Читать книгу Die Stimme der Vergessenen - Lea Badura - Страница 4

2. Eingeschlossen

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Es war mehr als unwirklich. Seltsam entrückt betrachtete Alisha die Situation und konnte nicht anders, als es lustig zu finden. Allein, mit Roy, in einem Geflecht aus Pflanzen, das gerade so viel Raum ließ, dass sie sich eingerollt hinlegen konnten, nebeneinander.

Und ausgerechnet – von allen, mit denen sie in so einer Situation hätte landen können – war sie mit Roy hier. Wenn sie sich schon verlieren musste, dann wenigstens an seiner Seite. Es war, als erzittere ihr Leben, als würde es gegen eine Mauer rennen und um einhundertachtzig Grad gedreht werden, nur um auf dem Rücken zu laden und hilflos mit den Beinen strampeln.

„Lish?“, fragte Roy sie leise und sah sie verwirrt an. Sie verzog das Gesicht zu einem Grinsen, was eher einer Grimasse gleichkam und lachte hysterisch. „Alisha!“, er packte sie an den Schultern und sah ihr tief in die Augen. „Du musst dich beruhigen, Süße. Langsam ein- und langsam ausatmen. Los! Mach es mir nach.“

Alisha hatte nur den einen Gedanken: dass es ziemlich bescheuert aussah, wie Roy vor ihr stand und übertrieben deutlich atmete. In ihrem Kopf begann sich die Welt zu drehen und sie fühlte sich, als würde sie fallen. Aus tausenden von Metern Höhe, hilflos und ohne Fallschirm.

Sie wusste, dass sie fliegen musste, aber sie konnte nicht. Und dann wurde alles schwarz.

Roy fing sie auf, als Alisha ohnmächtig zusammensank. Seine Stirn leicht besorgt in Falten gelegt, bettete er sie auf den Boden und hockte sich im Schneidersitz neben sie. Hier, in dem kleinen Iglu aus Pflanzen, war die Erde trocken und weich und er legte ihren Kopf zusätzlich auf seinen Schoß. Wieso musste sie auch hyperventilieren? Allerdings ließ ihm das jetzt Zeit, sie zu betrachten. Ihr helles, borkenbraunes Haar fiel wie ein seidiger Wasserfall über sein Bein, einige Strähnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und fielen ihr ins Gesicht. Sanft strich er sie fort und betrachtete ihre Züge. Alisha war hübsch, das wusste er. Doch in diesem Moment, als sie so zerbrechlich bei ihm lag, sah sie einfach nur schön aus.

Es blieb ihm nicht viel Zeit ehe sie sich rührte und langsam erwachte.

„Hmmm …“, machte sie und schüttelte etwas orientierungslos den Kopf. Ihr erster Gedanke war, dass Roy sie „Süße“ genannt hatte. Das hatte er seit ungefähr zwölf Jahren nicht mehr getan. „Was ist passiert?“

„Du hast hyperventiliert, Lish“, sagte er trocken und sie setzte sich auf. Breit grinsend starrte er sie an und da war es wieder, dieser überhebliche Zug in seinem Gesicht. Alisha sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an und wappnete sich innerlich schon gegen einen weiteren Angriff, doch zu ihrer Überraschung blickte Roy sie ernst an.

„Oh“, murmelte sie also nur und richtete ihren Zopf.

„Aber du musst zugeben, dass du schon gequietscht hast, wie ein Mädchen, als dich dieses Pflanze gepackt hat“, fügte Roy noch an und in seinem Tonfall lag die Freude darüber. Alishas Mund klappte auf und einen Moment konnte sie gar nichts darauf erwidern.

„Du Idiot“, sagte sie schließlich. Doch diesmal schrie sie ihn nicht an, denn sie war mehr fassungslos als ärgerlich. „Das hier ist nicht Zuhause!“, fuhr sie fort und warf ihm einen fast schon angewiderten Blick zu.

„Ha, also bitte. Dein Blick, als wir gefangen waren, hat doch Bände gesprochen, Lish. Rooooooy, halt mich fe –“

Sie unterbrach ihn, indem sie ihm eine Ohrfeige verpasste. Überrascht starrte er sie an, mit der Hand an der Wange. Sie schüttelte nur enttäuscht den Kopf und wandte schließlich den Blick ab. Alisha rollte sich zusammen, mit dem Rücken zu Roy und schloss die Augen, um ihre Tränen zu verbergen.

