Читать книгу The Gilded Cuff - Lauren Smith - Страница 6
Kapitel 1
ОглавлениеEmery Lockwood und Fenn Lockwood, die acht Jahre alten Zwillinge von Elliot und Miranda Lockwood, wurden zwischen 19 und 20 Uhr vom Familienanwesen auf Long Island gekidnappt. Die Entführung ereignete sich während einer Sommerparty, die von den Lockwoods ausgerichtet wurde.
– New York Times, 10. Juni 1990
Long Island, New York
Das ist das absolut Dümmste, was ich jemals getan habe.
Sophie Ryder zog den Saum ihres kurzen Rocks ein paar Zentimeter tiefer. Er war immer noch viel zu kurz. Aber sie hätte nichts tragen können, was ihrem üblichen bescheidenen Kleidungsstil entsprach. Nicht für den Besuch eines elitären und geheimen BDSM-Clubs an der Goldküste von Long Island. Sophie war noch nie in einem Club gewesen, ganz zu schweigen in einem dieser Art. Sie hatte den schwarzen Minirock und das rote Schnürkorsett von ihrer Freundin Hayden Thorne geliehen, die Mitglied des Clubs war und wusste, was man tragen sollte.
The Gilded Cuff. Das war der Ort für diejenigen, die ihren Kink genossen und es sich leisten konnten, dafür zu bezahlen.
Sophie seufzte. Das Gehalt einer Journalistin reichte nicht, um für so was aufzukommen, wie es die Leute um sie herum trugen, und sie fühlte sich definitiv weniger sexy in ihren praktischen, schwarzen, flachen Schuhen, die nur an der Spitze etwas funkelten. Jeder in diesem Zimmer strahlte Sinnlichkeit aus, während die Leute in ihren Armani-Anzügen und Dior-Kleidern an ihr vorbeistrichen. Sie bemühte sich, ihnen nicht zu nah zu kommen. Ihre kultivierten Stimmen hallten von den rauen grauen Steinwänden wider. Sie fühlte sich unwohl dabei, wie ungezwungen sich die Leute um sie herum berührten und mit Blicken und leichten Liebkosungen neckten. Selbst als sie geduldig in der Reihe wartete, erfasste sie ein nervöses Kribbeln, das ihr durch die Brust in den Magen hinabfuhr. Zur einen Hälfte lag das an der sinnlichen Energie ihrer Umgebung, zur anderen an der Story, die ihre Karriere befeuern würde, wenn sie nur herausfinden könnte, nach wem sie suchte, und rechtzeitig sein Leben retten könnte. Der Herausgeber bei der Zeitung in Kansas, für die sie schrieb, hatte ihr eine Woche Zeit für die Recherche gegeben. Aber sie wusste nicht, wie lange sie hatte, um das Leben eines Mannes zu retten, der in diesem Moment irgendwo in diesem Club war. Sie schluckte schwer und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
Sie folgte der Menge und schloss sich einer Warteschlange an, die zu einem einzelnen Tisch aus Walnussholz mit vergoldeten Kanten führte. Dort stand eine Frau in einem maßgeschneiderten grauen Anzug, unter dem sie eine rote Seidenbluse trug. Sie überprüfte Namen und strich sie mit einem Federkielstift von einer Liste. Sophie kämpfte darum, ihren hektischen Herzschlag und das Flattern rebellischer Schmetterlinge in ihrem Magen unter Kontrolle zu bringen, als sie endlich den Tisch erreichte.
„Ihren Namen, bitte.“ Die Frau sah über breite, schwarzumrandete Brillengläser. Sie wirkte wie eine Mischung aus sexy Bibliothekarin und strenger Anwältin.
Ein Hauch Panik erfasste Sophie. Sie hoffte, ihre Insiderquelle hatte gehalten, was sie versprochen hatte. Nicht jedermann konnte in diesen Club. Man musste von einem bereits angenommenen Mitglied als Gast eingeladen werden.
„Ich heiße Sophie Ryder. Ich bin Gast von Hayden Thorne.“ Als sie den Namen ihrer neuen Freundin erwähnte, lächelte die Frau sofort mit einem warmen Leuchten in den Augen.
