…
Agnes Walkhofer, die in der Küche Gemüse geputzt hatte, setzte sich neben ihren Mann auf die Couch und hielt seine Hand. »Es wird schon alles wieder gut, Hermann«, sagte sie.
»Nichts wird gut«, brummte er vor sich hin. »Ich wünschte…«
»Vater, bitte, versündige dich nicht«, bat Magdalena.
»Dein Kreuz ist es ja auch nicht.« Demonstrativ schloß er die Augen.
Während sie auf Dr. Baumann warteten, ging Franziska auf ihr Zimmer hinauf und zog sich um. Ihr Freund hatte sie zum Mittagessen eingeladen. Sie nahm an, daß er jeden Moment kommen würde. Sie wollten nach Kreuth fahren und nach dem Essen etwas wandern. Die Krankengymnastin freute sich auf den Ausflug, zumal sie schon lange nicht mehr in Kreuth gewesen war. Manfred liebte die Natur genauso wie sie, und sie hatte sich vorgenommen, ihm einige der wundervollen Aussichtspunkte zu zeigen, die es von dort ins Tal gab.
Dr. Baumanns Wagen hielt im Hof. Artus begrüßte den Arzt mit freudigem Gebell und folgte ihm ins Haus. Gewöhnlich brachte ihm Eric etwas mit, doch diesmal wurde er enttäuscht.
»Das nächste Mal, Artus«, versprach der Arzt und betrat die Wohnstube. »Was machen Sie nur für Sachen, Herr Walkhofer?« fragte er und stellte seine Tasche auf einen der Stühle. »Man kann Sie keine fünf Minuten aus den Augen lassen.«
»Genauso ist es«, erklärte Agnes Walkhofer. »Hermann scheint sich immer noch für den jungen Burschen zu halten, der er einst gewesen ist. Er will einfach nicht wahrhaben, daß das Leben an uns nicht spurlos vorbeigegangen ist.«
»Man ist so alt, wie man sich fühlt«, erklärte ihr Mann. »Das habe ich erst neulich in einer Zeitung gelesen.«
»Nicht in allen Dingen«, meinte Doktor Baumann. Er öffnete seine Tasche. »So, dann wollen wir mal sehen.«
Magdalena Walkhofer und ihr Bruder verließen die Wohnstube. Draußen begegnete ihnen Paul, der auf den Feldern gewesen war. »Ist jemand krank, oder macht Doktor Baumann nur einen Besuch bei uns?« fragte der junge Bauer. »Ich habe im Hof seinen Wagen gesehen.«
»Dein Großvater wollte Holz hacken«, antwortete seine Stiefmutter. »Jetzt hat er einen Hexenschuß.«
»Wie ich Großvater kenne, wird ihn das höchstens ein paar Tage lahmlegen«, meinte Paul und schaute die Treppe hinauf. »Nanu, du bist ja beim Friseur gewesen, Franziska.« Er mußte zugeben, daß der jungen Frau die neue Frisur ausgezeichnet stand, doch das sagte er nicht. »Etwa für Manfred?« fügte er spöttisch hinzu.
»Laß Franziska in Ruhe«, bat Magdalena Walkhofer. »Sie ist alt genug…«
»Also den Anschein hat es nicht«, erklärte Paul böse und ging in die Küche.
»Wie geht es Hermann?« fragte die Krankengymnastin schriftlich ihren Vater.
»Eric ist bei ihm.« Anton Löbl starrte seine Tochter an. »Geschminkt hast du dich auch«, bemerkte er vorwurfsvoll. »Und das alles für diesen Kerl.«
Dr. Baumann kam aus der Wohnstube. »Ich habe Ihrem Schwiegervater eine Spritze gegeben«, wandte er sich an Magdalena Walkhofer und reichte ihr ein Rezept. »Von den Tabletten soll er morgens, mittags und abends eine nehmen.« Er sah Franziska an. »Die neue Frisur steht dir gut«, bemerkte er.
»Setz ihr nicht auch noch Flausen in den Kopf!« stieß Anton Löbl ärgerlich hervor. »Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee, Eric, oder möchtest du zum Mittagessen bleiben?«
»Eine Tasse Kaffee trinke ich gern, aber wenn ich nicht zum Mittagessen nach Hause komme, macht mir Katharina die Hölle heiß.« Er ging mit dem Bauern in die Küche, während dessen Schwester in die Wohnstube zurückkehrte.
Franziska zögerte einen Moment, bevor sie den Männern folgte, um ebenfalls eine Tasse Kaffee zu trinken, doch sie kam nicht mehr dazu, da gleich darauf Manfreds Wagen durch das Hoftor fuhr. Er hielt wieder neben dem Ziehbrunnen und hupte.
Franziska stellte die Tasse auf den Spülstein, winkte den Männern zu und eilte aus dem Haus.
»Der Kerl hat nicht das geringste Benehmen«, schimpfte Anton Löbl, dann fragte er Paul: »Willst du nicht hinausgehen und deinen Freund begrüßen?«
Paul schüttelte verbittert den Kopf. »Soweit kommt es noch«, meinte er zornig. »Ich wünschte, Manfred wäre niemals auf den Hof gekommen. Wir hätten ihn, als er am vergangenen Sonntag hier aufgetaucht ist, mit Mistgabeln von unserem Besitz vertreiben sollen.« Wütend starrte er aus dem Fenster.
*
Den Donnerstagabend verbrachten Dr. Baumann und Ireen im »Luisenhof«. Im großen Saal des Hotels fand unter dem Motto »Rund um die Welt« eine Tanzveranstaltung statt, zu der auch viele Gäste aus der Umgebung gekommen waren.
Je länger Eric die junge Sängerin kannte, um so unmöglicher erschien es ihm, in einigen Tagen von ihr Abschied nehmen zu müssen. Er hatte Angst vor dem Augenblick, in dem Ireen in das Flugzeug steigen würde, das sie nach Paris brachte. Natürlich konnte er ein paar Tage Urlaub nehmen. Mara würde es nichts ausmachen, ihn zu vertreten, und er wußte seine Praxis bei ihr in guten Händen. Nur, was waren schon ein paar Tage? Woher sollte er wissen, ob Ireen jemals nach Deutschland zurückkehren würde, auch wenn sie es im Moment vorhatte?
»Du bist so ernst«, meinte sie, als sie miteinander tanzten. »Bedrückt dich etwas?«
»Nein«, antwortete er und schüttelte den Kopf. »Es ist nur die Musik, die mich ein bißchen traurig macht.« Er verzog das Gesicht. »Ich hätte nicht ausgerechnet Dany Boy bestellen dürfen.«
»Du hast es getan, um mir eine Freude zu machen.« Sie schmiegte ihre Wange an sein Gesicht. »Bestimmt habe ich irgendwann erwähnt, wie sehr ich dieses Lied liebe.«
»Ja, als wir auf dem Wallberg gewesen sind.« Er umfaßte sie etwas fester. »Schade, daß ich dich nach diesem Stück schon nach Hause bringen muß, aber morgen früh erwarten mich meine Patienten. Sie wären bestimmt nicht damit einverstanden, wenn ich ihnen unausgeschlafen entgegentreten würde.«
»Das darf auch nicht sein«, sagte Ireen. »Du hast einen wundervollen Beruf.« Sie lachte. »Sollte ich jemals krank werden, ich würde nach dir rufen, selbst, wenn ich am anderen Ende der Welt wäre.«
»Und ich würde so schnell kommen, wie es geht«, versprach Dr. Baumann.
Eine Viertelstunde später fuhren sie in seinem Wagen zum »Seeschlößchen«. Eric hätte gern mit Ireen in der Bar noch etwas getrunken, aber abgesehen davon, daß es schon ziemlich spät war, wußte er auch, daß er nichts weiter trinken durfte, weil er mit dem Wagen unterwegs war. Er hatte noch nie verstehen können, wie jemand es fertigbrachte, sich angetrunken hinter das Steuer zu setzen.
Nachdem er Ireen zum Aufzug gebracht und von ihr Abschied genommen hatte, wollte er das Hotel verlassen. Kurz vor dem Portal begegnete ihm Fabian Lindenmaier. Der junge Mann blieb stehen. »Sieht aus, als hätten Sie Feuer gefangen, Doktor Baumann«, meinte er. »Ich täusche mich sicher nicht, wenn ich annehme, daß Sie Miss Kelligan nach Hause gebracht haben.«
»Ich kann beides mit ja beantworten«, erwiderte Eric. »Wie geht es Ihrer Mutter?«
»Meine Mutter ist heute vormittag auf die Innere Station verlegt worden«, antwortete Fabian froh. »Wenn es nach ihr ginge, würde sie schon morgen nach Hause kommen. Zum Glück ist sie vernünftig genug, nichts gegen den Willen ihrer Ärzte zu tun.«
»Ich werde morgen vor der Nachmittagssprechstunde nach ihr sehen«, versprach Eric. »Grüßen Sie Ihre Frau und Ihren Vater von mir.« Er drückte die Hand des jungen Mannes. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Doktor Baumann.« Fabian Lindenmaier wartete, bis der Arzt das Hotel verlassen hatte, dann wandte er sich dem Privatlift zu, um zur Wohnung seines Vaters hinaufzufahren.
Als Dr Baumann nach Hause kam, brannte in der Küche noch Licht. Aufseufzend fuhr er den Wagen in die Garage. Es war kein gutes Zeichen, wenn seine Haushälterin um diese Zeit noch in der Küche saß. Es konnte nur bedeuten, daß sie mit ihm über Ireen sprechen wollte, wie in all den Tagen zuvor.
