Читать книгу Die Stimme der Vergessenen - Lea Badura - Страница 3

1. Lebendig

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Der Wind brachte die Bäume zum Beben. Seine Böen rissen an ihren Kronen und die dicken, soliden Stämme ächzten, bogen sich unter seiner Kraft. Klappernd und knarrend schlugen ihre Äste aneinander und ihr Laub raschelte und klang dabei wie Wasser in einem reißenden Fluss.

Alisha blickte gen Himmel und kniff dabei die Augen zusammen. Sie hatte nicht mehr viel Zeit um die Proben einzusammeln und nach Hause zu schaffen. Dennoch, das hier war wichtig und sie würde nicht eher gehen, wie sie alles zusammen hatte. Sie würde Roy nicht die Gelegenheit geben, sie auszulachen und sie mit diesem selbstgefälligen, überheblichen Blick anzusehen, der sagte: Ich hab es dir ja gleich gesagt, Kleine!

Dabei hatte er überhaupt kein Recht, sie Kleine zu nennen. Alisha war schließlich genauso alt wie er. Nur weil er sie um einen Kopf überragte … Sie knirschte aufgebracht mit den Zähnen und schloss kurz die Augen, um sich wieder zu beruhigen. Leise nuschelte sie vor sich hin und bedachte Roy mit allerhand Schimpfwörtern. Das brachte sie wie immer zuverlässig wieder runter und sie konnte ihre Hand ohne Zittern zielstrebig mit dem kleinen Spatel in die Erde bohren lassen.

Es war wichtig, was sie heute hier fand. Davon hing vielleicht die gesamte Zukunft des Nationalparks ab. Wenn nicht sogar die Zukunft der Natur an sich. Beton, Glas und Stahl waren auf dem Vormarsch und Alisha wusste, wenn sie sie nicht aufhielten, dann würde auch dieser Teil, dieses Stück Unberührtheit sterben und das letzte Grün aus ihrer Stadt verschwinden. Sie hasste das.

Doch tun konnte sie nichts dagegen.

Die großen Konzerne kümmerten sich nicht um das, was sie ihnen vorlegte. Um die Zahlen und Tabellen, die Berichte und Beobachtungen von Wildtieren, die sich nur in freier Natur richtig wohlfühlten, nicht in umzäunten, künstlich bepflanzten Zoogehegen.

Alisha war so aufgebracht, so nervös und innerlich aufgewühlt, dass sie beinah übersah, was nun geschah.

Sie hatte den Spatel tief in die weiche Erde gebohrt und schaufelte eine Probe davon in eines ihrer Reagenzgläser. Gerade als sie den Deckel zuschraubte, begann die lockere Erde darin sich zu bewegen. Alisha zuckte zusammen, dachte sich jedoch noch nicht viel dabei. Vielmehr verdrehte sie die Augen über sich selbst und schalt sich in Gedanken einen Feigling, nur weil sie vor irgendeinem in der Erde lebenden Krabbeltier erschrocken war. Doch als sie zurück in das kleine Loch blickte, dass sie geschaffen hatte, stockte ihr der Atem.

Die nahen Pflanzen, unter deren Füßen Alisha die Probe nahm, ließen ihre Wurzeln wuchern. Es krabbelte und zappelte in dem Loch, doch das junge Mädchen war sich sicher, dass es keine Insekten waren. Insekten gab es schon seit langer Zeit nur noch vereinzelt. So viele auf einmal hatte sie noch nie gesehen. Und es waren auch keine Krabbeltierchen. Es waren die Wurzeln der Pflanzen, die das kleine Loch ausfüllten, sich in ihm wanden und umeinander schlängelten, bis ein solides Gebilde aus grünen und weißen, zarten Wurzelchen entstand, das gar nicht mehr so zart wirkte. Sie formten eine Spitze und dann stießen sie mit einem lauten Fauchen zu.

Alisha schrie erschrocken auf und fiel nach hinten auf den Po. Doch das pflanzliche Messer, der Speer aus Wurzeln, folgte ihr, stach nach ihr. Und weiterhin fauchten die Pflanzen. Fast, als wollten sie sich verteidigen. Fast, als wollten sie nicht mehr nur zusehen, sondern selbst handeln.

„Du warst nicht dabei!“, schrie Alisha Roy an. Dieser lachte nur trocken auf und sah sie mit einem so zweifelnden Gesichtsausdruck an, dass sie ihn am liebsten vors Schienbein getreten hätte. Doch sie war keine zwölf mehr, sie war zwanzig und war durchaus in der Lage, sich mit Roy Armstrong, dem eingebildetsten Volltrottel des ganzen Kontinents vernünftig zu unterhalten.

