Читать книгу Der Arzt vom Tegernsee Staffel 5 – Arztroman - Laura Martens - Страница 6

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»Was ist nur heute nachmittag los?« fragte Tina Martens, als Franziska Löbl, die als Krankengymnastin in der Praxis von Dr. Baumann arbeitete, in die Aufnahme kam, um aus einem der Aktenschränke eine Karteikarte herauszusuchen. »Das Wartezimmer ist bis zum letzten Platz besetzt. Drei der Patienten haben sich nicht einmal vorher angemeldet. Also, mir sieht das sehr nach Überstunden aus.«

Franziska, die seit einem Unfall in ihrer Kindheit nicht mehr sprechen konnte, wollte eben etwas auf den Block schreiben, den sie immer bei sich trug, als sich die Eingangstür der Praxis öffnete und ein junger Mann mühsam hereinhumpelte.

»Nanu, Herr Schneck, was haben Sie denn gemacht?« erkundigte sich Tina mitfühlend.

Harry Schneck stützte sich auf den Aufnahmetresen. »Ich bin von einem Hund gebissen worden«, erwiderte er grimmig. »Meinen Sie, daß mich Doktor Baumann drannehmen kann?«

»Natürlich, es handelt sich ja um einen Notfall.« Tina wies zu einem blauen Polsterstuhl, der seitlich des Tresens stand. »Bitte, nehmen Sie einen Augenblick Platz. Ich bin gleich zurück.«

Die junge Frau ging zum Sprechzimmer von Dr. Baumann. Sie klopfte kurz an, wartete sein »Herein« ab und trat ein. »Entschuldigen Sie die Störung«, bat sie. »Herr Schneck ist hier. Er ist von einem Hund gebissen worden.«

Eric, der sich mit Marcel Buchner unterhielt, schaute auf. »Schicken Sie Herrn Schneck bitte in den kleinen OP, Tina. Ich bin in wenigen Minuten bei ihm.«

Die Sprechstundenhilfe kehrte zu Harry zurück und forderte ihn auf, ihr zu folgen. »Sie können sich ruhig auf mich stützen«, bot sie freundlich an, als sie merkte, wie schwer es ihm fiel, seinen verletzten Fuß zu belasten.

»Es scheint doch noch Engel zu geben«, bemerkte er, als sie den kleinen OP betraten.

»Wie sind Sie hergekommen?« fragte sie, nachdem sie dafür gesorgt hatte, daß er einen bequemen Stuhl bekam, und legte sein rechtes Bein auf einen Hocker.

»Ich habe ein Taxi genommen. Es wäre geradezu verwegen gewesen, mit meiner Verletzung selbst zu fahren. Man kann ja nie wissen.« Der junge Mann verzog schmerzvoll das Gesicht. »Mein Chef wird sich freuen, wenn ich womöglich nächste Woche ausfalle.«

Tina wußte, daß Harry

Schneck bei der Post im Paketdienst arbeitete. »Ich bin überzeugt, daß der Herr Doktor Sie krankschreiben wird. Ihrem Chef wird nichts anderes übrigbleiben, als vernünftig zu sein.« Sie schenkte ihm ein Lächeln und kehrte in die Aufnahme zurück.

Dr. Baumann ließ nicht lange auf sich warten. »Was machen Sie denn für Sachen, Herr

Schneck?« fragte er, als er in den kleinen OP trat und die Tür hinter sich schloß. Er reichte seinem Patienten die Hand. Nichts in seinem Benehmen ließ darauf schließen, daß er an diesem Nachmittag ohnehin schon mehr als genug zu tun hatte.

»Da heißt es, der Mensch sollte sich viel an der frischen Luft bewegen, um gesund und fit zu bleiben«, meinte Harry spöttisch. »Ich habe diese Woche Urlaub und wollte mir nur etwas die Füße vertreten. Plötzlich tauchte ein kleiner, freilaufender Hund vor mir auf. Er sah überhaupt nicht gefährlich aus, deshalb nahm ich sein Knurren auch nicht ernst. Ich wollte mich zu ihm hinunterbeugen, um ihn zu streicheln. Bereits im nächsten Moment schlug er mir seine Zähne ins Bein.«

»Und sein Besitzer?« Dr. Baumann hoffte, daß es einen Besitzer gab, denn sonst bestand die Gefahr, daß es sich um einen tollwütigen Hund handelte.

»Der Köter gehört einem älteren Mann. Einem Urlaubsgast, wie ich annehme. Jedenfalls habe ich ihn noch nie zuvor gesehen. Er entschuldigte sich kurz, leinte sein Prachtexemplar von einem Hund an, und ging dann einfach davon.« Helle Empörung sprach aus Harrys Stimme. »Leute

gibt’s. Dieser Mann hat sich nicht einmal danach erkundigt, was mit meinem Bein ist. Davon abgesehen, tat der Biß im ersten Moment auch nicht weh. Vermutlich durch den Schock.«

»Ziehen Sie bitte Ihre Hose aus, Herr Schneck«, bat der Arzt. Er half dem jungen Mann beim Aufstehen.

Um Harrys Knöchel lag ein blutgetränkter Verband. »Au, tut das weh«, jammerte er, als der Arzt ihn aufschnitt. »Sieht ziemlich schlimm aus, nicht wahr?«

Eric nickte. »Dieser Hund hat ziemlich fest zugebissen.« Er runzelte die Stirn. Die Wunde sah nicht nach einem Hundebiß aus. »Sind Sie sich sicher, daß es ein Hund gewesen ist?« fragte er skeptisch.

»Natürlich war es ein Hund. Flocki hieß er, wenn ich seinen Besitzer richtig verstanden habe.« Harry stieß heftig den Atem aus. »Ein schöner Flocki. Das Gebiß dieses Köters könnte mit dem eines Tigers konkurrieren.«

Eric säuberte behutsam die Wunde. In seinem ganzen Leben hatte er noch nicht einen derartigen Hundebiß gesehen. Der Hund schien eine schmale, lange Schnauze und pfeilspitze Zähne zu haben. Unwillkürlich fragte er sich, ob ihm sein Patient die Wahrheit sagte. Nur, weshalb sollte der Mann lügen?

»Hat Ihnen der Besitzer des Hundes wenigstens seinen Namen und seine Adresse genannt?«

»Nein, nichts dergleichen. Ich sagte ja schon, er nahm seinen Köter an die Leine und stiefelte davon. Er tat, als sei dieser Vorfall für ihn etwas ganz alltägliches.«

»Sind Sie gegen Tetanus geimpft?«

»Ja, ich habe vor drei Jahren eine Auffrischungsimpfung erhalten.«

»Ich muß die Wunde klammern.« Dr. Baumann trat an den Medikamentenschrank.

»Tut das sehr weh?«

»Ich gebe Ihnen eine örtliche Betäubung«, sagte Eric und zog eine Spritze auf. »An Ihrer Stelle würde ich Anzeige gegen Unbekannt erstatten«, fuhr er fort. »Sie sollten diese Geschichte nicht auf sich beruhen lassen. Vielleicht kann man doch herausfinden, um wen es sich bei dem Hundebesitzer handelt.« Er desinfizierte die Einstichstelle und setzte die Injektion.

»Au!« schrie Harry auf.

»Bitte, halten Sie Ihr Bein still.«

»Gut gesagt.« Harry verzog das Gesicht. »Und das alles nur wegen eines kurzen Spazierganges. Meine Kollegen werden sich totlachen, wenn ich ihnen erzähle, daß ich auf freiem Feld von einem Hund gebissen wurde. Gewöhnlich passiert so etwas Postleuten nur an den Haustüren oder in Vorgärten.«

»Nun, während der nächsten Tage ist an Arbeit nicht zu denken, Herr Schneck. Sie sollten Ihren Fuß sehr schonen.«

»Wie ich schon Ihrer Sprechstundenhilfe sagte, wird mein Chef alles andere als begeistert sein.« Harry beobachtete ängstlich jede Handbewegung des Arztes. Obwohl er von dem Klammern nichts spürte, zuckte er bei jedem Einstich zusammen.

Dr. Baumann verband die Wunde und bat seinen Patienten, sich die Hose wieder anzuziehen. »Frau Martens wird Ihnen ein Taxi rufen«, versprach er und brachte ihn nach draußen.

»Danke.« Harry nickte dem Arzt zu. »Wann soll ich wiederkommen?«

»Ich möchte mir die Wunde morgen noch einmal anschauen.« Eric reichte ihm die Hand. »Und passen Sie in Zukunft auf, wenn Sie fremden Hunden begegnen.« Seine Stimme klang leicht ironisch, doch der junge Mann

schien es nicht zu bemerken. Er bedankte sich erneut und humpelte zur Aufnahme.

Dr. Baumann kehrte in den kleinen OP zurück, wusch sich gründlich die Hände und wollte eben in sein Sprechzimmer gehen, als ihm Franziska begegnete. Auf ein paar Minuten mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an. »Hast du etwas Zeit?« fragte er.

Die Krankengymnastin nickte.

»Fein.« Er folgte der jungen Frau in ihren Behandlungsraum. »Du kennst ja Harry Schneck«, sagte er. »Angeblich ist er von einem Hund gebissen worden, aber die Wunde sieht mir nicht danach aus.«

»Du meinst, er hat uns einen Bären aufgebunden?« schrieb Franziska auf ihren Block. Harry Schneck gehörte seit eineinhalb Jahren zu den Patienten von Dr. Baumann. Sie wußte, daß er bei der Post arbeitet und in einer Souterrainwohnung im Narzissenweg lebte. Sie hielt den jungen Mann für einen Sonderling. Soweit sie mitbekommen hatte, führte er ein ziemlich zurückgezogenes Leben.

»Ja, und zwar einen ganz gewaltigen.« Eric nickte. »Ich bin mir zwar sicher, daß es sich um eine Bißwunde handelt, nur ein Hund kommt als Täter bestimmt nicht in Frage.« Er beschrieb ihr, wie die Wunde aussah.

»Nein, daß sieht mir auch nicht nach einem Hundebiß aus«, schrieb sie. »Die Frage ist nur, warum sollte Herr Schneck lügen?«

»Das frage ich mich auch.« Dr. Baumann seufzte auf. »Nun, vermutlich werden wir nie dahinterkommen, war für ein Tier es gewesen ist, es sei denn, Herr

Schneck gesteht uns wider Erwarten die Wahrheit.« Er schaute auf seine Uhr. »Höchste Zeit, daß ich mich dem nächsten Patienten widme. Das heißt, in diesem Fall Patientin. Sogar eine, die ich ausgesprochen gern habe, nämlich Frau Stanzl.«

»Eine wirklich nette Frau«, meinte Franziska schriftlich. Sie mochte Andrea Stanzl, zumal sie in ihr keine Konkurrentin sehen mußte. Auch wenn sie sich dafür schämte, sie empfand oft eine gewisse Eifersucht, wenn sie bemerkte, wie gern viele Patientinnen Eric hatten, aber Andrea war bis über beide Ohren in ihren Freund verliebt.

»Bis später.« Der Arzt nickte Franziska zu und verließ ihren Behandlungsraum. »Rufen Sie bitte Frau Stanzl auf«, bat er Tina, die gerade aus dem Labor kam, dann kehrte er in sein Sprechzimmer zurück und setzte sich hinter den Schreibtisch. Mit den Gedanken war er jedoch noch immer bei Harry Schneck. Warum hatte ihn der junge Mann angelogen? Irgend etwas stimmte da ganz entschieden nicht.

*

Tina Martens drehte sich vor ihrem Schlafzimmerspiegel. »Was meinst du, Timon, wie sehe ich aus?« fragte sie den schwarzen Kater, der um ihre Beine strich. »Ob Joachim mein neues Kleid gefallen wird?« Erneut warf sie einen Blick in den Spiegel. Ihre Augen strahlen in Vorfreude. Ihr Freund wollte mit ihr tanzen gehen. Sie konnte es kaum noch erwarten, in seinen Armen die Welt um sie herum zu vergessen.

»Miau«, machte Timon und rieb sein Köpfchen an ihren Beinen.

»Es geht nicht anders, Timon. Ich muß dich heute abend allein lassen.« Sie beugte sich zu ihrem Kater hinunter und hob ihn hoch. »Aber dafür gibt es nachher auch ein besonders gutes Freßchen, mein Kleiner.« Liebevoll trug sie ihn ins Wohnzimmer und setzte ihn auf die Couch. »Und weißt du, wer uns zum Tanzen begleitet? – Meine Freundin Katja.« Sie lachte leise auf. »Katja hat keine Ahnung, daß Joachim und ich Schicksal spielen wollen. Es wird allerhöchste Zeit, daß sie auch außerhalb ihres Berufes etwas mehr unter die Menschen kommt.«

Es klingelte.

Timon sprang von der Couch und rannte zur Wohnungstür.

»Du vergißt, daß du kein Hund bist«, sagte die junge Frau heiter. Es konnte nur Joachim sein. Sie drückte auf den Türöffner und trat ins Treppenhaus.

»Donnerwetter«, meinte Joachim Staiger, nachdem er das Dachgeschoß des Hauses erreicht hatte. »Du siehst wie eine Million Dollar aus.«

»Ich hoffe, du willst mich nicht verkaufen.«

»Das muß ich mir noch schwer überlegen.« Joachim nahm seine Freundin in die Arme. Leidenschaftlich küßten sie sich.

Timon fand es an der Zeit, daß auch er beachtet wurde. Laut miauend machte er auf sich aufmerksam. Als Joachim nicht gleich reagierte, stieß er mit seinem Köpfchen gegen das Bein des jungen Mannes.

»Ach so, dein Leckerbissen.« Joachim ließ Tina los und zog aus seiner Hosentasche einige Katzenbonbons. Schwungvoll warf er sie durch den Korridor. Timon jagte ihnen ausgelassen nach.

»Möchtest du eine Tasse Kaffee?« fragte Tina. Sie schloß die Wohnungstür.

»Da sage ich nicht nein.« Joachim folgte seiner Freundin in die kleine Küche der Dachgeschoßwohnung. »Und gebacken hast du auch.« Er griff in eine Schüssel mit Schwarzweiß-Gebäck.

»Ich weiß schon, womit ich dich verwöhnen muß.« Tina schaltete die Kaffeemaschine ein.

»Abgesehen von deinem Gebäck gibt es da noch ein, zwei andere Dinge«, erklärte er und küßte sie im Nacken.

Wenig später saßen sie auf der Couch im Wohnzimmer und tranken Kaffee. Ohne einen Namen zu nennen, erzählte die junge Frau von Harry Schneck und dem angeblichen Hundebiß. »Heute morgen ist der Patient wieder in der Praxis gewesen. Du hättest ihn auf die rücksichtslosen Hundebesitzer, die ihre Tiere frei herumlaufen lassen, schimpfen hören müssen. Als ich ihn jedoch fragte, ob er den Mann angezeigt hätte, verneinte er und meinte, das wäre absolut sinnlos. Man würde ihn sowieso nicht finden. Die Polizei könnte nicht sämtliche Hotels, Gasthöfe und Pensionen nach ihm abklappern.«

»Womöglich hält er ein Krokodil im Keller und ist von ihm gebissen worden«, scherzte ihr Freund.

»Wer weiß«, erwiderte Tina lachend.

Joachim stellte seine Tasse auf den Tisch. »Hoffentlich machen wir keinen Fehler«, meinte er besorgt. »Es ist stets ein zweischneidiges Schwert, Schicksal zu spielen. Ich finde zwar auch, daß es an der Zeit ist, Katja aus ihrem Schneckenhaus zu locken, trotzdem sind mir inzwischen Bedenken gekommen. Auch wenn Horst Schmerer und deine Freundin gut zueinander zu passen scheinen, ist mir nicht ganz wohl bei dem Gedanken, die beiden zusammenzubringen.«

»Es ist ein Versuch.« Tina schmiegte sich in seinen Arm. Seit Katja vor drei Jahren ihren kleinen Sohn verloren hatte, kannte sie kaum noch etwas anderes als ihre Arbeit. »Was meinst du, wie schwer es gewesen ist, Katja zu überreden, uns heute abend zu begleiten. Sie hatte hundert Ausreden. Davon abgesehen bin ich mir nicht einmal sicher, ob sie nicht noch im letzten Moment absagt.«

»Und wenn sie absagt, sollten wir es akzeptieren.« Joachim zog sie zärtlich an sich. »Ich kann Katja sehr gut verstehen. Es ist schon schlimm genug, wenn ein Kind durch einen Unfall oder eine Krankheit stirbt, doch wenn man nicht weiß, wo es ist oder ob es noch lebt, muß das einfach die Hölle sein.«

»Ich bin nach wie vor davon überzeugt, daß ihr früherer Freund Dominik ins Ausland verkauft hat. Auch in Frankreich oder Italien versuchen kinderlose Ehepaare oft vergeblich, ein Kind zu adoptieren.«

»Also, ich weiß nicht.«

»Klaus Geiger brauchte ständig Geld für Drogen.«

Joachim stand auf. Er half seiner Freundin, das Geschirr in die Küche zu bringen, und machte sich bereitwillig an den Abwasch, während Tina ein Schälchen mit Futter für Timon füllte.

»Laß es dir gut schmecken«, sagte er, nachdem er den Wasserhahn zugedreht hatte, und beugte sich zu dem Kater hinunter. »Einen schönen Abend, alter Gauner.«

Timon schaute auf. »Den werde ich haben«, schien sein Blick zu sagen, dann versenkte er erneut sein Schnäuzchen in der Futterschüssel.

Katja Faber lebte wie Tina in Gmund. Sie besaß eine geräumige Wohnung im ersten Stock eines früheren Bauernhauses. Die junge Frau hatte diese Wohnung von dem Geld gekauft, daß sie von ihren Eltern geerbt hatte. Trotzdem hatte sie in den letzten Jahren schon oft daran gedacht, woanders ganz von vorn anzufangen, aber sie brachte es nicht fertig. Von Tag zu Tag hoffte sie auf ein Wunder, das ihr Dominik zurückbringen würde. Es verging keine Nacht, in der sie nicht von ihm träumte, in der sie glaubte, seine weichen Ärmchen um ihren Nacken zu spüren. Oft erwachte sie am Morgen mit seinem Namen auf den Lippen.

Die junge Frau stand hinter dem Korridorfenster und schaute auf die Straße hinunter. Sie hatte eigentlich keine Lust, Tina und deren Freund zum Tanzen zu begleiten. Längst bereute sie, zugesagt zu haben. Den ganzen Nachmittag hatte sie überlegt, ob sie nicht ihre Freundin anrufen sollte, um ihre Zusage rückgängig zu machen.

Als Joachims Wagen im Hof hielt, eilte sie rasch die Treppe hinunter und öffnete die Haustür, bevor Tina auch nur klingeln konnte. »Hallo, da bin ich«, sagte sie.

»Hübsch siehst du aus«, stellte Tina zufrieden fest. Das blaue Kleid mit der dazu passenden Jacke stand Katja ausgezeichnet. Im Gegensatz zu sonst hatte ihre Freundin auch Make-up aufgelegt und ihre glatten blonden Haare gelockt.

»Wenn du es sagst«, meinte Katja und reichte Joachim Staiger, der ebenfalls ausgestiegen war, die Hand. »Danke fürs Mitnehmen.«

»Das tun wir gern«, versicherte der junge Mann und hielt ihr zuvorkommend die Fondtür auf.

Die Tanzveranstaltung fand in einer umgebauten Scheune statt. Eine erst im letzten Jahr gegründete Band hatte den Saal für diesen Abend gemietet. Es war ihr erster großer Auftritt und sollte für sie das Sprungbrett zu weiteren sein.

Joachim hatte Schwierigkeiten, bei der Scheune einen Parkplatz zu finden. Wie es aussah, kamen mehr Leute zu der Veranstaltung, als man gerechnet hatte. Es freute ihn, zumal bei der Band auch der Bruder eines Kollegen mitspielte.

Die jungen Leute parkten in der Nähe einer kleinen Kapelle und kehrten zu Fuß zur Scheune zurück. Sie hatten sie fast erreicht, als ihnen Horst Schmerer entgegenkam. Joachim machte seinen Freund mit Katja bekannt. »Sieht aus, als wären wir jetzt komplett«, meinte er.

»Dann müssen wir nur noch unseren Tisch erobern«, scherzte Horst. »Hast du die Karten, Joachim?«

»Nein.«

»Sag nur, du hast sie zu Hause liegengelassen«, empörte sich Tina.

»Es war nur ein Scherz.« Ihr Freund zog seine Brieftasche heraus und präsentierte die Karten.

Im Saal herrschte ein unglaubliches Tohuwabohu. Es war so laut, daß man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. Erst nach und nach wurde es etwas leiser. Sie stellten fest, daß es sich bei den Besuchern der Veranstaltung zum größten Teil um ziemlich junge Leute handelte. Tina fragte sich besorgt, ob das wohl der richtige Ort für Katja war. Vielleicht wäre es besser gewesen, mit ihr ein Konzert zu besuchen.

Die Mitglieder der Band liefen auf die Bühne und spielten ein Stück von Elvis Presley. Der Lärm verstummte. Alle lauschten hingerissen der Stimme des jungen Sängers, der es schaffte, Elvis fast perfekt zu imitieren.

Horst hatte an der Bar eine Flasche Wein geholt und schenkte ein. »Auf diesen Abend«, sagte er, als sie miteinander anstießen, doch er schaute dabei nur Katja an. Vom ersten Augenblick an hatte ihm die junge Frau gefallen. Er war nicht allzu begeistert gewesen, als ihm Joachim gesagt hatte, daß sie Tinas Freundin zum Tanzen mitnehmen wollten und jemanden brauchten, der sich um sie kümmerte. Nur, weil ihm sein Freund auch schon öfters einen Gefallen getan hatte, hatte er zugestimmt. Nun war er froh darüber.

