Читать книгу Die Stimme der Vergessenen - Lea Badura - Страница 5

3. Verändert

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Am nächsten Morgen kam es ganz anders, als sie beide gedacht hatten. Alisha und Roy wachten fast gleichzeitig auf, denn sie wurden von dem Geräusch raschelnder Blätter und knarrender Stämme geweckt. Unwillkürlich griff Alisha nach Roys Hand und blinzelte gegen die plötzliche Helligkeit an, die sich auf sie ergoss, als die Pflanzen ihren Bunker auflösten.

Schnell sprang Roy auf und zog Alisha mit sich auf die Füße. Beide sahen sich um, doch der Wald hatte sich nicht verändert. Hier und da schien er dichter geworden zu sein. Alisha atmete erleichtert auf. Nach der Ankündigung der kleinen Ranke hatte sie mit allem gerechnet. Jetzt diese Normalität vorzufinden, war beruhigend. Andererseits war da immer noch dieses nagende Gefühl in ihrem Magen. Das konnte doch nicht alles gewesen sein, oder?

„Komm, wir sollten Heim gehen!“, sagte Roy und schulterte seinen Rucksack, während er Alisha den zweiten reichte. Dann machten sie sich auf den Heimweg. Nach etwa fünfzig Metern kam Alisha nicht umhin, zu bemerken, dass der Abstand zwischen Roy und ihr wieder größer geworden war. Leicht traurig dachte sie an den letzten Tag zurück. So nah waren sie sich schon seit Jahren nicht mehr gewesen. Sie ließ sich etwas zurückfallen und betrachtete Roy. Ob sie es einfach riskieren sollte und seine Hand nehmen? Doch ehe sie sich dazu durchringen konnte, erreichten sie den Waldrand und Roys Schritt stockte schlagartig.

„Oh heilige …“, murmelte er und seine Stimme war rau, tonlos und entsetzt – alles zur gleichen Zeit. Alisha runzelte die Stirn und trat neben ihn. Auch ihr Atem stockte.

Der Wald hatte Wort gehalten.

Sie hatten angegriffen.

Die Stadt … lag unter einem Urwald begraben.

Bäume, Sträucher, Pflanzen und Gras waren über die 36 Stunden, die Alisha und Roy weggesperrt verbracht hatten, gewuchert und gewachsen. So ähnlich, wie das, was im Wald passiert war. Bäume überragten die Häuser, schlangen ihre Äste durch Fenster und Wände. Autos lagen auf dem Rücken, Pflanzen wucherten durch Straßenasphalt, fingen Fahrräder, Briefkästen, Zäune, Motorräder, alles, was nicht niet- und nagelfest war ein. Nirgendwo war mehr Platz dafür, sich mit einem Auto fortzubewegen. Es war kaum noch möglich, es zu Fuß zu tun. Brücken waren eingestürzt, denn die Pflanzen hatten ihre Pfeiler zerschlagen. Tunnel waren eingestürzt, bei manchen Gebäuden fehlten ganze Wände. Der Kirchturm, den sie von hier aus in den Himmel ragen sahen, war in der Mitte durchgebrochen und hing jetzt mit der Spitze nach unten, nur gehalten von Ästen, die dicker waren als ein Bus.

„Oh Gott …“, murmelte Alisha und Tränen rannen ihre Wange herunter. Roy griff nach ihrer Hand und dankbar hielt sie sich an ihm fest. „Sie haben sich ihren Platz zurückerobert …“, murmelte Alisha und ihr Blick fiel auf eine Sonnenblume, die mehr als sieben Meter groß war. Ihre Blüte war so ausladend, dass Alisha sich darauf hätte setzen können. Roy begann, sich einen Weg durch das fast mannshohe Gras zu bahnen, zu ihrem Auto. Der Van lag auf der Seite, die hintere Schiebetür eingedellt, als wäre ein Riese darüber gestolpert. Die Glasfenster waren pulverisiert worden, die Reifen hatten keine Luft mehr und das Benzin hatte eine Lache in der Wiese gebildet.

Alisha legte die Hand auf einen Ast, dessen Durchmesser etwa dem von Roys Brustkorb entsprach und versuchte, seiner Präsenz nachzuspüren.

„Was habt ihr getan?“, fragte sie und das Entsetzen ließ ihre Stimme rau klingen. Sie bekam keine Antwort, doch ihr war, als würde reine, pulsierende Energie durch den Ast fließen, wie Adrenalin durch menschliche Adern. Das hier war noch nicht vorbei.

„Wir müssen ins Institut“, sagte Roy plötzlich und Alisha stimmte ihm nickend zu. Sie mussten wissen, wie es den anderen ging.