Einen Moment lang ließ er sie in Ruhe und fast konnte sie seine Bestürzung über ihre Reaktion fühlen. Sie hatten sich schon immer gegenseitig aufgezogen. Aber irgendwann war Schluss. Wie konnte er sich nur so selbstgefällig über ihre Gefühle lustig machen? Ja, verdammt. Sie hatte halt geglaubt, dass sie sterben würden! Er etwa nicht? Was hätte sie denn anderes glauben sollen? Und außerdem hatte er sie zuerst umarmt. Er hatte sie festgehalten. Nur, um ihr das später unter die Nase zu reiben.

Idiot.

Roy fühlte sich ziemlich mies wegen dem, was er gesagt hatte. Und dennoch blickte er nur stumm auf Alisha hinab. Er war hier schließlich der Kerl und durfte keine Schwäche zeigen. Wenn er sie wissen ließ, dass auch er Angst hatte, dann würde sie das Vertrauen in ihn verlieren und hier noch vollkommen durchdrehen. Auf den Gedanken, dass Alisha vielleicht stärker sein könnte, es verkraften könnte, darauf kam er gar nicht. Roy war so in seine Rolle als ihr Beschützer hineingewachsen, dass es schwer war, zu erkennen, wie stark und mutig sie in den letzten Jahren geworden war. Außerdem waren auch seine Adern voll mit Adrenalin. Er war zappelig und seine Hände zitterten immer noch von dem Schrecken, den der Wald ihm verpasst hatte. Rennen konnte er nicht, um die Energie abzubauen. Was also blieb ihm anderes?

„Alisha …“, sagte er schließlich und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie antwortete nichts und daran merkte er viel zuverlässiger, als wenn sie ihn angeschrien hätte, dass er sie tief verletzt hatte. Sein schlechtes Gewissen nahm noch zu und er zwang sie sanft, sich zu ihm umzudrehen. In ihren Augen standen Tränen und er war sich nicht sicher, ob vor Wut oder Traurigkeit, denn sie funkelte ihn erbost an.

„Was?“, schnappte sie und Roy zog seine Hand weg.

„Es tut mir leid“, begann er, doch sie drehte sich wieder von ihm weg. Er seufzte. „Was ist los? Willst du jetzt ewig so weiterschmollen? Es tut mir leid, was ich gesagt habe. Das war falsch. Natürlich habe auch ich Angst, Lish. Wir müssen jetzt zusammenhalten.“

„Zusammenhalten?“, fuhr sie in an und fast schon mit Erleichterung sah er, dass sie endlich richtig wütend wurde. Alisha ballte die Hände zu Fäusten und setzte sich auf. „Gerade du sprichst von Zusammenhalten?“, ehe sie ihn richtig anschreien konnte, wurde ihr bewusst, wie lächerlich die Situation war. Sie saßen sich gegenüber, in einer kleinen Pyramide aus Pflanzen und konnten nicht fort von hier. Vielleicht hatten die Pflanzen sie noch nicht getötet, aber wer wusste schon, ob das nicht noch geschah. Sie könnten hier verhungern. Ihr Bauchgefühl ignorierend, dass ihr sagte, es würde nicht so weit kommen, entspannte sie ihre Fäuste und lehnte sich zurück, an die erstaunlich weiche Wand aus Ranken.

„Vergiss es“, sagte sie und wandte den Blick von ihm ab. Roy wollte etwas erwidern, doch er blieb dann ebenfalls still. Sie holte tief Luft und ihre Augen wanderten über das dichte Netz aus Blättern, Ranken und dicken und dünnen Stämmen. „Was machen wir jetzt?“, fragte sie schließlich und sah Roy wieder an. Er ließ sich gern auf den Themawechsel ein und begann ebenfalls, das Gebilde zu betrachten. Probeweise griff er nach einer der weniger stabil scheinenden Ranken und zog daran. Darüber löste sich ein Stängel von seinem angestammten Platz und schlug ihm, wie das Ende einer Peitsche, auf die Finger.

„Au!“, machte Roy und rieb sich den Handrücken. „Sie wollen uns wohl nicht rauslassen“, murmelte er und konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Alisha schmunzelte und puffte ihn leicht gegen die Schulter.

„Darüber solltest du dich nicht so freuen!“, sagte sie und dann lachten beide und die Anspannung zwischen ihnen verflog. So war es schon immer gewesen. Sie stritten sich oft und heftig, aber sie versöhnten sich auch fast ebenso schnell wieder.