Katja spürte das Interesse des jungen Mannes und sie mußte sich eingestehen, daß sie es nicht als unangenehm empfand. Dennoch wäre sie am liebsten aufgestanden und dann davongelaufen. Nein, es war keine gute Idee gewesen, Tina nachzugeben. Was wollte sie hier? Auch wenn ihr die Musik gefiel, sie hatte keine Lust zu tanzen. Ja, nicht einmal Lust, den Abend in der Gesellschaft ihrer Freunde zu verbringen.

»Tina sagte mir, daß Sie als Sprechstundenhilfe bei einem Kieferorthopäden arbeiten«, sprach Horst sie an. Er griff sich ans Kinn und verzog dabei das Gesicht. »Ich habe als Jugendlicher geradezu traumatische Erfahrungen mit einer Zahnspange gemacht. Freiwillig bekommt mich bestimmt keiner mehr in die Hände eines Kieferorthopäden.«

»Das ist bei Ihnen auch bestimmt nicht mehr nötig«, erwiderte sie.

»Ich nehme Ihre Worte als Kompliment«, erwiderte er grinsend und nippte an seinem Wein.

Joachim forderte seine Freundin zum Tanzen auf. Tina stand auf. »Ich dachte schon, du hättest vergessen, warum wir hier sind«, scherzte sie und sah ihn verliebt an.

Katja blickte ihnen nach. Es war lange her, seit sie zuletzt getanzt hatte. Damals waren sie und Klaus noch glücklich miteinander gewesen, hatte sie nichts davon geahnt, daß er Drogen nahm.

»Sollen wir auch tanzen?« fragte Horst.

Sie zuckte zusammen. »Ich habe schon eine Ewigkeit nicht mehr getanzt«, antwortete sie.

»Also allerhöchste Zeit, es wieder einmal zu probieren«, meinte er und schob seinen Stuhl zurück. »Bitte, Frau Faber. Ich verspreche Ihnen auch, nicht auf Ihre Füße zu treten.«

Katja nahm seine Hand. »Wenn Sie meinen«, sagte sie.

»Ja, ich meine«, erklärte er und führte sie zur Tanzfläche.

Die Kapelle spielte »love me tender«, ein Stück, das Katja besonders mochte. Zu ihrer eigenen Überraschung stellte sie fest, daß sie es genoß, mit Horst zu tanzen. Er strahlte etwas aus, das sie völlig gefangen nahm. Zudem mußte sie zugeben, daß sie noch nie zuvor mit einem Mann getanzt hatte, der ein so guter Tänzer war.

»Ich habe über Jahre hinweg Tanzkurse besucht«, gestand er, als sie eine diesbezügliche Bemerkung machte. »Bitte lachen Sie nicht, eine Zeitlang habe ich sogar an Tanzwettbewerben teilgenommen, doch eines Tages stand ich vor der Frage, was mir wichtiger war, das Tanzen oder meine Karriere. Ich entschied mich für letzteres.«

»Was machen Sie beruflich?« fragte sie.

»Ich leite die Computerabteilung eines Münchener Unternehmens«, erwiderte er. »Manchmal muß ich auch Schulungen durchführen. Meistens bin ich nur über das Wochenende in Tegernsee. Ich habe in München ein Zimmer. Für mich lohnt es sich nicht, abends nach Hause zu fahren, weil ich oft Überstunden mache.«

Tina, die nur wenige Meter von ihnen entfernt mit ihrem Freund tanzte, blickte zu den jungen Leuten hinüber. »Es sieht aus, als sei Horst dabei, die Festung im Sturm zu erobern«, meinte sie. »Habe ich dir nicht gleich gesagt, daß die beiden zusammenpassen?«

»Ja, das hast du.« Joachim zog sie fester an sich. »Mein Freund scheint mehr Glück als ich zu haben.«

»Wie meinst du das?«

»Wir sind schon über ein Jahr zusammen, trotzdem bist du noch nicht damit einverstanden, daß ich zu dir ziehe. Wenn ich mir dagegen Horst anschaue, der mußt bestimmt nicht solange warten, bis Katja ja sagt.«

»Die beiden kennen sich noch keine Stunde. Wie willst du das da schon wissen.« Tina lachte.

»Ehrlich, Liebling, ich hasse es, nach wie vor allein leben zu müssen, obwohl das gar nicht notwendig wäre.«

Die junge Frau dachte an Markus Klenk. Mit ihm war sie schon wenige Wochen nach ihrer ersten Begegnung zusammengezogen. Markus hatte sie betrogen, und über diese Erfahrung war sie noch immer nicht hinweggekommen. Das ließ sie auch in bezug auf Joachim vorsichtig sein. Dabei wußte sie, wie sehr er sie liebte. Sie hob den Kopf und schaute ihm in die Augen. Nein, Joachim hatte ihr Mißtrauen nicht verdient. »Wir können es ja mal versuchen«, sagte sie leise.

»Das ist wenigstens ein Wort«, erklärte er und küßte sie.

*

Sabrina Seitter öffnete fast lautlos die Tür zum Zimmer ihrer Zwillingsschwester und schlüpfte hinein. »Bist du wach, Melissa?« fragte sie.

»Ja.« Melissa richtete sich auf. »Was ist denn?«

»Sollen wir heute das Frühstück machen?« fragte Sabrina. »Oma freut sich bestimmt, wenn sie sich an den gedeckten Tisch setzen kann.«

»Prima.« Melissa sprang aus dem Bett. »Aber wir müssen sehr leise sein, daß Oma und Opa nicht aufwachen.«

»Leise wie die Mäuschen«, erklärte Sabrina.

Die Zwillinge liefen auf Zehenspitzen ins Bad, wuschen sich rasch und zogen ihre Jogging-Anzüge an, dann stiegen sie, jedes Geräusch vermeidend, die Treppe zum Erdgeschoß des Haues hinunter.

Ida, die in ihrem Korb unterhalb der Treppe geschlafen hatte, streckte sich mit einem langgezogenen Seufzer und stand schwerfällig auf, um zur Haustür zu tapsen.

»Siehst aus, als müßte sie raus«, meinte Melissa.

»Wir lassen sie in den Garten«, schlug Sabrina vor. Ihr Großvater hatte ihnen streng verboten, allein mit Ida Gassi zu gehen. »Komm, Ida.« Sie lotste die Hündin durch das Wohnzimmer zur Terrassentür. »Sei leise.«

Die Zwillinge wandten sich der Küche zu. Sie beschlossen, daß es ein ganz besonderes Frühstück werden sollte. Deshalb begann Melissa, den Tisch im angrenzenden Eßzimmer zu dekken, während Sabrina sich um den Kaffee, die Eier und den

Toast kümmern sollte. Vorsichtig nahm sie das gute Geschirr aus dem Schrank.

Ida kehrte aus dem Garten zurück. Demonstrativ steckte sie die Schnauze in ihren leeren Futternapf und begann leise zu winseln.

»Ist schon gut, Idalein.« Sabrina nahm den Karton mit dem Trockenfutter aus der Speisekammer. Sie füllte den Futternapf bis zum Rand, bekam dann jedoch Bedenken und warf die Hälfte der Hundekuchen in den Karton zurück. Ida sah sie vorwurfsvoll an. »Also gut.« Die Siebenjährige griff erneut in den Karton.

Heißhungrig machte sich Ida über ihr Futter her.

Sabrina schaltete die Kaffeemaschine ein. Sie wollte gerade Eier aus dem Kühlschrank nehmen, als im Eßzimmer etwas Schweres scheppernd am Boden zerschellte.

»Oje!« hörte sie ihre Schwester aufschreien.

Sabrina stürzte nach nebenan. »Du meine Güte.« Schreckensbleich hielt sie sich die Hand vor den Mund. Melissa hatte einen ganzen Stapel Frühstücksteller hinunterfallen lassen.

»Was machen wir jetzt?« fragte ihre Schwester flüsternd.

»Ich weiß es nicht.«

»Was ist denn hier los?«

Die Kinder fuhren herum. Ihr Großvater stand im Schlafanzug bei der Eßzimmertür. »Uns ist etwas hinuntergefallen«, erklärte Sabrina und trat beiseite. »Tut uns leid.« Sie senkte den Kopf. »Wir wollten Frühstück machen.«

»Alles halb so schlimm«, meinte Sabine Seitter, die hinter ihrem Mann ins Eßzimmer trat. »Es…«

Heinz Seitter starrte fassungslos auf die Scherben. »Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?« stieß er außer sich hervor. »Wißt ihr, wieviel dieses Geschirr gekostet hat? Wer von euch ist das gewesen?«

»Wir.« Sabrina ergriff Melissas Hand.

Ihr Großvater packte sie grob und holte mit der freien Hand weit aus, aber noch bevor er das Mädchen ohrfeigen konnte, fiel ihm seine Frau in den Arm.

»Die Kinder haben es nur gut gemeint«, sagte sie. »Hast du noch nie etwas zerbrochen, Heinz?«

Der Steuerinspektor a.D. ließ seine Enkelin los.

»Natürlich«, gab er zu, »allerdings keine Teller, die das Stück über zehn Mark gekostet haben.« Wütend drehte er sich Sabine zu. »Ich habe dir damals gleich gesagt, daß es irrsinnig ist, so ein teures Geschirr zu kaufen. Du mußtest ja unbedingt deinen Willen durchsetzen.«

»Wärst du damit einverstanden gewesen, Martinas Kommunion in einem Restaurant zu feiern, hätten wir kein teures Geschirr gebraucht«, erklärte seine Frau aufgebracht. Im selben Moment legte sich ein Schatten über ihr Gesicht. Was für ein reizendes kleines Mädchen war Martina gewesen. Und jetzt konnte sie sich manchmal nicht einmal mehr daran erinnern, daß sie Töchter hatte.

»Ich hole einen Karton für die Scherben.« Heinz Seitter verließ wütend das Eßzimmer und stieg in den Keller hinunter.

Die Zwillinge schmiegten sich an ihre Großmutter. »Es tut uns leid«, sagte Melisssa. »Wir wollten euch eine Freude machen.«

»Schon gut, Kinder.« Sabine nahm ihre Enkeltöchter in die Arme. »Der Opa meint es nicht so. Ihr wißt ja, wie schnell er sich aufregt.«

Sabrina öffnete den Mund, um etwas zu sagen, kam jedoch nicht dazu, weil aus dem Keller ein so entsetzlicher Aufschrei drang, daß ihnen das Blut in den Adern zu gefrieren schien.

»Ihr bleibt hier«, befahl Sabine. Sie rannte zur Kellertreppe und wäre fast über Ida gestolpert, die ausgerechnet in diesem Augenblick wieder in ihren Korb wollte. Eilig stürzte sie die Stufen hinunter. »Was ist denn, Heinz?« fragte sie schwer atmend.

Heinz Seitter stand wachsbleich mitten im Keller und hielt sich die rechte Hand. »Ich bin gebissen worden«, sagte er und zeigte auf eine schwarze Spinne, die seelenruhig vor einem der Kartons auf dem Boden hockte und ihnen deutlich die rote Zeichnung präsentierte, die sie auf dem Rücken trug.

Sabine wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie kannte sich nicht mit Spinnen aus, doch trotz ihrer geringen Größe wirkte diese äußerst gefährlich. »Bleib ganz ruhig stehen, Heinz.« Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, griff nach einem leeren Einwegglas und stülpte es über die Spinne.

»Zu was soll das gut sein?« Heinz Seitter spürte, wie sich auf seiner Stirn Schweiß bildete. Seine Hand schmerzte fürchterlich. Um den Biß herum schwoll sie bereits an.

Seine Frau gab ihm keine Antwort, sondern griff nach der Kordel, die auf einem der Regale lag, um ihm den Oberarm abzubinden. »Sicher ist sicher«, meinte sie. »Wir fahren sofort zu Doktor Baumann.« Besorgt sah sie ihren Mann an. Sie bemerkte, daß er Schwierigkeiten hatte, sein Gleichgewicht zu wahren. »Schaffst du es allein nach oben?« fragte sie. »Ich muß mich erst um die Spinne kümmern.«

»Ja, es wird schon gehen.« Heinz Seitter wandte sich taumelnd der Kellertreppe zu. Die Schmerzen strahlten bereits bis zum Hals aus. Sein Arm fühlte sich wie ein Fremdkörper an. Mühsam kämpfte er sich die Stufen hinauf, während seine Frau vorsichtig ein Stückchen Pappe unter die Öffnung des Glases schob, es blitzschnell herumdrehte und mit dem Deckel verschloß.

Die Zwillinge standen vor der Kellertür. »Was hast du denn, Opa?« fragte Melissa ängstlich, als sie sah, daß sich ihr Großvater kaum noch auf den Beinen halten konnte.

»Mich hat eine Spinne gebissen«, antwortete er und stützte sich mit der linken Hand auf das Garderobenschränkchen, während er die rechte vor seine Brust hielt.

»Deine Hand!« stieß Sabrina entsetzt hervor.

»Vermutlich ist die Spinne giftig, die euren Großvater gebissen hat.« Sabine stellte das Glas mit der Spinne auf einen Hocker. So genau weiß ich das allerdings nicht. Wir fahren sofort zu Doktor Baumann.« Sie sah Sabrina an. »Du rufst ihn bitte an und sagst ihm, daß wir auf dem Weg zu ihm sind. Seine Nummer ist unter eins eingespeichert.«

»Muß der Opa sterben?« fragte Melissa weinerlich.

»Red nicht solchen Unsinn!« stieß Heinz Seitter hervor. »Was…« Aufstöhnend lehnte er sich gegen die Wand.

»Hol Opas Morgenmantel, Melissa«, befahl Sabine und eilte zur Garage, um den Wagen vorzufahren.

Heinz Seitter war es so schwindlig, daß er es nicht einmal schaffte, ohne Hilfe in den Wagen zu steigen. Seine Frau legte das Glas mit der Spinne auf den Rücksitz und ließ sich hinter das Steuer fallen. Keine zwei Minuten später bog sie in die Münchener Straße ein.

Dr. Baumann hatte sich gleich nach Sabrinas Anruf in aller Eile angezogen. Jetzt stand er am Küchenfenster, trank im Stehen eine Tasse Kaffee und starrte auf die Auffahrt hinaus. Was er von der Siebenjährigen erfahren hatte, hatte mehr als bedrohlich geklungen.

Franzl setzte sich ihm zu Füßen und blickte anklagend zu ihm auf. Der Hund konnte nicht verstehen, daß er nicht in den Garten hinaus durfte.

»Ich gehe gleich mit dir spazieren, Franzl«, versprach Katharina Wittenberg, die langjährige Haushälterin des Arztes. »Aber momentan mußt du noch in der Küche bleiben.«

»Du darfst den Seitters nicht entgegenlaufen, wenn sie aus dem Wagen steigen«, fügte Eric hinzu und kraulte den Kopf des Hundes. »Katharina wird dir einen Hundekuchen oder ein Scheibchen Wurst geben.«

Die Haushälterin öffnete die Speisekammertür. Franzl vergaß seinen Kummer und lief zu ihr. Zufrieden nahm er ein großes Stück Salami in Empfang.

»Da kommen sie.« Eric stellte den Kaffeebecher auf den Küchentisch und eilte aus dem Haus. Kaum hatte Frau Seitter den Wagen zum Stehen gebracht, öffnete er die Beifahrertür und half seinem Patienten beim Aussteigen.

»Das ist die Spinne.« Sabine nahm das Einwegglas vom Rücksitz.

Eric erstarrte. Er war fest überzeugt, daß es sich bei der Spinne um eine Schwarze Witwe handelte. Erst vor kurzem hatte er ein Buch über die Waffen der Tiere gelesen und unter anderem auch eine Abbildung der Schwarzen Witwe gesehen. »Kommen Sie«, bat er und führte Heinz Seitter in die Praxis.

Der Arzt wußte, es kam auf jede Minute an. Nachdem er seinem Patienten ein kreislaufstärkendes Mittel gespritzt hatte, forderte er einen Rettungshubschrauber an, der ihn in eine Spezialklinik nach München bringen sollte.

Heinz Seitter ging es von Minute zu Minute schlechter. Sein Körper war mit Schweiß bedeckt. Er konnte vor Nervosität nicht eine Sekunde die Füße stillhalten, dazu kam noch, daß sich seine Schmerzen mit jedem Atemzug steigerten und er das Gefühl hatte, als würde sein Herz in einem Schraubstock liegen.

»Darf ich bitte telefonieren?« fragte Sabine.

»Ja.« Dr. Baumann wies zum Telefon. Er setzte sich neben seinen Patienten und sprach beruhigend auf ihn ein. Zum Glück schienen die Seitters nicht zu wissen, wie gefährlich der Biß der Schwarzen Witwe war und daß es durch ihn immer wieder zu Todesfällen kam. Das Gift verursachte parenchymatöse Nekrosen, die sich vor allen an den Blutgefäßen, den Epithelzellen und der Leber bildeten.

Sabine rief Lina Becker an. Sie erklärte ihrer Nachbarin kurz, was passiert war, und bat sie, sich um die Zwillinge zu kümmern. »Ich melde mich, sobald ich kann«, fiel sie ihr ins Wort, als Lina sie mit Fragen bombardierte. »Bis dann.« Sie legte auf.

»Mußtest du ausgerechnet diese Klatschbase um Hilfe bitten?« fragte ihr Mann stöhnend. Trotz seiner Schmerzen und der extremen Angst, die jede Faser seines Körpers ergriffen hatte, war ihm kein Wort entgangen.

»Frau Becker hat auch ihre guten Seiten. Sie ist sehr hilfsbereit.« Sabine beugte sich über ihren Mann. »Die Kinder sind bei ihr gut aufgehoben.« Sie tupfte ihm liebevoll den Schweiß von der Stirn.

Eric spürte eine unsagbare Wut in sich. Hatte ihm Martin Hellwert nicht versprochen, die Seitters in Ruhe zu lassen? Er hatte ihm sein Wort darauf gegeben, und nun das! Davon abgesehen gab es einen gewaltigen Unterschied zwischen Telefonterror und dem Aussetzen einer Schwarzen Witwe. Die Spinne hätte ebensogut auch eines der Mädchen beißen können. Der Arzt war fest ganz entschlossen, seinen früheren Studienkollegen zu zwingen, sich selbst anzuzeigen. Bedauernd dachte er daran, daß Martin Hellwert mit Mara über das Wochenende fortgefahren war und erst am Abend zurückkehren würde.

Der Rettungshubschrauber landete auf einem freien Platz am See. Zwei Sanitäter und der Notarzt eilten mit einer Trage zum Doktorhaus. Es war eine Sache von Minuten, bis Heinz Seitter und seine Frau sich auf dem Weg nach München befanden.

Eric beschattete die Augen mit der Hand und blickte dem Hubschrauber nach. Er konnte nur hoffen, daß es den Münchener Ärzten gelingen würde, das Leben seines Patienten zu retten. Bedrückt kehrte er ins Haus zurück.

*

Katja Faber und Horst Schmerer waren am Sonntagvormittag nach Füssen gefahren und hatten von dort aus einen Ausflug nach Neuschwanstein gemacht. Katja, die schon seit Jahren nicht mehr die bayrischen Königsschlösser besucht hatte, bereute es nicht, den Überredungskünsten des jungen Mannes erlegen zu sein. Wie verzaubert ging sie mit ihm durch das Schloß, schaute vom Turm auf die Umgebung hinunter und versuchte sich vorzustellen, wie hier das Leben zu Zeiten Ludwigs II. gewesen sein mochte.

Gegen Mittag kehrten sie in einer Pferdekutsche zu ihrem Wagen zurück. Horst hatte in einem kleinen Gasthaus in der Füssener Innenstadt einen Tisch bestellt. Auch er hatte den Vormittag in vollen Zügen genossen. Katjas Gesellschaft tat ihm wohl. Er wußte nicht, was es war, doch die junge Frau berührte etwas in seinem Wesen, von dem er bis jetzt keine Ahnung gehabt hatte.

»Ist das nicht ein schöner Vormittag gewesen?« fragte er beim Essen. »Sagen Sie nur nicht, daß Sie bereuen, mitgekommen zu sein.«

»Ich bereue es nicht«, mußte die junge Frau zugeben. »Es ist schön, einmal etwas herauszukommen. Tina hat schon recht, wenn sie meint, daß ich mich nicht so vor der Welt verschließen sollte.«

Horst schnitt ein Stückchen von seinem Rostbraten ab. »Hat Ihnen Tina erzählt, daß ich schon einmal verheiratet gewesen bin?« fragte er und steckte das Fleisch in den Mund.

Sie schüttelte den Kopf.

»Meine Ehe hat allerdings nur ein knappes Jahr gedauert. Eines Tages bin ich dahintergekommen, daß mich Marion mit dem Herrn im Nachbarhaus betrügt.« Er legte die Gabel an den Tellerrand. »Nach unserer Scheidung haben die beiden geheiratet und sind fortgezogen. Ich kann nur sagen, Gott sei Dank, sonst wäre ich gezwungen gewesen, Tegernsee zu verlassen. Ich hätte es nicht ertragen können, in ihrer Nähe zu bleiben.«

»Wie lange ist das her?«

»Acht Jahre. Unsere Ehe wurde an meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag geschieden.« Horst holte tief Luft. »Vermutlich habe ich viel zu früh geheiratet. Wie heißt es so schön? Drum prüfe, wer sich ewig bindet. Marion und ich paßten ganz einfach nicht zueinander. Was wir für Liebe hielten, war nichts als ein Strohfeuer.«

»Ich habe auch eine herbe Enttäuschung hinter mir.« Katja schob ihren Teller zurück und erzählte ihm von Klaus Geiger. »Wir lernten uns während meiner Ausbildung in München kennen. Klaus erschien mir als der charmanteste, liebenswürdigste Mann, den ich mir vorstellen konnte. Er las mir jeden Wunsch von den Augen ab und schien bereit, mich auf Händen zu tragen. Bis zu jenem Tag, an dem ich ihm sagte, daß ich ein Kind erwartete. Unser Glück zerplatzte wie eine Seifenblase. Klaus hatte Angst vor der Verantwortung und beschloß, einen Schlußstrich unter unsere Beziehung zu ziehen.«

»Um den Kerl ist es bestimmt nicht schade gewesen«, bemerkte Horst grimmig. »Sie sollten froh sein, daß er auf und davon ist.«

»Haben Tina und Joachim mit Ihnen nicht über meinen Sohn gesprochen?« fragte sie ungläubig.