Kaum hatte der Arzt die Haustür aufgeschlossen, kam ihm auch schon Franzl entgegen. »Hast du mich vermißt?« fragte er und kraulte ausgiebig den Kopf seines Hundes. »Du hast ein ganz böses Herrchen, ich weiß. Wenn du möchtest, machen wir noch einen kurzen Spaziergang.«
»Du vernachlässigst Franzl in letzter Zeit geradezu sträflich«, sagte Katharina Wittenberg und kam aus der Küche. »Eric, so kann es nicht weitergehen. Ich muß mit dir reden.«
»Sieht nicht aus, als würde aus unserem Spaziergang noch etwas werden, Franzl.« Dr. Baumann ging an seiner Haushälterin vorbei und nahm eine Scheibe Wurst aus dem Kühlschrank. Schwungvoll warf er sie seinem Hund zu. »Haben wir in den letzten Tagen nicht schon oft genug über Miss Kelligan gesprochen?« fragte er. »Ich bin es leid, mich ständig rechtfertigen zu müssen. Du solltest endlich akzeptieren, daß ich Ireen liebe, ob es dir nun gefällt oder nicht.«
»Ich weiß, daß du wütend werden wirst, aber ich habe dich nicht großgezogen, um nun ruhig zuzusehen, wie du dein Leben zerstörst«, sagte die ältere Frau und lehnte sich gegen die Anrichte. Es fiel ihr schwer, so mit Eric reden zu müssen, doch die Angst, die sie empfand, wurde mit jedem Tag größer. »Miss Kelligan ist keine Frau für dich. Warum willst du das nicht einsehen?«
»Überlaß das bitte mir, Katharina«, meinte er grob und wandte sich der Küchentür zu. »Ich für meinen Teil bin müde. Wenn du noch hier unten bleiben willst, ist das deine Angelegenheit. Komm, Franzl.«
Franzl schaute verwirrt von einem zum anderen. Es kam nicht oft vor, daß sich sein Herrchen und Katharina stritten. Zu wem sollte er halten? Wem zeigen, daß er zu ihm stand? Unglücklich schlich er an Eric vorbei und legte sich neben dem Korb mit seinen Spielsachen unter die Treppe.
So schnell gab Katharina Wittenberg nicht auf, obwohl sie wußte, daß sie Erics Zuneigung riskierte. »Es ist nicht nur dieser enorme Altersunterschied, der mir Sorgen macht«, sagte sie, »sondern vor allen Dingen der Beruf von Miss Kelligan. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es dir gefallen würde, deine Frau nur sporadisch zu sehen, weil sie den größten Teil des Jahres auf Konzertreise ist.«
»Wenn es soweit ist, wird sich das finden«, erklärte Eric. »Darüber zerbreche ich mir jetzt noch nicht den Kopf.« Es stimmte zwar nicht, doch das ging Katharina nichts an. Er hatte schon oft darüber nachgedacht, wie es wohl sein würde, wenn er Ireen heiratete und sie monatelang von ihm getrennt war.
»Bitte, Eric, sei vernünftig, laß die Hände von der Frau. Sie…«
»Es reicht, Katharina, es ist mein Leben, ob du das nun wahrhaben willst oder nicht. Du kannst nicht allen Ernstes glauben, daß ich dich fragen werde, wenn es um meine zukünftige Frau geht.«
Seine Haushälterin zuckte heftig zusammen. »Dann kann ich ja gehen«, sagte sie und erschrak im selben Moment über ihre Worte.
Eric starrte sie fassungslos an. »Soll das eine Erpressung sein?« fragte er wütend.
Katharina schluchzte auf. »Am besten, ich packe meine Koffer«, meinte sie und hoffte, er würde sie in den Arm nehmen und ihr versichern, daß das alles nur ein böser Traum war.
»Tu, was du nicht lassen kannst!« stieß Dr. Baumann statt dessen hervor und ging in sein Arbeitszimmer. Laut schloß er die Tür hinter sich.
Die Haushälterin starrte bestürzt auf die geschlossene Tür. Sie preßte eine Hand auf den Mund, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Was hatte sie getan? Sie liebte Eric wie einen eigenen Sohn. Sie wollte ihn nicht verlieren. Wie hatte sie nur so verrückt sein können, ihn soweit zu treiben, daß es ihm anscheinend gleichgültig war, ob sie das Haus verließ oder nicht? Blind vor Tränen kämpfte sie sich die Treppe hinauf.
Eric saß an seinem Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände. Er hörte, wie sich Franzl winselnd vor die Tür fallen ließ, aber er brachte nicht die Kraft auf, aufzustehen und ihn hereinzulassen.
Katharina Wittenberg hatte im Laufe der Jahre so viel für ihn getan. Sein Vater hatte so gut wie niemals Zeit für ihn gehabt. Für ihn waren die Patienten stets an erster Stelle gekommen. Erst jetzt konnte Eric das verstehen, doch als Kind hatte er sehr darunter gelitten und sich manchmal sogar von seinem Vater unerwünscht gefühlt. Stets war es Katharina gewesen, die ihm Halt gegeben und dafür gesorgt hatte, daß seine Kindheit, trotz des frühen Todes seiner Mutter, schön gewesen war.
Der Arzt seufzte leise auf. Dennoch konnte niemand von ihm verlangen, daß er ihretwegen auf Ireen verzichtete. Katharina mußte akzeptieren, daß es um sein Leben ging und daß er noch niemals eine Frau so geliebt hatte wie
Ireen Kelligan. So sehr liebte, daß er sogar bereit war, sein ganzes Leben auf den Kopf zu stellen.
Trotzdem war es nicht nötig gewesen, so mit Katharina zu sprechen. Er war ja überzeugt, daß sie es wirklich nur gut meinte und nicht Eifersucht aus ihr sprach. Eric gab sich einen Ruck und stand auf. Er mußte zu ihr gehen, mußte ihr sagen, wie leid ihm das alles tat.
Als Dr. Baumann die Tür öffnete, schaute ihm Franzl vorwurfsvoll entgegen. Er beugte sich zu ihm hinunter. »Du hast ja recht«, sagte er. »Komm, gehen wir zu Katharina hinauf.«
Franzl wedelte freudig mit der Rute, dann drehte er sich um und tapste eilig die Stufen hinauf. Vor Katharinas Tür bellte er kurz auf.
Es war kein gutes Zeichen, daß Katharina nicht die Tür für Franzl öffnete. »Laß nur, das machen wir schon«, meinte Eric leise zu seinem Hund und klopfte. »Darf ich hereinkommen?« erkundigte er sich.
»Wie du willst«, antwortete sie mit tränenerstickter Stimme.
Eric öffnete die Tür. Wie erstarrt blieb er stehen. Auf dem Bett seiner Haushälterin lagen zwei offene Koffer. »Was hast du denn vor?« fragte er entgeistert. Er hatte nicht damit gerechnet, daß sie gleich packen würde.
»Das siehst du doch«, meinte sie, ohne sich umzudrehen. »Heute nacht nehme ich nur das Nötigste mit. Meine anderen Sachen lasse ich holen, wenn ich weiß, wo ich leben werde.«
»Es tut mir leid, Katharina«, sagte Eric bedrückt und nahm sie spontan in den Arm. »Glaub mir, es tut mir leid. Ich weiß, daß du es nur gut meinst.« Er berührte
ihr tränenüberströmtes Gesicht. »Bitte, versuch, mich zu verstehen.«
Katharina sah ihn an. »Willst du denn nicht, daß ich gehe?« fragte sie hoffnungsvoll, und der eiserne Ring, der sich um ihre Brust gelegt hatte, begann sich langsam zu öffnen.
»Natürlich will ich nicht, daß du gehst.« Er klopfte ihr die Tränen fort. »Frieden?«
Die Haushälterin nickte glücklich. »Ich habe wirklich Angst um dich«, sagte sie, »nur das bedeutet noch lange nicht, daß ich etwas gegen Miss Kelligan habe. Ich kenne sie noch nicht einmal. Es macht mir Angst, daß sie aus einer ganz anderen Welt kommt. Und…«
»Glaub mir, Katharina, deine Angst ist völlig grundlos. Ireen und ich lieben uns. Einzig und allein darauf kommt es an.« Eric ließ sie los und wies auf die Koffer. »Mich einfach mitten in der Nacht verlassen zu wollen, das ist schon ein starkes Stück. Was meinst du, Franzl?«
Franzl wußte, was von ihm erwartet wurde. Empört bellte er auf.
»Siehst du, selbst Franzl kann es nicht verstehen«, erklärte Dr. Baumann. Er schloß die Koffer und stellte sie neben den Kleiderschrank. »Auspacken kannst du morgen früh, Katharina. Für uns beide wird es Zeit, endlich zu Bett zu gehen.«
»Ja, das ist wahr«, erwiderte sie, »was jedoch nicht heißen muß, daß ich auch einschlafen kann. Ich bin einfach zu glücklich.« Um dem Arzt nicht zu zeigen, daß sie wieder weinte, beugte sich Katharina Wittenberg über Franzl und zog ihn an sich. »Was meinst du, wie sehr ich dich vermißt hätte«, flüsterte sie dem Hund zu.
»Vermutlich mehr als mich«, meinte Eric sarkastisch.
»Worauf du dich verlassen kannst«, scherzte sie und wischte sich die Tränen fort.
*
Dr. Baumann hatte mit seiner Freundin ausgemacht, daß sie sich am Samstag vor der Kirche in Rottach-Egern treffen würde, damit er mit Katharina Wittenberg nicht erst nach Bad Wiessee fahren mußte, um sie abzuholen. Er freute sich auf die Hochzeit von Michaela und Benjamin Ahlert. Die jungen Leute hatten sich bereits am Vortag standesamtlich das Jawort gegeben und am Abend zu einem Umtrunk ins »Benji« eingeladen gehabt. Es war ziemlich spät geworden. Zum Glück hatte er sich am Morgen ausschlafen können.