Nur fünfzehn Minuten später sank ihre Hoffnung rapide gegen Null. Es war gar nicht so leicht, sich durch diesen Urwald zu schlagen. Roy hatte nach nur fünf Schritten das Messer aus seinem Rucksack geholt und versuchte es jetzt wie eine Machete einzusetzen und die urwaldähnlichen Pflanzen aus dem Weg zu räumen. Es war natürlich viel zu klein und das machte die Unternehmung verdammt anstrengend. Sobald sie die Stadt erreichten, wurde es etwas besser. Zwar wucherte das Gras immer noch brusthoch, doch die Bäume standen nicht mehr so dicht. Dafür stieg Alisha ein schrecklich süßlicher Geruch in die Nase. Sie packte Roys Hand und deutete nach links. Er verharrte und folgte ihrem Blick.

Vor ihnen lag der Eingang in ein Haus. Die Tür war aus den Angeln gehebelt und ein riesiger Ast hatte sich hindurchgeschlängelt und verschwand im Dunklen. Die Schwärze, die dahinter lag, wirkte irgendwie bedrohlich und Alisha schlug das Herz bis zur Brust, als sie darauf zutrat. Sie schlüpfte unter dem Baum hindurch und durchquerte die Eingangshalle. Dabei versuchte sie, nicht darauf zu achten, dass die Pflanzen auch hier alles zerstört hatten. Das Zimmer war verwüstet, als hätte ein Einbrecher hier drin seinen großen Coup geübt.

Der Geruch wurde stärker und Alisha folgte ihm durch eine weitere Tür. Dann sah sie es. Sie schrie auf und drehte sich schnell um. Roy war direkt hinter ihr und sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Dennoch verschwand das Bild nicht vor ihrem inneren Auge. Es war deutlich in ihr Hirn gebrannt. Mitten auf dem Boden, in einer Lache ihres eigenen Blutes, lag eine junge Frau. Der Ast des Baumes hatte sich durch ihre Brust gebohrt und sie aufgespießt. Alisha wurde von heftigen Krämpfen gepackt und ihr ganzer Körper zitterte.

„Komm, Süße“, murmelte Roy und führte sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Gern hätte er noch etwas für die junge Frau in diesem Zimmer getan, aber sie war tot und er konnte ihr nicht mehr helfen. Dieser Wald … sie hatten zu Alisha gesagt, sie wollten kämpfen. Offensichtlich hatten sie das ganz wörtlich gemeint.

Jetzt, da sie wussten, worauf sie achten mussten, bemerkten sie die Toten. Es waren viele. Zu viele und mit jedem Schritt, den sie taten, sank ihre Hoffnung, im Institut noch Überlebende zu finden. Die Stadt war sonderbar still. Kein Motorenlärm, keine Stimmen, keine Schritte auf den Gehsteigen. Nirgendwo war ein Radio an. Es war zu still.

Totenstill , begriff Alisha. Sie hatte geweint, nachdem Roy sie aus dem Haus geschafft hatte und er hatte den Arm beschützend um ihre Schulter gelegt, sie geführt. Inzwischen ging sie wieder selbstständig. Ihre Augen brannten und ihre Kehle schmerzte. Etwas in ihrem Inneren war bei dem Anblick der Toten zerbrochen und hatte Alisha die Augen geöffnet. Sie hatte etwas begriffen. Die kleine Ranke hatte ihre Worte bitterernst gemeint, hatte sie vor eine Wahl gestellt. Die Pflanzen würden um ihren rechtmäßigen Platz kämpfen, sie würden zurückfordern, was die Menschheit ihnen genommen hatte.

Und plötzlich musste Alisha sich entscheiden. Sollte sie den Wald retten – oder die Menschen, die er bedrohte?

Noch vor etwas mehr als drei Stunden hätte sie nicht gezögert und sich für die Pflanzen und Tiere entschieden. Sie waren wichtig für die Menschen. Ohne das Grün der Gräser, ohne die Bäume, die ihre Luft reinigten, würden sie vielleicht überleben können mit ihren technischen Gerätschaften, aber das wäre, laut Alishas und auch Roys Ansicht, die das gesamte Institut teilte, kein lebenswertes Dasein mehr.

Jetzt wusste Alisha nicht einmal, ob noch irgendwer aus dem Institut, irgendeiner ihrer Freunde, am Leben war.