»Nein.« Er schüttelte den Kopf.

»Ich habe Klaus erst nach Dominiks Geburt wiedergesehen«, sagte die junge Frau. »Er schien ganz verliebt in den Kleinen und ist oft nach Gmund gekommen, um sich mit ihm zu beschäftigen. Eines Tages fragte er mich, ob er Nicki manchmal über das Wochenende zu seiner Mutter nach München mitnehmen könnte.«

Katja nahm einen Schluck Mineralwasser. »Da ich wollte, daß Nicki eine feste Bindung zu seiner Großmutter bekommt, war ich einverstanden, zumal ich wußte, daß ich mich auf Frau Geiger verlassen konnte. Klaus brachte mir den Kleinen auch jedesmal pünktlich am Sonntagnachmittag zurück. Nicki schienen diese Ausflüge zu gefallen. Er hing sehr an seinem Vater. Seine Großmutter ist ganz vernarrt in ihn gewesen. Was hat sie ihm nicht alles gestrickt. Wenn wir miteinander telefonierten, bedauerte sie jedesmal, daß Klaus und ich keinen Weg mehr zueinander finden konnten.«

»Und was passierte dann?« Horst strich sanft über ihre Fingerspitzen. Er fühlte, daß er gleich etwas Furchtbares hören würde. Der Schmerz in Katjas Stimme machte ihm Angst.

»Kurz nach Nickis zweiten Geburtstag wollte Klaus wieder einmal ein Wochenende mit ihm in München verbringen. Ich dachte mir nichts dabei. Warum hätte ich auch? Noch heute sehe ich vor mir, wie er mit unserem Sohn in den Wagen steigt. Nicki winkte fröhlich. ›Ade, ade‹, rief er und…« Katja fühlte, wie ihre Stimme zu versagen begann. »Es ist das letzte Mal gewesen, daß ich Nicki gesehen habe.«

»Ein Unfall?«

Sie schüttelte den Kopf. »Klaus hat unseren Sohn entführt. Auch seine Mutter wußte nicht, wohin er mit dem Buben gefahren ist. Die Polizei hat alle seine Bekannten befragt, darunter auch Leute, von denen ich nicht wußte, daß er mit ihnen in Verbindung stand, Dealer und Drogensüchtige.«

»Ist er auch süchtig gewesen?« fragte Horst bestürzt.

Katja nickte. »Frau Geiger wurde schwer krank und starb einige Wochen nach Nickis Entführung. Klaus selbst hat man Monate später tot in einem Gartenhaus gefunden. Er hatte sich eine Überdosis gespritzt. Von meinem Sohn fehlt jede Spur.«

»Es muß entsetzlich für Sie sein«, meinte Horst mitfühlend. Er umfaßte ihre Hand.

»Ja, das ist es, und ich fühle mich so schuldig, weil ich nicht vorsichtiger gewesen bin. Ich hätte meinen Sohn niemals Klaus anvertrauen dürfen.« In ihren Augen glänzten Tränen. Verlegen wandte sie den Kopf.

»Nein, es ist nicht Ihre Schuld«, widersprach der junge Mann. »Woher hätten Sie denn wissen können, daß Ihr früherer Freund Nicki entführt? Impulsiv nahm er erneut ihre Hand. »Wie lange ist das jetzt her?«

»Drei Jahre. Nacht für Nacht träume ich von meinem Sohn. Manchmal sehe ich ihn auf mich zulaufen, aber wenn ich nach ihm greifen will, ist er verschwunden.«

»Vermutlich haben Sie jede Möglichkeit ausgeschöpft, etwas über den Verbleib Ihres Sohnes herauszufinden?«

»Ja, ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Es ist nichts dabei herausgekommen.« Katja strich sich über die Augen. »Davon abgesehen dürfte es nicht schwer sein, einen kleinen Buben verschwinden zu lassen. Es gibt genügend kinderlose Ehepaare, die fast alles tun würden, um ein Kind zu bekommen. Klaus brauchte Geld für seine Drogen. Tina ist davon überzeugt, daß er Nicki verkauft hat.« Sie griff nach ihrem Glas. »Auf jeden Fall hat mein Leben an dem Tag aufgehört, an dem Nicki entführt wurde. Ich kann mich über nichts mehr freuen. Ich…«

»Nein, Ihr Leben ist noch nicht vorbei«, widersprach Horst bestimmt. »Sie müssen trotz allem einen Neuanfang wagen.« Er schaute ihr in die Augen. »Ich würde Ihnen sehr gern helfen, mit Ihrem Schmerz fertigzuwerden.«

»Ich werde Nicki niemals vergessen können.«

»Das sollen Sie auch nicht, aber das Leben geht weiter«, sagte er beschwörend. »Geben Sie ihm eine Chance.« Wieder schaute er sie an. »Ich würde Sie so gern einmal von Herzen lachen hören.«

Katjas Lippen umhuschte ein flüchtiges Lächeln. »Ich bin froh, daß uns Tina und Joachim miteinander bekannt gemacht haben«, gestand sie. Seit gestern…« Die junge Frau starrte auf ihren Teller, dann hob sie ruckartig den Kopf. »Ich kann nicht beschreiben, was mit mir geschieht, doch seit wir das erste Mal miteinander getanzt haben, erscheint mir die Welt nicht mehr ganz so trostlos wie vordem.«

»Das ist immerhin ein Anfang«, meinte er und hob sein Glas. »Wie wäre es mit einem Du? Das Sie sollten wir Leuten überlassen, die so steif und verknöchert sind, daß es nicht mehr weiter auffällt, wenn sie in Konventionen erstarren. Wir dagegen sind noch jung und bereit, uns gegen den Wind zu stellen.«

War sie wirklich dazu bereit? Die vergangenen drei Jahre hatte sie sich am liebsten in ihren vier Wänden vergraben und versucht, nur in ihrer Erinnerung an Nicki zu leben und in der Hoffnung, daß er eines Tages wiederkehren würde. Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Vielleicht… »Also gut«, sagte sie und stieß leicht mit ihrem Glas an seines. »Auf den Beginn unserer Freundschaft.«

»Auf unsere Freundschaft«, wiederholte Horst, dann beugte er sich vor und küßte sie auf die Wange.

*

»Also ehrlich, Eric, ich kann mir nicht vorstellen, daß Doktor Hellwert diese Spinne im Keller der Seitters ausgesetzt hat. Ich weiß, er hat allen Grund, wütend auf Herrn Seitter zu sein, aber so weit ist er bestimmt nicht gegangen.« Katharina Wittenberg strich fahrig an ihrer Schürze hinunter. »Überleg doch mal, wie sehr er Kinder mag. Er…«

»Er wird nicht an die Kinder gedacht haben«, fiel ihr Dr. Baumann ins Wort und griff nach seinem Wagenschlüssel. »Ich weiß nicht, wann ich zurück bin. Du brauchst mit dem Abendessen nicht auf mich zu warten, Katharina.« Er beugte sich zu Franzl hinunter, der ihn ganz verstört ansah, weil er es nicht gewohnt war, sein Herrchen so wütend zu sehen.

Katharina verzichtete darauf, Eric aufzuhalten. Sie wußte, es würde keinen Sinn haben. Davon abgesehen konnte sie ihn gut verstehen, trotzdem machte er ihrer Meinung nach einen großen Fehler. Andererseits, wer konnte schon in das Herz eines Menschen schauen? Nur, weil sie Dr. Hellwert sympathisch fand, mußte das noch lange nicht heißen, daß er nicht schuldig geworden war.

Eric fuhr zur Wohnung seiner Praxisassistentin. Er hatte sich nicht erst damit aufgehalten, Frau Dr. Bertram anzurufen, da er annahm, daß sie und Martin längst von ihrem Wochenendausflug zurückgekehrt waren. Außerdem fand er es besser, seinen Besuch nicht vorher anzukündigen. Er wollte nicht, daß Martin Hellwert nach hundert Ausreden suchte.

Der Wagen seines früheren Studienkollegen stand am Bürgersteig vor dem Haus, in dem Mara wohnte. Eric parkte direkt hinter ihm und ging mit langen Schritten zur Haustür. Sie stand offen. Ein kleines Mädchen mühte sich damit ab, einen Puppenwagen über die Schwelle zu schieben. »Warte, ich helfe dir«, sagte er.

»Danke.« Die Kleine schenkte ihm ein reizendes Lächeln.

Eric benutzte nicht den Aufzug, sondern eilte die Treppe hinauf. Vor der Wohnung von Frau Dr. Bertram holte er tief Luft und drückte energisch auf den Klingelknopf.

Der Arzt mußte nicht lange warten. Keine dreißig Sekunden später öffnete ihm Mara die Tür. »Eric?« Sie sah ihn überrascht an. »Komm rein. Martin und ich sind vor einer Stunde zurückgekommen.« Die junge Frau trat beiseite. »Ich…« Sie runzelte die Stirn. »Was hast du denn? Du bist so seltsam.«

»Nein, ich bin nicht seltsam, Mara«, widersprach er und blickte zum Wohnzimmer.

»Gib mir deine Jacke.« Sie streckte die Hand aus.

»Ich bleibe nicht lange«, wehrte Eric ab. »Wo steckt Martin?«

»Hier bin ich.« Dr. Hellwert kam in den Korridor. »Wir sind beim Abendessen. Es gibt Pilzomelette. Wenn du möchtest, mach ich dir schnell eins. Heute bin ich Küchenchef.« Er schlug sich gegen die Brust.

»Bemüh dich nicht«, sagte

Eric. »Es…«

»Also irgend etwas stimmt nicht mit dir, Eric«, meinte Mara. »Davon abgesehen ist es nicht deine Art, unangemeldet zu kommen. Sonst rufst du stets vorher an. Oder hattest du in der Gegend zu tun?«

Dr. Baumann ging nicht auf sie ein. »Kannst du dich an das Versprechen in bezug auf die Seitters erinnern, das du mir letztes Jahr gegeben hast, Martin?« wandte er sich an Dr. Hellwert. Er wußte, daß Martin mit seiner Freundin über alles gesprochen hatte, deshalb mußte er keine Rücksicht auf Mara nehmen.

»Ja.« Martin nickte. »Ich habe dir versprochen, die Seitters in Zukunft in Ruhe zu lassen«, antwortete er. »Und das habe ich auch«, fügte er hinzu.

»Dann kannst du dich also nicht daran erinnern, auf dem Grundstück der Seitters eine Schwarze Witwe ausgesetzt zu haben?«

Martin sah ihn fassungslos an. »Was für eine Schwarze Witwe?« fragte er entsetzt.

»Bist du noch bei Trost, Eric?« warf Mara empört ein. »Woher sollte Martin eine Schwarze Witwe haben?«

»Derart liebenswerte Tierchen gibt es heutzutage überall zu kaufen«, antwortete er ironisch. »Behaupte jetzt nur nicht, du wüßtest das nicht, Martin.«

»Natürlich weiß ich das«, sagte Martin. »Was jedoch noch lange nicht bedeutet, daß ich auch eine Schwarze Witwe gekauft habe.« Er ballte die Hände. »Willst du mir nicht endlich sagen, was passiert ist?«

»Heinz Seitter ist heute morgen in seinem Keller von einer Schwarzen Witwe gebissen worden. Seine Frau war zum Glück geistesgegenwärtig genug, ein Glas über die Spinne zu stülpen und sie mit in meine Praxis zu bringen.« Dr. Baumann stieß heftig den Atem aus. »Stell dir vor, es hätte eines der Kinder getroffen. Ich kann ja noch verstehen, daß man in seiner Wut zu solchem Unfug wie Gartenzäune besprühen, anonyme Anrufe und dergleichen fähig ist, doch eine Schwarze Witwe auszusetzen, dürfte…«

»Eric, so etwas hat Martin bestimmt nicht getan.« Mara legte den Arm um die Schultern ihres Freundes. »Du mußt völlig übergeschnappt sein, wenn du ihm so eine Tat zutraust.« Ihre Augen funkelten vor Zorn. »Ich hätte niemals von dir gedacht, daß…«

»Du kannst wirklich nicht bei Trost sein, Eric«, sagte Martin. »Außerdem bin ich weder auf Seitters Frau noch auf die Kinder wütend gewesen. Es gab eine Zeit, da hätte ich Heinz Seitter mit Freuden wie ein lästiges Insekt zerdrückt. Aber das ist lange vorbei.« Er bedachte Mara mit einem zärtlichen Blick. »Die Vergangenheit ist für mich tot, seit ich dich kenne, Liebling.«

»Ich weiß«, antwortete die junge Ärztin weich und wandte sich an Dr. Baumann: »Die Schwarze Witwe kann sich schon vor Monaten bei den Seitters eingenistet haben. Es gibt ja genug Verrückte, die sich diese Viecher halten.«

»Es tut mir wirklich leid, was Herrn Seitter passiert ist, zumal ich weiß, was für Folgen dieser Biß für ihn haben kann«, versicherte Martin. »Selbst, wenn er mit dem Leben davonkommt, wird es lange dauern, bis sich sein Körper von dem Gift erholt.«

Eric glaubte ihm kein Wort, und das sagte er ihm auch. »Bilde dir bitte nicht ein, daß ich dich schützen werde, falls Herr Seitter stirbt«, fügte er hinzu. »Alles hat seine Grenzen. Ich habe dir oft genug geholfen.«

»Ich schwöre dir, ich bin es nicht gewesen«, beteuerte sein Freund.

»Schade, daß ich mich in dir geirrt habe«, meinte Eric, drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort die Wohnung. Laut fiel die Tür hinter ihm ins Schloß.

Mara fühlte eine tiefe Verzweiflung in sich. Sie vertraute Martin und war sich zudem sicher, daß er niemals Kinder in Gefahr bringen würde. Ihr Freund liebte Kinder. Wieviel Mühe hatte er sich damals gegeben, um den kleinen Buben zu retten, der beim Absturz eines Freiluftballons lebensgefährlich verletzt worden war. Sie konnte nicht verstehen, daß ihm Eric nicht glauben wollte.

»Es tut mir so leid, Martin«, sagte sie. »Was auch geschieht, ich halte zu dir. Verlaß dich darauf.«

Martin zog sie an sich. Längst hatte er eingesehen, wie verrückt es gewesen war, Heinz Seitters mit Haß zu verfolgen und zu versuchen, ihm das Leben zur Hölle zu machen. »Was soll ich nur tun? – Wie soll ich beweisen, daß ich die Schwarze Witwe nicht ausgesetzt habe?« Er klammerte sich wie ein Ertrinkender an seine Freundin.

»Du mußt nichts beweisen«, meinte Mara. »Du bist es nicht gewesen, und ich vertraue drauf, daß die Wahrheit ans Licht kommt. Keiner, der dich kennt, wird dir so eine Tat zutrauen.«

»Und Eric?« fragte er. »Kennt Eric mich nicht?«

*

Da Joachim Staiger jeden Montag zum Bodybuilding ging, verbrachten Tina und Katja den Abend stets gemeinsam. Diesmal war Katja mit Kochen an der Reihe. Während ihre Freundin sich um das Brokkoligratin kümmerte, deckte Tina den Eßtisch. Als sie Gläser aus dem Schrank nahm, fiel ihr Blick auf Dominiks Foto, das auf der Anrichte stand. Es wirkte so lebendig, als würde der Bub jeden Moment aus dem Foto heraustreten und »Hallo, hier bin ich« rufen.

Bedrückt stellte die junge Frau die Gläser auf den Tisch. Sie hatte Dominik sehr gern gehabt und auch sie schmerzte der Gedanke, den Kleinen nie wiederzusehen.

Katja holte das Gratin aus dem Backofen und drehte sich Tina zu, die in diesem Moment in die Küche kam. »Wir können in fünf Minuten essen«, sagte sie.

»Fein.« Tina lehnte sich gegen das Spülbecken. »Habe ich dir schon erzählt, daß Joachim und ich zusammenziehen?« fragte sie. »Er will sein Appartement in Tegernsee kündigen, weil meine Wohnung geräumiger ist.«

»Dann werden ja schon bald die Hochzeitsglocken läuten«, meinte Katja.

»Wer weiß.« Tinas Augen begannen zu strahlen.

»Du ahnst nicht, wie sehr ich mich für dich freue«, sagte ihre Freundin und griff nach dem Vorlegebesteck. »Ich mag Joachim sehr. Er ist ganz anders als Markus. Dem habe ich von Anfang an mißtraut.«

Sie gingen ins Eßzimmer hinüber und setzten sich an den Tisch. Tina nahm sich von dem Gratin. »Es schmeckt genauso, wie es duftet«, lobte sie, nachdem sie eine Gabel voll probiert hatte. »Eines muß man dir lassen. Kochen kannst du.« Selbstkritisch fügte sie hinzu: »Bedeutend besser als ich.«

»Das stimmt nun wirklich nicht«, protestierte Katja. »Ich habe bei dir schon ausgezeichnet gegessen, und ich bin überzeugt, daß Joachim meiner Meinung ist.«

Tina sah sie von unten herauf an. »Du hast noch kein Wort über deinen Ausflug mit Horst verloren«, erinnerte sie verschmitzt.

Katja errötete. »Wir haben einen wunderschönen Tag miteinander verbracht«, antwortete

sie. »Horst ist ausgesprochen nett.«

»Wenn das alles ist, was du dazu zu sagen hast«, bemerkte ihre Freundin amüsiert.

»Also gut, ich habe jede Minute genossen«, gab Katja zu. »Falls man das jetzt schon sagen kann, so sind wir gute Freunde geworden. Horst hat mir gestanden, daß er geschieden ist. Und ich…« Sie stockte für den Bruchteil einer Sekunde. »Ich habe ihm von Nicki erzählt. Die ganze Geschichte. Auch, daß ich mir noch immer Vorwürfe mache, nicht vorsichtiger gewesen zu sein.«

»Wie ich Horst kenne, ist er genauso wie wir alle davon überzeugt, daß du keinen Grund hast, dir Vorwürfe zu machen«, meinte Tina. Sie lächelte ihr zu. »Sieht aus, als wäre es eine gute Idee gewesen, euch zusammenzubringen.«

»Ja, das stimmt«, antwortete Katja nachdenklich. Der gestrige Tag schien ihr ganzes Leben verändert zu haben. Sie fühlte sich nicht mehr so bedrückt und niedergeschlagen. Horst hatte recht, das Leben ging weiter. Es wurde allerhöchste Zeit, daß sie anfing, daran zu glauben.

Tina nahm sich Salat. »Das war vielleicht ein Tag heute«, bemerkte sie aufseufzend. »Bei uns in der Praxis herrscht ausgesprochen dicke Luft. Frau Doktor

Bertram und Doktor Baumann haben nicht ein einziges privates Wort miteinander gesprochen. Sie müssen sich fürchterlich gestritten haben. Wenngleich es mir unsinnig erscheint, geht es vermutlich um einen Patienten, der gestern morgen per Hubschrauber in eine Spezialklinik nach München gebracht werden mußte. Er ist von einer Schwarzen Witwe gebissen worden.«

»Von einer Schwarzen Witwe?« fragte Katja ungläubig. »Gehört euer Patient zu diesen verrückten Leuten, die in ihren Terrarien alle möglichen giftigen Insekten und Tiere halten? Neulich habe ich von einem jungen Mann erfahren, der sich Skorpione hält.« Sie schüttelte sich. »Wie kann man nur…«

Es klingelte.

Die beiden Frauen sahen sich an. »Erwartest du um diese Zeit noch Besuch, Katja?« fragte Tina. Sie lachte auf. »Es wird Horst sein. Du mußt gestern mächtig Eindruck auf ihn gemacht haben.«

Ihre Freundin stand auf und ging zur Tür. »Bitte, wer ist da?« fragte sie durch die Wechselsprechanlage. Halb und halb hoffte auch sie, daß es Horst war, obwohl sie es sich nicht denken konnte, denn er kam ja nur über das Wochenende an den Tegernsee.

»Mein Name ist Helga Wihlborg. Ich muß Sie unbedingt sprechen, Frau Faber«, erwiderte eine Frau mit einem etwas seltsam klingenden Akzent. »Ich bin extra Ihretwegen aus Schweden gekommen.«

»Aus Schweden?« Katja drückte auf den Türöffner. Gleich darauf öffnete sie auch die Wohnungstür.

Tina war ihrer Freundin in den Korridor gefolgt. Sie sah, wie eine große, blonde Frau mit einem dunkelhaarigen Buben auf dem Arm die Treppe hinaufstieg. Das gibt es nicht, dachte sie und faßte sich an den Hals. Nein, das konnte nicht sein.

Katja klammerte sich an die Tür. Wie oft hatte sie von diesem Augenblick geträumt, und nun kam es ihr vor, als würde ihr Herz stehenbleiben. »Nicki?« fragte sie fast lautlos. »Bist du Nicki?«

Der Kleine nickte.

Helga Wihlborg stellte das Kind zu Boden. »Ja, das ist Dominik«, bestätigte sie und blickte von einer zur anderen. »Wer von Ihnen ist Frau Faber?«

»Ich bin Frau Faber«, erwiderte Katja wie betäubt. Sie wollte ihren Sohn an sich reißen, doch sie hatte Angst, ihn zu erschrecken. Drei Jahre waren eine lange Zeit. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sich Dominik noch an sie erinnerte. – Dominik… War es ein Traum? Ja, sie mußte träumen. Es konnte gar nicht anders sein. Sie streckte die Hand aus.