„Es freut mich nicht“, sagte Roy, als er wieder Luft bekam und Alisha rieb sich über die Augen, um die Lachtränen loszuwerden. Deutlich entspannter sah sie ihn an.

„Ich weiß, es fasziniert dich“, sagte sie, denn sie kannte Roy fast besser als sich selbst.

„Exakt“, murmelte er und stand auf. Vorsichtig, fast schon sanft, um die Pflanzen nicht zu verletzen, begann er das Mauerwerk abzusuchen und Alisha beobachtete ihn dabei. Sie mochte es, wie er mit Pflanzen umging, wie er sie automatisch mit Respekt behandelte.

Sie stand auf und trat neben ihn, legte ihre Hände ebenfalls auf die Pflanzen und strich über ihre Blätter, über die raue Rinde und die glatten, kühlen Stängel. Neben ihrer Hand raschelte es plötzlich und ehe Alisha sie fortziehen konnte, hatte sich eine kleine Ranke um ihre Hand gewunden. Stocksteif verharrte sie und wartete ab. Wahrscheinlich hätte sie ihre Hand noch freimachen können, doch sie wollte die Ranke nicht verletzen und so beobachtete sie nur, wie sie sich um ihr Handgelenk wandte und sich durch ihre Finger schlängelte.

„Lish …“, murmelte Roy warnend, doch sie hob die freie Hand zum Zeichen, dass er warten sollte.

„Schon okay. Sie will mir nichts tun“, sagte Alisha mit mehr Überzeugung, als sie aufbringen konnte. Und dann blitzte ein Bild in ihrem Kopf auf und sie taumelte. Noch eines folgte und plötzlich bombardierte sie die Pflanze mit einer ganzen Bilderflut.

Junge, wachsende Keime, die sich der Sonne entgegenreckten.

Ein Bagger, der kam um die Erde aus dem Wald herauszureißen. Er stahl ihnen ihre Wurzeln und ihre Nahrung, er stahl ihnen die Grundlage ihres Seins.

Menschen, in orangen Anzügen, mit lauten, kreischenden Maschinen.

Fallende, sterbende Bäume.

Straßen, die mitten durchs Herz des Waldes führten, die ihn in zwei schnitten und unwiederbringlich teilten.

„Lish!“, rief Roy und durchdrang damit die Flut an entsetzlichen Momenten. Er packte ihre Schultern und der Kontakt brach ab. Die Ranke fiel von ihrer Hand und zog sich zurück, verschwand fast vollkommen. Alisha sank unbewusst gegen Roy, der sie festhielt, bis sie wieder allein aufrecht stehen konnte. „Was ist geschehen?“, fragte er besorgt.

„Ich …“, sie schüttelte den Kopf und berichtete, welche Bilder sie gesehen hatte.

„Du meinst, es war diese Ranke, die dir die Bilder gezeigt hat?“, fragte Roy zweifelnd und sah das kleine Ding an, das nur noch etwa fünf Zentimeter aus dem Geflecht der anderen Pflanzen hervorstand.

„Ich habe keine andere Erklärung“, murmelte Alisha schulterzuckend und griff erneut nach der Ranke, doch Roy packte vorher ihre Hand.

„Lass das lieber sein“, meinte er mit versteinertem Gesicht. Er sah sie dabei nicht an, sondern hatte den Blick immer noch auf das grüne Pflänzchen gerichtet.

„Nein“, sagte Alisha fest und machte sich los. „Ich will wissen, was sie mir sagen will.“ Mit rechts griff sie vorsichtig nach der Ranke, strich über sie und hielt ihr ihren Finger hin. Tatsächlich begann das junge Ding, sich erneut um ihren Finger zu winden. Unbewusst griff Alisha nach Roys Hand und hielt sich an ihm fest, während sie beide die Ranke dabei beobachteten, wie sie sich immer weiter um Alishas Hand wandte und schließlich auch ihr Handgelenk erreichte.

Hallo, Mädchen , die Stimme war glockenhell in ihrem Kopf und hinterließ ein Klingeln, das bis tief in Alishas Innerstes strömte. Sie war sich nicht mal sicher, ob sie tatsächlich Worte hörte, oder ob sie einfach nur die Bedeutung dieses Singsangs kannte.