Wenn jetzt nur noch er ebenso vernünftig wäre … Stattdessen lachte er sie aus und bezichtigte sie, eine viel zu blühende Fantasie zu haben!

Das Schlimmste daran war, dass Alisha sich selbst nicht mal mehr sicher war, was sie dort draußen gesehen hatte. Sie war rückwärts gekrochen, außerhalb der Reichweite der Pflanzen und sofort war ihr Fauchen verstummt und sie zogen die Wurzeln wieder ein. Lässig entwanden sich die Ranken und verschwanden stumm in der Erde. Nachdem Alisha sich beruhigt hatte, stand sie auf und tastete sich vorsichtig zu dem kleinen Loch vor. Sie erwartete, das Gebilde aus Wurzeln darin zu sehen – angriffsbereit, lauernd.

Doch das Loch war leer. Und die Erde seiner Wände war glatt und fest – kein Anzeichen dafür, dass sich Wurzeln hindurchgebohrt hatten.

Hatte sie sich das nur eingebildet? War sie vielleicht kurz eingenickt? Nein! Sie wusste, was sie gesehen hatte. Oder … hatte es gewusst. Bis Roy sie jetzt auslachte.

„Oh bitte, Lish! Sei vernünftig.“ Okay, vielleicht war sie doch nicht ganz so erwachsen. Vielleicht sollte sie ihm doch eine kleben. Nur des Spaßes halber. Sie tat es natürlich nicht, kniff nur die Augen zusammen und presste die Kiefer aufeinander. Um nicht mit den erstbesten Schimpfwörtern herauszuplatzen, schrie sie Roy in Gedanken an, nannte ihn einen dummen Idioten und noch viel schlimmere Dinge. Ihre Wut kühlte sich dadurch gerade so weit ab, dass sie ihm den nächsten Kommentar nicht vor die Füße spuckte.

„Ich weiß, was ich gesehen habe, Roy. Und wenn du mir nur ein wenig vertrauen würdest, dann würdest du nicht so mit mir sprechen!“ Und dann drehte sie sich um und ließ den betroffen dreinblickenden jungen Mann einfach stehen.

In dieser Nacht schlief Alisha nicht. Stattdessen wartete sie, bis im Institut die Lichter ausgingen und auch Roy, die Nachteule endlich in sein Zimmer verschwand. Dann schlug sie die Decke zurück und stand auf. Sie hatte sich am Abend gar nicht erst ausgezogen, sondern einfach mit ihren Arbeitsklamotten ins Bett gelegt. Das sparte ihr jetzt Zeit und sie nahm ihren Rucksack mit der Ausrüstung und schlich den Schlaftrakt entlang. Außer Roy waren nur noch wenige andere Studenten hier. Und natürlich ihr Professor. Doch die schliefen alle schon und Alisha kümmerte sich nicht um sie. Vom Schlüsselbrett in der Eingangshalle nahm sie den Autoschlüssel für den Van und schloss dann leise die Tür hinter sich. Wenn Roy ihr nicht glauben wollte, dann würde sie ihm eben beweisen, dass etwas mit den Pflanzen vorging.

Das Gewitter, das sich früher am Nachmittag angekündigt hatte, war inzwischen vorübergezogen und der Boden unter Alishas Füßen war nass, als sie aus dem Van stieg. Das Elektroauto stand am Beginn des Nationalparks. Zwar hätte sie mit ihm reinfahren können, doch Alisha ging lieber zu Fuß. Sie schätzte die Natur.

Es dauerte trotzdem nicht lang, bis sie an der Stelle von heute Vormittag angelangt war. Nichts wies mehr darauf hin, was hier geschehen war. Die Pflanzen waren ruhig, ihre Blüten geschlossen, als schliefen sie und das kleine Loch war schon wieder verschwunden. Vom Regen war Erde darüber gewaschen worden. Alisha hielt kurz Inne und sah sich um. Die Dunkelheit verhinderte es, dass sie allzu weit sah und der grellblaue Xenon-Scheinwerfer in ihrer Taschenlampe konnte nur einen begrenzten Teil vor sich ausleuchten. Die Baumkronen über ihr raschelten, als flüsterten sie zu ihr oder tuschelten untereinander. Alisha versuchte, sich einzureden, dass es ganz und gar nicht bedrohlich klang. Schnell packte die die Taschenlampe fester und machte einen Schritt vom Weg hinunter hinein in den kleinen, aber dichten Wald.