Der Kleine wich zurück, klammerte sich an Helga Wihlborg.

Katja ließ die Hand sinken. »Bitte, kommen Sie«, bat sie.

Helga folgte ihr mit Dominik bei der Hand ins Wohnzimmer. Tina blieb bei der Tür stehen. Sie konnte nicht fassen, was geschah. Es war einfach unmöglich. Es…

»Bitte, setzen Sie sich.« Katja war kaum ihrer Stimme mächtig. Sie wies zur Couch. Ihre Finger fühlten sich eiskalt an, und auch, wenn ihr Herz weiterschlug, sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten.

»Nicki ist bestimmt hungrig und durstig.« Helga nahm den Kleinen auf ihren Schoß. Sie wirkte ziemlich erschöpft. »Möchtest du was essen, Nicki?« fragte sie auf deutsch. Der Bub reagierte nicht. Sie wiederholte ihre Frage auf schwedisch.

Dominik klammerte sich an sie.

»Er hat Angst vor mir«, sagte Katja.

»Nicki ist etwas verwirrt«, meinte Helga. »Für ihn bin ich seine Mutter.« Sie sagte etwas auf schwedisch zu ihm. Er klammerte sich noch fester an sie.

Katja beugte sich zu ihrem Sohn hinunter. Sie griff nach seiner Hand. »Ich bin auch deine Mama und ich habe dich sehr lieb. Du…«

Der Bub wandte ihr sein Gesicht zu. »Nein«, stieß er hervor. »Das ist meine Mama.« Er schlang die Ärmchen um den Nacken der Schwedin. Sein Deutsch hatte den gleichen Akzent wie Helgas.

Tina ging in die Küche. Am liebsten hätte sie ihren Freund angerufen. Sie konnte es kaum noch erwarten, Joachim zu sagen, daß Dominik wieder da war.

Helga wiegte Dominik in ihren Armen. »Am besten, wir reden über alles, wenn Nicki schläft«, schlug sie Katja vor. »Er ist sehr, sehr müde. Wir sind lange unterwegs gewesen, und Ihr Sohn braucht sehr viel Ruhe.«

»Er ist so blaß, so zart.« Katja streckte erneut die Hand nach Dominik aus, wagte es jedoch nicht, sein Gesicht zu berühren. Er schmiegte sein Köpfchen an Helgas Schulter und schloß die Augen.

Dominik war kaum zu bewegen, die Milch zu trinken und das Brot zu essen, das Tina für ihn zurechtgemacht hatte. Trotz seines Hungers kaute er lustlos. Helga mußte ihn zu jedem Bissen überreden.

»Wo kann Nicki schlafen?« fragte sie, nachdem er seine Milch ausgetrunken hatte.

»In seinem Zimmer«, antwortete Katja und wandte sich steifbeinig der Tür zu. »Ich beziehe rasch das Bett.«

Tina folgte ihr. »Ich sollte jetzt gehen«, schlug sie vor. »Bestimmt möchte Frau Wihlborg allein mit dir sprechen. Bitte ruf mich an, sobald du kannst.«

»Ja, das werde ich.« Katja nahm sie in den Arm. »Es ist ein Traum, kann nur ein Traum sein«, meinte sie den Tränen nah. »Bestimmt werde ich gleich aufwachen und… Tina, sag mir, daß es wahr ist.«

»Es ist wahr«, versicherte ihre Freundin bestimmt. »Der Kleine ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten. Außerdem fühle ich, daß es Nicki ist. Schließlich habe ich ihn oft genug in den Armen gehalten.«

Dominik schlief schon halb, als ihn Helga ins Bett legte und zärtlich zudeckte. »Er ist so ein lieber, kleiner Junge«, sagte sie. »Ich liebe ihn sehr.« Sie richtete sich auf. »Ja, ich liebe ihn«, wiederholte sie, dann verließ sie das Zimmer, damit Katja mit ihm allein bleiben konnte.

Eine halbe Stunde später saßen sich die beiden Frauen im Wohnzimmer gegenüber und tranken Kaffee. Wenngleich hunderte von Fragen auf Katjas Seele brannten, ließ sie Frau Wihlborg Zeit. Sie spürte, wie schwer der jungen Schwedin das Reden fiel. Ich müßte sie hassen, dachte sie und lauschte in sich hinein, doch da gab es keinen Haß, nur unendliche Freude.

Helga Wihlborg stellte ihre Tasse auf den Tisch zurück. »Nicki ist für mich wie mein eigener Sohn«, sagte sie und bemühte sich, nicht zu weinen. »Es ist mir unendlich schwergefallen, mit ihm nach Deutschland zu kommen, aber es blieb mir keine Wahl. – Nein, es gibt keinen anderen Weg.«

»Haben Sie meinen Sohn entführt?«

Die junge Schwedin schüttelte den Kopf. »Meine Eltern besitzen in der Nähe von Göteborg ein großes Gut. Ich bin dort mit meinen Geschwistern aufgewachsen und sehr glücklich gewesen. Trotzdem wollte ich etwas von der Welt sehen. Ausgestattet mit den guten Wünschen meiner Familie, machte ich eine Tour durch Europa. In München lernte ich vor über drei Jahren Klaus Geiger kennen. Ich verliebte mich in ihn, und als er mich fragte, ob er mit mir nach Schweden kommen könnte, war ich sofort einverstanden.« Sie griff nach ihrer Tasse. Katja bemerkte, daß ihre Hand zitterte.

»Erst kurz vor unserer Abreise erzählte mir Klaus von seinem Sohn.« Helga starrte in ihre Tasse. »Inzwischen weiß ich, daß er mich belog, als er davon sprach, wie schlecht es der Kleine bei seiner Mutter hatte. Damals vertraute ich ihm blindlings und dachte nicht weiter darüber nach, ob es richtig war, das Kind einfach mitzunehmen.«

»Klaus wußte genau, wie sehr ich Nicki liebe«, warf Katja ein.

»Ich glaube, das interessierte ihn nicht.« Helga stand auf, trat ans Fenster und blickte in den Hof hinunter. »Schon bald stellte sich heraus, daß es Klaus nicht in Schweden gefiel, außerdem kam ich dahinter, daß er drogensüchtig war. Meine Eltern haben ihn von Anfang an nicht gemocht. Wir stritten uns immer häufiger, und eines Morgens, als ich aufwachte, war Klaus auf und davon. Er hatte seine Sachen mitgenommen, nur nicht Nicki.«

»Warum haben Sie Nicki nicht nach Deutschland zurückgebracht, oder wenigstens zur Deutschen Botschaft? Ich habe meinen Sohn überall gesucht. Ich bin so verzweifelt gewesen, so…«

»Weil ich Nicki inzwischen wie einen eigenen Sohn liebte.« Helga kehrte zur Couch zurück. Sie stützte sich auf die Rückenlehne. »Entgegen dem Rat meiner Eltern habe ich sehr viel Geld dafür bezahlt, um für Nicki Papiere zu bekommen, die ihn als meinen Sohn ausweisen. Trotz allem bin ich fest entschlossen gewesen, ihm eines Tages die Wahrheit zu gestehen, und habe dafür gesorgt, daß er deutsch lernt.« Sie atmete tief durch. »Ob ich es natürlich wirklich getan hätte, ich weiß es nicht.«

»Wissen Sie, daß Klaus tot ist?«

»Ja.« Helga nickte. »Ich habe es durch Zufall erfahren.« Sie richtete sich auf. »Es ist unverzeihlich, was ich getan habe. Trotzdem bitte ich Sie, mir zu verzeihen.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen verzeihen kann«, antwortete Katja. »Sie hätten mir soviel Schmerz ersparen können, soviel Kummer.« Gedankenverloren strich sie die Couchdecke glatt. »Andererseits haben Sie mir Nicki zurückgebracht, und dafür danke ich Ihnen. Wenn…« Sie runzelte die Stirn. »Weshalb haben Sie mir Nicki gebracht? Was ist passiert?«

Die junge Schwedin setzte sich neben sie. »Bitte, erschrecken Sie nicht«, bat sie. »Nicki hat Leukämie.«

»Leukämie«, wiederholte Katja entsetzt.

Helga nickte. »Die Krankheit wurde Anfang letzten Jahres festgestellt. Zuerst sah es aus, als könnte Nicki durch Chemotherapie und Bestrahlungen geheilt werden, doch nach der ersten Remission kam ein Rückfall. Also wieder Chemotherapie und Bestrahlungen. Momentan befindet sich Nicki in einer zweiten Remission, allerdings steht schon fest, daß ihm im Grunde genommen nur eine Knochenmarktransplantation helfen kann. Und die größten Chancen hätte er, wenn das Knochenmark des Spenders soweit wie möglich identisch mit dem seinen ist.«

Im Grunde ihres Herzens hatte Katja stets gehofft, ihren Sohn eines Tages wiederzusehen. Nun war dieses Wunder geschehen, und es stellte sich heraus, daß Dominik todkrank war. Das berauschende Gefühl des Glücks verwandelte sich in tiefste Verzweiflung. Was, wenn ihr Knochenmark nicht in Frage kam?

»Wenn wir großes Glück haben, können Sie Nickis Leben retten. Wenn…« Helga brach in Tränen aus.

Katja nahm sie impulsiv in die Arme. Nein, sie konnte keinen Haß auf diese Frau empfinden. »Ich habe einen guten Arzt«, sagte sie. »Gleich morgen werde ich mit Nicki zu ihm gehen. Doktor Baumann wird uns helfen.« Sie ließ die junge Frau los. »Am besten, Sie bleiben heute nacht bei mir. Es wäre sehr schlimm für Nicki, wenn er erwachen würde und Sie nicht da wären. Er braucht etwas Zeit, um sich daran zu gewöhnen, daß ich seine Mutter bin.«

Katja stand auf und huschte leise durch den Gang zum Kinderzimmer. Im Schein des Nachtlichts blickte sie auf ihren schlafenden Sohn. Sie spürte nicht die Tränen, die über ihr Gesicht rannen.

*

Katharina Wittenberg, Franziska Löbl und Dr. Baumann saßen beim Frühstück in der geräumigen Küche des Doktorhauses. Sie unterhielten sich über Heinz Seitter und die Spinne, von der er gebissen worden war. Dank Lina Becker wußte inzwischen halb Tegernsee von der Schwarzen Witwe. Aber das bekümmerte sie nicht weiter. Viel schlimmer war der Verdacht, der auf Dr. Hellwert lag.

»Also, ich weiß nicht«, schrieb Franziska auf ihren Block, »ich traue Doktor Hellwert so etwas nicht zu.«

»Mit anderen Worten, du fällst mir auch noch in den Rücken.« Eric stieß grimmig seine Gabel in eine Scheibe Wurst und belegte die Hälfte eines Brötchens. Franzl, der zu seinen Füßen saß, bellte enttäuscht auf. »Hast du gedacht, die Wurst wäre für dich?« Der Arzt nahm eine zweite Scheibe und warf sie ihm zu. »Nun ist Schluß.«

»Wer’s glaubt, wird selig«, bemerkte Katharina Wittenberg.

»Du kannst dem Burschen genauso wenig widerstehen«, sagte er und griff nach seiner Tasse.

»Eric, gewöhnlich bist du es, der darauf besteht, daß jeder bis zum Beweis des Gegenteils unschuldig ist«, schrieb Franziska. »Wir alle wissen, was Doktor Hellwert letztes Jahr getan hat. Zuerst war es nur ein Verdacht, später wurde es zur Gewißheit. Doch er hat dir geschworen, damit aufzuhören, und ich bin überzeugt, daß er zu den Männern gehört, die ihr Wort halten.«

Widerwillig dachte der Arzt über ihre Worte nach. »Nun, womöglich irre ich mich wirklich«, meinte er. »Es würde mich jedenfalls freuen.« Er stand auf, weil er einen Wagen gehört hatte, und trat ans Küchenfenster. »Mara kommt«, sagte er. Es belastete ihn ungemein, daß die junge Ärztin es vermied, mit ihm auch nur noch ein privates Wort zu wechseln. Allerdings konnte er sie verstehen. »Entschuldigt mich einen Moment.« Er verließ das Haus und ging ihr entgegen.

Mara Bertram war inzwischen ausgestiegen. Sie beachtete Eric nicht, sondern wandte sich der Praxis zu.

»Guten Morgen«, grüßte er. »Hast du Lust, mit uns zu frühstücken? Franziska trinkt auch gerade eine Tasse Kaffee.«

»Danke, ich habe bereits gefrühstückt«, erwiderte sie kalt.

»Mara, wir sollten miteinander reden. Ich gebe zu, daß ich mich auch geirrt haben könnte.«

Sie schaute ihm ins Gesicht. »Du hast dich sogar hundertprozentig geirrt«, erklärte sie und betrat die Praxis.

Niedergeschlagen kehrte Dr. Baumann in die Küche zurück. »Sieht aus, als hätte ich einen ganzen Porzellanladen zerschlagen«, bemerkte er und leerte seine Tasse im Stehen. »Ich bin in der Praxis.« Eilig verließ er die Küche. Franzl starrte ihm entgeistert nach. Es kam nicht oft vor, daß sein Herrchen vergaß, sich von ihm zu verabschieden.

Tina Martens, die meistens erst in der letzten Minute zur Arbeit kam, war an diesem Morgen kurz nach Mara eingetroffen. »Sie können sich nicht vorstellen, was passiert ist«, meinte sie zu Dr. Baumann. »Sie wissen ja, daß der Sohn meiner Freundin Katja vor drei Jahren entführt wurde. Gestern abend ist er von einer Schwedin zurückgebracht worden.« Sie erzählte ihm, was vorgefallen war. »Ich bin so glücklich gewesen, und dann hat mich Katja heute morgen angerufen und mir gesagt, daß Nicki Leukämie hat. Sie will gleich nachher zu einer Blutuntersuchung kommen. Ist das möglich?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Eric bestürzt. »Rufen Sie Ihre Freundin an und sagen Sie ihr, daß ich Sie und Nicki erwarte.«

Katja Faber kam eine halbe Stunde später mit ihrem Sohn. Sie hatte ihren Chef um Urlaub gebeten. Nachdem er erfahren hatte, was passiert war, hatte er ihr gesagt, daß sie so lange Urlaub haben könnte, wie sie wollte. Bis er eine Vertretung für sie gefunden hatte, sollte seine Frau wieder wie früher in der Praxis mitarbeiten.

»Setz dich, Nicki«, bat sie und wies auf einen Stuhl im Gang.

Der Bub nahm stumm Platz und starrte auf seine Hände. Er wirkte so verloren, daß Tina seinen Schmerz fast körperlich empfand.

»Ich sage Doktor Baumann, daß ihr hier seid«, wandte sie sich an Katja. »Es wird höchstens ein paar Minuten dauern, bis ihr drankommt.« Sie senkte die Stimme. »Wo ist Frau Wihlborg?«

»Nach München gefahren, um sich dort ein Zimmer zu nehmen«, antwortete ihre Freundin. »Sie hält es nicht für gut, in unmittelbarer Nähe von Nicki zu bleiben.« Katja blickte sich zu ihrem Sohn um. »Es tut mir weh, ihm solchen Kummer zu machen. Er muß sich verraten und verkauft fühlen. Ich wünschte, ich könnte ihn irgendwie davon überzeugen, daß ich seine Mutter bin und ihn über alles liebe.«

»Er braucht Zeit«, sagte Tina. »Ich bin froh, daß Frau Wihlborg vernünftig ist. Sie muß ihn wirklich sehr lieben, sonst hätte sie nicht dieses Opfer gebracht. Und es ist ein Opfer für sie.«

»Ja, ich weiß.«

Dr. Baumann trat in den Gang und reichte Katja die Hand, bevor er sich dem Buben zuwandte. »Du bist also Nicki«, meinte er. »Wie ich hörte, hast du eine sehr weite Reise gemacht.«

»Ich will zu meiner Mama«, flüsterte Dominik. »Wo ist meine Mama? Sie soll nicht fortgehen.«

»Sie wird dich sehr oft besuchen«, versprach Katja. »Auch ich bin deine Mama, Nicki.«

»Nicht meine richtige Mama«, erklärte er.

Während Katja Blut abgenommen wurde, studierte Eric die Krankenunterlagen, die Helga Wihlborg aus Schweden mitgebracht und ins Deutsche hatte übersetzen lassen. Dominik litt an akuter lymphatischer Leukämie und zwar an einer besonders schweren Form. Dem Arzt erschien es wie ein Wunder, daß der Bub es zu einer zweiten Remission gebracht hatte, doch es stand außer Frage, daß nur eine Knochenmarktransplantation sein Leben retten konnte.

»Ich werde mich noch heute mit dem entsprechenden Spezialisten an der Münchener Uniklinik in Verbindung setzen, Frau Faber«, versprach Eric. »Vermutlich kann Nicki, sobald feststeht, daß Sie als Spenderin in Frage kommen, auf der Kinderstation aufgenommen werden.« Er erklärte ihr, daß vor der eigentlichen Transplantation bei Nicki durch zytotoxische Medikamente und Bestrahlungen alle Knochenmarkzellen zerstört werden mußten. »Es wird kein Spaziergang werden«, meinte er. »Weder für Ihren Sohn noch für Sie. Dennoch, mit etwas Glück könnte er es schaffen.«

»Er wird es schaffen«, erwiderte Katja. »Als ich von Frau Wihlborg erfahren habe, daß Nicki Leukämie hat, fühlte ich eine tiefe Verzweiflung in mir, inzwischen sage ich mir jedoch, daß es gutgehen wird. Es ist schon einmal ein Wunder geschehen, indem mir mein Sohn zurückgegeben wurde, und ich bin überzeugt, es wird auch noch ein zweites Mal geben.«

»Das ist die richtige Einstellung.« Dr. Baumann drückte ihre Hand. »Sobald ich etwas weiß, rufe ich Sie an. Davon abgesehen können Sie sich Tag und Nacht an mich wenden.« Er begleitete Katja zu ihrem Sohn, der in Obhut von Tina Martens in einem Bilderbuch blätterte. »Magst du Schokolade?« fragte er und zauberte aus seiner Kitteltasche einen Schokoladenlutscher.

Der Bub schaute auf. »Ja«, antwortete er und streckte die Hand aus. »Danke.« Er rutschte vom Stuhl. »Ist das wirklich meine Mama?« flüsterte er vernehmlich dem Arzt zu und wies auf Katja.

»Ja, das ist deine Mama«, erwiderte Dr. Baumann. »Und ich weiß, daß sie dich sehr lieb

hat.«

»Meine andere Mama hat mich auch lieb.« Dominik verzog das Gesicht zum Weinen. »Warum kann meine andere Mama nicht bei mir sein?«

»Weil sie sehr viel zu tun hat.« Eric strich ihm durch die Haare. »Ich weiß, wie schwer das im Moment für dich ist, aber glaube mir, es wird alles gut. Ganz bestimmt sogar.«

Katja bedankte sich bei Dr. Baumann, nahm Dominik bei der Hand und verließ mit ihm die Praxis. Sie wollte sich schon ihrem Wagen zuwenden, als sie Horst Schmerer sah, der vor dem Garten auf sie wartete. »Was tust du denn hier?« fragte sie überrascht.

»Tina hat mich angerufen und mir gesagt, was geschehen ist, darum habe ich heute Urlaub genommen«, entgegnete er. »Nun ja, hier bin ich.« Er sah Dominik an. »Magst du Pferde, junger Mann?«

»Meine Großeltern haben Pferde«, antwortete der Kleine. »Wer bist du?«

»Onkel Horst, ein Freund deiner Mama.«

»Welcher Mama?«

»Dieser Mama.« Horst legte den Arm um Katja. »Möchtest du auf einem Pony reiten, Nicki?«

»Ja.« Auf Dominiks Gesicht stahl sich ein Lächeln.

Horst ließ die junge Frau los. »Ich meine, wir sollten zum Gestüt der Kordes fahren, dort gibt es immer Ponys. Was hältst du davon?«

»Eine gute Idee.« Wie es aussah, schien es Horst Schmerer im Nu zu gelingen, das Herz ihres Sohnes zu erobern. »Ich bin froh, daß du hier bist«, gestand Katja.

»Danke. Freunde sind schließlich dazu da, um einander zu helfen«, sagte er. Er schaute zu, wie sie Dominik in den Kindersitz setzte, den sie sich von einer Nachbarin geliehen hatte, dann fragte er: »Hast du diese Schwedin schon angezeigt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube auch nicht, daß ich Frau Wihlborg anzeigen werde. Tina hat dir sicher die ganze Geschichte erzählt. Sie hätte nicht kommen müssen. Sie hätte Dominik einfach sterben lassen können. – Nein, ich kann sie nicht anzeigen.«

Horst legte erneut den Arm um sie. »Das kann ich gut verstehen«, meinte er. »Davon abgesehen geht es im Moment ohnehin nur darum, daß Dominik wieder gesund wird.«

»Danke«, sagte sie leise und schmiegte sich an ihn.

*

Heinz Seitter lag noch immer auf der Intensivstation. Trotz aller ärztlichen Bemühungen setzte das Spinnengift sein Zerstörungswerk fort. Es hatte bereits die Leber angegriffen, und es war abzusehen, daß, wenn es nicht bald gelang, ihm Einhalt zu gebieten, der Körper des Kranken den Belastungen nicht länger standhalten konnte. Mit jeder Stunde, die verging, verringerten sich die Überlebenschancen des Mannes.