„Ja, natürlich. Sie hat angerufen und erwähnt, dass Sie kommen würden. Willkommen im Gilded Cuff, Sophie.“ Sie nahm eine kleine glänzende Broschüre und reichte sie ihr. „Hier sind die Clubregeln. Lesen Sie sie sorgfältig, bevor Sie hineingehen. Kommen Sie zu mir, wenn Sie Fragen haben. Sie können auch jeden ansprechen, der ein rotes Armband trägt. Das sind unsere Clubbeobachter. Wenn es Ihnen zu intensiv wird und Sie in Panik geraten, sagen Sie ‚rot‘ und das Spiel oder die Szene wird sofort unterbrochen. Das ist das allgemein bekannte Safeword. Jeder Dom im Innenbereich sollte es respektieren. Falls nicht, bekommen sie es mit unseren Beobachtern zu tun.“
„Okay.“ Sophie holte Luft und versuchte, nicht daran zu denken, welche Art von Szene sie dazu bringen könnte, ein Safeword zu benutzen. Das hier war wirklich das Dümmste, was sie jemals getan hatte. Ihr Herz klopfte in einem hektischen Rhythmus, als ihr Bedenken kamen. Sie sollte gehen … Nein. Sie musste zumindest ein paar Minuten bleiben. Ein Leben könnte auf dem Spiel stehen, ein Leben, das sie retten konnte.
„Eins noch. Ich muss wissen, ob Sie eine Dom oder eine Sub sind.“ Die Frau strich sich mit dem Ende ihres Federkielstifts unter dem Kinn entlang, während sie Sophie abwägend betrachtete.
„Eine Dom oder eine Sub?“ Sophie kannte die Worte. Dominant und submissiv. Sie waren Teil der BDSM-Welt, eines Lebensstils, von dem sie so wenig wusste. Sophie war definitiv keine Dominante. So bezeichnete man die dominanten Frauen in einer D/S-Beziehung. Sie verspürte gar keinen Drang danach, ihren Bettpartner auszupeitschen.
Sie mochte Kontrolle, ja, aber nur wenn es um ihr Leben ging und um das, was sie tun musste. Im Bett? Da hatte sie immer von einem aggressiven Mann geträumt, der sich nahm, was er wollte, und ihr gab, was sie brauchte. Nicht, dass sie jemals so einen Mann gehabt hatte. Bisher war jede Begegnung im Schlafzimmer eine verblüffende Lehrstunde in Enttäuschung gewesen.
Auf einmal lächelte die Frau erneut, als ob sie Sophies Gedanken gelauscht hätte. „Sie sind definitiv nicht dominant.“ Amüsement umspielte ihre Mundwinkel. „Ich habe das Gefühl, Sie würden einen aggressiven Partner genießen.“
Woher in aller Welt … Sophie bebte. Vor ihrem inneren Auge blitzte das Bild eines Mannes auf, der sie auf die Matratze drückte und erbarmungslos in sie stieß, bis sie vor Lust explodierte. Hitze schoss ihr in die Wangen.
„Ahh, und da ist die Sub. Hier, nehmen Sie das hier.“ Die Frau fing Sophies Handgelenke ein und legte weiche Ledermanschetten darum. In das Leder war ein rotes Satinband eingenäht. Die Frau am Tisch band Sophies Handgelenke nicht zusammen, sondern stellte lediglich sicher, dass sie dafür ausgerüstet war, wenn sie einen Partner im Innenbereich finden sollte.
Das Gefühl der Riemen um ihre Handgelenke machte sie ein wenig nervös und aufgeregt. Wieso fühlte sie sich bereits jetzt gefesselt und gefangen? Sie lagen eng an, schnitten aber nicht ihre Blutzirkulation ab. Sie waren wie ein eng anliegendes Collier. Sie wollte daran ziehen wie an einer zu engen Halskette, weil sie nicht daran gewöhnt war.