Sofort verschwanden die letzten Stadtgeräusche und Stille umfing sie. Nach zwei weiteren Schritten wurde diese jedoch ersetzt – durch den Atem des Waldes. Irgendwo neben ihr brach ein Zweig, ein kleines Tier huschte über den Boden und ließ dabei ein Rascheln zurück, irgendwo krächzte ein Vogel und sein Flügelschlagen drang bis an Alishas Ohr. Sie war noch nie nachts im Wald gewesen und obwohl sie ihn liebte, war ihr etwas bang zumute.

Was, wenn das von heute Vormittag wahr gewesen war? Was, wenn die Bäume sich ebenso nach ihr recken würden? Sie schloss die Augen und beruhigte sich. Es wird nichts passieren. Hier ist niemand außer dir und ein paar Kleintieren. Der Wald ist nicht lebendig! Also, natürlich wusste sie, dass das so nicht ganz korrekt war. Natürlich lebte der Wald. Aber nicht in dem Sinne, dass er sie angreifen könnte.

Beruhigt öffnete sie die Augen – und sah direkt in ein hell erleuchtetes Gesicht, das nur einen halben Meter neben ihr stand. Ihr gellender Schrei weckte einzige Tiere auf und mit einem empörten Krächzen erhob sich ein ganzer Schwarm Vögel in die Luft. Alisha stolperte rückwärts – nur weg von der Gestalt vor sich.

„Lish, beruhige dich!“, rief diese dann plötzlich und erst da erkannte Alisha, dass es Roy war, der dort vor ihr stand.

„Um Gottes Willen! Verdammt, Roy!“, schrie sie ihn an. „Willst du, dass ich einen Herzinfarkt bekomme?“

„Mach dich nicht lächerlich, du Angsthase“, gab er nur zurück und sie stieß ihm hart ihre Faust gegen die Schulter. Überrascht sah er sie an und sie funkelte wütend zurück, was ihm nur ein Lächeln entlockte.

„Was machst du hier?“, fragte sie ihn immer noch böse.

„Das wollte ich dich gerade fragen. Ich wusste, dass du etwas Dummes tun würdest und bin dir hier her gefolgt“, gab er zurück und sein selbstgefälliger Ton ließ Alisha mit den Zähnen knirschen. Wie sie es hasste, wenn er so tat, als wäre sie noch ein Baby, um das er sich kümmern musste.

„Verschwinde!“, zischte sie ihn an. „Ich brauche deine Hilfe nicht!“ Und dann stolzierte sie los, mit gestrecktem Rücken und hoch erhobenem Kinn direkt ins Unterholz hinein. Roy folgte ihr natürlich, doch sie ließ sich davon jetzt nicht beirren. Nach einigen Minuten hatte sie sich wieder beruhigt und dann bemerkte sie auch, dass jetzt plötzlich etwas anders war.

Es war, als hätte ihr Schrei den Wald erweckt.

Es war noch ruhiger als eben, doch diesmal war die Stille erwartungsvoll, angespannt. Fast konnte Alisha das Knistern auf ihrer Haut spüren. Es war, als beobachtete sie etwas aus dem Unterholz, aus den Baumkronen heraus. Augen, unsichtbar für sie, lagen auf ihr und jagten ihr eiskalte Schauer über den Rücken. Auch Roy schwieg, doch inzwischen ging er ganz dicht neben ihr. Alisha konnte die Anspannung fühlen, die auch ihn ergriffen hatte.

Roy war wie sie ein Naturforscher, er kannte den Wald ebenso gut wie Alisha.

„Etwas ist komisch“, murmelte er leise und plötzlich war alle Überheblichkeit aus seiner Stimme verschwunden. Alisha verkniff sich einen abschätzigen Kommentar und fasste stattdessen ihre Taschenlampe fester, bereit, sie allem und jedem über den Kopf zu ziehen, falls das nötig sein sollte – und ihr Angreifer einen Kopf besaß.

Langsam tasteten Alisha und Roy sich weiter in den Wald hinein. Irgendwann fragte sie sich, was sie hier eigentlich taten und gerade wollte sie sich an Roy wenden, als dieser sie am Arm packte und beide stehen blieben.

„Wa – “, begann Alisha.