Katharina Wittenberg hatte ihre Tegernseer Tracht angezogen, die sie nur zu besonderen Gelegenheiten trug. Den Stoff zu dem schwarz-roten Seidenrock hatte ihr Erics verstorbener Vater vor einigen Jahren zu Weihnachten geschenkt. In den Ausschnitt ihres Mieders hatte sie rote Blumen gesteckt, wie das in Tegernsee üblich war. Sie konnte es kaum noch erwarten, Ireen Kelligan kennenzulernen. Seit der Nacht zum Freitag hatte sie mit Eric nicht mehr über die junge Frau gesprochen. Es blieb ihr nichts weiter übrig als einzusehen, daß seine Beziehung zu Ireen nur ihn selbst etwas anging.
Ireen Kelligan hatte schon soviel von Katharina Wittenberg gehört, daß sie sich darauf freute, endlich einmal mit ihr sprechen zu können. Ihr Freund hatte ihr nichts davon gesagt, daß Katharina befürchtete, sie könnte ihn unglücklich machen. So ging sie der älteren Frau ganz unbefangen entgegen, als diese aus Erics Wagen stieg.
Dr. Baumann machte Ireen und Katharina miteinander bekannt. Wider Erwarten fand seine Haushälterin die junge Frau sofort sympathisch. Sie konnte durchaus verstehen, weshalb sich Eric in Ireen verliebt hatte.
»Eric hat mir gesagt, daß Sie unser Tal wundervoll finden«, meinte sie. »Aber bei Ihnen in Irland muß es auch sehr schön sein.«
»Beides ist nicht miteinander zu vergleichen«, erwiderte Ireen und lächelte ihr zu. »Sie sollten irgendwann einmal Irland besuchen. Ich bin überzeugt, daß es Ihnen bei uns gefallen würde.«
»Ja, vielleicht werde ich es einmal tun«, sagte Katharina vage und schaute über die Straße hinweg zu einem silbergrauen Wagen, der unter einem Kastanienbaum stand. Die Haushälterin wußte selbst nicht, warum, der Wagen beunruhigte sie. Sie wollte schon Eric auf ihn aufmerksam machen, als sie sich sagte, daß er sie bestimmt auslachen würde.
Nach und nach trafen auch die anderen Hochzeitsgäste ein. Familie Mathes aus Rottach-Egern, die Mergenthalers, Arno Vögele und alle Freunde und Bekannten des Brautpaars. Die kleine Jessica Mergenthaler war ganz aufgeregt. Sie hielt ein Blumenkörbchen in der Hand und fühlte sich ungeheuer wichtig.
Auf dem Parkplatz der Kirche hielt die weiße mit Blumen geschmückte Limousine, die Benjamin Ahlert extra für diesen Tag gemietet hatte. Einer seiner Freunde hatte den Wagen gesteuert. Jetzt stieg er aus und öffnete für das Brautpaar die Fondtüren.
Michaela trug ein Hochzeitsdirndl, das aus dem Atelier von Maren Steiner stammte. Sie wirkte so wunderschön, daß alle für den Bruchteil einer Sekunde den Atem anhielten. Ihre Augen strahlten vor Freude, als sie mit Benjamin zu den Gästen hinüberging und sie begrüßte.
»Mein Papa hat für euch ein Gedicht gemacht«, verriet Jessica. »Ich kann es auswendig. Darf ich es aufsagen?«
»Jessi, das Gedicht ist für später«, mahnte ihr Vater. »Nun hat Ihnen meine Tochter schon etwas verraten, was Sie noch gar nicht hätten erfahren sollen«, wandte sie sich an das Brautpaar.
»Es wird uns trotzdem eine Freude sein, das Gedicht zu hören, Herr Mergenthaler«, versicherte Benjamin Ahlert. Er hoffte, daß es sich nur um ein paar Verse handelte, da er in den letzten Monaten ausgiebig Gelegenheit gehabt hatte, Florians Gedichte kennenzulernen.
Anna Mergenthaler wechselte einen kurzen Blick mit ihrem Sohn. Es wäre ihr bedeutend lieber gewesen, wenn ihr Mann darauf verzichtet hätte, anläßlich der Hochzeit ein Gedicht zu schreiben. Sie hielt ihren Mann nicht gerade für einen geborenen Poeten. Florian war allerdings überzeugt, daß es sich bei jedem seiner Gedichte um ein Meisterwerk handelte, zumal er darin noch von seiner Mutter und seiner Sekretärin unterstützt wurde.
Der Meßner begrüßte das Brautpaar mit einigen herzlichen Worten, dann half er, den Hochzeitszug zu formieren. Als die Glocken zu läuten begannen, gingen sie, angeführt von Jessica, die Blumen streute, langsam durch den Mittelgang der Kirche zum Altar.
Es war ein wunderschöner Hochzeitsgottesdienst. Katharina Wittenberg fühlte, wie Tränen in ihre Augen stiegen. Sie sandte ein Extragebet zum Himmel und bat darum, daß Michaela und Benjamin miteinander glücklich werden würden.
Verstohlen schaute sie immer mal wieder zu Dr. Baumann und Ireen, die neben ihr saßen und einander bei den Händen hielten. So nett sie die junge Frau auch fand, sie war sich sicher, daß sie nicht zu Eric paßte. Nur, was sollte sie tun? Sie hatte ihn gewarnt und dabei sehr viel riskiert. Er war alt genug, um seinen eigenen Weg zu gehen.
Auf einen Wink des Meßners erhob sich Ireen und stieg die schmale Treppe zur Empore hinauf. In der Kirche wurde es so still, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
Eric konnte seinen Blick nicht von seiner Freundin wenden. Ihre Stimme erfüllte die ganze Kirche, erreichte jeden einzelnen der Gottesdienstbesucher. Wenn auch keiner von ihnen den Text des Liedes verstehen konnte, weil Ireen gälisch sang, in ihren Herzen spürten sie die Bedeutung jedes einzelnen Wortes und wünschten zusammen mit ihr dem Brautpaar Gottes Segen.
Nach der Trauung fuhr die ganze Hochzeitsgesellschaft zum »Benji«, um dort zu essen und zu feiern. Benjamins Personal hatte das Restaurant festlich geschmückt. Obwohl es eigentlich noch zu kühl war, um sich längere Zeit auf der in den See hineinführenden Terrasse aufzuhalten, hingen auch dort Girlanden und Lampions.
Katharina Wittenberg verabschiedete sich kurz nach dem Kaffeetrinken. Sie hatte sich schon am Morgen vorgenommen gehabt, nicht länger zu bleiben. »Ich muß mich um Franzl kümmern«, sagte sie zu Michaela Ahlert. »Sie wissen ja, unseren Vierbeiner.«
»Ich dachte, er sei bei Ihren Nachbarn.« Michaela schaute zu Eric und Ireen. Sie spürte, daß Katharina befürchtete, die beiden zu stören.
»Ja, aber ich habe schon versprochen, spätestens um vier daheim zu sein«, antwortete die Haushälterin und reichte ihr die Hand. »Es ist eine großartige Hochzeitsfeier. Danke, daß ich dabei sein durfte. Nochmals Ihnen und Ihrem Mann viel Glück.« Sie wandte sich Benjamin zu. »Alles Gute, Herr Ahlert.«
»Danke. Frau Wittenberg.« Benjamin schüttelte ihre Hand. »Wie kommen Sie nach Hause?« fragte er.
»Eric wollte mich nach Hause bringen, doch ich habe ihm schon gesagt, daß ich ein Taxi nehmen werde«, erwiderte Katharina.
»Einer meiner Angestellten könnte Sie fahren«, schlug der Besitzer des »Benji« vor.
Die Haushälterin schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich nicht nötig.« Sie wies auf den grauhaarigen Mann, der das Restaurant betrat. »Sehen Sie, mein Taxi ist schon da.« Bevor Benjamin noch etwas sagen konnte, ging sie zur Tür.
Eric hatte vergeblich versucht, Katharina zum Bleiben zu überreden. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es sehr schwer, sie wieder davon abzubringen.
»Es ist meinetwegen, nicht wahr?« fragte Ireen beklommen. »Ich glaube, sie fühlt sich als fünftes Rad am Wagen.«
»Ja, es könnte durchaus sein«, antwortete Eric und beschloß, seiner Haushälterin, wenn er nach Hause kam, ein paar Blumen mitzubringen. Sie hatte es verdient, daß er ihr eine Freude machte.
Das Brautpaar begann, die Geschenke auszupacken, die auf einer langen Tafel am Ende des Raumes lagen. Es gab viel Gelächter, als Michaela aus einem der Päckchen einen weißen Strampelanzug zog. »Noch ist es nicht soweit«, meinte sie errötend und hielt ihn hoch.
»Einen Strampelanzug braucht man meistens früher, als man denkt«, sagte Olga Mergenthaler. »Ich habe ihn selbst gestrickt.«
»Es geht nichts über praktische Geschenke«, bemerkte Arno Vögele, Michaelas Arbeitgeber. Auch wenn er einer der Trauzeugen des jungen Paares war, er liebte Michaela nach wie vor und konnte nur schwer akzeptieren, daß sie einem anderen das Jawort gegeben hatte.