„Die sagen den Doms da drin, dass Sie eine Sub sind, aber noch niemand Anspruch auf Sie erhoben hat und Sie ein Neuling in diesem Lifestyle sind. Andere Subs tragen ebenfalls Manschetten, manche wiederum nicht. Es hängt davon ab, ob sie derzeit mit einem bestimmten Dom zusammen sind und ob dieser Dom es wünscht, seinen Besitz anzuzeigen. Da Sie mit niemandem zusammen sind, sagen die roten Bänder allen, dass Sie neu sind und sich gerade erst an diesen Lebensstil gewöhnen. Die Dominanten erkennen daran, dass sie Sie mit Vorsicht behandeln und um Erlaubnis fragen müssen, bevor sie etwas tun oder versuchen zu tun. Die Beobachter werden Sie genau im Auge behalten.“
Erleichterung erfasste Sophie. Gott sei Dank. Sie war nur hier, um ihre Story zu bekommen. Ein Teil ihres Jobs beinhaltete, dass sie Informationen zusammensammelte, wie auch immer ihr dies möglich war, und dabei tat, was notwendig war. Doch sie wusste nicht, ob sie bereit wäre, die Dinge zu tun, die vermutlich hinter den schweren Eichentüren stattfanden. Aber für ihre Story würde sie vermutlich etwas tun müssen, was sich außerhalb ihrer Komfortzone befand. Das war bei einer Recherche für einen Artikel über eine Kriminalsache wohl normal. Natürlich ging es heute Abend weniger um ein Verbrechen als um ein Opfer – und dieses Opfer war die Antwort auf alles, was sie jahrelang unter Mühen gelernt hatte. Außerdem war sie sich sicher, dass er in Gefahr war.
Als sie mit ihrem Verdacht zur ortsansässigen Polizei gegangen war, hatte man sie ignoriert und mit den üblichen Beschwichtigungen abgespeist, dass man ständig ein wachsames Auge auf ihren Bezirk hätte. Aber sie hatten nicht wie sie die Muster gesehen. Sie hatten nicht Tausende von Artikeln über Verbrechen gelesen und das bemerkt, was sie entdeckt hatte. Irgendwo in diesem Club hing das Leben eines Mannes an einem seidenen Faden, und sie würde ihn retten und die Story des Jahrhunderts bekommen.
„Die Handschellen, bitte.“ Ein muskulöser Mann griff nach ihren Handgelenken, als sie die Tür erreichte, die tiefer in den Club führte. Er trug einen teuren Anzug mit einem roten Armband um den Oberarm, aber seine kräftige Statur wurde von diesem Aufzug eher noch unterstrichen statt verdeckt. Sie war überrascht. Sie hatte erwartet, dass die Männer in schwarzem Leder und die Frauen vollkommen nackt herumlaufen würden – umgeben von Ketten, Peitschen und dem ganzen Krimskrams.
Der Mann sah auf ihre Handgelenke, dann in ihr Gesicht. „Du kennst das Safeword, kleine Sub?“
„Rot.“
„Braves Mädchen. Geh rein und habe Spaß.“ Sein Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln, das genauso schnell wieder verschwand.
Sie erwiderte es und neigte den Kopf zu einem kleinen Nicken, als sie an ihm vorüberging.
Sie ging durch die offene Tür und betrat eine andere Welt. Hier gab es keinen Kerker mit Wänden voller Eisenketten, stellte Sophie fest, sondern das Gilded Cuff war das genaue Gegenteil von dem, was sie erwartet hatte.
Musik und Dunkelheit beherrschten den Club und überwältigten ihre Sinne. Sie hielt abrupt inne, und ihr Herz hüpfte in einem kleinen Anfall von Panik, weil sie nichts um sich herum sehen konnte.
Der Kerker und die Schreie, mit denen sie gerechnet hatte, waren nicht da. War das typisch für eine BDSM-Umgebung? Ihre ursprüngliche Recherche hatte sie eindeutig in die Irre geführt. Normalerweise war sie nie unvorbereitet, und The Gilded Cuff hatte sie eindeutig überrascht. Jedes Szenario, das sie in ihrem Kopf durchlaufen hatte, wirkte auf einmal dumm und ineffektiv. Dieser Ort und diese Leute waren nichts von all dem, was sie sich vorgestellt hatte, und das machte ihr größere Angst als die Handschellen. Unvorbereitet zu sein, konnte einen umbringen. Das war eine Lektion, die sie auf die harte Tour gelernt hatte, und sie hatte die Narben, um es zu beweisen. Sie hielt den Flyer mit den Regeln, den ihr die Frau am Tisch gegeben hatte, immer noch in der Hand, und jetzt zeigte sich ein Hauch von Schweiß auf der glänzenden Oberfläche des Papiers.