„Hallo“, gab sie murmelnd zurück, was der Pflanze ein Lachen entlockte. Der helle Klang ließ auch Alisha lächeln, so fröhlich war er, so leicht und unbeschwert. Wie hatten sie jemals denken können, der Wald wollte ihnen etwas tun? Vielleicht, weil er dich angefaucht hat, Alisha? ; fragte die leise, ironische Stimme ihres Unterbewusstseins.

„Was möchtest du?“, fuhr Alisha fort, ohne die Stimme zu beachten.

Ich möchte dir etwas zeigen .

„Was?“

Der Wald stirbt, Mädchen. Wir alle sterben. In eurer technischen Welt ist kein Platz mehr für uns und das macht uns traurig. Andere macht es wütend und sie schlagen zurück. Wir schlagen zurück.

„Was meinst du damit?“, fragte Alisha und plötzlich hatte sie ein ganz schlechtes Gefühl im Bauch. Es kroch herauf, einer dunklen Vorahnung gleich, und bescherte ihr am ganzen Körper eine Gänsehaut.

Die Zeit der Toleranz ist vorbei . Bildete Alisha sich das ein, oder klang das Pflänzchen traurig? Wir haben keine Luft mehr. Es muss sich etwas ändern!

Und dann zog sich die Ranke ruckartig zurück und gab Alishas Hand frei. Unbewusst rieb sie über die Stellen, an denen ihre Haut die Pflanze berührt hatte. Sie kribbelten, als wäre sie immer noch mit dem Wald verbunden, doch sie hörte ihn nicht mehr, spürte seine Präsenz nicht mehr.

„Was hat es gesagt?“, fragte Roy und klang dabei fast ungläubig, dass er das wirklich fragte. Alisha drehte sich mit fahlem Gesicht zu ihm um und berichtete dann Wort für Wort, was sie erfahren hatte.

„Heißt das, er will angreifen?“, fragte Roy unsicher und lachte auf. „Vielleicht hast du dir beim Fallen den Kopf gestoßen und bildest dir das jetzt alles nur ein“, wiegelte er ab.

„Ich bilde mir nichts ein!“, entgegnete Alisha scharf. „Du hast doch auch gesehen, dass der Wald uns verfolgt hat! Er ist lebendig, Roy. Und er wird sich wehren.“

„Ich weigere mich, zu glauben, dass der Wald Menschen angreifen wird!“, wehrte er sich und Alisha hob eine Augenbraue.

„Was brauchst du noch für Beweise? Er hat uns eingeschlossen und bewegt sich, Roy! Ich habe ihn sprechen gehört!“ Der Zweifel verschwand nicht von seinem Gesicht und sie seufzte tief. Dann griff sie nach ihrem Rucksack.

„Was macht du?“, fragte er.

„Ich hab Hunger!“, gab sie zurück und griff nach den Energieriegeln, die sie in ihrer Ausrüstung immer mit sich führten. Einen davon gab sie Roy und sie aßen schweigend. Alisha hatte auch eine Feldflasche voller Wasser und nachdem sie ihre karge Mahlzeit beendet hatten, schwiegen sie eine Weile. Alisha konnte sehen, dass Roy scharf nachdachte. Zu gern hätte sie gewusst, was in seinem Kopf vorging. Ob er sich darauf einlassen könnte, auf das alles hier?

„Okay“, sagte er plötzlich und sie blinzelte. Wie lange hatte sie einfach nur da gesessen und ihn angestarrt? „Nehmen wir an, das alles ist wahr und passiert wirklich. Du kannst mit dem Wald sprechen und er hat gesagt, er greift an.“

„Sie greifen an“, verbesserte Alisha. „Der Wald ist nicht ein einziges kollektives Wesen, sondern eine Gemeinschaft, ein …“, sie zuckte mit den Schultern. „Ein Zusammenschluss aus vielen, selbst denkenden Pflanzen, die miteinander leben.“ Roy sah sie kurz an.

„Okay“, sagte er und Alisha fragte sich, ob das ironisch gemeint war. Sie sah ihn stirnrunzelnd an und er grinste kurz. „Wenn du das sagst“, fügte er an und sie machte „Hmm?“

„Also, um nochmal darauf zurückzukommen“, fuhr er fort und konnte sich sein Grinsen nicht verkneifen. Dann wurde er ernst. „ Sie haben also gesagt, sie wollen angreifen?“ Alisha nickte. „Was machen wir dann?“, fragte er sie ernst und da sie keine Antwort auf diese Frage wusste, schwiegen sie beide.