Nachdem alles ausgepackt war, beschloß Florian Mergenthaler, daß es nun Zeit für das Hochzeitsgedicht wurde. Er hatte es auf einem sehr teuren Papier drucken lassen und überreichte es dem jungen Paar in einem Silberrahmen, der von zwei aneinandergeschmiegten Tauben gekrönt wurde. »Werdet glücklich miteinander«, sagte er, »so glücklich, wie es Adam und Eva sicherlich gewesen sind.«
Jens stand auf. »Ich bin in ein paar Minuten zurück«, flüsterte er seiner Mutter zu und verließ das Restaurant.
Anna überlegte, ob sie ihm nicht folgen sollte. Es fiel ihr schwer, ruhig sitzenzubleiben, wenn ihr Mann ein Gedicht vortrug, so sehr sie ihn auch liebte. Er wollte ganz einfach nicht einsehen, daß seine Verse mehr als holprig waren und sich die meisten Leute über sie amüsierten.
Jens brauchte ziemlich lange, bis er zurückkam. »Wo bist du denn gewesen?« fragte seine Großmutter ärgerlich. »Jetzt hast du es versäumt, wie dein Vater das Hochzeitsgedicht vorgetragen hat. Also, ich kann dich wirklich nicht verstehen. Nimm dir ein Beispiel an deiner kleinen Schwester. Sie hat sich kein Wort entgehen lassen.«
»Sie ist noch zu klein, um zu verstehen«, meinte Jens ironisch und trat auf die Terrasse hinaus, um ein weißes Segelboot zu beobachten, das in Richtung Bad Wiessee über das Wasser glitt.
Es war lange nach Mitternacht, als Dr. Baumann seine Freundin ins »Seeschlößchen« zurückbrachte. Liebevoll nahm er ihren Arm und führte sie über den Parkplatz zum Eingang des Hotels. Er bemerkte nicht den Mann, der ihnen schon den ganzen Tag gefolgt war und sie nun aus dem Fenster seines Mietwagens beobachtete.
»Gehst du gleich nach oben?« fragte er, nachdem ihnen der Portier den Zimmerschlüssel gegeben hatte.
»Ja, ich bin schrecklich müde«, erwiderte Ireen. »Es war ein wundervoller Tag. Wenn du nach Hause kommst und Frau Wittenberg noch wach ist, bestell ihr bitte von mir viele Grüße und sage ihr, daß ich sie sehr nett finde.«
»Das mach ich gern«, versprach Eric. Er zog sie in eine Nische und küßte sie. »Schlaf gut, Darling. Morgen vormittag hole ich dich so gegen elf zu einem Ausflug ab. Wir könnten nach Kreuth fahren und ein Stück den Leonhardstein hinaufwandern.«
»Also, ich würde viel lieber noch einmal auf den Wallberg hinauffahren«, gestand die junge Sängerin. »Dort oben hat es mir wirklich gut gefallen.«
»Dein Wunsch ist mir Befehl«, erklärte er und küßte sie erneut.
Einige Minuten später fuhr
Ireen mit dem Lift zu ihrem Zimmer hinauf. Sie war so müde, daß sie es kaum noch erwarten konnte, endlich ins Bett zu kommen. Kaum hatte sie die Zimmertür hinter sich geschlossen, schlüpfte sie auch schon aus ihren Pumps und zog sich aus.
Die junge Frau kam eben aus dem Bad, als es klopfte. Verblüfft blieb sie stehen. Sie erwartete weder Besuch noch den Zimmerservice. »Wer ist denn da?« fragte sie und griff nach ihrem Morgenrock.
Statt einer Antwort klopfte es erneut.
Ireen zögerte einen Moment, dann öffnete sie die Tür. »Liam!« stieß sie fassungslos hervor. »Liam, was tust du denn hier?«
»Darf ich hereinkommen?« fragte Liam O’Connor.
»Ja, natürlich.« Sie trat beiseite.
Der junge Mann schloß die Tür hinter sich. »Ein schönes Zimmer«, bemerkte er und sah sich um.
»Wo kommst du her?« fragte sie und spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Auch wenn sie es nicht verstehen konnte, sie freute sich, Liam zu sehen.
»Ich bin seit gestern am Tegernsee.« Liam O’Connor schaute ihr forschend ins Gesicht. »Helen hat mir so eine komische Geschichte von einem Arzt erzählt, in den du dich verliebt hättest.« Blitzschnell zog er sie an sich. »Was soll das, Ireen? Bedeutet dir denn die Liebe, die wir zueinander empfinden, gar nichts mehr?«
»Du vergißt, daß wir uns getrennt haben.« Sie wand sich aus seinen Armen. »Ich kann es nicht ertragen, daß du mich ständig mit Vorwürfen überschüttest und auf jeden Mann eifersüchtig bist, der sich auch nur in meine Nähe wagt. Das hat nichts mit Liebe zu tun.«
»Doch, es ist Liebe«, behauptete Liam. »Erwartest du denn, daß ich tatenlos zusehe, wie sich andere an dich heranmachen?«
»Du hast dich überhaupt nicht geändert«, meinte Ireen enttäuscht und schüttelte den Kopf. »Es stimmt, ich habe mich in einen Deutschen verliebt. Es ist der liebevollste und zärtlichste Mann, den ich mir vorstellen kann.«
»Mit anderen Worten, ganz anders als ich.«
»Stimmt, ganz anders als du.«
»Das lasse ich nicht zu!« stieß Liam wütend hervor. »Ich…«
»Ich bin nicht dein Eigentum, Liam.« Ireen wies zur Tür. »Bitte, geh. Ich bin sehr müde.«
»Soll das ein Rauswurf sein?« fragte er schneidend.
»Wenn du es so nennen willst«, antwortete sie und hob das Kinn. Sie dachte nicht daran, sich von ihm einschüchtern zu lassen.
»Du machst einen großen Fehler, Ireen«, meinte er, drehte sich abrupt um und verließ das Zimmer.
Die junge Frau schloß hinter ihm ab und lehnte sich erleichtert gegen die Tür. Sie war froh, daß sich Liam so einfach hatte fortschicken lassen, ohne ihr eine lautstarke Szene zu machen. So ein verrückter Kerl, dachte sie. Kommt nach Deutschland und glaubt, ich würde alles andere darüber vergessen. Trotzdem, irgendwie imponierte es ihr.
Aufseufzend zog Ireen den Morgenmantel aus und ging zu Bett. Sie hatte keine Lust, sich den Kopf über ihren früheren Freund zu zerbrechen. Der Tag war viel zu schön gewesen, um ihn mit einem Mißklang enden zu lassen. Sie schloß die Augen und wollte an Eric denken, aber es war Liam, der sie in ihren Traum begleitete.
*
Als Dr. Baumann am nächsten Vormittag ins »Seeschlößchen« kam, um Ireen abzuholen, spürte er sofort, wie nervös die junge Frau war. »Ist etwas passiert, Darling?« erkundigte er sich und nahm sie in den Arm.
»Nein, was sollte passiert sein?« Ireen zwang sich zu einem Lächeln. »Ich bin nur noch ziemlich müde.« Es stimmte sogar. Während der Nacht war sie mehrmals aufgewacht und hatte über sich und Liam nachgedacht. Sie hatten viele schöne Stunden miteinander verbracht. Er war stets für sie dagewesen, wenn sie Hilfe gebraucht hatte, und sie fühlte, daß sie ihn nach wie vor liebte, obwohl sie ihn gestern abend gebeten hatte, ihr Zimmer zu verlassen.
»Sowie du an die frische Luft kommst, wirst du munter werden«, meinte Eric und nahm den Picknickkorb, den Ireen in der Küche hatte packen lassen. Gemeinsam verließen sie das Hotel.
Was soll ich nur tun? Ich liebe auch Eric, dachte die junge Frau, während sie zu seinem Wagen gingen. Oder war es doch nur Zuneigung? Sie wußte es ganz einfach nicht. Sie war gern mit Eric zusammen, fühlte sich in seiner Gesellschaft geborgen. Es konnte nur Liebe sein, oder nicht? Ireen wünschte sich verzweifelt, klar erkennen zu können, wer ihr mehr bedeutete, Eric oder Liam.
»Herr Lindenmaier hat mich gebeten, heute abend ein paar Lieder zu singen«, sagte sie auf der Fahrt nach Rottach-Egern. »Die Sängerin, die er für heute engagiert hat, liegt mit einer Erkältung im Bett.«
»Fein, ich freue mich darauf«, meinte der Arzt. »Katharina läßt dir übrigens viele Grüße bestellen.«
»Und was hat sie sonst noch gesagt?«
»Bist du auf Komplimente aus?« scherzte er.
»Ich hätte nur gern gewußt, was sie von mir hält.«
»Sie findet, daß du eine wunderschöne Stimme hast und sehr sympathisch bist«, antwortete
Eric diplomatisch. Katharina war nach wie vor davon überzeugt, daß sie nicht zueinander paßten, aber das mußte er ihr ja nicht verraten.
Ireen schaute aus dem Fenster. Sie versuchte, Liam zu vergessen. Es gelang ihr nicht. Ihre Gedanken kreisten ununterbrochen zwischen ihm und Eric. Es kam ihr vor, als sei sie in ein finsteres Verlies gesperrt worden und würde verzweifelt einen Ausweg suchen. Wie sie sich auch drehte und wendete, es gab nicht eine einzige Tür, die sie nach draußen führte.
Eric warf ihr alle paar Minuten einen fragenden Blick zu. »Ist wirklich alles in Ordnung?« erkundigte er sich, als sie auf dem Parkplatz vor der Seilbahn hielten. »Wo bist du nur mit deinen Gedanken? Was bedrückt dich, Ireen?«
»Ich sagte dir doch schon, daß ich noch müde bin«, erwiderte seine Freundin und stieg aus. Tief atmete sie ein. »Schau nur!« Sie wies auf einen bunten Flugdrachen, der in einiger Entfernung hoch über den Bäumen schwebte.