„Das ist falsch“, murmelte Alisha immer wieder vor sich hin. „Das hier ist ganz falsch, Roy!“ Sie sah ihn mit einem flehenden Glitzern in den Augen an und er erwiderte ihren Blick fragend. „Der Wald, die Pflanzen … sie sollten friedlich sein!“, fuhr Alisha fort. „Das hier ist … das ist grausam.“

„Wir werden das aufhalten“, versprach er ihr, legte ihr beide Hände auf die Schultern und sah ihr tief in die Augen. „Okay? Wir werden das wieder in Ordnung bringen.“ Sie sah ihn einen Moment an und nickte dann.

„Ja …“, murmelte sie und hielt sich an seinem Versprechen fest. Jetzt sah Alisha die Bäume mit einem argwöhnischen Gesichtsausdruck an, nicht mehr voller Liebe und sie hasste die Pflanzenwelt dafür. Sie hatte gedacht, dass nur die Menschheit zu solch einer Art systematischer Grausamkeit fähig wären. Das war falsch gewesen, Alisha hatte sich damit etwas vorgemacht.

Wenn jemand grausam war, dann war es die Natur, die nur das Überleben des Stärkeren duldete und den Schwächeren unweigerlich ausrottete, um das Fortbestehen des Lebens zu garantieren. Vielleicht ist das hier das Ende der Menschheit, schoss es ihr durch den Kopf und sie drückte Roys Hand fester.

Nicht, wenn ich, wenn wir, etwas dagegen unternehmen können! , versprach sie sich selbst und biss die Zähne zusammen. Sie musste sich jetzt konzentrieren. Roy wirkte zielstrebig. Er führte sie immer noch in Richtung des Instituts. Sie musste sich ebenfalls zusammenreißen, wenn sie das hier durchstehen wollten. Also atmete Alisha einmal tief durch und verdrängte alle schrecklichen Gedanken, all die Angst und die Fassungslosigkeit.

„Wohin gehen wir?“, fragte sie.

„Ins Institut. Wenn wir eine Antwort finden können, wie wir das hier aufhalten sollen, dann in den alten Büchern in der Bibliothek“, antwortete Roy entschieden. Alisha nickte. Da könnte er recht haben. Die Bücher, die im Institut aufbewahrt wurden, waren teilweise mehrere hundert Jahre alt. Zwar gab es für fast jedes Buch inzwischen auch eine Online-Datei, doch Alisha bezweifelte, dass sie darin etwas finden würden, selbst wenn die Computer wie durch ein Wunder noch funktionieren sollten.

Nein, das Wissen, das sie suchten, war älter. Uralt. Sie würden die vergilbtesten Bücher von allen durchforsten müssen, diejenigen, die verstaubt und versteckt standen.

Die Vergessenen.

Der Weg war beschwerlich, doch nachdem Alisha einen Zweck, ein Ziel vor Augen hatte, ging es ihr leichter von der Hand. Die Sonne stand hoch am Himmel, als sie das Institut erreichten. Auch hier hatten die Pflanzen ihren Stempel aufgedrückt. Durch viele der Fenster wucherten Bäume, die Steinplatten des Weges waren von Wurzen aufgesprengt worden und die Schranke, die die Zufahrt blockierte war in der Mitte gebrochen und ragte aus einem Baumstamm hervor, als wäre dieser einfach um sie herumgewachsen. Alisha und Roy tauchten darunter hindurch und daran vorbei und liefen die Auffahrt entlang bis zur großen Eingangstür. Die Große Halle war mit Glassplittern übersäht und viel dunkler als sonst, denn die Pflanzen schirmten das Tageslicht ab.

Hier war alles wie ausgestorben, doch Alisha redete sich ein, dass das nichts zu bedeuten hatte, denn die Halle war eigentlich immer leer. Roy ging voran und sie schlängelten sich an den Pflanzen vorbei zu der Tür, die in die Wohnräume führte. Wenn noch jemand … Alisha traute sich kaum, es nur zu denken. Wenn noch jemand am Leben war, dann würden sie sich im Büro des Professors versammelt haben. Also gingen Roy und sie durch Flure, Treppen nach oben und durch mehrere Türen. Je weiter ins Innere des Gebäudes sie vordrangen, desto weniger Zeugnisse von dem Geschehen konnten sie finden. Und mit jeder intakten Tür, jeden Zimmer, das nicht verwüstet war, wuchs Alishas Hoffnung, ihre Freunde wiederzusehen. Thommy, Felicia, Charly, Marry-Ann und natürlich den Professor. Je näher sie dem Büro kamen, desto schneller schlug ihr Herz. Alisha spürte, wie es gegen den Kloß in ihrer Kehle anpochte und ihr wurde mit jedem Schritt etwas mulmiger zumute, bis ihr richtig schlecht war.