Alisha zog ihr Handy aus der Tasche. Zwar hatte sie hier keinen Empfang, der Wald schirmte die Strahlen ab, aber immerhin funktionierte die Uhr noch. Inzwischen war es kurz vor drei Uhr nachts und als sie das sah, überfiel sie plötzlich die Müdigkeit und sie gähnte.

„Hör auf damit!“, murmelte Roy, der ebenfalls gähnen musste, als er es sah. Sie schnitt ihm eine Grimasse und warf das Telefon neben ihren Rucksack. Auch Roy hatte seinen danebengestellt und Alisha schnappte sich jetzt einen davon und machte es sich mit ihm als Kopfkissen so bequem, wie es eben möglich war. Dann ließ sie ihre Taschenlampe erlöschen.

„Was machst du da?“, fragte Roy sie.

„Nach was sieht es denn aus, du Superhirn?“, gab sie zurück. „Schlafen!“ Roy zuckte mit den Schultern und legte sich dann neben sie. Auch er bettete seinen Kopf auf einen Rucksack und knipste dann die Lampe aus.

„Gute Nacht, Lish“, murmelte er.

„Gute Nacht, Roy“, nuschelte sie zurück. Eigentlich dachte Alisha nicht, dass sie schlafen könnte, so dicht wie er neben ihr lag, aber innerhalb von wenigen Minuten war sie eingeschlafen. Sie fühlte sich komischerweise sicher.

Kein Vogel sang, kein einziger. Nur ab und zu war das Rascheln eines Tieres zu vernehmen und das sanfte Rauschen der Blätter, als würde Wind hindurchfahren – oder die Bäume sich wieder in Bewegung setzen. Von weit her meinte Alisha, Geräusche an ihr Ohr dringen zu hören, doch als sie still saß und lauschte, war da nichts mehr. Es hätte immer noch Nacht sein können, so still wie der Wald und seine Bewohner waren. Doch es war Tag.

Das wusste Alisha nicht nur wegen der Uhr auf ihrem Handy, sondern auch wegen den Sonnenstrahlen, die sich einen Weg in ihr Versteck – oder Gefängnis? – suchten und es erstaunlich gut ausleuchteten. So stark, dass sie die Taschenlampen ausgeschaltet ließ.

Alisha drehte den Kopf und musterte Roy. Er schlief noch immer, zusammengerollt und die Hände unter der Wange verschränkt. Als sie aufgewacht war, hatte sie sich in seinen Armen wiedergefunden und ihr Herz war zu allererst einmal fast stehengeblieben, so heftig war es gestolpert. Noch wenn sie jetzt daran zurückdachte, fühlte sie seine Arme um ihren Bauch und seine Schenkel, die sich gegen ihre drückten. Sie hatte es genossen, wenn auch nur für kurze Zeit.

Ein Blick auf ihre Uhr sagte ihr, dass es inzwischen schon fast Mittag war. Sie beide hatten knapp neun Stunden geschlafen und Alisha fühlte sich ausgeruht und voller Tatendrang. Das jedoch scheiterte daran, dass sie immer noch eingesperrt waren. Sie stand auf und streckte die Hand nach der einen Seite aus. Sanft legte sie sie auf die Pflanzen und fühlte die kühlen, glatten Blätter auf ihrer Haut, die raue Borke der Stämme unter ihren Fingern.

„Warum lasst ihr uns nicht raus?“, murmelte sie fragend. Die einzige Antwort, die sie bekam, war von Roy und bestand in einem genuschelten: „Hmm?“ Er streckte sich so gut es in dem kleinen Raum ging und setzte sich dann auf. Alisha lächelte ihm kurz zu und er nickte.

„Guten Morgen, Schlafmütze“, sagte er zu ihr und sie lachte.

„He, jetzt mal halblang. Wer ist hier die Schlafmütze?“, fragte sie ihn belustigt und er grinste sie auf eine Art und Weise an, bei der ihr ganz heiß wurde.

„Naja, ich konnte ja schlecht zeigen, dass ich schon länger wach war als du“, gab er zu und Alisha drehte sich schnell weg, um zu verbergen, dass sie knallrot angelaufen war. Er war wach gewesen? Dann waren seine Arme um ihren Körper … Absicht gewesen?