»Auch Lust zu fliegen?« neckte sie der Arzt.
»Nein, danke.« Sie schüttelte den Kopf. »Hätte Gott gewollt, daß ich fliege, hätte er mir Flügel verliehen.«
An diesem Vormittag war ziemlich viel los. Sie mußten fast zwanzig Minuten warten, bis sie mit der Seilbahn nach oben schweben konnten. Es hatte den Anschein, als würde halb Rottach-Egern einen Ausflug auf den Wallberg machen wollen. Deshalb bemerkte Ireen auch nicht Liam, der ihr in seinem Leihwagen vom Hotel aus gefolgt war und sich zwischen den anderen Menschen verbarg. Sie ahnte nicht, daß er sich entschlossen hatte, sie nicht mehr aus den Augen zu lassen.
Sie verließen die Station und folgten einem der Wanderwege, die kreuz und quer über den Wallberg führten.
Dr. Baumann spürte genau, daß sich zwischen ihnen etwas verändert hatte, konnte sich jedoch nicht erklären, was der Grund dafür war. Während sie über völlig belanglose Dinge sprachen, überlegte er, ob er irgend etwas getan oder gesagt hatte, das sie gekränkt haben mochte, aber er konnte sich an nichts erinnern.
Sie hatten einen Weg eingeschlagen, der an einem ziemlich steilen Felsabsturz entlang führte. Eric nahm die Hand seiner Freundin. »Vorsichtig, hier ist es gefährlich«, warnte er. »Lauf lieber nicht so nah am Abgrund entlang.«
»Ireen!«
Sie drehten sich um. »Was fällt dir ein, mich zu verfolgen, Liam?« fragte die Sängerin empört auf englisch. »Habe ich dir nicht gestern abend gesagt, daß ich nichts mehr mit dir zu tun haben will?«
Eric sah sie entgeistert an. »Also hatte ich recht, daß etwas nicht stimmt«, meinte er betroffen und wandte sich auf englisch an den jungen Mann, der vor Ireen stehengeblieben war. »Sie sind Liam O’Connor?«
»Ja, ich bin Liam O’Connor und mit Ireen verlobt.«
»Wir sind nie miteinander verlobt gewesen!« widersprach Ireen außer sich.
»Immerhin so gut wie verlobt«, beharrte er.
»Wie kannst du so etwas behaupten?« Ihre Augen sprühten vor Zorn.
»Für mich steht seit Jahren fest, daß wir eines Tages heiraten werden«, stieß er hervor. Sein Blick richtete sich auf Eric. »Vermutlich sind Sie der Mann, von dem Mrs. Field gesprochen hat. Ich kann Sie nur warnen. Lassen Sie die Hände von meiner Braut.«
»Warum hast du mir nicht gesagt, daß Mister O’Connor in Deutschland ist?« fragte Eric die junge Frau. Ihr Schweigen enttäuschte ihn.
»Tut mir leid, Eric, seit gestern abend bin ich völlig durcheinander«, antwortete sie auf deutsch. »Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Ich…«
»Warum sprichst du nicht so, daß ich es verstehen kann?« fragte Liam erregt. »Was hast du ihm gesagt?« Er griff nach ihrem Arm. »Du gehörst zu mir. Ich lasse nicht zu, daß du mit einem anderen gehst. Dein Platz ist an meiner Seite.«
»Du tust mir weh.« Ireen versuchte, ihm ihren Arm zu entziehen.
»Bitte, lassen Sie Ireen los«, bat Eric.
»Sie haben mir gar nichts zu sagen!« fuhr Liam den Arzt an. Er streckte die Hand aus, um Eric am Pullover zu packen, verlor das Gleichgewicht und stürzte, bevor ihn noch jemand halten konnte, den Abhang hinunter.
»Liam!« Ireen warf sich zu Boden und spähte nach unten. »Ist er tot, Eric?« fragte sie entsetzt, als sie Liam leblos auf einem Felsvorsprung liegen sah.
Eric gab ihr sein Handy. »Wir brauchen Hilfe«, sagte er und nannte ihr die Nummer des Notrufs, dann begann er eilig, den Abhang hinunterzuklettern.
Es dauerte ein paar Minuten, bis der Arzt es geschafft hatte, den Felsvorsprung zu erreichen. Er kniete sich neben Liam
O’Connor, der mit dem Hinterkopf hart aufgeschlagen war. Alle Anzeichen deuteten auf einen Schädelbruch. Noch während er versuchte, dem Verletzten zu helfen, setzte plötzlich dessen Atmung aus.
Eric zögerte einen Augenblick und begann sofort mit der künstlichen Beatmung. Er wußte, daß Liams Leben an einem seidenen Faden hing. Nicht einen Gedanken verschwendete er daran, daß es sich bei dem jungen Mann um seinen Rivalen handelte. Er sah in ihm nur noch einen Menschen, der Hilfe brauchte.
Auf dem Plateau des Wallbergs landete der Rettungshubschrauber. Der Notarzt und zwei Sanitäter seilten sich mit einer Trage ab und kamen Eric zu Hilfe.
Liam hatte wieder zu atmen begonnen, war jedoch noch immer bewußtlos. Er merkte nichts davon, als er auf der Trage den Abhang hinaufgezogen wurde.
Ireen stand steif wie eine Statue in der Nähe des Hubschraubers und beobachtete, wie Liam versorgt wurde. Eric legte den Arm um sie. »Komm, kehren wir zum Wagen zurück. Du möchtest sicher ins Krankenhaus fahren«, meinte er.
Die junge Frau nickte. »Ja, ich muß wissen, wie es um Liam steht. Wir sind uns einmal so nahe gewesen, daß ich…« Sie holte tief Luft, bevor sie sagte: »Als ich ihn da unten liegen sah, kam es mir vor, als sei ein Stück von mir mit den Berg hinuntergestürzt. Ich habe solche Angst, Eric, so entsetzliche Angst.« Impulsiv schmiegte sie sich an ihn.
»Es wird alles wieder gut«, versprach er und strich tröstend über ihren Rücken. Alles? fragte er sich. Nein, alles bestimmt nicht. Er fühlte nur zu deutlich, wie ihm Ireen entglitt.
*
Ludwig Lindenmaier setzte sich an den Tisch von Dr. Baumann und lud ihn zu einem Glas Wein ein. »Ich habe von Ihrem Abenteuer gehört«, sagte er. »Ein Glück, daß sie zur Stelle waren, um Mr. O’Connor zu helfen.«
Eric nickte. »Ja, es kam auf jede Minute an«, antwortete er.
Ireen und er waren erst am späten Nachmittag aus dem Krankenhaus zurückgekehrt. Er war rasch nach Hause gefahren und hatte sich umgezogen, weil sich seine Freundin entschlossen hatte, an diesem Abend trotz allem aufzutreten. Sie wollte die Lindenmaiers nicht enttäuschen und war zudem der Meinung, daß es sie von ihren Sorgen ablenken würde.
»Ich bin froh, daß Miss Kelligan nicht abgesagt hat«, meinte der Hotelier. »Es hätte mich in ziemliche Verlegenheit gebracht. Andererseits hätte ich es natürlich verstehen können. Ich hatte keine Ahnung, daß Liam O’Connor in Deutschland ist. Und Sie?«
»Nein, ich habe es auch erst heute erfahren«, erwiderte Eric. Er nahm es Ireen nicht mehr übel, daß sie ihm nichts davon gesagt hatte, weil er ihren inneren Zwiespalt nur zu gut verstehen konnte. Kein noch so großer Streit konnte das starke Band zwischen ihr und Liam zerreißen. Aber es tat weh, ganz entsetzlich weh. Er wußte nicht, wie er damit fertig werden sollte, wenn sie ihm womöglich sagen würde, daß alles nur ein schöner Traum gewesen war und ihr Herz noch immer Liam gehörte.
Ireen betrat die Bühne. Die Zuschauer im Saal begrüßten sie mit heftigem Beifall. Eric bewegte ganz automatisch die Hände. Er konnte nicht den Blick von ihr lassen. Sie erschien ihm so schön und anmutig wie nie zuvor. Auch wenn er sich dagegen zu wehren versuchte, fühlte er sich wieder von ihr aus der Wirklichkeit gerissen und vom Klang ihrer Stimme in eine andere Welt getragen.
Ludwig Lindenmaier hatte sich vergeblich bemüht, jemanden zu engagieren, der Harfe spielen konnte. Deshalb hatten sie sich entschlossen, daß Ireen bekannte irische Lieder singen sollte und dabei von einem Klavierspieler begleitet wurde. Es waren Lieder, die von irischen Gesangsgruppen durch die ganze Welt getragen worden waren, und jedes von ihnen berührte Erics Herz.
Nach ihrem Konzert kam die junge Sängerin zu ihnen an den Tisch. Sie wirkte erschöpft und lehnte den Wein ab, den ihr der Hotelier anbot. »Ich habe vorhin ganz vergessen zu fragen, wie es Ihrer Frau geht«, meinte sie, als sie sich setzte.