Ich hätte mir das vermutlich mal genauer ansehen sollen. Was, wenn ich aus Versehen eine Regel breche?
Sie wollte auf keinen Fall Ärger bekommen oder, noch schlimmer, rausgeworfen werden und keine Gelegenheit erhalten, das zu tun, weswegen sie hergekommen war. Es wäre vielleicht ihre einzige Chance, den Mann zu retten, der zu ihrer Obsession geworden war.
Sophie ging durch einen großen Raum, in dem mehrere rubinrote Vorhänge hingen, die durch Seile zurückgehalten wurden und zugezogen werden konnten, um neugierige Blicke von den großen Betten dahinter abzuwehren. Nur die Geräusche, die durch die Gardinen drangen, gaben ihr einen Anhaltspunkt, was dahinter vonstattenging. Ihr Körper reagierte darauf, und sie fühlte sich erregt, obwohl sie sich vorgenommen hatte, über den Dingen zu stehen. Um sie herum saßen Menschen auf Sofas, die in einem gotischen Stil gehalten und mit Brokat überzogen waren. Alte Porträts hingen an den Wänden – gebieterische Bilder von wunderschönen Männern und Frauen aus früheren Zeiten, die kühl aus ihren Rahmen herabblickten. Sophie hatte das Gefühl, sie wäre in eine andere Epoche und an einen anderen Ort geraten, der weit weg war von den ruhigen Straßen der kleinen Stadt Weston an der Nordküste von Long Island.
Der langsame Rhythmus einer Bassgitarre und der heisere Gesang einer Sängerin legten sich wie eine erotische Decke um Sophie, als ob sie sich in einem dunklen Traum voller sich bewegender Schatten und Musik befände. Sie atmete tief ein und eine Mischung aus Sex und teurem Parfüm verführte sie. Die Welt draußen verblasste in ihrem Geist wie eine Fata Morgana. Jemand stieß von hinten gegen sie und versuchte, an ihr vorbeizukommen, um tiefer in den Club zu gelangen. Die plötzliche Bewegung riss sie zurück aus der Trance und aus dem dunklen Zauber des Clubs.
„Entschuldigung!“, sagte sie hastig und trat aus dem Weg.
Als ihre Augen sich an das schummrige Licht gewöhnt hatten, manifestierten sich windende Körper. Die Geräusche einer sexuellen Begegnung bildeten ein seltsames Zusammenspiel mit dem Lied, das gerade gesungen wurde. Tiefe Röte bedeckte Sophies Wangen und erhitzte ihr komplettes Gesicht. Ihre eigenen sexuellen Erfahrungen waren ungelenk und kurz gewesen. Die Erinnerungen an diese Nächte waren unwillkommen, ungemütlich und leidenschaftslos. Bei der Erinnerung daran fühlte sie sich wie eine Fremde in ihrer eigenen Haut. Sie hob das Kinn und konzentrierte sich erneut auf ihr Ziel.
Durch die Ledermanschetten an ihren Handgelenken fühlte sie sich verwundbar. Jeden Augenblick konnte ein Dom kommen, die Dinger zusammenbinden und sie in eine dunkle Ecke ziehen, um ihr wahre Leidenschaft zu zeigen. Die Vorstellung ließ ihren Körper zum Leben erwachen, wie sie es nicht für möglich gehalten hatte. Jede Zelle in ihr schien sich nach einer Begegnung mit einem Fremden an diesem Ort der Sünde und der Geheimnisse zu sehnen. Sie fuhr mit den Fingerspitzen über die Rückseiten der samtigen Sofas, und bei der etwas raueren Textur des Stoffes fragte sie sich, wie er sich an ihrer bloßen Haut anfühlen würde, während sie unter einem harten, männlichen Körper ausgestreckt wäre.