„Glaubst du, es geht ihnen gut?“, fragte sie schließlich mit rauer Stimme und Roy blieb stehen, wandte sich zu ihr um. In seinen Augen konnte sie dieselbe Sorge lesen, wie auch sie sie empfand und trotzdem bemühte er sich, sie anzulächeln, sie zu beruhigen. Es war schön zu wissen, dass er sich um sie kümmerte und für einen Moment empfand Alisha unglaubliche Dankbarkeit dafür, dass er sie in diesen Wald verfolgt hatte. Er war bei ihr, egal, was noch weiter geschehen würde, Roy war bei ihr.

Sie nickte ihn an und dann traten sie gemeinsam vor die Tür des Büros. Professor Payton war auf einem Schild an der Wand zu lesen. Das Papier hinter dem Plexiglas war vergilbt und rissig. Alisha streckte die Hand nach der Klinke aus und drückte sie nach unten. Der Raum war erfüllt von Stimmengewirr, das urplötzlich verstummte, als die beiden eintraten. Dann ertönte ein erleichterter Schrei und als nächstes sah Alisha eine schwarzhaarige kleine Frau auf sie zufliegen. Felicia warf sich ihr um den Hals und drückte sie fest an sich. Ihre Wangen waren nass von Tränen.

„Oh Gott, Gott sei Dank seit ihr beiden hier!“, stieß sie hervor und umarmte dann auch Roy. Währenddessen ließ Alisha sich auch von Thommy umarmen und schließlich von Charly. Trotz des Namens war Charly ein Mädchen, ein außerordentlich großes Mädchen, mit langen blonden Haaren und dem nettesten Lächeln, das Alisha kannte. Auch Professor Peyton war da, den sie alle nur Professor P nannten.

Dann ging Alisha auf, dass jemand fehlte. Marry-Ann war nicht hier.

„Wo ist Annie?“, fragte sie in die Runde und die Blicke, denen sie begegnete, ließen den Klumpen kalter Angst in ihren Magen zurückkehren. Reflexartig griff sie nach Roys Hand, der sie festhielt, ohne sich darum zu kümmern, dass die anderen zusahen. Diese Nacht in dem verdammten Pflanzenbunker hatte einiges verändert. Für sie beide. Und für die ganze Welt.

„Sie ist …“, begann Charly und ihre Stimme brach. Professor P nahm das Wort an sich. Seine Stimme, die sonst immer so fröhlich klang, war leise, voller Trauer.

„Annie hat es nicht rechtzeitig zurück geschafft. Sie ist tot“, bestätigte er Alishas Befürchtungen und sie wäre getaumelt, wenn Roy nicht den Arm um ihre Schultern gelegt und sie gestützt hätte.

Annie sollte tot sein? Die fröhliche, immer lächelnde Goth, die sich gar nicht wie eine Goth-Braut verhalten hatte? Mit ihren schwarzen Klamotten, dem großen Spinnennetz-Tattoo auf der linken Hüfte und den schwarz gefärbten Haaren mit der pinken Strähne? Annie sollte nie wieder lachen können oder Alisha damit aufziehen, dass sie sich so leger kleidete? Annie würde niemals wieder durch diese Tür kommen? Alisha schluchzte auf. Das konnte nicht wahr sein!

Sie brauchte eine Weile, bis sie sich wieder gefangen hatte. Sie musste sich zusammenreißen und ihr Problem angehen. Roy drängte sie zu nichts, aber er hielt die ganze Zeit über ihre Hand und wich nicht von ihrer Seite. Irgendwann konnte Alisha sich die Tränen aus den Augen wischen und wieder einigermaßen klar denken.

„Was machen wir jetzt?“, fragte sie in die Runde und Professor P sah sie an. Sie alle hier waren aus einem bestimmten Grund zum Institut gegangen, um die Pflanzen und Tiere vor den Menschen zu schützen, um natürliche Lebensräume zu erhalten und zu verhindern, dass das Grün von ihrem Planeten verschwand. Deshalb erschreckte es Alisha umso mehr, dass Professor P so eiskalt klang, als er die nächsten Worte sagte:

„Na was wohl, wir müssen den Wald aufhalten, ehe er noch mehr Schaden anrichtet. Wir haben uns auch schon die bestmögliche Methode ausgedacht. Verbrennen.“

Es war, als stießen seine Worte Roy und Alisha vor den Kopf. Sie hatten ihr Leben dem Schutz der Pflanzen gewidmet und jetzt sollten sie diejenigen sein, die sie verbrennen würden?

Die Stimme der Vergessenen

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