»Annemarie geht es sehr gut. Sie hofft, übernächste Woche aus dem Krankenhaus entlassen zu werden.« Ludwig Lindenmaier drückte ihre Hand. »Danke, daß Sie heute abend für uns gesungen haben. Ich rechne es Ihnen hoch an. Es ist sicher nicht leicht für Sie gewesen.«
»Nein, das war es nicht«, gab Ireen zu, »aber ich bin froh, daß ich es getan habe.« Sie schenkte Eric ein vages Lächeln. »Bist du mir böse, wenn ich mich zurückziehe? Ich bin sehr müde.«
»Nein, natürlich nicht.« Der Arzt stand auf. »Ich bringe dich noch zu deinem Zimmer hinauf. Bitte, entschuldigen Sie, Herr Lindenmaier.«
»Da gibt es nichts zu entschuldigen«, meinte der Hotelier und erhob sich ebenfalls. »Gute Nacht, Miss Kelligan, und nochmals vielen Dank.«
Eric nahm den Arm seiner Freundin und verließ mit ihr den Saal. »Ich komme noch mit hinauf«, sagte er, nachdem sie den Aufzug erreicht hatten, und drückte auf den Rufknopf. »Ich muß mich doch überzeugen, daß du auch im richtigen Zimmer landest«, versuchte er zu scherzen.
»So müde wie ich bin, könnte es durchaus sein, daß ich mich in das erstbeste Bett werfe«, gestand Ireen erschöpft. Es gab so vieles, was sie Eric sagen wollte, und sie fühlte sich schuldig, weil sie während des Wartens im Krankenhaus ganz klar erkannt hatte, daß sie ohne Liam nicht leben konnte. Noch brachte sie es nicht fertig, weil ihr einfach der Mut dazu fehlte. Dabei wußte sie, daß es nicht richtig war, was sie tat. Eric verdiente es nicht, hintergangen zu werden.
Zusammen mit einigen anderen Leuten fuhren sie nach oben. Eric legte den Arm um seine Freundin, als der Aufzug hielt und sie den Gang betraten, in dem ihr Zimmer lag. Sie hatten nicht weit zu gehen. Schon vor der vierten Tür hielten sie an. Er nahm ihren Schlüssel und schloß auf. »Gute Nacht, Ireen«, sagte er. »Ich…« Spontan ergriff er ihre Hand. »Vergiß nicht, wie sehr ich dich liebe.« Zärtlich küßte er ihre Fingerspitzen.
»Wie könnte ich das vergessen?« fragte sie. Blitzschnell berührte sie mit den Lippen seine Wange, dann öffnete sie die Zimmertür und trat ein. »Gute Nacht, Eric.« Bevor er noch etwas erwidern konnte, hatte sie die Tür schon geschlossen.
Dr. Baumann hörte, wie von innen der Schlüssel herumgedreht wurde. Es erschien ihm wie ein Omen. Niedergeschlagen wandte er sich der Treppe zu.
*
Dr. Mara Bertram kam am Montagmorgen früher als gewöhnlich. Da sie einige Krankenkarteien nachtragen wollte, ging sie nicht ins Doktorhaus hinüber, um mit Eric und seiner Haushälterin zu frühstücken, sondern betrat sofort die Praxis. Sie freute sich schon darauf, Eric später zu fragen, wie sein Wochenende gewesen war. Seit er sich in Ireen Kelligan verliebt hatte, schien er regelrecht auf Wolken zu gehen.
Die junge Ärztin brühte sich gerade eine Tasse Kaffee auf, als Dr. Baumann die Verbindungstür zwischen seinem Haus und der Praxis öffnete. Mara trat in die Aufnahme. »Nanu, du bist ja auch schon da«, meinte sie. »Ich…« Sie runzelte die Stirn. »Stimmt etwas nicht, Eric?« Ihr Kollege wirkte, als hätte er in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan.
»Es ist alles in Ordnung, Mara«, behauptete der Arzt und bemühte sich um einen leichten Tonfall. »Guten Morgen. Was hat dich denn so früh aus den Federn getrieben?«
»Die Tatsache, daß der Frühling anscheinend endlich seinem Namen alle Ehre machen will«, erwiderte sie und wies zum Fenster. »Wie es aussieht, will es ein schöner Tag werden.«
»Ja.« Eric nickte. Wenigstens dem Wetter nach, dachte er. Der strahlend blaue Himmel erschien ihm wie Hohn. Zu seiner Stimmung hatte bedeutend besser ein Regentag gepaßt.
»Möchtest du auch eine Tasse Kaffee?« erkundigte sich Mara. Irgend etwas stimmte nicht, das fühlte sie. Eric wirkte entsetzlich niedergeschlagen. Ob er sich mit Miss Kelligan gestritten hatte? Sie wußte aus eigener Erfahrung, wie schnell es manchmal selbst unter Verliebten zu einem Streit kommen konnte.
»Gern«, antwortete er müde und wandte sich seinem Sprechzimmer zu.
Mara wartete, bis der Kaffee durch die Maschine gelaufen war, dann füllte sie ihn in zwei Tassen, stellte diese mit Zucker und Milch auf ein Tablett und trug alles zum Sprechzimmer ihres Kollegen. Mit dem Ellbogen öffnete sie die Tür.
Eric stand am Fenster, den Blick starr nach draußen gerichtet. Er schien nicht einmal zu bemerken, daß er nicht mehr allein war.
Die junge Ärztin stellte das Tablett auf dem Schreibtisch ab. »Dein Kaffee«, sagte sie. Er rührte sich nicht. Entschlossen ging sie auf ihn zu. »Komm, sag mir, was dich bedrückt, Eric. Wir sprechen doch auch sonst über alles.«
Dr. Baumann wandte sich langsam um. »Das ist wahr«, meinte er und fragte: »Wie hast du das Wochenende verbracht? Ist zwischen dir und Martin wieder alles in Ordnung?« Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. »Danke für den Kaffee, Mara.«
»Du hattest recht, Eric«, sagte sie. »Martin liebt mich über alles. Daß er am Freitagabend mit Frau Doktor Kern bei seinem Chef gewesen ist, bedeutet nichts.« Ein flüchtiges Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Ich sollte nicht so schnell eifersüchtig werden. Wir haben das ganze Wochenende miteinander verbracht. Gestern sind wir baden gewesen. Und rate mal, wen wir im Erlebnisbad getroffen haben?« Sie setzte sich und griff nach ihrer Tasse.
»Wen denn?« Er nahm ebenfalls Platz.
»Frau Löbl. Sie ist mit einem Mann dort gewesen, den ich bisher noch nie gesehen habe. Zu unseren Patienten gehört er jedenfalls nicht.«
»Das muß der Mann gewesen sein, von dem sie mir erzählt hat. Ein Freund ihres Stiefcousins. Sie haben zusammen gedient.« Eric griff nach dem Zucker, obwohl er seinen Kaffee gewöhnlich nur mit Milch trank. Erst jetzt konnte er nachempfinden, wie elend sich Franziska fühlte, wenn sie ihn mit einer anderen Frau sah. Er hoffte, daß sie sich wirklich in Manfred Kessler verliebt hatte und nicht nur mit ihm ausging, um die Leere in ihrem Herzen auszufüllen.
»Und wie ist dein Wochenende gewesen?« fragte Mara vorsichtig. Sie hatte sich zwar vorgenommen, die Krankenkarteien nachzutragen, aber es erschien ihr im Moment wichtiger, mit Eric zu sprechen.
»Die Ahlerts hatten eine wirklich schöne Hochzeitsfeier«, antwortete ihr Kollege. »Und Herr Mergenthaler hat es sich natürlich nicht nehmen lassen, dem Hochzeitspaar ein Gedicht zu widmen«, fügte er hinzu. Ein flüchtiges Lächeln huschte um seinen Mund, als er erzählte, daß Jens eilig das Weite gesucht hatte, als sein Vater das Gedicht vortragen wollte. »Ja, am Samstag war meine Welt noch in Ordnung.« Er holte tief Luft. »Ireen und ich haben gestern noch einmal einen Ausflug auf den Wallberg gemacht. Ich hatte keine Ahnung, daß wir seit Samstag verfolgt wurden.«
»Verfolgt?« Mara hob die Augenbrauen. »Wer hat euch verfolgt?« Sie leerte ihre Tasse.
»Liam O’Connor«, erwiderte Eric und berichtete von seinem Zusammentreffen mit dem jungen Künstler. »Es ging alles so schnell. Bevor Ireen oder ich reagieren konnten, stürzte Mister O’Connor bereits den Abhang hinunter. Wir sind den ganzen Nachmittag im Krankenhaus gewesen. Gott sei Dank handelt es sich nur um eine einfache Schädelbasisfraktur, ohne Verletzung des Hirns. Als ich heute in aller Frühe im Krankenhaus angerufen habe, sagte man mir, daß Mister O’Connor das Bewußtsein bereits wiedererlangt hat und es nicht aussehen würde, als könnte es noch Komplikationen geben.«
»Da hat er in der Tat Glück gehabt«, bemerkte Mara. »Drei, vier Wochen Bettruhe, und er wird sein früheres Leben wieder aufnehmen können.« Sie sah ihn an. »Und Miss Kelligan?« fragte sie, ahnte jedoch bereits, weshalb Eric so am Boden zerstört schien.
»Es sieht aus, als hätte ich sie verloren«, antwortete er dumpf. »Ich glaube, Ireen hat nie aufgehört, Mister O’Connor zu lieben. Nach seinem Unfall muß ihr bewußt geworden sein, daß er es ist, dem ihr Herz gehört.«
»Es tut mir so leid für dich,
Eric«, sagte Mara. »Habt ihr schon darüber gesprochen?«
Dr. Baumann schüttelte den Kopf. »Nein, sie weiß vermutlich nicht, wie sie es mir sagen soll. Das kann ich sogar verstehen. Wenn…« Er hörte, wie jemand durch den Gang auf sein Sprechzimmer zuging und blickte zur Uhr. »Es ist bereits nach acht und…« Es klopfte. »Ja, bitte!« rief er.