Sabine Seitters fuhr jeden Tag nach München. Sie durfte zwar immer nur ein paar Minuten bei ihrem Mann bleiben, doch sie wollte ihm das Gefühl vermitteln, nicht allein zu sein und auf sie zählen zu können. In den letzten Tagen war ihr bewußt geworden, wie sehr sie Heinz noch immer liebte. Nacht für Nacht lag sie wach, dachte an all die schönen Stunden, die sie miteinander verbracht hatten, und vergaß die schlechten ganz einfach. Zum ersten Mal machte sie es ihm auch nicht zum Vorwurf, das Leben ihrer gemeinsamen Tochter durch seine Unduldsamkeit zerstört zu haben.

Heinz Seitter wußte, wie es um ihn stand, auch wenn die Ärzte versuchten, die Wahrheit vor ihm zu verheimlichen. Er fühlte, wie das Gift seinen Körper zerstörte. Meistens dämmerte er nur einfach dahin, dann gab es jedoch auch wieder Minuten, in denen er hellwach war und ihn die Angst vor dem Tod mit aller Macht überfiel.

Als Sabine Seitter an diesem Nachmittag zu ihrem Mann kam, griff er nach ihrer Hand und hielt sie so fest, als hätte er Angst, sie loszulassen. Sie fragte nicht, wie es ihm ging, weil es ihr wie Hohn erschienen wäre, sondern beugte sich nur über ihn und küßte ihn zärtlich auf den Mund.

»Was machen die Kinder?« fragte er stockend. »Ist mit ihnen alles in Ordnung?«

»Melissa und Sabrina schicken dir tausend Küsse.« Sie setzte sich auf den Stuhl, der neben seinem Bett stand. »Sie haben Bilder für dich gemalt. Sobald du auf eine andere Station verlegt wirst, werde ich sie dir bringen.«

»Wenn ich jemals auf eine andere Station verlegt werde«, antwortete er kraftlos.

»Vermutlich eher, als du denkst«, versicherte Sabine erschrocken.

»Wo sind die Kinder?«

»Bei Frau Becker.« Sie tupfte ihm den Schweiß von der Stirn. »Ich weiß, du magst Frau Becker nicht, aber im Moment bin ich wirklich froh, sie zu haben. Sie kümmert sich wie eine Glucke um die Zwillinge. Ida hat sie auch unter ihre Fittiche genommen. Die Beckers nehmen sie auf ihren Spaziergängen mit Harvard mit. Ich soll dich im übrigen von ihnen grüßen.«

»Sag ihr in meinem Namen danke.« Heinz Seitter spürte, wie ihn langsam die Kraft verließ. Ihn übermannte wieder diese entsetzliche Müdigkeit, die ihn wie erstarrt im Bett liegen ließ und ihn sogar daran hinderte, auch nur den Kopf zu drehen. Er schloß die Augen. »Du mußt meine Papiere durchschauen«, flüsterte er. »Wenn etwas passiert, mußt du wissen, woran du bist.«

»Es wird nichts passieren«, versicherte seine Frau. »Du mußt nur fest daran glauben, daß du bald gesund wirst.« Sie strich sanft über seinen Arm. »Du darfst dich nicht aufgeben.«

Ihr Mann war nicht fähig, ihr zu antworten. So blieb sie stumm neben ihm sitzen und hielt seine Hand.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis eine Schwester ins Zimmer kam und ihr durch Zeichen zu verstehen gab, daß es besser sein würde, jetzt zu gehen.

Sabine strich Heinz’ Decke glatt. »Ich komme morgen wieder, Liebling«, versprach sie. »Du ahnst nicht, wie sehr wir dich brauchen. Ohne dich ist das Haus so leer.« Behutsam hob sie seine Hand zu den Lippen und küßte sie.

Als Sabine Seitter die Intensivstation verließ, trat Dr. Baumann gerade aus dem Aufzug. Sie eilte ihm entgegen, sagte ihm, wie schlecht es ihrem Mann ging und daß er momentan nicht einmal fähig war, länger als ein paar Minuten Besuch zu ertragen.

»Bitte, warten Sie hier auf mich«, bat Eric und führte sie zu einer Bank, die gegenüber der Intensivstation stand. Fürsorglich legte er eine Hand auf ihre Schulter. »Kopf hoch, Frau Seitter. Ihr Mann ist in diesem Krankenhaus in den besten Händen. Es wird alles Erdenkliche für ihn getan.«

»Was nützt das, wenn sein Körper zu schwach ist, diese Hilfe anzunehmen«, antwortete sie mutlos.

Dr. Baumann ließ nicht lange auf sich warten. Bereits nach einer Viertelstunde kehrte er zurück. »Ich habe mit dem behandelnden Arzt gesprochen«, sagte er zu ihr. »Es besteht Hoffnung.«

Sie schaute skeptisch zu ihm auf. »Jetzt machen Sie mir bestimmt etwas vor«, meinte sie.

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Es wäre nicht fair, Ihnen etwas vorzumachen«, erwiderte er. »Wenn Ihr Mann die nächsten Tage überlebt, dann hat er es geschafft.«

»Die nächsten Tage«, wiederholte Sabine matt. Sie konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Aufschluchzend vergrub sie ihr Gesicht in den Händen.

Eric nahm sie in den Arm und sprach leise auf sie ein. Er konnte sie sehr gut verstehen. Die nächsten Tage würde sie zwischen Hoffen und Bangen verbringen, zwischen Himmel und Hölle, jede Stunde würde eine Ewigkeit bedeuten.

Sabine hob den Kopf. »Bitte, entschuldigen Sie«, bat sie und griff nach dem Taschentuch, das er ihr reichte. »Ich… «

»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Frau Seitter«, sagte er. »Sie lieben Ihren Mann. Es ist nur verständlich, daß Sie mit den Nerven völlig fertig sind.«

Sie nickte müde. »Heinz ist manchmal ein ausgemachtes Ekel, und mit seinem Geiz treibt er mich fast zum Wahnsinn, andererseits sind wir schon siebenundzwanzig Jahre verheiratet, und so etwas verbindet.«

Sie gingen zum Aufzug und fuhren zum Foyer hinunter.

»Sind Sie mit dem Wagen gekommen?« erkundigte sich Dr. Baumann.

»Ein Bekannter hat mich mitgenommen«, antwortete Sabine. »Ich bin momentan nicht in der Lage, längere Strecken zu fahren.«

»Wartet dieser Bekannte auf Sie?«

»Nein, ich werde den Bus nehmen.«

»Das ist nicht nötig«, sagte

Eric. »Ich fahre jetzt ohnehin nach Tegernsee zurück und nehme Sie natürlich mit.«

Sie sah ihn an. »Hatten Sie in München zu tun?«

»Ich wollte nach Ihrem Mann sehen und mich selbst davon überzeugen, wie es ihm geht.« Der Arzt öffnete die Aufzugtür und ließ sie an sich vorbeigehen.

Sabine Seitter konnte es kaum glauben, daß Dr. Baumann an seinem freien Mittwochnachmittag die Fahrt nach München nur ihres Mannes wegen auf sich genommen hatte. Sie war ihm so dankbar, daß sie ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre.

»Ich bin froh, daß uns Frau Becker, als wir nach Tegernsee gezogen sind, Sie als Hausarzt empfohlen hat«, meinte sie. »Im Narzissenweg regiert momentan die Angst. Beckers haben ihr Haus von oben bis unten nach Schwarzen Witwen durchsucht, und der junge Mann, der neben uns wohnt, hat vorgeschlagen, einen Kammerjäger kommen zu lassen, der die Häuser ausräuchert.«

»Vermutlich ist die Schwarze Witwe, die Ihren Mann gebissen hat, aus einem Terrarium entwischt«, meinte Eric. »Weitere wird es bestimmt nicht geben. Unser Klima ist nicht für diese Tiere geeignet.«

»Davon bin ich auch überzeugt, aber seit Herr Schneck von einem Hund gebissen wurde, erscheint er mir noch ängstlicher als zuvor. Er ist ein seltsamer Mensch. Wir leben schon über ein Jahr Garten an Garten, dennoch sieht er meistens über uns hinweg.«

»Ich hatte keine Ahnung, daß Harry Schneck Ihr Nachbar ist«, bemerkte Eric überrascht. Er glaubte nach wie vor nicht daran, daß es sich bei der Verletzung des jungen Mannes um einen Hundebiß handelte.

Sie durchquerten das Foyer und traten ins Freie. Als Sabine ins Krankenhaus gekommen war, hatte es geregnet. Jetzt zeigte sich am Himmel ein farbenprächtiger Regenbogen.

»Ich sollte es als Omen nehmen«, sagte sie zu Dr. Baumann. »Mein Mann ist zu sehr Realist, um an diese Dinge zu glauben, doch mir bedeuten sie etwas.« Sie steckte ihre Hände in die Manteltaschen.

»Es ist gut, wenn der Mensch noch träumen kann«, meinte

Eric. »So läßt sich Schweres leichter ertragen.« Er blieb stehen, um das Strahlen des Regenbogens in sich aufzunehmen, doch er dachte dabei nicht nur an Heinz Seitter, sondern auch an den kleinen Dominik, dessen Leben ebenfalls an einem seidenen Faden hing. Er hoffte so sehr, daß es möglich sein würde, Katjas Sohn zu retten.

*

Katja war mit ihrem Söhnchen zum See hinuntergegangen und half ihm, die Enten zu füttern. Sie machte sich große Sorgen um Dominik. Immer wieder verglich sie ihn mit den anderen Kindern, die unten am See spielten. Dominik wirkte, als könnte ihn bereits ein Windhauch umwerfen. Seine Haut schien fast durchsichtig, und die tiefen Schatten unter seinen Augen verliehen ihm das Aussehen eines zutiefst gequälten Wesens. Sie wußte, daß ihn nicht nur seine Krankheit belastete. Er vermißte Helga Wihlborg und konnte nicht begreifen, warum sich seine Welt plötzlich so verändert hatte.

Die junge Frau fragte sich, ob es richtig war, was sie taten. Würde es nicht besser sein, vorläufig Frau Wihlborg in die Familie aufzunehmen? Wenn Nicki erst einmal gesund war, konnte sie sich nach und nach aus seinem Leben stehlen. Dominik bückte sich nach einem Steinchen und warf es ins Wasser. Es fiel nicht sehr weit, bevor es aufschlug. »Da!« Er wies auf die Kringel, die sich im Wasser bildeten.

Seine Mutter griff ebenfalls nach einem Stein. »Hilfst du mir beim Werfen?« fragte sie.

Er sah sie an, dann griff er nach ihrer Hand, hob sie an und rief: »Jetzt!«

Katja warf den Stein ins Wasser, allerdings absichtlich nicht allzu weit.

»Mein Stein ist weiter geflogen«, prahlte er. »Viel weiter.«

»Probier es noch einmal.«

»Ich mag nicht mehr.« Dominik wandte sich ihr zu. »Kann man zwei Mütter haben?« frage er.

»Manchmal ist das möglich«, erwiderte Katja, nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu einer der Bänke, die am Ufer standen. »Komm, setzen wir uns ein bißchen«, forderte sie ihn auf.

Dominik zögerte einen Moment, bevor er neben ihr Platz nahm. »Meine andere Mama hat gesagt, mein Papa hätte mich dir weggenommen und das hätte er nicht tun dürfen.«

»Es war nicht recht von ihm.« Katja zog ihren Sohn an sich und war froh, daß er sich nicht dagegen wehrte. »Ich bin sehr, sehr traurig gewesen und habe überall nach dir gesucht, Nicki.«

Dominik schaute auf das Wasser. »Wann kommt meine andere Mama wieder?« wollte er wissen. »Sie soll nicht immer fortgehen.«

»Sie hat versprochen, heute abend mit dir zu telefonieren«, antwortete die junge Frau und fragte sich erneut, ob sie den richtigen Weg eingeschlagen hatten. Widerwillig mußte sie sich dann jedoch eingestehen, wie froh sie andererseits auch war, daß sich Helga Wihlborg so rar machte. Sie konnte es nur schwer ertragen, wenn sich Nicki in Helgas Arme warf und ihr versicherte, wie sehr er sie vermißt hatte.

Es ist verrückt, dachte sie, verrückt und nicht recht, so eifersüchtig zu sein. In den letzten drei Jahren hat ihr Sohn keine andere Mutter gekannt. Verständlich, daß er sich nach ihr sehnte.

»Nicki, ich habe dich sehr lieb«, sagte sie und zog ihn zu sich auf den Schoß. »So lieb, daß ich mich über nichts mehr freuen konnte, nachdem dich dein Papa nach Schweden gebracht hatte. Erst seit du wieder bei mir bist, ist es nicht mehr dunkel um mich herum.«

Dominik rutschte von ihrem Schoß. »Ich bin müde. Ich möchte heim«, verlangte er.

»Gut, gehen wir«, erwiderte sie niedergeschlagen.

Als sie nach Hause kamen, sah Katja sofort, daß das rote Licht auf dem Anrufbeantworter brannte, trotzdem rief sie die Nachricht nicht gleich ab. Sie sorgte erst dafür, daß sich ihr Sohn etwas anderes anzog und seine Stiefel mit Hausschuhen vertauschte.

»Möchtest du etwas essen?« fragte sie.

»Ich habe nur Durst.« Der Kleine lehnte sich müde gegen die Wand. »Kann ich einen Zeichentrickfilm sehen?«

»Natürlich.« Sie schaltete den Fernseher im Wohnzimmer ein und wollte eine Kassette mit einem Disney-Film in den Videorecorder legen, doch ihr Sohn protestierte.

»Ich will einen der Filme sehen, die meine andere Mama mitgebracht hat.«

»Gut.« Die junge Frau legte eine andere Kassette in den Rekorder ein. »Ich bin gleich zurück«, versprach sie und wandte sich der Küche zu, um die Milch zu wärmen.

Erst, nachdem sie Dominik versorgt hatte, ging sie ans Telefon. Dr. Baumann hatte versucht, sie zu erreichen. Er bat um ihren Rückruf. Eilig wählte sie die Nummer der Praxis.

»Hallo, Tina, ich bin es«, sagte Katja, als sich Tina Martens meldete. »Kannst du mich bitte mit Doktor Baumann verbinden.«

»Mach ich«, erklärte Tina. »Wie geht es euch?«

»Na ja, so einigermaßen«, antwortete ihre Freundin. »Nicki ist schrecklich traurig, und wie ich mich auch dreh und wende, es ist immer falsch. Du ahnst nicht, wie leid er mir tut. Es ist einfach zuviel, was wir von ihm verlangen. Immerhin ist er noch nicht einmal sechs.«

»Er wird darüber hinwegkommen«, meinte Tina. »Verlaß dich darauf.« Sie stellte Katjas Gespräch zu Dr. Baumann durch.

»Hallo, Frau Faber«, begrüßte er sie. »Ich habe vorhin eine gute Nachricht aus München erhalten. Sie kommen als Knochenmarkspenderin in Frage.«

»Gott sei Dank«, stieß Katja erleichtert hervor. »Und wann?«

»Erst muß Nicki noch all die Behandlungen über sich ergehen lassen, die vor der Transplantation notwendig sind«, erwiderte er. »Sie werden mit ihm am Montagmorgen um halb zehn in der Uniklinik erwartet.«

So glücklich Katja war, daß sie als Spenderin in Frage kam, erst jetzt wurde ihr richtig bewußt, welche Hölle auf ihren Sohn wartete, wieviel Ängste und wieviel Schmerzen. »Und wenn alles umsonst ist?« fragte sie aus ihren Gedanken heraus.

»Vergessen Sie nicht, es ist seine einzige Chance. Wir müssen es einfach wagen«, sagte Dr. Baumann. »Können Sie morgen vormittag um zehn zu mir kommen?«

»Haben Sie denn am Samstag Sprechstunde?«

»Nein, aber da habe ich wenigstens genügend Zeit für Sie, und wir können in Ruhe über alles sprechen.«

»Ich werde kommen«, versprach sie. »Danke, Doktor Baumann.« Sie legte auf.

»Muß ich wieder ins Krankenhaus?«

Katja zuckte erschrocken zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, daß ihr Sohn das Wohnzimmer verlassen hatte und hinter ihr stand. Langsam drehte sie sich um und beugte sich zu ihm hinunter. »Leider ja, Nicki«, erwiderte sie und zog ihn an sich. »Es ist sehr, sehr wichtig, damit du endlich gesund wirst.«

»Ich will nicht ins Krankenhaus, da tun sie einem nur weh.« Dominik begann zu weinen. Er klammerte sich an sie und schien völlig vergessen zu haben, daß sie nur die Mutter war, die er eigentlich nicht wollte. »Bitte, bitte, nicht ins Krankenhaus«, schluchzte er.

Katja zerriß es fast das Herz. Sie trug den Kleinen ins Wohnzimmer, setzte sich mit ihm auf die Couch und wiegte ihn in ihren Armen. Leise sprach sie auf ihn ein.

Dominik hob sein tränenüberströmtes Gesichtchen. »Ist auch meine andere Mama dabei?« fragte er.

»Ja, deine andere Mama wird auch dabeisein«, versprach sie und nahm sich vor, nichts zu tun, um Helga daran zu hindern, Tag für Tag an seinem Bett zu sitzen.

*

»Franzl, komm!« rief Dr. Baumann, drehte sich um und kehrte mißmutig zu seinem Haus zurück. An diesem Morgen hatte er nicht die geringste Lust, in die Praxis zu gehen und mit Mara Bertram konfrontiert zu werden. Obwohl er ihr gegenüber zugegeben hatte, daß er sich vielleicht irrte, hatte sie ihr Schweigen nicht aufgegeben. Soweit es nur irgendwie möglich war, vermied sie es, mit ihm zusammenzukommen. Ihre gemeinsame Arbeit wurde von Tag zu Tag schwieriger.

Franzl jagte an ihm vorbei und erreichte als erster die Haustür. Vergnügt bellend forderte er ihn auf, noch ein bißchen mit ihm zu spielen. Gewöhnlich ging Eric darauf ein. An diesem Morgen strich er jedoch dem Hund nur flüchtig über den Kopf und betrat das Haus.

»Was ist denn mit dir, Franzl?« fragte Katharina Wittenberg, als sie sah, wie der Hund mit hängender Rute zur Küche schlich. »Hat er etwas ausgefressen, Eric? Hast du mit ihm geschimpft?«

»Nein.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Mir ist nur nicht danach, mit ihm herumzutoben. Anscheinend nimmt mir das der alte Schauspieler übel.«

»Weniger. Er sieht eher aus, als würde er denken, du hättest etwas gegen ihn.« Die Haushälterin zauberte einen Hundekuchen aus ihrer Schürzentasche und warf ihn Franzl zu. Der Hund beachtete ihn nicht, sondern legte sich unter den Küchentisch und seufzte demonstrativ auf.

Eric trat an den Spülstein, um sich die Hände zu waschen. »Hast du noch eine Tasse Kaffee für mich, bevor ich hinübergehe?« fragte er Katharina, dann beugte er sich zu Franzl hinunter und kraulte ihn hinter den Ohren. »Tut mir leid, alter Burscher. Ich meine es nicht so. Momentan habe ich nur ziemlich schlechte Laune.«

Franzl bewegte vorsichtig die Rute, so, als wollte er ihm sein Mitgefühl zeigen und ihn gleichzeitig daran erinnern, daß schlechte Laune noch lange kein Grund war, ihn zu mißachten.

»Meinst du nicht, daß du versuchen solltest, dich mit Frau Doktor Bertram auszusöhnen?« fragte Katharina. »So kann es jedenfalls nicht weitergehen. Ihr seid so gute Freunde gewesen. Ehrlich gesagt, ich kann schon verstehen, daß sie auf dich wütend ist. Immerhin liebt sie Doktor Hellwert. Und ich bin mir nach wie vor auch sicher, daß er nicht die Schwarze Witwe auf dem Grundstück der Seitters ausgesetzt hat.«

»Ich muß ständig darüber nachdenken«, gab Eric zu, »und je länger ich darüber nachdenke, um so öfter frage ich mich, ob ich Martin nicht unrecht getan habe.« Er holte tief Luft. »Nur sag mir, wer kommt sonst in Frage?«

»Herr Seitter hat sich im Laufe seiner Arbeit sehr viele Feinde gemacht. Doktor Hellwert dürfte nicht der einzige sein, der ihn haßt. Vergiß nicht, man hat ihn Heinz, den Gnadenlosen, genannt. So ein Ruf kommt nicht von ungefähr.«

»Ja, das ist wahr.« Dr. Baumann griff nach dem Kaffeebecher, den ihm seine Haushälterin reichte. »Zum Glück ist Herr Seitter inzwischen wenigstens außer Lebensgefahr. Ich habe vorhin mit seinem Arzt telefoniert. Wie es aussieht, kann er noch heute von der Intensivstation verlegt werden. Was jedoch nicht heißt, daß er innerhalb der nächsten Tage gesund wird, aber er hat es wenigstens geschafft.«

»Worüber ich sehr froh bin.« Katharina holte für Franzl einen Raskknochen aus der Speisekammer. »So, mein Kleiner.« Schwungvoll warf sie den Knochen Franzl zu, der ihn geschickt mit der Schnauze auffing.

Dr. Baumann ging in die Praxis hinüber. Kurz nach ihm traf Franziska Löbl ein. Er unterhielt sich noch mit ihr, als auch Frau Doktor Bertram kam. Sie wünschte ihnen kühl einen guten Morgen und wandte sich sofort ihrem Sprechzimmer zu.

»Nach wie vor keine Änderung«, bemerkte Eric zu Franziska. »Sieht nicht aus, als sei sie jemals bereit, mir zu verzeihen.«

»Guten Morgen.« Tina Martens schloß die Praxistür hinter sich. Sie warf einen raschen Blick zur Uhr, die an der Wand neben der Aufnahme hing. »Nur zwei Minuten Verspätung«, bemerkte sie mit einem schiefen Lächeln.