„Kann ja jeder sagen“, antwortete sie lahm und wartete auf den nächsten verbalen Schlag von Roy, doch als nichts kam, drehte sie sich wieder zu ihm um. Er wühlte in den Rucksäcken und kramte alles ess- und trinkbare hervor.

„Viel ist es nicht“, antwortete er und Alisha war froh, dass er das Thema ganz fallengelassen hatte.

„Ich hoffe nicht, dass wir noch lange hierbleiben“, gab sie zurück und setzte sich ihm gegenüber. Wieder streckte sie die Hand nach den Pflanzen aus und strich mit dem Zeigefinger sanft über einen kräftigen sattgrünen Stängel. „Wann lasst ihr uns wieder raus?“, murmelte sie den Pflanzen zu und da regte sich etwas unter ihrer Berührung.

Bald , war die gemurmelte Antwort und diesmal klang die Stimme tiefer. Sie war alt und weise, auf eine Art als hätte der Sprecher schon hunderte von Jahren gelebt. Alisha erkannte, dass dies ein Trieb eines alten, großen Baumes war und sie streichelte nochmal sanft darüber, ehe sie die Hand wegzog.

„Und?“, fragte Roy und sie musterte ihn. Sein Gesicht zeigte einen offenen, ehrlich interessierten Ausdruck und unwillkürlich fragte sie sich mit ein bisschen fröhlicher Genugtuung, ob er ihr jetzt doch wirklich glaubte. Er konnte immerhin nicht von der Hand weisen, was geschehen war und das wusste auch Roy.

„Bald, sagt er.“

„Er?“

„Der Baum“, sagte Alisha, als wäre es selbstverständlich. Sie grinste in sich hinein. „Der Baum!“, wiederholte sie und spürte, wie sich ein Lachanfall in ihrer Kehle zusammenbraute. Als Roy auch noch zu grinsen begann, konnte sie ihn nicht mehr zurückhalten und platzte laut hinaus. Ihr Lachen drang durch den ausgestorbenen Wald und hallte zwischen den Pflanzen hin und her.

„Verrückt“, sagte Roy schließlich, als sie sich wieder gefangen hatte.

„Verrückt“, stimmte ihm Alisha zu. Und dennoch war es wahr.

Es verging noch ein weiterer halber Tag und als es wieder Abend wurde, hatte Roy mehrere Schrammen und Alisha brummte der Kopf. Sie hatten versucht, sich einen Weg aus dem Dickicht zu bahnen, doch egal, wo sie die Zweige und Äste auseinanderbogen, es wuchsen sofort Neue nach und irgendwann hatten sie angefangen, Roys Hände gleich zu Anfang wegzuschlagen. Fluchend hatte er eine andere Taktik versucht, doch auch das war wenig von Erfolg gekrönt gewesen. Alisha hatte währenddessen versucht, mit den Pflanzen zu reden. Sie wollte noch mehr von ihnen erfahren, warum sie die beiden hier festhielten und was es mit dem angekündigten Angriff auf sich hatte, doch sie schwiegen beharrlich und wenn Alisha dann doch etwas zu hören bekam, war es nur ein geflüstertes Bald werdet ihr sehen.

„Das hat keinen Sinn“, sagte Roy schließlich resignierend und ließ sich auf den Boden sinken. Sofort entspannten sich die Pflanzen und Alisha hörte, wie ein Raunen ihr Gefängnis durchlief. Irgendwo schüttelte sich ein Ast, seine Blätter raschelten.

„Wir haben nicht mehr viel Nahrung hier“, sagte sie und auch wenn es keine Anklage Roy gegenüber sein sollte, sah er sie genervt an. „Sorry“, sagte sie und ließ sich neben ihn sinken. Sie legte ihre Hand auf Roys und streichelte seinen Handrücken mit ihrem Daumen.

Sie wusste, dass er sauer war, das konnte sie ihm ansehen. Doch den Grund begriff sie nicht. Er konnte doch nichts dafür, dass sie hier festsaßen. Und doch fühlte er sich verantwortlich. Er war genervt und sauer auf sich selbst, weil es ihm nicht gelingen wollte, Alisha hier rauszuholen.

Er zog seine Hand unter ihrer hervor und angelte sich einen der Rucksäcke, den er am Boden packte und grob vor sich auf den Boden ausschüttelte. Hinaus vielen verschiedene Dinge. Ein Besteck zum Erd- und Gesteinproben nehmen, eine kleine Schaufel, eine Harke, Batterien, Wasserflaschen, Energieriegel, Seile, Messer und ein Feuerzeug. Er nahm das Messer in die Hand und in die andere das Feuerzeug.