Franziska Löbl trat ein. Sie deutete ein »guten Morgen« an. Auch wenn sie inzwischen wußte, daß Frau Dr. Bertram und Eric nur gute Freunde waren, es störte sie nach wie vor, die beiden so vertraut miteinander zu sehen, doch sie ließ es sich nicht anmerken.
»Wird Zeit, daß ich an die Arbeit gehe«, meinte Mara, nachdem sie Franziskas Gruß erwidert hatte. »Bis nachher.« Sie nickte beiden zu und verließ das Zimmer.
»Guten Morgen, Franziska.« Eric gab sich Mühe, sich nichts von seinem Kummer anmerken zu lassen. »Ich hoffe, du hattest ein schönes Wochenende«, sagte er freundlich.
Die Krankengymnastin nickte. »Manfred und ich haben einiges miteinander unternommen«, schrieb sie und hoffte auf ein kleines Zeichen von Eifersucht, aber Eric schien es völlig gleichgültig zu sein, wenn sie mit einem anderen Mann ausging.
Was bist du nur für eine dumme Gans, dachte sie. Es war töricht, darauf zu hoffen, daß ihm ihre Beziehung zu Manfred Kessler etwas ausmachen würde. Davon abgesehen, daß er sich in Miss Kelligan verliebt hatte, hatte er niemals auch nur angedeutet, mehr als Freundschaft für sie zu empfinden. Ihr Verstand hatte das längst begriffen, nur ihr Herz wollte es nicht einsehen.
»Mara hat mir von eurem Zusammentreffen im Bad erzählt«, erwiderte er, froh darüber, daß es ihm gelang, ihr nicht zu zeigen, wie elend er sich fühlte. So gern er Franziska hatte, er wollte mit ihr nicht über den gestrigen Tag sprechen.
»Frau Müller bringt nachher Anna zur Krankengymnastik«, schrieb Franziska auf ihren Block. »Möchtest du noch mit ihr sprechen?«
»Ja, sag mir bitte Bescheid, wenn die beiden da sind«, bat er. Auf seinem Schreibtisch läutete das Telefon. Er hob den Hörer ab und meldete sich.
Franziska ging hinaus und schloß leise die Tür hinter sich. Sie bereute es nicht, einen Teil des Samstags und den Sonntag mit Manfred verbracht zu haben. Sie hatte jede Minute genossen, und trotzdem war es Eric, an den sie dachte, wenn er sie küßte, und das machte ihr angst.
*
Während der nächsten Tage trafen sich Ireen und Dr. Baumann meistens nur im Krankenhaus, da die junge Frau den größten Teil ihrer Zeit an Liams Bett verbracht und keine Lust hatte, abends noch auszugehen. Noch immer hatte sie es nicht gewagt, mit Eric darüber zu sprechen, daß es Liam war, den sie liebte. Ihr fehlte nach wie vor ganz einfach der Mut dazu, weil sie es haßte, jemandem, den sie so schätzte wie Eric, weh zu tun. Sie verachtete sich dafür, und ihr einziger Trost war, daß Eric, wenn er zu sehen verstand, die Wahrheit längst erkannt haben mußte.
An diesem Nachmittag hatte Ireen nur kurz das Krankenhaus verlassen, um einiges für Liam zu besorgen, als Dr. Baumann eintraf. Er wollte nach Annemarie Lindenmaier sehen, vorher jedoch mit Liam O’Connor sprechen. Der junge Mann hatte die Folgen seines Unfalls inzwischen soweit überwunden, daß er wieder klar denken konnte. Tagelang hatte er wie leblos in seinem Bett gelegen und kaum reagiert, wenn man ihn angesprochen hatte.
»Ist Miss Kelligan bei Mister O’Connor?« erkundigte er sich bei der Stationsschwester.
»Nein, sie ist vor einer halben Stunde gegangen«, erwiderte Schwester Bettina. »Mister
O’Connor hat heute einen wirklich guten Tag. Sieht aus, als würde es jetzt endgültig aufwärts gehen.« Sie atmete tief durch. »Was doch die Liebe ausmachen kann! Wir sind alle überzeugt, daß Mister O’Connor so gute Fortschritte macht, weil sich seine Freundin fast Tag und Nacht um ihn kümmert.«
»Es hilft ihm sicher, so geliebt zu werden«, bemerkte Eric und spürte in seinem Innern einen so starken Schmerz, daß er fast aufgeschrien hätte.
»Ja, die Liebe birgt eine große Kraft in sich«, meinte sie, ohne zu ahnen, daß sich jedes ihrer Worte wie ein Pfeil in sein Herz bohrte.
Eric klopte an die Tür des Privatzimmers. Als keine Antwort erfolgte, trat er ein und blickte zum Bett des Mannes hinüber, der all seine Hoffnungen zunichte gemacht hatte. Er war froh, daß er dennoch keinen Haß auf Liam empfand. Liebe konnte man nicht erzwingen.
»Mister O’Connor«, sagte er.
Liam schlug die Augen auf.
Ireen hatte ihm gesagt, daß Dr. Baumann während der letzten Tage mehrmals nach ihm gesehen hatte. Anfangs hatte er sich nicht daran erinnern können, wie es zu dem Unfall gekommen war, doch inzwischen sah er sich wieder mit Ireen und dem Arzt am Abgrund stehen. »Sie haben mir das Leben gerettet, Doktor Baumann«, meinte er auf englisch und streckte ihm seine Hand entgegen. »Danke.«
Eric kostete es Überwindung, Liams Hand zu ergreifen, doch er tat es. »Ich bin froh, daß ich Ihnen helfen konnte«, erwiderte er, dann nahm er sich einen Stuhl und setzte sich ans Bett des Kranken. »Wie fühlen Sie sich?«
»Was meinen Kopf betrifft, als hätte man mich zwischen zwei Mühlsteine gelegt«, sagte Liam. »Dabei weiß ich, daß ich allen Grund habe, dankbar zu sein. Bei einem Schädelbasisbruch kommt es oft auch zu Gehirnverletzungen. Ich muß einen Schutzengel gehabt haben.«
»Ja, das kann man wohl sagen«, bestätigte Eric. »Sie hatten auch das Glück, sonst nur mit Prellungen davongekommen zu sein. Es ist immerhin ein ziemlich tiefer Sturz gewesen, und Sie sind hart auf dem Felsen aufgeschlagen.«
Liam O’Connor wandte seinen Blick dem Foto zu, das auf seinem Nachttisch stand. »Sie lieben
Ireen, nicht wahr?« fragte er kaum hörbar.
»Ja, ich liebe Ireen«, antwortete Eric, »aber ich weiß auch, daß ihr Herz Ihnen gehört, Mister O’Connor. Sie können unbesorgt sein, ich werde mich nicht zwischen Sie und Ireen stellen. Ich hatte in den letzten Tagen reichlich Gelegenheit, über alles nachzudenken. Ireen und ich würden niemals miteinander glücklich werden.«
Liam sah ihn forschend an. Er fühlte, wie schwer es dem Arzt fiel, auf Ireen zu verzichten, jedoch auch, daß er die Wahrheit sagte. »Ich habe in der Vergangenheit viele Fehler gemacht«, gestand er. »Wenn ich nicht oft so ein schrecklicher Egoist gewesen wäre, hätten Ireen und ich uns niemals getrennt.« Er schloß die Augen. »Ich liebe sie so sehr, daß ich am liebsten den Boden küssen würde, den ihre Füße berühren. Wenn wir zusammen sind, erscheint es mir, als würde die Sonne heller scheinen als jemals zuvor.« Leise seufzte er auf. »Wahrscheinlich können Sie das nicht verstehen.«
»Und ob ich das verstehen kann.« Eric schob seinen Stuhl zurück. »Ireen fliegt nächste Woche nach Frankreich. Sie kennen hier niemanden und werden vermutlich ziemlich einsam sein. Wenn Sie erlauben, werde ich hin und wieder nach Ihnen sehen.«
»Danke, ich würde mich darüber freuen.« Liam reichte ihm die Hand. »Es wäre schön, wenn wir Freunde werden könnten, nur das wäre wohl zuviel verlangt.«
»Keiner von uns kann in die Zukunft sehen«, meinte Eric. Er verabschiedete sich von dem jungen Künstler und trat so eilig in den Gang, daß er fast mit Ireen zusammengestoßen wäre, die vom Aufzug her kam.
»Ich hatte keine Ahnung, daß du im Krankenhaus bist, Eric«, stieß sie erschrocken hervor und blieb stehen. »Warst du lange bei Liam?«
»Nur ein paar Minuten. Wir haben uns unterhalten«, erwiderte er. »Ireen, ich habe nicht mehr allzuviel Zeit. Ich möchte noch nach Frau Lindenmaier sehen, bevor meine Sprechstunde beginnt.« Er berührte ihre Schulter. »Entschuldige mich bitte.« Mit hastigen Schritten ging er davon.
Die junge Sängerin blickte ihm nach. Sie verachtete sich für ihre Feigheit. Bedrückt betrat sie Liams Zimmer. »Hallo«, sagte sie, stellte ihre Einkäufe auf den Boden und küßte ihn sanft auf die Lippen.