»Wie wäre es mit einem neuen Wecker?« fragte Dr. Baumann. Er war der jungen Frau nicht böse. Auch wenn sie sich hin und wieder verspätete, man konnte sich hundertprozentig auf sie verlassen. Und sie protestierte niemals, wenn er abends die Sprechstunde über Gebühr ausdehnen mußte.

Mara Bertram saß am Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände. Die Kälte, die sie Eric gegenüber ausstrahlte, belastete sie, aber sie konnte nicht über ihren Schatten springen. Ihr Kollege hatte sie zutiefst enttäuscht, indem er ihren Freund verdächtigte, die Schwarze Witwe auf dem Grundstück der Seitters ausgesetzt zu haben. Sie liebte Martin über alles und sie wußte, wie sehr er unter Erics Verdacht litt. Es tat ihr weh, den Schmerz in seinen Augen zu sehen, und sie wußte nicht, wie sie ihm helfen sollte.

An diesem Morgen gehörte Harry Schneck zu den ersten Patienten, die in die Praxis kamen. »Hat Sie etwa wieder ein Hund gebissen?« scherzte Tina Martens, als er an ihren Tresen trat. »Oder ist es diesmal ein Krokodil gewesen?«

Harry zuckte zusammen. »Ich muß dringend Doktor Baumann sprechen«, sagte er. »Es ist wirklich wichtig.«

Die Sprechstundenhilfe schaute in ihr Meldebuch. »Wenn es unbedingt heute vormittag sein muß, werden Sie ziemlich lange warten müssen«, meinte sie.

»Das geht nicht, ich habe mir nur eine Stunde freigenommen«, erklärte der Mann. »Bitte, glauben Sie mir, es ist sehr wichtig.« Sein Gesicht rötete sich vor Aufregung. »Für mich ist es eine Frage von Sein oder Nichtsein.«

Tina warf ihm einen zweifelnden Blick zu, dann stand sie auf, bat ihn, einen Moment zu warten, und wandte sich dem Sprechzimmer von Dr. Baumann zu. Sie hatte es noch nicht erreicht, als Eric mit einer jungen Frau nach draußen trat. »Herr Schneck ist hier«, raunte sie ihm zu. »Er möchte, daß Sie ihn sofort drannehmen.«

Eric verabschiedete sich von seiner Patientin und ging auf Harry Schneck zu. Auf den ersten Blick erkannte er, wie aufgeregt der Mann war.

»Ich muß Sie unbedingt sprechen«, sagte Harry, als ihm der Arzt die Hand reichte. »Es ist wichtig, sehr wichtig sogar.«

»Gut, kommen Sie«, forderte ihn Dr. Baumann auf. Er hatte eigentlich vorgehabt, jetzt erst einmal die Universitätsklinik anzurufen, um sich nach Dominik zu erkundigen, der vor zehn Tagen auf der Kinderstation aufgenommen worden war, doch das konnte noch ein paar Minuten warten. »Um was geht es?« fragte er, nachdem er die Tür seines Sprechzimmers geschlossen hatte. »Was macht Ihr Fuß?«

»Der ist okay.« Harry Schneck holte tief Luft. »Es handelt sich um Herrn Seitter«, sagte er.

Eric hob die Augenbauen. »Um Herrn Seitter? – Bitte, setzen Sie sich.« Er wies auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand.

Harry nahm auf der äußersten Kante Platz. »Ich habe Ihnen etwas vorgemacht«, gestand er. »Ich bin nicht von einem Hund gebissen worden, sondern von einem wenige Wochen alten Kaiman.« Er sah Erics erstaunten Blick. »Ich interessiere mich für exotische Tiere und besitze mehrere Terrarien. Mein Vermieter ahnt allerdings nichts davon. Den Kaiman habe ich inzwischen einem Zoo übergeben.«

Der Arzt sah ihn eindringlich an. »Sagen Sie mir auch die Wahrheit?« fragte er. »Es kommt leider häufig vor, daß gefährliche Tiere in Flüssen und Seen ausgesetzt werden.«

»Soviel Verantwortungsgefühl habe ich, um so etwas nicht zu tun. Ich würde niemals jemanden absichtlich gefährden.«

»Und unabsichtlich?« erkundigte sich Eric und dachte sofort an die Schwarze Witwe. »Soviel ich weiß, wohnen Sie neben den Seitters?«

Harry nickte. »Darum geht es ja. Mir ist im letzten Herbst eine Schwarze Witwe entwischt.« Er starrte zu Boden. »Ich nehme an, daß es dieselbe Schwarze Witwe ist, die Herrn Seitter gebissen hat. Vermutlich hat sie in seinem Keller überwintert.«

Im ersten Augenblick spürte Dr. Baumann eine grenzenlose Erleichterung, da nun endgültig feststand, daß er seinen Freund zu Unrecht verdächtigt hatte, dann empfand er ein ungeheures Schuldgefühl. Immer wieder hatte ihm Martin versichert, daß er mit dem Spinnenbiß nichts zu tun hatte. Er hatte ihm nicht geglaubt.

»Mein Gewissen hat mir keine Ruhe mehr gelassen«, gestand Harry. »Außerdem mache ich mir große Sorgen um Herrn Seitter. Ich weiß ja, wie gefährlich der Biß einer Schwarzen Witwe ist.«

»Herrn Seitter geht es inzwischen besser. Es besteht keine Lebensgefahr mehr.« Eric beugte sich ihm zu. »Allerdings sollten Sie selbst mit ihm reden, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen ist. Er muß die Wahrheit erfahren. Ich kann Ihnen jedoch nicht versprechen, daß er darauf verzichten wird, gerichtlich gegen Sie vorzugehen.«

»Darauf verzichtet er bestimmt nicht. Ich kenne Herrn Seitter.« Harry seufzte auf. »Ehrlich gesagt, das ist mir im Moment auch egal. Die Hauptsache, es geht Herrn Seitter besser. Wissen Sie schon, ob er bleibende Schäden davontragen wird?«

»Das müssen wir abwarten.«

Harry Schneck stand auf. »Sie ahnen nicht, um wieviel leichter ich mich jetzt fühle«, sagte er. »Mir ist eine große Last von der Seele genommen worden.«

Eric kam um den Schreibtisch herum und reichte ihm die Hand. »Ich bin froh, daß Sie mir die Wahrheit gestanden haben. Ich weiß, wieviel Mut es Sie gekostet hat.« Er brachte Harry nach draußen. »Wenn etwas sein sollte, Sie können sich an mich wenden. Eventuell kann ich Ihnen auf die eine oder andere Art helfen.«

»Danke, Doktor Baumann.« Harry Schneck drehte sich um und verließ mit raschen Schritten die Praxis.

»Ein seltsamer Mann«, bemerkte Tina.

»Ja, aber er kennt seine Pflicht«, erwiderte Dr. Baumann. Entschlossen wandte er sich Maras Sprechzimmer zu, um mit ihr zu reden.

*

Katja Faber blickte auf ihren schlafenden Sohn hinunter. Er wirkte nur noch wie ein Schatten jenes Buben, mit dem Helga Wihlborg vor ihrer Wohnungstür gestanden hatte. Die Chemotherapie und die Bestrahlungen setzten seinem ohnehin geschwächten Organismus schwer zu. Seine braunen Löckchen waren bereits ausgefallen. Es verging kein Tag, an dem Dominik sie nicht bat, ihn nach Hause zu bringen. Jedesmal, wenn er sich nach der Infusionen übergeben mußte, kamen ihr Zweifel, ob diese Quälerei überhaupt sinnvoll war. Meistens half ihr Horst, über ihre Zweifel hinwegzukommen. Dominiks einzige Chance, jemals erwachsen zu werden, bestand in einer Knochenmarktransplantation. Ohne sie würde er nicht einmal mehr den Sommer erleben.

Ich habe dich so lieb, dachte sie und strich zärtlich über sein kahles Köpfchen. Der Kleine regte sich nicht. Er schlief, und sie hoffte, daß er etwas Schönes träumte. Etwas, was ihn vergessen ließ, wie wund sein Körper an jeder Stelle war und daß er kaum noch schlucken konnte, weil die Medikamente seinen Mund entzündet hatten.

Die junge Frau hatte sich unbezahlten Urlaub genommen. Sie war froh, daß ihr Chef so verständnisvoll war, und vor allen Dingen, daß sie es sich leisten konnte, während der nächsten Zeit nichts zu verdienen. Ihre Eltern hatten eine hohe Lebensversicherung abgeschlossen gehabt. Sie hatte das Geld gut angelegt, so daß die Zinsen zusammen mit ihrem Ersparten vorläufig für den Lebensunterhalt ausreichen würden.

Katja fragte sich sowieso, ob sie sich nicht selbständig machen sollte. Sie brauchte eine Arbeit, bei der sie sich gleichzeitig um Dominik kümmern konnte. Obwohl sie nicht besonders gern bügelte, hatte sie an einen Bügeldienst gedacht, aber bestimmt gab es auch noch andere Möglichkeiten.

Leise stand sie auf und ging zu dem schmalen Bett, das man für sie in Dominiks Krankenzimmer aufgestellt hatte. Sie war froh, daß sie Tag und Nacht bei ihrem Sohn sein durfte. Wenn er nachts nicht schlafen konnte, las sie ihm Märchen vor oder erzählte ihm etwas.

Oft war auch Helga Wihlborg bei ihm. Am Anfang hatte es Katja gestört, wenn Helga mit dem Kleinen schwedisch sprach, aber sie fühlte, daß Nicki es brauchte. Es war wichtig, daß er sich an Vertrautes klammern konnte und in seinen Träumen durch die Felder und Wiesen des Gutes lief.

Mit jedem Tag, der verging, wurde ihr die junge Schwedin sympathischer. Längst waren sie dazu übergegangen, einander bei den Vornamen zu nennen. Katja konnte verstehen, daß sie den kleinen Jungen innerhalb kurzer Zeit so liebgewonnen hatte, daß es ihr unmöglich geworden war, ihn, nachdem Klaus sie verlassen hatte, nach Deutschland zurückzubringen. Sie fragte sich, wie sie sich in Helgas Lage verhalten hätte, und sie wußte keine Antwort darauf.

Horst kam fast täglich ins Krankenhaus. Dem jungen Mann gelang es, manchmal ein Lächeln auf Dominiks Gesicht zu zaubern. Der Bub fühlte sich in seiner Gesellschaft ausgesprochen wohl. Horst konnte so plastisch erzählen, daß Dominik die Abenteuer, von denen er ihm berichtete, mitzuerleben schien. Und immer wieder sprach er von dem Pony, das auf dem Gestüt der Kordes auf ihn wartete. Er hatte sich vorgenommen, es dem Kleinen zu schenken, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen wurde.

Die Tür des Krankenzimmers öffnete sich fast lautlos. Helga Wihlborg trat ein. Auf Zehenspitzen huschte sie zu Dominiks Bett, beugte sich über ihn und hauchte ihm einen Kuß auf die Stirn. »Ist alles in Ordnung?« fragte sie Katja.

»Ja«, erwiderte die junge Frau leise. »Er schläft schon seit zwei Stunden.« Sie griff nach ihrer Handtasche. Horst und sie hatten sich zum Essen verabredet. »Bis später.« Sie nickte Helga zu und ging zur Tür.

»Machen Sie sich keine Sorgen.« Helga setzte sich zu Dominik. Liebevoll strich sie über die Hand des Kleinen.

Keine Sorgen machen, das ist gut gesagt, dachte Katja auf dem Weg zum Aufzug. Es verging keine Minute, in der sie sich nicht um ihren Sohn sorgte, und sie wußte auch, daß sie allen Grund dazu hatte.

Sie fuhr ins Foyer hinunter. Horst Schmerer, der eben gekommen war, stand bei der Rezeption und las einen Anschlag. Als sie ihm winkte, ging er ihr eilig entgegen und zog sie in die Arme.

»Wie geht es ihm?« fragte er, nachdem er ihr einen Kuß auf die Wange gehaucht hatte.

»Unverändert«, antwortete die junge Frau. »Helga ist bei ihm. Nicki hat nichts von dem Essen, das er heute bekommen hat, bei sich behalten. Er hat sich fast drei Stunden ständig übergeben.« Sie schmiegte sich an ihn. »Ich habe solche Angst, Horst. Nicki wird jeden Tag schwächer. Wenn das so weitergeht, schafft er es nicht einmal bis zur Transplantation.«

»Und was meint sein Arzt?«

»Für ihn ist es normal, daß Nicki die Bestrahlungen und die Medikamente so schlecht verträgt. Natürlich dürfen wir nicht vergessen, daß es sich um Zellgifte handelt, die er bekommt. Sie werden ja eingesetzt, um zu zerstören, es ist schwer, es mit ansehen zu müssen. Und doch bin ich froh, daß ich bei ihm sein darf.«

»Dein Sohn ist ein zäher kleiner Bursche. Er wird es schaffen, bitte, glaub mir«, sagte Horst, während sie das Krankenhaus verließen.

»Helga versucht mich auch zu beruhigen. Dabei bin ich mir sicher, daß sie genauso Angst hat wie ich.« Katja blieb vor dem Wagen ihres Freundes stehen. »Für sie muß alles noch schwerer sein. Ich kann wenigstens bei Nicki schlafen. Sie muß abends zu ihrem Hotel zurückkehren und ist dort völlig allein.«

»Ich halte Frau Wihlborg für eine wirklich patente Frau«, erwiderte Horst und schloß seinen Wagen auf, dann beugte er sich vor und öffnete die Beifahrertür. »Bitte, Katja.«

»Ich auch«, gab sie zu. »Ich mag sie inzwischen sogar. Wahrscheinlich wäre es gut für Nicki, wenn die Verbindung zwischen ihnen nicht abreißen würde. Sie könnte ihn besuchen, oder…«

»Nein, ich glaube nicht, daß das eine Lösung wäre«, fiel ihr Horst ins Wort. »Im Moment mag das verlockend klingen, auf die Dauer gesehen, wäre es für Nicki allerdings besser, wenn Frau Wihlborg, sobald er gesund ist, endgültig aus seinem Leben verschwinden würde.«

Katja nickte. »Da magst du recht haben. Vermutlich wird es auch für sie besser sein, sich nicht ständig an ihn erinnern zu müssen. Sie sollte heiraten und eigene Kinder haben.«

»So wie sie aussieht, dürfte es ihr nicht schwerfallen, einen Mann zu finden.« Horst fuhr seinen Wagen vom Parkplatz. »Ich würde vorschlagen, daß wir erst essen und danach ins Kino gehen. Dir tut Ablenkung not. Ich kenne ein kleines Kino, in dem heute ein alter Doris Day-Film gezeigt wird.«

»Ich weiß nicht.« Katja schloß müde die Augen. Sie konnte sich nicht vorstellen, im Kino zu sitzen, während Dominik in seinem Bett lag und sich quälte.

Während der nächsten Stunden tat Horst alles, um seine Freundin von ihren Sorgen abzulenken, aber er schaffte es nicht, sie auch nur etwas aufzuheitern. Lustlos stocherte Katja mit der Gabel in ihrem Essen herum und versuchte vergeblich, ein paar Brocken hinunterzubekommen. Mit den Gedanken weilte sie

im Krankenhaus. Vielleicht war Nicki inzwischen aufgewacht und fragte nach ihr.

»Ich bin zur Zeit keine sehr gute Gesellschafterin«, meinte sie bedrückt zu Horst, als sie das Restaurant verließen und langsam an einigen Schaufenstern vorübergingen. »Es tut mir

leid.«

»Da gibt es nichts, was dir leid tun müßte, Liebling.« Der junge Mann zog sie an sich. Es war das erste Mal, daß er sie Liebling genannt hatte. Er schaute ihr in die Augen. »Ich muß auch immer an Nicki denken. Der Kleine ist mir innerhalb der kurzen Zeit ans Herz gewachsen und ich kann sehr gut verstehen, daß sich deine Gedanken unablässig um ihn drehen.« Zärtlich strich er ihr die Haare zurück. »Es wäre schlimm, wenn es nicht so wäre.«

»Ich bin so froh, daß du dafür Verständnis hast«, sagte Katja. »Als wir uns kennenlernten, konnten wir beide nicht ahnen, was auf uns zukommt. So glücklich ich auch bin, daß Nicki wieder bei mir ist, die Angst um ihn macht mich fertig. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Ich könnte unaufhörlich weinen.

»Warum läßt du dir nichts geben?« fragte Horst. »In so einem Fall Beruhigungstabletten zu nehmen, ist bestimmt in Ordnung. Und es ist auch besser für Nicki, wenn er nichts von deiner Nervosität merkt.«

»Ich habe ein paar Tabletten bekommen«, antwortete Katja. »Sie scheinen nicht viel zu bringen.«

Arm in Arm gingen sie weiter, bis sie das Ende der Straße erreichten. Eine schmale Treppe führte in einen Park hinunter. Da sie noch Zeit hatten, beschlossen sie, ein Stück durch den Park zu gehen und dann in einem Bogen zum Wagen zurückzukehren.

Der leichte Wind, der durch die Bäume strich, berührte ihre Gesichter. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Und selbst der Verkehr auf den Straßen, die den kleinen Park umgaben, drang nur wie durch ein Filter zu ihnen.

»Wie wunderschön es hier ist«, meinte Katja und blieb bei einem Brunnen stehen, dessen leises Plätschern wie eine geheimnisvolle Melodie klang. Sie ließ die Fingerspitzen ins Wasser gleiten. Es war eiskalt. Rasch zog sie die Hand zurück.

»Habe ich dir schon gesagt, daß ich dich liebe?« fragte Horst und wirkte dabei so verlegen wie ein Schulbub, der beim Abschreiben erwischt worden war.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das hast du mir noch nicht gesagt.«

»Dann wird es allerhöchste Zeit«, meinte er.

»Bist du dir denn sicher? Bis jetzt haben wir noch nicht viel Zeit miteinander verbringen können.«

»Ja, ich bin mir ganz sicher«, antwortete er. »Und du? Was bedeute ich dir?«

»Mehr, als ich in Worte fassen kann.« Katja schaute ihm in die Augen. »Du…« Sie kam nicht dazu, noch etwas zu sagen, weil Horst sie in die Arme nahm und leidenschaftlich küßte.

*

Dr. Baumann hatte Mara und Martin Hellwert zum Essen ins »Benji« eingeladen, um sich mit ihnen auszusprechen. Sie hatten ausgemacht, sich in dem kleinen Restaurant zu treffen. Eric war pünktlich gewesen. Aber nach einer Viertelstunde saß er noch immer allein am Tisch. Er befürchtete, daß es sich seine Freunde anders überlegt hatten und keinen Wert darauf legten, sich mit ihm auszusöhnen.

Benjamin Ahlert, der Besitzer des »Benji«, kam an Erics Tisch, um sich ein wenig mit ihm zu unterhalten. Er wußte, daß der Arzt noch auf Freunde wartete. Allerdings ahnte er nichts von dem Grund ihres Zusammentreffens.

»Michaela und ich werden im April heiraten«, sagte er. »Es wäre schön, wenn Sie und Frau Wittenberg zu unserer Hochzeit kommen würden. Meine Verlobte ist dabei, die Einladungen zu schreiben.«

»Wir werden uns Ihre Hochzeit nicht entgehen lassen«, versprach Dr. Baumann. »Bestimmt werden Sie auch die Mergenthalers einladen.«

»Auf jeden Fall. Ohne die Hilfe von Herrn Mergenthaler hätte Michaela vermutlich den Überfall der beiden Jugendlichen nicht überlebt.« Benjamin Ahlert schmunzelte. »Ich vermute, daß uns Herr Mergenthaler zur Hochzeit ein Gedicht widmen und es auch vortragen wird.«

»Ich denke, wir werden es überstehen«, meinte Eric. »Neulich stand eines seiner Gedichte in der Tageszeitung.«

»Ich habe es gelesen. Wie ich Jens kenne, wird er an diesem Tag nicht sehr gern zur Schule gegangen sein. Seine Klassenkameraden haben ihn bestimmt mit dem Gedicht seines Vaters aufgezogen.«

»Das ist anzunehmen.« Eric schaute zur Tür. Erleichtert atmete er auf, als er Dr. Hellwert und Mara eintreten sah. »Meine Freunde kommen«, bemerkte er zu Benjamin Ahlert. »Bitte, entschuldigen Sie mich.« Er stand auf und ging den beiden entgegen. »Schön, daß ihr hier seid.«

»Wir haben uns leider etwas verspätet.« Martin Hellwert schlug seinem Freund leicht auf die Schulter. »Ich wette, du hast angenommen, daß wir nicht kommen würden.« Er sah ihn lange an. »Wie konntest du mir nur so eine fürchterliche Sache zutrauen, Eric?« fragte er. »Davon abgesehen, daß ich unter meiner Vergangenheit einen Schlußstrich gezogen habe, würde ich niemals Kinder gefährden.«

»Es tut mir leid, Martin«, sagte Eric. »Ich wünschte, ich könnte es irgendwie wieder gutmachen.«

»Nicht nötig«, erklärte Martin großzügig. »Jeder kann mal irren.«

»Dieser Meinung bin ich auch.« Mara reichte Dr. Baumann die Hand. »Vergessen wir einfach das Ganze.«

Sie setzten sich an den Tisch und gaben ihre Bestellung auf. Während sie auf das Essen warteten, erzählte ihnen Erich, daß Herr Seitter seinen Nachbarn bereits angezeigt hatte. »An und für sich hatte ich angenommen, daß er damit warten würde, bis er aus dem Krankenhaus entlassen worden ist, doch er hat keine Zeit verloren.«

»Hätte ich diesem Menschen auch nicht zugetraut«, erklärte Martin.

»Ich kann ihn sogar verstehen«, meinte Eric. »Immerhin hätte ihn der Leichtsinn von Herrn Schneck fast das Leben gekostet. Heinz Seitter wird noch lange Zeit an den Folgen seiner Vergiftung zu tragen haben.«

»Sein Tod wäre ein schrecklicher Verlust für die Menschheit gewesen«, bemerkte sein früherer Studienkollege ironisch, grinste jedoch dabei.