„Still!“, fiel Roy ihr ins Wort und legte den Finger über die Lippen. Sie schwieg sofort und auch er war mucksmäuschenstill. Alisha strengte sich an, in der Dunkelheit jenseits des Lichtkegels ihrer Lampen irgendetwas zu erkennen, doch da war nichts. Absolut nichts. Der Wald war still, so als wäre er schon längst tot. Oder als bereitete er sich auf einen Angriff vor.

Plötzlich kam ihr diese Stille vor wie die Ruhe vor einem gigantischen Sturm und Angst kroch ihr Rückgrat hinauf, ballte sich in ihrem Magen zu einem festen, schmerzvollen Knoten und ließ ihren Atem schneller gehen. Was geschah hier?

Ohne noch länger nachzudenken, packte sie Roy am Arm und wollte sich umdrehen, um denselben Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren. Ihr stockte der Atem, als ihr Licht auf den Rückweg fiel. Da war kein Weg mehr.

„Roy!“, hauchte sie und stolperte rückwärts. Auch er wandte sich um und als der Schein der zweiten Lampe hinzukam, konnte Alisha das ganze Ausmaß dessen sehen, was geschehen war. Vollkommen lautlos und unbemerkt hatten die Pflanzen ihnen den Rückweg versperrt. Sie waren gewachsen, hatten sich bewegt und einen dichten Urwald aus armdicken Stängeln und Blättern geschaffen, die größer waren, als Alishas Brustkorb. Es schien, als seien auch die Bäume näher zusammengerückt und starrten nun bedrohlich auf sie hinab.

„Was geschieht hier?“, murmelte Roy und trat näher zu Alisha. Er ließ seinen Lichtkegel links und rechts der lebenden Mauer entlanggleiten. „Oh Gott …“, murmelte er, als er es sah. Es war wie damals, als sie im Unterricht den Zeitrafferfilm vom Pflanzenwachstum gesehen hatten. Nur dass es diesmal nicht ganz so hektisch wirkte, sondern spielerisch leicht, fast anmutig, wie die Ranken, Stängel, Blätter und Stämme sich in die Höhe streckten, wuchsen und wuchsen, bis sie größer waren, als Roy. Und immer noch wuchsen sie weiter, verschlossen die Lücken zwischen den Bäumen und schlängelten sich zielstrebig an ihnen vorbei. Da begriff Roy, was die Pflanzen vorhatten.

„Sie wollen uns einsperren, Lish!“, rief er plötzlich laut und Alisha zuckte zusammen. Sie sah ihn an und in ihren Augen stand Panik. Roy überkam plötzlich das unbändige Bedürfnis, sie zu beschützen und er packte ihre Hand. „Los, wir müssen laufen!“ Und dann zog er sie hinter sich her und sie stürzten durch den Wald.

Jetzt war er nicht mehr still, sondern erfüllt von ihren Rufen, ihren Schritten im Unterholz, die Zweige knacken ließen. Und auch die Pflanzen wuchsen jetzt nicht mehr leise und unbemerkt, sondern immer schneller. Ihre Blätter raschelten und ihre Wurzeln peitschten aus der Erde. Knarrend bogen und streckten sich ihre Stämme und Alisha erinnerte die Geräuschkulisse an den Sturm des Nachmittags.

Nur diesmal war der Grund dafür nicht der Wind. Es war der Wald selbst, der versuchte, sie einzukreisen, sie festzusetzen. Alisha wollte sich nicht ausmalen, was danach mit ihnen geschehen sollte.

„Lauf doch schneller!“, fuhr Roy sie an. Normalerweise schoss die dann gleich zurück, doch diesmal klang es nicht wie eine versteckte Beleidigung, wie Roy sie gern ausstieß, sondern drängend, wichtig. Ohne Kommentar versuchte Alisha, schneller zu rennen und hielt dabei Roys Hand ganz fest umklammert. Sie mussten aus dem Wald raus. Und zwar schneller als sonst!

Roy hob die andere Hand, die mit der Taschenlampe, und leuchtete nach vorn. Das Licht flackerte und hüpfte auf und ab und im Schein tauchten Bäume auf, Pflanzen, die genauso schnell auch wieder verschwanden. Alisha hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie so schnell rennen konnte. Es sah fast so aus, als würden sie es schaffen.

Und dann überholte der Wald sie und die dunkle Masse vor ihnen kam in Bewegung. Sie schien zu brodeln, wog hin und her und jetzt traf der Lichtkreis auf peitschende Äste, auf Wurzeln, die sich aus dem Erdreich erhoben um die beiden Menschen zu Fall zu bringen.