„Nein, Roy!“, sagte Alisha schnell und ihre Stimme klang erschrocken.

„Warum nicht, Lish? Wir müssen hier raus, sonst verdursten wir. Das Wasser reicht höchstens noch für einen Tag!“, gab Roy verärgert zurück. Ihm passte es auch nicht, dass er sich seinen Weg freischneiden musste, vor allem jetzt, da er gesehen hatte, dass das „Leben des Waldes“ nicht nur ein diffuser Begriff war, der darauf beruhte, dass sie wuchsen und Stoffwechsel betrieben. Er hatte gesehen, wie sie sich bewegten, er hatte gesehen, wie sie sich mit Alisha unterhielten. Und dennoch, hier ging es um ihr Überleben.

Er konnte Alisha ansehen, dass sie mit sich selbst rang. Sie schüttelte leicht den Kopf, während sie ihn gequält ansah.

„Na gut“, sagte sie schließlich. „Aber erst morgen früh!“, forderte sie. „Wenn sie dir schon die Hände zerkratzen, nur weil du an ihnen ziehst, will ich nicht wissen, was sie mit dir machen, wenn du sie abfackelst oder in Stücke hackst, Roy.“ Insgeheim hoffte sie, die Bäume und Pflanzen bis dahin soweit zu haben, dass sie sie freiwillig gehen ließen. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, dass Roy ihnen wehtun wollte. Was ihr noch weniger gefiel, war die Aussicht, dass sie Roy wehtun könnten. Flehend sah sie ihn an und er ließ Messer und Feuerzeug sinken.

„Okay“, gab er nach.

Die folgende Nacht war eine reine Tortur. So gut wie Alisha zuvor geschlafen hatte, so mies war es diesmal. Es gelang ihr einfach nicht, auch nur ein Auge zuzumachen. Stattdessen machte sie sich Sorgen. Sorgen darum, dass ihr Wasser knapp wurde. Sorgen darum, dass Roy morgen verletzt werden könnte. Sorgen darum, dass Roy die Pflanzen abfackeln würde. Sorgen um eigentlich alles, was ihr einfiel. Was hatte die Stimme gemeint, als sie davon sprach, zurückzuschlagen? Was würde sie erwarten, wenn sie aus diesem Iglu hinauskamen, falls das jemals der Fall sein sollte? Alisha kämpfte gegen die Tränen an und gegen die diffuse Angst, die langsam einen Knoten in ihrem Magen bildete. Irgendwann war sie zu erschöpft, um sich noch weiter Sorgen zu machen oder auch nur noch einen klaren Gedanken zu fassen. Sie verschränkte die Arme hinterm Kopf, winkelte die Beine an und lag auf dem Rücken.

Auch Roy schlief schlecht. Er wälzte sich herum und fand keine bequeme Liegeposition. In seinem Kopf gingen recht ähnliche Überlegungen herum, wie in Alishas. Was, wenn er sie morgen nicht hier raus bringen konnte, oder wenn die Pflanzen sich entschlossen, doch noch zurückzuschlagen. Sie würden sich wehren, wenn er sie mit dem Messer attackierte, da hatte Alisha schon recht gehabt. Könnten sie schnell genug sein, um dem Wald zu entkommen? Roy bezweifelte es ernsthaft, doch sie mussten es versuchen! Sie konnten nicht ewig hier bleiben. Und für Alisha würde Roy alles tun.

Er drehte den Kopf und blinzelte in die Dunkelheit. Es war zu finster, um Einzelheiten erkennen zu können, doch ihm war, als würde ein Mondstrahl Alishas Haut aufhellen, sich in ihren Augen spiegeln, die ihn ansahen. Sein Blick wanderte zu den verschwommenen Konturen ihrer Lippen und verharrte dort.

Es geschah fast gleichzeitig, dass sich ihrer beider Gedanken von ihrer Misere abwandten und einander fanden. Alisha dachte daran, dass Roy sie seit so langer Zeit wieder „Süße“ genannt hatte, während Roy sich erinnerte, wie sie ihre Hand sanft auf seine gelegt und ihn gestreichelt hatte.

Darüber schliefen beide ein.

Die Stimme der Vergessenen

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