»Ich bin froh, daß es Herrn Seitter besser geht«, sagte Mara. »Es müßte verboten sein, derart gefährliche Tiere oder Insekten zu halten. Also, ich möchte nicht in der Nähe eines Menschen leben, der sich mit Schwarzen Witwen, Kaimanen, Skorpionen und dergleichen umgibt.« Die junge Ärztin schüttelte sich. »Wie kann man nur auf die Idee kommen, derartige Tiere zu halten? Zudem ist es Tierquälerei. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich eine Schwarze Witwe in einem kleinen Terrarium wohlfühlt.«

»Deshalb hat sie wohl auch das Weite gesucht«, warf ihr Freund ein.

»Auf jeden Fall hätte Herr Schneck sofort seine Nachbarn warnen müssen, anstatt darauf zu hoffen, daß die Schwarze Witwe außerhalb ihres Terrariums durch unser Klima umkommt«, meinte Eric.

Die Kellnerin brachte das Essen. Mara hatte sich einen vegetarischen Teller bestellt, die beiden Männer Rostbraten.

»Es könnten Minderwertigkeitskomplexe sein, die manche Menschen veranlassen, sich mit gefährlichen Tieren zu umgeben. Vermutlich verleiht es ihnen ein gewisses Machtgefühl.« Martin schnitt ein Stückchen von seinem Rostbraten ab. »Ich sollte einmal mit Frau Doktor Kern darüber sprechen«, überlegte er laut. »Die Psychologin…«

»Du scheinst dich ausgesprochen gut mit dieser Frau zu vertragen.« Mara warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

»Klingt, als sei unsere gute Mara eifersüchtig, Eric«, scherzte ihr Freund. Er legte die Hand auf ihren Arm. »Dazu besteht nicht der geringste Grund, Liebling. Ich schätze Frau Doktor Kern als Kollegin, aber ich könnte mich nie in sie verlieben.«

»Dann will ich dir mal glauben.« Mara beugte sich ihm zu und küßte ihn auf die Wange.

»Ich habe gestern noch mal mit Herrn Schneck gesprochen«, erzählte Dr. Baumann. »Er hat mich angerufen und versichert, daß er in Zukunft nur noch Leguane halten würde. Seine anderen Tiere hätte er an einen Liebhaber in München verkauft.«

»Die armen Nachbarn des neuen Besitzers. Nein, es gehörte ganz einfach verboten, in einer Wohngegend derartige Tiere zu halten. Und was die Leguane betrifft, so dürften sie auch nicht dazu geboren worden sein, in einem Terrarium ihr Leben zu fristen.« Mara schüttelte den Kopf. »Warum können sich die Leute nicht mit Hunden und Katzen begnügen?« Sie probierte von ihrem Grünkernbratling. »Im Benji ißt man ausgezeichnet. Ich bin hier noch nie enttäuscht worden.«

»Ja, Herr Ahlert ist ein wirklich guter Koch«, bestätigte Martin. »Ich nehme an, daß die Nachbarschaft Herrn Schneck nicht so leicht verzeihen wird.«

»Er hat mir gestanden, daß er am liebsten nur noch bei Dunkelheit seine Wohnung verlassen würde«, antwortete Eric. »Durch Frau Becker weiß halb Tegernsee, wem die Schwarze Witwe ausgerissen ist. Wir kennen ja alle die gute Lina Becker. Selbst eine Radiostation könnte ihr nicht Konkurrenz machen.«

»Diesmal ist sie jedoch im Recht«, nahm Martin Frau Becker in Schutz. Er hob sein Glas. »Auf unsere Freundschaft, Eric, und darauf, daß sie jeden Sturm übersteht.«

»Nun, diesmal ist es schon fast ein Orkan gewesen«, meinte der Arzt und stieß mit seinen Freunden an.

*

Katja betrachtete die Teddybären, die in einem Regal vor ihr aufgereiht saßen. Dominik stand kurz vor dem Tag Null, an dem die Knochenmarktransplantation stattfinden sollte. Sie war in die Stadt gefahren, um noch einiges für ihren Sohn zu besorgen. Es ging ihm nach wie vor nicht besonders gut. Aber bis jetzt hatte er durchgehalten, und sie hoffte, daß er es auch noch weiter tun würde.

Die junge Frau überlegte, welchen Bären sie für ihn kaufen sollte, und entschied sich schließlich für einen, der auf seinem Rücken einen Schulranzen trug. Dominik freute sich auf die Schule. Er konnte es kaum noch erwarten, schreiben und lesen zu lernen. Sie hoffte, daß ihm der Bär ein Ansporn sein würde, bald gesund zu werden.

In einem Taxi kehrte die junge Frau zum Krankenhaus zurück. Sie fühlte sich wie zerschlagen. Die letzten Wochen waren einfach zuviel gewesen, und sie spürte, daß sie auf einen Zusammenbruch zusteuerte. Doch das konnte sie sich im Moment noch nicht erlauben. Katja war froh, daß Horst ihr half, nicht die Nerven zu verlieren. Er erschien ihr wie ein Fels in der Brandung, dem selbst der größte Sturm nichts anhaben konnte. Anscheinend wurde es ihm nie zuviel, sich ihre Ängste und Sorgen anzuhören.

Die junge Frau gab die Sachen, die sie für Dominik gekauft hatte, bei der Stationsschwester ab, weil alles, mit dem er nach der Knochenmarktransplantation in Berührung kam, desinfiziert werden mußte. Einige Wochen lang würde Dominik in einer völlig keimfreien Umgebung leben müssen.

Katja suchte noch rasch den Waschraum auf, um sich etwas frisch zu machen, dann ging sie zum Krankenzimmer ihres Sohnes. Kaum hatte sie die Tür geöffnet, blieb sie wie erstarrt stehen. Fassungslos nahm sie das Bild in sich auf, das sich ihr bot.

Helga Wihlborg saß an Dominiks Bett. Horst hatte den Arm um die Schultern der jungen Frau gelegt. »Störe ich?« fragte sie eisig.

Die beiden zuckten zusammen. Ihr Freund ließ den Arm sinken. »Nein«, erwiderte er und stand auf. »Schön, daß du schon da bist, Liebes. Ich habe mir etwas früher freigenommen. Helga sagte mir, daß du Einkäufe machen würdest.«

»Ja, das habe ich«, erwiderte sie und trat an Dominiks Bett. »Da bin ich wieder, Nicki.«

»Hallo«, antwortete er matt. »Hallo, Mama.«

»Dann werde ich jetzt gehen.« Helga beugte sich über den Kleinen. »Mach es gut, mein Schatz. Ich komme morgen wieder.« Sie berührte sein Gesicht.

»Wiedersehen.« Er wollte die Hand heben, brachte die Kraft dazu jedoch nicht auf. Müde schloß er die Augen.

»Bis morgen«, wünschte Helga, griff nach ihrer Tasche und verließ mit eiligen Schritten das Zimmer.

Horst räusperte sich. »Was hast du für Nicki gekauft?« erkundigte er sich, um etwas zu sagen. Es war ihm peinlich, daß Katja ihn und Helga Wihlborg so vertraut miteinander gesehen hatte. Er hatte sich nichts weiter dabei gedacht, als er der jungen Frau den Arm um die Schultern gelegt hatte. Sie tat ihm leid. Es konnte nicht einfach für sie sein, an Dominiks Bett zu sitzen und zu wissen, daß sie auf jeden Fall auf der Seite der Verlierer stand.

»Ihr scheint euch ja in letzter Zeit wirklich gut zu verstehen«, bemerkte Katja sarkastisch, während sie ihren Mantel in den Schrank hing.

Horst zog sie an sich. »Du wirst doch nicht etwa eifersüchtig sein?« fragte er. »Hoffentlich glaubst du nicht, ich hätte mich in sie verliebt«, fügte er leise hinzu. »Frau Wihlborg ist einsam und allein. Sie hat hier keinen Menschen. Sie…«

Katja wandte sich ihm zu. »Bitte, verzeih mir«, bat sie. »Ich habe es nicht so gemeint. Das müssen die Nerven sein.« Sie legte die Arme um seinen Nacken. »Du hast ja recht. Helgas Situation ist alles andere als beneidenswert. Dazu kommt noch die Angst um Nicki. Ich weiß wenigstens, daß ich ihn nicht verlieren werde, wenn alles gutgeht.« Sie schaute über die Schulter des jungen Mannes zu ihrem Sohn hinüber. Er wirkte wie eine leblose Puppe, die jemand in ein viel zu großes Bett gesteckt hatte. Nicki darf nicht sterben, dachte sie. Er hat doch sein ganzes Leben noch vor sich. Sie wollte ihn lachen hören, mit anderen Kindern spielen sehen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Es wird alles gut werden«, versprach Horst und tupfte ihr sanft die Tränen fort. »Verlaß dich darauf, Katja, es wird alles gut.«

»Ich wünschte, ich könnte daran glauben«, meinte sie und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter.

*

Zwei Tage vor der Knochenmarktransplantation fuhr Katja nach Gmund, um noch einige Sachen aus ihrer Wohnung zu holen. Am nächsten Tag sollte sie stationär in der Universitätsklinik aufgenommen werden. Die junge Frau machte sich große Sorgen und war gleichzeitig voller Hoffnung. Verzweifelt wünschte sie sich, bereits einen Monat älter zu sein und zu wissen, ob Dominiks Organismus ihr Knochenmark akzeptierte.

Mit dem Bus kehrte sie nach München zurück und nahm ein Taxi zum Krankenhaus. Sie kamen durch eine ziemlich belebte Straße und hielten vor einer Ampel. Plötzlich sah sie Helga Wihlborg. Die Schwedin stand vor dem Schaufenster eines Spielwarengeschäftes. Horst kam aus dem Laden und nahm sie in den Arm.

Katja konnte es nicht fassen. Es war erst wenige Tage her, da hatte Horst ihr versichert, nur sie zu lieben, und nun war es schon das zweite Mal, daß sie ihn so vertraut mit Helga sah. Sie hatte ohnehin angenommen, daß die junge Frau bei Dominik bleiben würde.

Das Taxi fuhr an. Blind vor Tränen, preßte sie ihr Gesicht an die Scheibe. Ihre Gedanken bewegten sich im Kreis. Sie fragte sich, ob ihr Freund ein Verhältnis mit Helga Wihlborg hatte. Zuerst hatte er sie nicht gemocht, aber während der vergangenen Wochen waren sie immer vertrauter miteinander geworden und nannten sogar einander bei den Vornamen.

Anscheinend verliebe ich mich stets in den falschen Mann, dachte Katja bitter. Erst war sie auf Klaus Geiger hereingefallen und nun auf Horst. Und sie war sich so sicher gewesen, nicht erneut eine Enttäuschung zu erleben.

Wie kann er mir das antun, überlegte sie. Ausgerechnet jetzt! Sie hatte so auf ihn gebaut. Was sollte sie nun tun? Wie sollte sie es schaffen, die nächsten Tage zu überstehen und zu wissen, daß er nicht dasein würde, obwohl sie ihn brauchte?

Das Taxi hielt vor dem Krankenhaus. Katja riß sich zusammen, beglich die Rechnung und eilte zum Zimmer ihres Sohnes hinauf.

»Ist etwas passiert, Frau Faber?« erkundigte sich die Stationsschwester, als sie sich im Gang begegneten.

Katja strich sich über die Augen. »Nein, es ist alles in Ordnung«, behauptete sie. »Schläft Nicki?«

»Ich bin vor einigen Minuten bei ihm gewesen«, erwiderte Schwester Monika. »Er schaut sich ein Bilderbuch an.«

»Danke.« Katja nickte ihr zu und betrat das Zimmer ihres Sohnes. Dominik lag mit offenen Augen im Bett und starrte zu dem Mobile hinauf, das von der Decke hinunterhing. Das Bilderbuch lag offen neben ihm.

»So, da bin ich wieder«, sagte sie und setzte sich zu ihm. »Soll ich dir etwas vorlesen?«

»Nein.« Er griff nach ihrer Hand. »Ich habe Angst, Mama.«

Katja zuckte zusammen. »Du mußt keine Angst haben, Liebling«, sagte sie bestimmt. »Du hast noch ein paar schlimme Tage vor dir, aber dann wird es dir wieder gutgehen. Ich werde, so oft es geht, bei dir sein.« Sie hatte ihm erklärt, daß er ab dem Tag der Transplantation für einige Zeit in einem völlig keimfreien Raum leben mußte und sein Bett in einem durchsichtigen Zelt stehen würde, das sie nicht betreten durfte. »Du wirst in diesem Zelt alles haben, was dir lieb ist. Man wird sich ununterbrochen um dich kümmern.«

»Auch wenn es dunkel ist?«

»Auch wenn es dunkel ist«, versprach sie.

Helga kam eine Stunde später. Katja fiel es sehr schwer, sie nicht auf die Szene anzusprechen, die sie vom Taxi aus beobachtet hatte. Den Gruß der Schwedin erwiderte sie nur mit einem kühlen Nicken.

»Ich habe einiges für Nicki gekauft«, erzählte Helga, erwähnte jedoch nichts von ihrem Zusammentreffen mit Horst Schmerer, weil sie ahnte, daß es Katja nicht gefallen würde.

»Sieht aus, als würdest du eine Menge Geschenke bekommen, Nicki«, sagte Katja zu ihrem Sohn.

»Fein.« Er schloß müde die Augen.

Katja hatte sich um halb sechs mit Horst in der Cafeteria verabredet. Sie wollten etwas essen, bevor er zu Nicki hinaufging. Verstohlen schaute sie zur Uhr. Die Minuten dehnten sich zu Stunden. Lustlos blätterte sie in einer Zeitschrift, während Helga strickte. Die junge Schwedin hatte mehrmals versucht, mit ihr zu reden, es dann jedoch aufgegeben, weil sie jedes Gespräch im Keim erstickte.

Endlich wurde es Zeit, zur Cafeteria hinunterzugehen. Katja beugte sich über Dominik. »Ich bin bald zurück, Liebling«, versprach sie und verließ das Zimmer.

»Habt ihr euch gestritten, Mama?« erkundigte sich der Kleine bei Helga, als die Tür hinter seiner Mutter zugefallen war. Er spürte, daß etwas nicht stimmte.

»Nein, ich habe mich nicht mit deiner Mama gestritten«, erwiderte Helga und lächelte ihm zu. »Deine Mama ist sehr müde.«

»So wie ich.« Er schloß erneut die Augen.

Horst Schmerer saß bereits seit einer Viertelstunde in der Cafeteria. »Da bist du ja, Liebes«, meinte er und wollte sie in den Arm nehmen, aber Katja wich ihm aus. »Was hast du denn?« Irritiert sah er sie an.

»Das fragst du noch?« Sie trat einen Schritt zurück.

»Ja, das frage ich«, sagte er bestürzt. »Ist in Gmund etwas vorgefallen?«

»Nein, nicht in Gmund«, erwiderte Katja. »Als ich im Taxi durch München gefahren bin, habe ich dich mit Frau Wihlborg gesehen. Behaupte nur nicht wieder, du hättest ihr aus Mitleid den Arm um die Schultern gelegt. Ihr seid so vertraut miteinander gewesen. Man müßte schon blind sein, um nicht zu bemerken, daß du dich in sie verliebt hast.«

Horst konnte es nicht fassen. »Frau Wihlborg und ich sind uns zufällig in der Stadt begegnet«, sagte er. »Während ich etwas für Nicki gekauft habe, hat sie vor dem Geschäft auf mich gewartet.«

»Zufällig?« Unwillkürlich hob sich ihre Stimme.

Der junge Mann bemerkte, daß einige der Leute, die in der Cafeteria saßen, zu ihnen hinüberschauten. »Komm, setzen wir uns«, bat er, »und reden wir in Ruhe über alles.«

»Ich wüßte nicht, was es da noch zu reden gibt«, meinte sie leise. »Ich habe dir vertraut. Ich dachte, du seist anders als Klaus.«

Horst griff nach ihrem Arm. »Gehen wir ein Stück in den Park«, schlug er vor und war froh, daß sie sich nicht wehrte, als er sie aus der Cafeteria auf die Terrasse hinausführte. »Was soll das, Katja?« fragte er. »Ich verstehe ja, daß du nervös bist und kurz vor einem Zusammenbruch stehst, trotzdem…«

»Ach, soll ich die Augen vor der Wahrheit verschließen?« Katja entzog ihm heftig ihren Arm. »Soll ich mir einbilden, was ich gesehen habe, hätte mir meine Phantasie vorgegaukelt?« Sie merkte nicht, wie ungerecht es von ihr war, Horst so anzufahren. Nach wie vor war sie felsenfest davon überzeugt, daß er sie mit Helga Wihlborg betrog, deshalb wurde ihr nicht einmal bewußt, daß mehr dazugehörte, als nur den Arm um die junge Schwedin zu legen.

»Katja, bitte, komm zur Vernunft«, bat er. »Zugegeben, ich mag Frau Wihlborg. Sie tut mir leid, nur das bedeutet noch lange nicht, daß ich mich in sie verliebt habe. Die einzige Frau, die ich liebe, bist du.«

»Und das soll ich dir glauben?« Sie schüttelte den Kopf. »Einmal bin ich auf deine Beteuerungen hereingefallen. Ein zweites Mal passiert mir das nicht. Was hast du überhaupt um diese Zeit in der Stadt getan? Hast du mir nicht gestern gesagt, daß du bis um fünf arbeiten mußt?«

»Ich mußte etwas für meinen Vorgesetzten erledigen«, antwortete er. »Und wie gesagt, da habe ich Helga getroffen. Ich habe sie zu einer Tasse Kaffee eingeladen, wir sind ein Stückchen spazierengegangen, das ist alles gewesen.«

»Ich glaube dir nicht«, sagte sie deprimiert. »Nein, Horst, ich glaube dir nicht.«

»Meinst du wirklich, ich hätte es verdient, so behandelt zu werden?« fragte er enttäuscht. Er hatte sich vorgenommen, nicht wütend zu werden, nun spürte er, daß er auch nur Nerven hatte. »Habe ich dir nicht beigestanden und versucht, alles etwas leichter für dich zu machen? Ich bin immer für dich dagewesen, Katja. Darf ich da nicht etwas Vertrauen erwarten?«

Die junge Frau lachte verbittert auf. »Mit anderen Worten, ich soll mich noch bei dir bedanken, daß du mich hintergehst«, meinte sie. »Nein, Horst, nein, das werde ich nicht.«

Horst streckte die Hand nach ihr aus, ließ sie jedoch wieder sinken. »Wenn du mir nicht glauben willst, tut es mir leid, Katja«, sagte er und spürte einen so tiefen Schmerz in sich, daß er fast laut aufgeschrien hätte. Abrupt drehte er sich um und ging zum Parkplatz.

Katja starrte ihm nach. Mit einem Mal erkannte sie, was sie getan hatte. Sie wollte ihm nachlaufen, wollte ihn bitten, sie nicht allein zu lassen, aber sie tat es nicht, weil sie noch immer glaubte, daß er sie betrog. Natürlich konnte es durchaus sein, daß er sie trotzdem liebte. Vielleicht gehörte er zu den Männern, die zur selben Zeit zwei Frauen lieben konnten. Doch da wollte sie nicht mitmachen. Aufschluchzend flüchtete sie zu einer kleinen Laube, um sich in ihr zu verbergen.

*

Sabine Seitter hatte ihren Mann aus dem Krankenhaus abgeholt. Sie war so glücklich, daß sie am liebsten die ganze Welt umarmt hätte. Endlich waren die Wochen des Bangens vorbei, durfte Heinz nach Hause zurückkehren. Gut, es würde noch lange dauern, bis er die Folgen des Spinnengiftes völlig überwunden hatte, aber nun konnte es nur noch aufwärts gehen.

Sie hielt in der Auffahrt des Hauses, löste ihren Gurt und stieg aus. Ihr Mann war noch etwas wacklig auf den Beinen, deshalb half sie ihm aus dem Wagen. »Gleich kannst du dich hinsetzen«, meinte sie fürsorglich zu ihm.

Melissa und Sabrina waren mit Ida bei den Beckers gewesen. Sie hatten vom Küchenfenster aus den Wagen ihrer Großeltern gesehen und rannten jetzt auf ihren Opa zu. »Fein, daß du wieder da bist!« riefen sie. »Wir haben dich so vermißt.«

»Ich habe euch auch vermißt«, sagte Heinz Seitter gerührt. Er ließ den Arm seiner Frau los und umarmte die Mädchen.

Ida dachte nicht daran, länger im Hintergrund zu bleiben. Sie drängte sich zwischen den Zwillingen hindurch und versuchte, an ihrem Herrchen hochzuspringen. Der Steuerinspektor a.D. strauchelte und wäre fast hingestürzt, wenn ihn seine Frau nicht noch im letzten Augenblick gehalten hätte.

»Was soll das, Ida?« fragte er unwillig. »Nimm ein bißchen Rücksicht.« Vorsichtig beugte er sich zu der Hündin hinunter und strich ihr über das Fell, während sie außer sich vor Freude leise winselte. »Ich weiß, wir haben uns lange nicht gesehen. Schau, ich habe dir etwas mitgebracht.« Er zog einen Hundekuchen aus der Hosentasche.

Ida schnappte danach und zog zufrieden mit ihrer Beute ab. Sie konnte ja nicht ahnen, und selbst wenn sie es gewußt hätte, wäre es ihr völlig egal gewesen, daß Sabine ihrem Mann zuvor den Hundekuchen zugesteckt hatte.