Alisha schrie erschrocken auf, als sich plötzlich eine Ranke um ihren Fuß wandte und schneller zupackte, als es ein Mensch hätte tun können. Der Länge nach landete sie auf dem Boden und die Wucht des Aufpralls trieb ihr die Luft aus den Lungen und die Tränen in die Augen.

„Lish!“, rief Roy und sprang zu ihr. Hektisch riss er sie auf die Füße und Alisha strampelte die Ranke von ihrem Bein ab. Ein Ächzen begleitete sie, als die beiden wieder losliefen. Doch die Verzögerung hatte ausgereicht. Sie waren umzingelt, ehe sie noch zehn Meter zurücklegen konnten. Sobald die kleine Lücke vor ihnen verschlossen war, wurde der Wald leiser, er wuchs langsamer, fast als hätte dieses kleine Rennen auch ihn erschöpft.

„Nein …“, stieß Alisha mit zittriger Stimme aus und ließ die Taschenlampe sinken. Roy hingegen hielt sie hoch erhoben und drehte sich um sich selbst, beobachtete, wie die Ranken immer näher rückten, den Kreis um ihn und Alisha zuzogen wie eine tödliche Schlinge.

Sein Blick fand Alishas und als er die Panik in ihren Augen sah, trat er auf sie zu und nahm ihre Hand. „Alles gut“, murmelte er ihr zu und komischerweise glaubte sie ihm. Roy und Alisha waren zusammen aufgewachsen. Sie hatten ihre Pubertät zusammen durchlebt und waren aus dem peinlichen Alter von Pickeln und unreiner Haut herausgewachsen. Roys Züge waren männlicher geworden, ausgereifter. Alisha hatte Rundungen bekommen und war zu einer großen, schlanken jungen Frau geworden. Dennoch hatten sie sich noch nie so im Arm gehalten, wie jetzt.

Roy beschützte sie schon immer, das wusste Alisha. Und dennoch wurde es ihr erst in diesem Moment klar.

In diesem Moment, als die Pflanzen sich um sie zuzogen und ihnen immer weniger Raum zum Atmen ließen. Alisha sah nach oben und bemerkte, dass die Pflanzen begonnen hatten, ein Dach über ihrem Kopf zu bilden. Von links, rechts, eigentlich von allen Seiten streckten sich die Ranken durch die Luft, fanden einander und umschlangen sich, schlossen die Dunkelheit aus und schufen einen kleinen Raum. Alishas Herz raste und ihr Blick fand Roys. Das Licht ihrer beider Lampen erleuchtete den kleinen Raum jetzt fast ausreichend hell und sie konnte seine eisblauen Augen funkeln sehen, in denen die gleiche Sorge stand, die auch sie fühlte.

„Roy“, murmelte sie leise und für einen Moment versank sie in seinem Blick und vergaß, wo sie waren. Sie wusste nur, dass der Wald sie wahrscheinlich töten würde.

Wieso muss ich erst sterben, um zu erkennen, was er mit bedeutet?, fragte sie sich selbst und da war so viel, was sie ihm sagen wollte, was er noch wissen musste. Alisha hatte keine Ahnung, wo sie beginnen sollte. Doch sie sah dieselbe Dringlichkeit auch in Roys Augen. Er sah sie an und sein Herz zog sich zusammen. Alisha … Verdammt, wenn er die Kraft dazu hätte, würde er die Ranken mit bloßen Händen in Stücke reißen um sie zu beschützen. Er wollte sie heil hier raus bringen. Das musste er einfach schaffen.

Doch in diesem Moment griff sie nach seinen Händen und führte sie hinter ihrem Rücken zusammen. Er begriff, was sie wollte und umarmte sie fest. Auch sie schlang die Arme um ihn und dann verharrten sie in dieser Umarmung, während der Wald um sie herum langsam zur Ruhe kam und sich schließlich nicht mehr bewegte.

Alisha bemerkte die Veränderung als Erste.

„Roy!“, stieß sie hervor. „Sieh doch mal!“ Und dann begriff sie, dass der Wald sie keinesfalls verletzen wollte. Woher sie das wusste, konnte sie nicht sagen, aber sie wusste es. Tief in ihrem Inneren.

Der Wald hatte ein Refugium für sie geschaffen. Einen kleinen, natürlichen Schutzbunker.

Die Stimme der Vergessenen

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