Die drückend sinnliche Dunkelheit, die sich am Rand ihrer eigenen Kontrolle entlangschlängelte, war zu viel. Es gab eine gedimmte Lampe nicht weit entfernt, und Sophie ging dorthin, angezogen von dem Versprechen von Beruhigung. Licht war sicher – man konnte sehen, was geschah. Es war die Dunkelheit, die sie nervös machte. Wenn sie nicht erkennen konnte, was um sie herum vorging, war sie verwundbar. Es gab kaum genug Licht, um zu sehen, wohin sie unterwegs war. Sie musste sich beruhigen, ihre Mitte wiederfinden und sich daran erinnern, weshalb sie hier war.
Ihr Herz trommelte einen wilden Rhythmus gegen ihre Rippen, als ihr klar wurde, wie leicht es jedem der starken, muskulösen Doms in diesem Club fallen würde, eine Hand in ihr Korsett zu schieben und das zu finden, was sie dort verborgen hatte, ein Objekt, das ihr über die letzten Jahre sehr ans Herz gewachsen war.
Sie legte die Hand über die Kopie des alten Fotos. Sie wusste, dass es ein Risiko wäre, es hervorzuholen, aber sie konnte sich nicht gegen den Drang wehren, einen raschen Blick zu wagen, den ihr das schummrige Licht ermöglichen würde.
Vorsichtig faltete sie das Foto auseinander und schürzte die Lippen, als sie das Gesicht des achtjährigen Jungen darauf betrachtete. Es war das Abbild aus der Kindheit des Mannes, den sie heute Abend treffen wollte.
Das schwarz-weiße Foto war vor fünfundzwanzig Jahren auf der Titelseite der New York Times gewesen. Der Junge trug Fetzen am Leib, und blaue Flecken waren auf seinem engelsgleichen Gesicht zu sehen. Seine gequälten Augen blickten in die Kamera. Ein blutiger Schnitt zog sich von seinem Kinn bis zu seinem Hals. Mit geweiteten Augen hielt er eine dicke Wolldecke umklammert, während ein Polizist ihm die Hand entgegenstreckte.
Emery Lockwood. Der einzige Überlebende des berühmt-berüchtigtsten Kidnappings in der Geschichte Amerikas seit dem des Lindbergh-Babys. Und heute Abend war er irgendwo im Gilded Cuff.
Im Lauf des letzten Jahres war sie von diesem Foto wie besessen geworden und hatte es immer wieder angesehen, wenn sie Bestärkung brauchte. Er war entführt worden, hatte aber überlebt und war entkommen, während so viele andere Kinder über die Jahre hinweg nicht so viel Glück gehabt hatten. Sophie steckte ein Kloß im Hals, und Splitter unsichtbaren Glases gruben sich in ihre Kehle, als sie versuchte, ihre eigenen schrecklichen Erinnerungen abzuschütteln. Ihre beste Freundin Rachel, der Spielplatz, der Mann in dem grauen Van …
Das Foto war stellenweise zerknittert und die Ränder waren abgenutzt. Der Trotz auf Emerys Gesicht hatte sie angezogen wie nichts sonst in ihrem Leben. Dazu strahlte er noch eine Intensität aus, die ihr Angst machte. Sie musste ihn sehen, mit ihm reden und ihn und die Tragödie, die er überlebt hatte, verstehen. Sie fürchtete, es könnte einen weiteren Anschlag auf sein Leben geben, und sie musste ihn warnen. Es wäre nicht fair, wenn er sterben würde, nach allem, was er überlebt hatte. Sie musste ihm helfen. Aber es war nicht nur das. Es war die einzige Möglichkeit, wie sie die Schuldgefühle mindern konnte, die sie empfand, weil sie nicht in der Lage war, den Mann zu fangen, der ihre Freundin verschleppt hatte. Sie musste mit Emery sprechen. Obwohl sie wusste, dass es Rachel nicht zurückbringen würde, war sie davon überzeugt, dass ein Treffen mit ihm ihr dabei helfen könnte, damit abzuschließen.
Mit einem gezwungenen Achselzucken entspannte sie sich und konzentrierte sich auf Emerys Gesicht. Nachdem sie jahrelang Entführungsfälle studiert hatte, war ihr etwas Wichtiges bei einer bestimmten Art davon aufgefallen – eine Tendenz des Täters, Verhaltensweisen zu wiederholen. Als sie angefangen hatte, Emerys Fall und Hunderte von Artikeln und Polizeiberichten darüber durchzusehen, hatte sie es gefühlt. Dieses Prickeln am Rande ihres Bewusstseins, das sie warnte, dass das, was vor fünfundzwanzig Jahren begonnen hatte, noch nicht vorüber war. Sie war nicht in der Lage gewesen, Rachel zu retten, aber sie würde Emery retten.