Sie gingen ins Haus. Heinz Seitter ließ sich von seiner Frau die Treppe zum Schlafzimmer hinaufhelfen. Er wollte sich erst umziehen, bevor er sich ins Wohnzimmer setzte. Man hatte ihm zwar geraten, sehr viel zu liegen, doch im Moment dachte er nicht daran, den Rat der Ärzte zu folgen. Er war der Meinung, daß er lange genug auf die Stimmen anderer hatte hören müssen. Es wurde an der Zeit, daß er wieder Herr seiner selbst wurde.

Sabine hatte zur Feier des Tages Erdbeerkuchen gebacken. Den Tisch hatte sie schon vor der Fahrt ins Krankenhaus gedeckt. Jetzt stand sie in der Küche, brühte Kaffee auf und schlug Sahne.

»Können wir helfen, Oma?« fragte Sabrina.

»Ja.« Sabine reichte den Mädchen die Sahneschläger. »Schleckt sie ab.«

»Danke.« Melissa griff so eifrig nach einem der Schläger, das die Sahne, die noch an ihm hing, fast auf den Boden gefallen wäre. Rasch hielt sie die Hand darunter.

Plötzlich klingelte es. Sabrina öffnete die Haustür. »Frau Becker ist es«, verkündete sie laut. »Harvard hat sie auch mitgebracht.«

Ida, die es sich bereits unter dem Wohnzimmertisch gemütlich gemacht hatte, rannte in den Korridor und stürzte sich so impulsiv auf Harvard, daß Heinz Seitter, der die Treppe hinunterkam, fast über sie gestolpert wäre. Einen Fluch unterdrückend, hielt er sich am Geländer fest.

»Wie schön, Sie zu sehen, Herr Seitter«, sagte Lina Becker herzlich. »Bitte, entschuldigen Sie die Störung. Ich mußte mich einfach persönlich davon überzeugen, daß es Ihnen gut geht. Jeden Abend habe ich vor dem Einschlafen darum gebetet, daß unser lieber Herrgott Sie am Leben läßt.«

»Ich weiß, daß Sie meiner Frau, während ich im Krankenhaus lag, sehr geholfen haben, Frau Becker.« Heinz Seitter reichte ihr die Hand. »Es ist wirklich sehr liebenswürdig von Ihnen gewesen.« Er fühlte sich gezwungen, seine Nachbarin zum Kaffee einzuladen. Zu seinem Leidwesen nahm sie an.

»Es geht nichts über einen schönen Erdbeerkuchen«, meinte Lina, als sie mit ihnen am Tisch saß und ihr Sabine ein Stück auf den Teller legte. »Wie glücklich müssen Sie sein, Ihren lieben Mann wieder bei sich zu haben, Frau Seitter. Für mich ist es schon schrecklich, wenn mein Fred mal ein paar Tage nicht zu Hause ist. Und dann immer diese Angst, die Sie haben mußten. Es hätte ja wirklich nicht viel gefehlt und unser Herrgott hätte Ihren Mann zu sich genommen.«

»Der liebe Gott hätte den Opa bestimmt zurückgeschickt«, sagte Sabrina mit vollem Mund.

»Warum hätte er mich zurückschicken sollen?« fragte ihr Großvater und sah seine Enkelin argwöhnisch an.

»Weil es im Himmel kein Finanzamt gibt«, warf Melissa rasch ein, da sie ahnte, daß ihre Zwillingsschwester etwas antworten wollte, was ihrem Großvater ganz sicher nicht gefallen würde.

Der Steuerinspektor a.D. runzelte mißbilligend die Stirn. »Über das Finanzamt macht man sich nicht lustig, Kinder. Das Finanzamt ist sehr wichtig, und die Leute müßten sich auch nicht vor ihm fürchten, wenn sie ihre Steuererklärungen wahrheitsgemäß ausfüllen und ihre Steuern pünktlich zahlen würden.«

»Einmal Finanzbeamter, immer Finanzbeamter«, bemerkte Lina Becker mit einem süffisanten Lächeln. Verstohlen steckte sie Harvard ein Stückchen Kuchen zu.

Sabine fragte Lina, ob sie die Zeichnungen sehen wollte, die die Kinder ihrem Großvater ins Krankenhaus geschickt hatten.

»Sehr gern«, erwiderte ihre Nachbarin. »Haben Sie schon Herrn Schneck gesehen, Herr Seitter?« erkundigte sie sich. »An seiner Stelle würde ich fortziehen. Er wird von allen Leuten in unserer Stadt scheel angesehen. Irgendwie tut er mir sogar leid.«

»Da gibt es nichts, was Ihnen leid tun müßte«, erklärte Heinz Seitter. »Männer wie er…« Er winkte ab. »Was soll’s? Ich habe bereits Strafantrag gegen ihn gestellt, und ich bin nicht bereit, mich dazu überreden zu lassen, meine Anzeige womöglich zurückzuziehen.«

»Wer sollte das nicht einsehen?« fragte Lina. »Sie wären fast ums Leben gekommen, nur, weil Herr Schneck so leichtsinnig gewesen ist, uns nicht vor der Schwarzen Witwe zu warnen.«

»Dieser Mann gehört hinter Gitter.« Heinz Seitter griff nach seinem Teeglas. Vorläufig war ihm Kaffee noch verboten. »Sein Tun ist unverantwortlich gewesen«, schimpfte er. Auf seiner Stirn schwoll eine Ader.

»Bitte, reg dich nicht so auf«, bat seine Frau besorgt.

»Ja, unverantwortlich«, bestätigte Lina Becker und lehnte sich zurück. »Harvard hat Sie auch vermißt. Obwohl ich es mir nicht erklären kann, muß er irgendwie mitbekommen haben, daß es Ihnen schlecht geht.«

Als hätte Harvard nur auf sein Stichwort gewartet, setzte er sich Heinz Seitter zu Füßen und blickte treuherzig zu ihm auf. »Wuw«, machte er, als der Mann nicht reagierte.

»Du bist ein braver Hund, Harvard«, fühlte sich der Steuerinspektor a.D. verpflichtet zu sagen, und kraulte ihn hinter den Ohren.

Endlich stand Frau Becker auf, um sich zu verabschieden. »Fred und ich gehen nachher mit Harvard Gassi«, sagte sie. »Sollen wir Ihre Ida mitnehmen? Bestimmt haben Sie momentan genügend anderes zu tun, Frau Seitter.«

»Es wäre mir sehr recht«, erwiderte Sabine und brachte ihre Nachbarin zur Tür. »Danke für Ihren Besuch, Frau Becker. Und nochmals danke für alles, was Sie für uns getan haben.« Sie beugte sich zu Ida hinunter, um die Leine an ihrem Halsband zu befestigen.

Heinz Seitter war vom Kaffeetisch aufgestanden und hatte sich in den bequemen Ohrensessel gesetzt, der vor dem Bücherschrank stand. Als seine Frau zurückkehrte, seufzte er hörbar auf. »Gleich, was sie auch für uns getan hat, Sabine, sie ist und bleibt eine entsetzliche Nervensäge.«

»Bitte, sei nicht so undankbar, Heinz«, bat Sabine. »Helft ihr mir dabei, den Tisch abzuräumen, Kinder?« fragte sie. »Ihr könntet das Besteck nehmen.«

»Ich nehme die Gabeln und du die Löffel, Melissa.« Sabrina sammelte die Kuchengabeln ein.

»Wenn du mit dem Abwasch fertig bist, Sabine, könnten wir gemeinsam das Haushaltsbuch durchgehen«, sagte Heinz Seitter. »Ich würde gern die Ausgaben der letzten Wochen sehen. Nicht, daß ich dir einen Vorwurf machen will, nur für diese Jahreszeit scheint es mir reichlich verwegen, Erdbeeren zu kaufen. Sie dürften ziemlich teuer gewesen sein.«

Die Zwillinge sahen sich an. »Also, wenn der Opa das Haushaltsbuch sehen will, ist er bestimmt wieder gesund«, meinte Sabrina.

»Arme Oma«, erklärte Melissa. »Ich wünschte, es würde kein Haushaltsbuch geben. Aber es nützt nichts, wenn wir noch einmal versuchen würden, es zu verbrennen. Der Opa würde ganz schnell ein neues kaufen.«

»Dazu ist ihm das Geld nicht zu schade«, meinte Sabrina und trug die Kuchengabeln in die Küche. »Schade, daß ein Haushaltsbuch nicht über eine Million kostet.«

*

Dr. Eric Baumann trank in der Cafeteria der Universitätsklinik eine Tasse Kaffee und dachte über seinen Besuch bei Dominik nach. Wie es aussah, wurde Katjas Knochenmark nicht vom Organismus ihres kleinen Sohnes abgestoßen. Dominik litt zwar darunter, abgeschirmt in einem keimfreien Zelt liegen zu müssen, aber er wurde besser damit fertig, als er erwartet hatte.

»Meine eine Mama ist auch im Krankenhaus«, hatte er ihm heute erzählt. »Wenn sie kommt, steckt sie ihre Hände genau wie du in die Handschuhe und kann mich damit anfassen. Und meine Mama Helga darf mich auch besuchen.«

Es war Katja, um die sich Eric momentan fast mehr Sorgen machte, als um deren Sohn. Er wußte von seiner Sprechstundenhilfe, das sich die junge Frau mit ihrem Freund gestritten hatte, weil sie annahm, daß er ein Verhältnis mit Helga Wihlborg hatte. Tina war überzeugt, daß es nicht stimmte, aber ihre Freundin ließ es sich nicht ausreden. Sie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Dr. Baumann leerte seine Tasse und stand auf, um auch noch Katja zu besuchen. Als er den Gang betrat, in dem ihr Zimmer lag, begegnete ihm Horst Schmerer. Der junge Mann war so in Gedanken versunken, daß er, ohne ihn zu bemerken, an ihm vorbeigegangen wäre.

»Hallo«, sagte Eric.

Horst zuckte zusammen. »Ach, Sie sind es, Doktor Baumann«, meinte er und verzog das Gesicht. »Man hat mir mal wieder die Tür gewiesen. Katja ist nicht bereit, mich zu empfangen.« Er hob die Schultern. »Sollte sie nicht langsam darüber nachdenken, was für ein Unrecht sie mir antut? Nur, weil sie gesehen hat, wie ich Frau Wihlborg den Arm um die Schultern gelegt habe, denkt sie, ich würde sie betrügen.«

»Sie dürfen nicht vergessen, was alles hinter Frau Faber liegt«, meinte der Arzt beschwichtigend und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Vielleicht gelingt es mir, sie zur Einsicht zu bringen.« Er sah ihn eindringlich an. »Sie haben mir doch die Wahrheit gesagt, oder?«

»Ich schwöre es.« Horst hob die Hand.

»Sie müssen nicht schwören, ich glaube Ihnen«, versicherte Dr. Baumann. »Kopf hoch, Herr Schmerer. Wenn wir Glück haben, hört sie auf mich.« Er zwinkerte ihm zu. »Ich habe schon oft Erfolg in derlei Dingen gehabt. Es wäre ganz gut, wenn Sie in der Zwischenzeit einen großen Blumenstrauß besorgen würden.«

»Mach ich«, versprach Horst, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, daß Dr. Baumann bei Katja mehr erreichen würde als er selbst.

Katja freute sich über den Besuch des Arztes. »Schön, daß Sie hier sind«, meinte sie und reichte ihm die Hand. »Ich glaube, ich habe mich von der Knochenmarkspende schon ganz gut erholt. Vermutlich kann ich morgen entlassen werden. Waren Sie bei Nicki? Es geht ihm mit jedem Tag besser. Wie es aussieht, hat die Transplantation Erfolg gehabt.«

»Was mich über alles freut«, sagte Eric herzlich. Er setzte sich zu ihr ans Bett. »Trotzdem haben Sie noch immer Schatten unter den Augen und wirken, als seien Sie nicht glücklich.«

»Tina hat Ihnen bestimmt erzählt, daß mich mein Freund betrügt.«

»Daß Sie vermuten, Ihr Freund würde Sie betrügen«, widersprach er und umfaßte ihre Hände. »Frau Faber, ich besitze eine ziemlich gute Menschenkenntnis. Ich bin mir fast hundertprozentig sicher, daß Sie sich irren. Herr Schmerer gehört nicht zu den Leuten, die rücksichtslos einen anderen hintergehen würden.«

»Was ich gesehen habe, habe ich gesehen«, beharrte sie.

»Was haben Sie gesehen?« fragte Eric eindringlich. »Sie haben zweimal beobachtet, daß Ihr Freund seinen Arm um die Schultern von Frau Wihlborg gelegt hat.« Er machte eine kleine Pause. »Erinnern Sie sich, ich habe Sie auch schon in den Arm genommen, als Sie verzweifelt waren. Was würden Sie sagen, wenn jetzt jemand auf Grund dieser Tatsache behaupten würde, wir hätten ein Verhältnis miteinander?«

Katja senkte den Blick. Es stimmte, Dr. Baumann hatte sie in den Arm genommen. Ob sie Horst doch Unrecht tat?

»Ihr Freund hat nicht einmal abgestritten, daß er den Arm um Frau Wihlborg gelegt hat«, fuhr der Arzt fort. »Er hätte ja behaupten können, Sie hätten sich in den Personen geirrt, schließlich haben Sie beide nur vom Taxi aus gesehen. Doch er hat nichts getan, um diese Sache zu verschleiern. Schon das sollte für seine Unschuld sprechen.«

»Ich habe die Schwestern gebeten, Horst abzuweisen«, gestand die junge Frau. »Man hat mich schon einmal enttäuscht. Nun habe ich ganz einfach Angst, ein zweites Mal hereinzufallen.«

»Niemand kann in die Zukunft sehen«, meinte Dr. Baumann. »Menschen ändern sich. Sie genauso wie irgendein anderer. Glauben Sie mir, Herr Schmerer liebt Sie und er wartet nur darauf, mit Ihnen zu sprechen.«

Katja nickte. »Ich werde ihn anrufen und ihn bitten, mich zu besuchen. Wenn Sie sich nicht irren, habe ich allen Grund, Horst um Verzeihung zu bitten.«

»Das kann man wohl sagen.« Dr. Baumann stand auf. »Mal sehen, ob ich zaubern kann und Ihr Freund bereits draußen wartet.« Er öffnete die Tür und blickte in den Gang. »Ja, ich kann zaubern«, erklärte er, als er Horst sah, der mit einem Rosenstrauß vom Aufzug her kam. »Ich nehme an, daß ich jetzt nicht mehr gebraucht werde. Auf Wiedersehen, Frau Faber.« Er winkte ihr zu und ging davon.

Horst schloß die Zimmertür hinter sich. »Danke, daß du mit mir sprechen willst«, meinte er und blieb zögernd stehen. »Du mußt mir glauben, Katja, Helga und ich haben nichts miteinander. Wir sind nur Freunde. Sie hat mir von einem Mann erzählt, der ihr schon zweimal einen Heiratsantrag gemacht hat. Sie hat ihn nur nicht angenommen, weil sie Nicki keinen Stiefvater geben wollte.«

»Du meinst, sie wird diesen Mann nun heiraten?«

»Ich bin mir ganz sicher.« Er trat an ihr Bett. »Ich habe alle Rosen aufgekauft, die es am Kiosk gab, und jede einzelne von ihnen soll dir sagen, daß ich dich liebe und daß ich Angst habe, dich zu verlieren.«

»Doktor Baumann hat mir ganz schön den Kopf gewaschen«, gestand seine Freundin. »Vermutlich ist das auch nötig gewesen. Ich glaube, ich habe mich sehr albern benommen.«

»Ja, das hast du auch«, pflichtete Horst ihr bei. »Ein anderer Mann hätte nicht so beharrlich auf einen Wetterwechsel gehofft.« Er setzte sich auf ihr Bett. »Ich liebe dich, Katja. Ich liebe dich und ich möchte dich heiraten. Glaub mir, ich werde Nicki ein guter Vater sein. Der Kleine ist mir schon jetzt ans Herz gewachsen. Ich werde niemals einen Unterschied zwischen ihm und unseren anderen Kindern machen.«

»Greifst du nicht ein bißchen weit voraus?« Katja fragte sich, weshalb sie so dumm gewesen war. Die junge Frau berührte gedankenverloren die Rosen. »Sie duften wundervoll. Danke, Horst.« Nachdenklich sah sie ihn an. »Was deinen Heiratsantrag betrifft, ich würde gern deine Frau werden«, meinte sie. »Allerdings…«

»Was allerdings?« fragte er herausfordernd.

»Allerdings wirst du dich daran gewöhnen müssen, daß ich manchmal verdammt ungerecht sein kann«, erwiderte sie.

»Vermutlich werden wir jedesmal Doktor Baumann rufen müssen, damit er dir den Kopf zurechtrückt.« Horst nahm die Rosen von ihrem Bett und legte sie auf den Tisch am Fenster, dann schloß er Katja in die Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. Er spürte, daß sie sich für alle Ewigkeiten gefunden hatten und daß es in Zukunft mehr als eines bloßen Verdachts bedürfen würde, um sie jemals wieder zu trennen.

*

An einem sonnigen Frühlingstag durfte Dominik zum ersten Mal seit langen Wochen im Rollstuhl das Krankenhaus verlassen. Katja, Horst und Helga hatten beschlossen, mit ihm in den Park zu gehen. Um ihn vor Keimen zu schützen, trug der Bub einen Mundschutz. Sein Immunsystem brauchte noch einige Zeit, um wieder richtig zu funktionieren, und so lange mußten sie sehr, sehr vorsichtig sein.

Noch ahnte Dominik nichts davon, daß Helga am nächsten Tag nach Schweden zurückkehren wollte. Er hatte sich daran gewöhnt, zwei Mütter zu haben, und liebte Katja genauso wie die junge Schwedin. Er sprach von seinem Geburtstag und daß sie eine richtig große Geburtstagsparty machen müßten.

»Du wirst bestimmt eine wunderschöne Feier bekommen, Nicki«, sagte Helga Wihlborg, »ich werde jedoch nicht dabeisein.«

»Und warum nicht, Mama?« erkundigte er sich.

»Weil meine Eltern Sehnsucht nach mir haben, und auch meine Geschwister fragen sich, wo ich bleibe. Sie möchten, daß ich zu ihnen zurückkomme.«

»Jetzt noch nicht«, protestierte er.

»Ich fahre morgen, Nicki.« Helga nahm seine Hand. »Du darfst nicht traurig sein. Deine andere Mama hat dich genauso lieb wie ich. Und du weißt, wie sehr Horst dich mag. Außerdem solltest du an das Pony denken, das dir Horst versprochen hat. Es wartet bestimmt schon auf

dich.«

»Ich will nicht, daß du fortgehst.« Dominik klammerte sich an ihr fest.

»Ich muß, Nicki, und deshalb möchte ich dir hier schon auf Wiedersehen sagen. Wir werden uns ganz oft schreiben.«

Katja hatte ihr vorgeschlagen, sie im Sommer zu besuchen. Helga hatte vernünftigerweise abgelehnt. Nicki mußte lernen, ohne sie zu leben. Sie wollte nicht, daß er zwischen ihr und seiner richtigen Mutter hin und her gerissen wurde. Später, wenn er älter war, konnten sie immer noch über ein Wiedersehen sprechen.

»Ich habe dich doch lieb«, sagte er schluchzend.

»Und meine Eltern haben mich lieb.«

»Ohne mich wirst du allein sein.«

»Du kannst dich bestimmt an Onkel Thorben erinnern. Wir haben vor einigen Tagen miteinander telefoniert. Er möchte mich heiraten.«

»Ich mag ihn.« Dominik schaute zu ihr auf. »Wenn du weggehst, mußt du mich bald besuchen«, forderte er, »sonst werde ich wieder krank.«

»Nein, das wirst du nicht, Nicki weil du ein tapferer, vernünftiger Junge bist«, erwiderte Helga. »In meinem Herzen werde ich dich stets lieben.« Sie beugte sich über den Kleinen. Zum letzten Mal küßte sie ihn, dann richtete sie sich auf, nickte Katja und Horst zu und ging davon.

Dominik starrte ihr nach. »Mama!« rief er weinend. »Mama, du darfst nicht gehen«, aber sie drehte sich nicht um. Er sollte nicht die Tränen sehen, die über ihr Gesicht rannen.

Katja zog Dominiks Rollstuhl zu einer Bank. »Ich weiß, daß du sehr traurig bist, Nicki«, meinte sie. »Und ich kann dich gut verstehen, trotzdem solltest du dich darüber freuen, daß Helga und Onkel Thorben heiraten werden.«

»Sie läßt mich allein.« Er rieb sich die Augen. »Ich möchte nicht, daß sie mich allein läßt.«

»Helga hat dich nicht alleingelassen«, sagte Horst. »Sie weiß, daß wir dich sehr liebhaben.« Er tupfte ihm die Tränen fort. »Deine Mama und ich werden schon bald heiraten. Und was meinst du, wie sehr ich mich darauf freue, einen so großen Sohn wie dich zu bekommen. So einen Buben habe ich mir gewünscht.« Er strich zärtlich durch den dunklen Flaum, der seinen Kopf bedeckte.

»Darf ich Papa zu dir sagen?«

»Ja, denn ich werde dein Papa sein. Möchtest du mich denn überhaupt zum Papa?«

Dominik nickte. »Ja«, antwortete er. »Ja, ich möchte, daß du mein Papa wirst.«

»Schau mal, wer da kommt!« Katja wies zur Terrasse der Cafeteria. Dr. Baumann und ihre Freundin stiegen eben die Stufen zum Park hinunter. »Sieht aus, als würdest du noch mehr Besuch bekommen.«

»Wissen Tante Tina und der Onkel Doktor, daß du Onkel Horst heiraten wirst?« fragte ihr Sohn gespannt.

»Ja, aber sie wissen noch nicht, wie sehr du dich darüber freust«, meinte sie und schmiegte sich an Horst.

»Dann muß ich es ihnen sagen.« Der Kleine winkte ihnen strahlend zu.

Der Arzt vom Tegernsee Staffel 5 – Arztroman

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