»Dein Doktor Baumann ist bei mir gewesen«, erzählte er, als sie sich auf sein Bett setzte. Er nahm ihre Hände. »Ich mag ihn. Ich mag ihn sogar sehr.« Liebevoll schaute er sie an. »Du mußt dir seinetwegen keine Sorgen mehr machen, Darling. Er weiß längst, daß du ihn nicht liebst.«
»Hat er dir das gesagt?«
Liam nickte. »Und auch, daß er sich nicht zwischen uns stellen wird.«
Ireen spürte eine ungeheure Erleichterung in sich. »Wir sind solche Idioten gewesen, Liam, unser Streit damals…«
»Ich bin der Idiot gewesen«, widersprach er und schaute ihr in die Augen. »Bitte, glaube mir, ich werde nie wieder versuchen, dich zu beherrschen und nach meinem Willen zu formen. Wenn ich eines begriffen habe, dann, daß jemanden zu lieben auch bedeutet, ihm seine Freiheit zu lassen.« Liam umfaßte ihre Hände etwas fester. »Ireen, möchtest du mich heiraten? Ich brauche dich wie die Luft zum Atmen. Ohne dich ist mein Leben leer.«
»Genauso leer wie meines ohne dich«, meinte sie versonnen und beugte sich über ihn. »Ja, ich möchte dich heiraten, Liam.« Ihre Lippen fanden sich zu einem leidenschaftlichen Kuß.
*
Katharina Wittenberg verließ das Doktorhaus und stieg die beiden Stufen hinunter, die zum See führten. Besorgt schaute sie sich nach Eric um. Er war gleich nach der Sprechstunde mit Franzl spazierengegangen und noch nicht zurückgekehrt. Seit dem vergangenen Sonntag konnte sie vor Sorgen kaum noch eine Nacht ruhig schlafen. Es tat ihr leid, daß sie sich nicht geirrt hatte. Sie hätte es Eric so sehr gegönnt, endlich die richtige Frau gefunden zu haben. Erst Lydia und nun Ireen…
»Guten Abend, Frau Wittenberg«, sagte Eva-Maria Winkler hinter ihr. Sie drehte sich zu ihrem Mann und ihrem Adoptivtöchterchen um. »Wo bleibt ihr denn?«
»Alte Frau ist kein D-Zug«, kam es von Janina, die ihren Hund Bastian an der Leine führte.
»So etwas muß man sich heute von seinen Kindern sagen lassen«, meinte Eva-Maria lachend. »Warten Sie auf Doktor Baumann?«
»Ja, er ist mit Franzl unterwegs.« Katharina nickte den Winklers grüßend zu.
»Fein.« Janina beugte sich zu Bastian hinunter und machte ihn von der Leine los. »Such den Franzl«, forderte sie ihn auf.
Bastian ließ sich das nicht zweimal sagen. Wie ein Wirbelwind jagte er in Richtung Prinz-Karl-Kapelle davon. Janina rannte ihm vergnügt nach.
»Sie ist so ein nettes Mädchen.« Katharina dachte an die Zeit, in der Janina für einige Wochen bei ihnen gelebt hatte, weil sie einen Ort gebraucht hatte, an dem sie sich von den körperlichen und seelischen Mißhandlungen erholen konnte, die ihr vom Freund ihrer Mutter zugefügt worden waren. Dann hatten die Winklers sie in Adoptionspflege genommen und inzwischen adoptiert.
»Wir haben noch nicht eine einzige Minute lang bereut, Janina ein Zuhause gegeben zu haben«, sagte Sebastian Winkler. »Entschuldigt mich bitte.« Er rannte seiner Tochter nach. »Warte nur, bis ich dich eingeholt habe!« rief er. »Wenn ich dich erwische, dann…«
»Steckt nicht in jedem Mann ein Kind?« fragte Eva-Maria glücklich. »Die beiden sind unzertrennlich.«
Katharina Wittenberg wechselte noch ein paar Worte mit ihr und kehrte ins Doktorhaus zurück. Bedrückt schaute sie auf den gedeckten Abendbrottisch. Sie hatte Nußbrot gebacken, weil Eric das so gern aß, und Kirschwassersalami aufgeschnitten. Zu was habe ich mir eigentlich die ganze Mühe gemacht, dachte sie. Eric wird heute abend genauso wenig Appetit haben wie in den Tagen zuvor.
Auf der Straße hielt ein Wagen. Sie trat ans Küchenfenster und blickte hinaus. Ireen Kelligan stieg aus. Katharina ballte die Hände. Hatte sie Eric nicht immer vor dieser Frau gewarnt? Warum hatte er nur nicht auf sie hören wollen?
Noch bevor Ireen klingeln konnte, öffnete die Haushälterin bereits die Tür. »Guten Abend«, sagte sie kühl. »Doktor Baumann ist spazierengegangen, Miss Kelligan.«
»In welche Richtung?« fragte Ireen.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Katharina. »Aber ich nehme an, daß er bald nach Hause kommen wird.« Sie gab ihrem Herzen einen Stoß. »Sie können im Wohnzimmer auf ihn warten.«
»Danke.« Ireen schenkte ihr ein vages Lächeln. »Sie sind mir böse, habe ich recht?«
Katharina nickte. »Ja, es ist nicht richtig gewesen, was Sie getan haben. Man spielt nicht mit dem Herzen und den Gefühlen eines anderen Menschen.«
»Ich mag Eric sehr«, antwortete Ireen. »Glauben Sie mir, es tut mir leid, daß ich nicht rechtzeitig erkannt habe, wie wichtig Liam O’Connor für mein Leben ist und wie sehr ich ihn liebe.«
»Das glaube ich Ihnen gern und trotzdem…« Katharina hob die Schultern. »Es gibt Wunden, von denen man sich nur schwer erholt«, fügte sie hinzu und führte die junge Frau ins Wohnzimmer. »Möchten Sie was trinken?«
»Nein, danke«, sagte Ireen und trat durch die offene Tür auf die Terrasse hinaus.
Die junge Frau mußte fast eine halbe Stunde warten, bis Eric nach Hause zurückkehrte. Von der Terrasse aus sah sie ihn mit einigen Leuten am Wasser entlanggehen. Eilig rannte sie durch den Garten. »Eric!« rief sie.
Dr. Baumann zuckte heftig zusammen. Er wandte sich Ireen zu. Wie schön sie ist, dachte er, als er sie am Gartenzaun stehen sah. Rasch verabschiedete er sich von seinen Nachbarn. »Komm, Franzl!« rief er, als sein Hund noch mit Bastian herumtoben wollte.
Ireen öffnete die Gartentür und ging ihnen entgegen. Franzl begrüßte sie wie einen alten Freund, obwohl er sie noch nie zuvor gesehen hatte. »Du bist ja ein lieber Hund«, meinte sie und kraulte ihn.
»Manchmal auch ein sehr lästiger Hund«, bemerkte Erick. »Wart einen Augenblick.« Er brachte Franzl in den Garten. »Lauf zu Katharina«, forderte er ihn auf und kehrte zu Ireen zurück. Anklagend schaute Franzl seinem Herrchen nach.
Ireen blickte auf das Wasser hinaus. »Ich mußte dich unbedingt noch sprechen, bevor ich Bad Wiessee verlasse«, sagte sie, als Eric zu ihr zurückkam. »Bitte, denk nicht zu schlecht von mir. Ich hatte niemals vor, dir weh zu tun.«
»Das weiß ich.« Der Arzt spürte das heftige Verlangen, sie in den Arm zu nehmen. Er brauchte seine ganze Beherrschung, um es nicht zu tun. »Du weißt, wie sehr ich dich liebe, Ireen«, meinte er, während sie langsam am Wasser entlanggingen. »Aber was nützt eine Liebe, die nicht erwidert wird. Ich hoffe nur, daß du mit Liam sehr glücklich
wirst.«
»Das werde ich bestimmt«, erwiderte sie. »Ich habe dir soviel zu verdanken, Eric, zwei wunderschöne Wochen, Liams Leben… Es wäre besser gewesen, ich hätte auf meine Freundin gehört. Sie hat mich davor gewarnt, am Tegernsee zu bleiben.«
Nebeneinander stiegen sie die beiden Stufen hinauf. »Trotz allem bin ich froh, daß du geblieben bist, Ireen. Ich möchte die Zeit mit dir nicht missen.« Eric blieb stehen und berührte ihre Wange. »Irgend jemand hat einmal in einer ähnlichen Situation gesagt, der Schmerz, den ich jetzt fühle, ist Teil meines früheren Glücks.« Er atmete tief durch. »Und das ist wahr. Du hast mir so viel gegeben.«
»Danke, daß du mir nicht böse bist, Eric.« Die junge Frau kämpfte mit den Tränen. »Ich möchte dir nicht auf Wiedersehen sagen, denn ein Wiedersehen würde nur Wunden auf beiden Seiten aufreißen«, meinte sie. »Wenn man sich bei uns in Irland von einem Menschen trennt, der einem viel bedeutet, so gibt man ihm einen ganz besonderen Segen mit auf den Weg.« Sie schaute ihm in die Augen. »Möge deine Straße immer gerade sein. Möge dir immer der Wind im Rücken stehen. Möge dir immer die Sonne ins Gesicht scheinen. Möge der Regen sanft auf deine Felder fallen und möge bis zum Ende deiner Tage Gott immer an deiner Seite sein.« Abrupt drehte sie sich um und ging zu ihrem Wagen.
Eric folgte ihr nicht. »Lebwohl«, rief er ihr nach und wartete, bis sie davonfuhr, bevor er seinen Garten betrat. Drinnen im Haus hörte er Franzl bellen. Es war ein Abend wie viele andere zuvor, und doch auch anders, denn an ihm hatte er Ireen endgültig verloren. Alles, was ihm von ihr bleiben würde, waren die Erinnerung und einige Fotos.
Katharina Wittenberg öffnete die Tür. Langsam ging sie ihm entgegen. »Das Abendessen wartet, Eric«, sagte sie und legte den Arm um seine Schultern. Gemeinsam betraten sie das Haus.