Ich muss. Sie schuldete es Rachel, sich selbst und jedem, der einen Menschen an die Dunkelheit, das Böse verloren hatte. Schuldgefühle hatten sie innerlich aufgefressen, aber als sie Emerys Gesicht auf diesem Foto gesehen hatte, hatte es sie daran erinnert, dass nicht jedes entführte Kind starb. Ein Teil von ihr, den sie bewusst tief in ihrem Herzen vergraben hatte, war davon überzeugt, dass ein Gespräch mit ihm, seine Geschichte zu hören, die alten Wunden ihrer eigenen Vergangenheit, die nie zu heilen schienen, lindern würde. Und im Gegenzug könnte sie vielleicht diejenige sein, die seine Entführung aufklären und ihn von einer Bedrohung retten würde, von der sie überzeugt war, dass sie immer noch existierte.
Sie war nicht die mutigste aller Frauen – nicht von Natur aus –, aber die Suche nach der Wahrheit verlieh ihr immer dieses zusätzliche Quäntchen Mut. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie, wenn sie hinter einer Story her war, die Person wurde, die sie sein sollte: selbstbewusst genug, um das Böse in der Welt zu bekämpfen. Nicht das gequälte Mädchen aus Kansas, das seine beste Freundin an einen Pädophilen verloren hatte, als es sieben Jahre alt gewesen war.
Sophie hätte gerne ein Interview in einer weniger intimen Umgebung geführt und mit mehr Kleidung. Aber Emery konnte man einfach nicht erreichen – er mied die Presse, weil er es offenbar hasste, dass sie ihn dazu bringen wollten, seine Geschichte zu erzählen. Sie machte ihm deswegen keine Vorwürfe. Seine Story noch einmal zu durchleben, könnte traumatisch für ihn sein, aber sie hatte keine Wahl. Wenn das, was sie vermutete, wahr war, brauchte sie Details, von denen sie überzeugt war, dass er sie der Polizei verschwiegen hatte, denn sie könnten der Schlüssel dazu sein, herauszufinden, wer ihn entführt hatte und warum.
Sie hatte in seiner Firma angerufen, aber die Vorzimmerdame hatte sich geweigert, sie durchzustellen. Vermutlich wegen seiner „Keine Presse“-Regel. Dank Hayden wusste sie, dass Emery kaum das Lockwood-Anwesen verließ, aber ein paar Mal im Monat zum Gilded Cuff kam. Dies hier war die einzige Möglichkeit, wie sie ihn vielleicht erreichen konnte.
Emery führte die Firma seines Vaters von dem großen Gebäude aus, das sich auf dem Lockwood-Anwesen befand und umgeben von den dichten Wäldern der Goldküste von Long Island war. Besucher waren nicht erlaubt und er verließ das Haus nur in Begleitung seiner privaten Wachtruppe.
Sophie schob das Foto zurück in ihr Korsett und sah in die Gesichter der Doms, die an ihr vorbeigingen. Mehr als einmal fiel deren Blick auf die Ledermanschetten an ihren Handgelenken und sie studierten besitzergreifend ihren Körper. Ihr Gesicht wurde wieder heiß angesichts ihrer Musterung. Immer wenn sie mit einem Dom Blickkontakt hatte, runzelte er die Stirn und sie sah sofort zu Boden.
Respekt. Ich muss mich daran erinnern, die Doms zu respektieren und ihnen nicht in die Augen zu sehen, außer sie befehlen es mir. Sonst würde sie auf einer Bank enden und den Hintern versohlt bekommen. Ihr Korsett schien zu schrumpfen, sodass es ihr schwerfiel, zu atmen, und Hitze erfasste sie von Kopf bis Fuß.
Männer und Frauen – Submissive, wenn sie nach den Ledermanschetten an ihren Handgelenken ging –, die noch weniger trugen als sie, balancierten Tabletts mit Gläsern zu Doms auf den Sofas. Vor mehreren Doms knieten deren Subs mit gesenkten Köpfen.
Ein Mann auf einer Récamiere in der Nähe beobachtete sie unter gesenkten Lidern hervor. Vor ihm saß eine Sub und er streichelte über ihr langes blondes Haar. Die Augen der Frau waren halb geschlossen, ihre Wangen vor Lust gerötet. Die kobaltblauen Augen des Doms musterten Sophie. Nicht mit sexuellem Interesse, sondern offenbar mit reiner Neugier, so wie ein gesättigter Berglöwe einen fetten Hasen betrachten würde, der seinen Weg kreuzte.
Sophie riss ihren Blick von dem rothaarigen Dom und seinen hypnotisierenden Augen los. Der Club war fast zu viel für sie. Halsbänder, Leinen, manchmal Pfosten, an denen Ketten hingen, und ein riesiges Kreuz, alles war vorhanden und Teil der Fantasiewelt, die mitten in diesem Glitzer und Glanz früherer Zeiten erschaffen worden war.
Sie schob sich an ineinander verschlungenen Körpern und teuren Möbeln vorbei und sah mehr, das sie faszinierte. Der Club selbst bestand aus diesem einen großen Raum, von dem mehrere Flure abgingen. Hayden hatte ihr am Morgen den Grundriss des Gebäudes erklärt. Egal, in welchen Flur man ging, man musste zurück in den Hauptraum, um den Club zu verlassen. Perfekt für die Sicherheit. Ein kleiner Seufzer der Erleichterung entkam ihren Lippen. Wie intensiv lebte ein Mann wie Emery Lockwood diesen Lebensstil? Würde sie ihn in einem der privaten Zimmer finden oder wäre er Teil einer öffentlichen Szene wie die, die sie gerade miterlebte?
Sie war fast halb durch den Raum gekommen, als ein Mann sie am Arm packte und zu sich herumwirbelte. Ihr Mund öffnete sich, bereit, das Wort „rot“ zu rufen, aber als sie seinen Blick erwiderte, erstarrte sie und der Schrei erstarb in ihrer Kehle. Er hob ihre Handgelenke und betastete das rote Band in ihren Ledermanschetten. Seine grauen Augen waren so silbern wie Mondlicht und zeigten offenes Interesse. Sophie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Er hielt sie fest. Die Lust, die sich in ihrem Körper langsam aufgebaut hatte, flammte heiß und scharf auf. Sie könnte das Safeword benutzen. Das wusste sie. Aber nach einem tiefen Atemzug zwang sie sich, sich zu entspannen. Teil des Jobs heute Abend war, sich unter die Leute zu mischen, um Emery zu finden. Das konnte sie nicht tun, wenn sie weglief und beim ersten Kontakt nach Hilfe schrie. Es wäre klüger, das hier ein wenig weiterlaufen zu lassen. Vielleicht könnte sie später diesen Dom nach Emery fragen, wenn sie ihn nicht bald fand. Für Sophie war die Vorstellung schlimmer, Emery nicht zu erreichen, als alles, was dieser Mann versuchen könnte, mit ihr anzustellen.
„Ich sehe deine Manschetten, kleine Sub. Ich werde dir nicht wehtun.“
Sein rostrotes Haar fiel ihm über die Augen und er warf den Kopf zurück: Kraft, Macht, Dominanz. Er strahlte reine Männlichkeit aus. Ein geborener Dom. Er war die Art von gut aussehendem Mann, den sie als Teenager angehimmelt hätte. Verdammt, selbst jetzt, mit vierundzwanzig Jahren, könnte sie wegen ihm dahinschmelzen. Sein Blick grub sich in sie. Ihr Magen verkrampfte sich wegen der plötzlichen Anspannung, aber sie musste Emery finden. Mit diesem Mann mitzugehen, wäre vielleicht die beste Möglichkeit, an Informationen zu kommen.
Er zog an ihren Handgelenken und führte ihren Körper damit dicht an seinen, während er sie hungrig ansah. „Ich brauche eine Sub ohne Herrn für einen Wettbewerb. Heute Nacht hast du Glück, Süße.“