Читать книгу Sogitta - Lea Dienhart - Страница 10

3. Kapitel

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Bis zum Abend verlief alles ohne weitere Zwischenfälle. Kein Hungersausbruch, keine Verletzten.

Mittlerweile saßen wieder ein paar Kinder auf dem Rücken der Maus. Lilla war leider schon beim letzten Mal an der Reihe gewesen. Wieder durfte Rofon in der Zeit reiten, in der sie laufen musste.

Dieser Tag war trotz der brennenden Sonne ganz in Ordnung gewesen. Es war ein langer Tag, aber nun kam schon wieder der Sonnenuntergang. Lilla dachte an den gestrigen Abend – ungefähr um diese Zeit hatte sie die Drachenwache beendet und den Kräftigen geweckt. Dessen Name Florlep erinnerte sie immer an Ohrläppchen. Sie musste an ihren Vater denken. Sie hatte ihn früher oftmals Matscho genannt, obwohl er doch Mazzo hieß. Hoffentlich lebte er noch! Lilla bekam Herzklopfen vor Angst. Was die Drachen wohl mit ihm vorhatten?

Lilla schaute zurück und suchte den Mäuserücken nach Rofon ab. Er hatte denselben blöden Platz erwischt wie sie gestern. Ganz hinten. Aber Rofon war wach und blickte in den unendlichen Sternenhimmel. Lilla wusste, dass Rofon und sie morgen in die Schule gekommen wären, wenn sie in Sogitta geblieben wären.

Die Schule … Lilla hatte sich diesen Tag so sehr herbeigesehnt, und jetzt sollte er einer der schrecklichsten Tage ihres Lebens werden. Morgens hatte Lilla zwar noch gehofft, sie würden noch am gleichen Abend in Fulmen ankommen, aber mittlerweile nahm sie an, dass es noch ewig dauern konnte. Lilla hatte längst jegliche Lust am Weitergehen verloren. So stark und groß sie sich am Vortag gefühlt hatte, so klein und hilflos kam sich die junge Zwergin im Moment vor.

„Ich werde nicht fliehen, ich werde kämpfen!“, das hatte sie sich doch vor 24 Stunden vorgenommen. „Ich werde nicht fliehen. Nicht ich! Nicht, solange ich Arme und Beine hab und solange mir das Leben meiner Eltern etwas wert ist!“ Wie hatte sie nur so unendlich dumm sein können, ging es Lilla durch den Kopf. „Wie hatte ich denn auch glauben können, heute würde alles wieder gut sein?“ Heute würden sie ankommen und das Leben auf dem Sofa gemeinsam mit drei Tassen Kakao und buntem Streuselkuchen genießen können! Wie hatte sie sich denn bloß so sicher sein können, ihre Eltern würden leben, sie würde sie eines Tages retten können. Sie, Lilla, würde die Drachen besiegen, egal, wie viele es waren.

Heute aber war alles so anders. Lilla fühlte sich trostlos. Aus dem Augenwinkel sah sie Rofon und Krolle. Sie überlegte, ob sie erneut zu den beiden gehen wollte, doch am Ende ließ sie es doch. Dabei war Rofon wirklich der Einzige, der sie hätte aufmuntern können, vielleicht.

„Mauswechsel“, rief plötzlich die dunkle Stimme des Kräftigsten in die Stille hinein. Diese Reitetappe gehörte den Erwachsenen. Rofon bekam von seinen Eltern je einen Kuss auf die Stirn gedrückt, bevor die beiden auf den Mauserücken stiegen. Es gab eine große Drängelei. Alle wollten reiten, aber nur knapp ein Drittel passte auf den Rücken der Maus.

„Die arme Maus!“, sagte Rofon mitleidig. Lilla nickte.

Schließlich befahl der Kräftigste den Erwachsenen, sich in einer Reihe aufzustellen. Sie sollten 1, 2, 3 durchzählen, und wer dabei die 3 erwischte, durfte reiten. Rofons Vater hatte dieses Glück.

„Der hat es gut! Stimmt´s?“ Rofons Mutter lächelte müde und ging neben Lilla und Rofon her. Wie blass sie war! War sie krank? Lilla erschrak. Baba schien Lillas Beunruhigung bemerkt zu haben. „Ich bin ganz ok“, versicherte sie Lilla. „Nur etwas müde.“

Lilla sagte nichts mehr. Ehrlich gesagt dachte sie auch nichts mehr. Sie guckte nur. Sie sah die Blasse Steppe, die Kräftigen, die Maus und ihre Reiter und unglaublich viele laufende Männer, Frauen und Kinder. Das Einzige, was sie nicht sah, war das übliche Lächeln auf den Gesichtern der Dorfbewohner Sogittas. Sie konnte den anderen jedoch nichts vorwerfen. Auch ihr eigenes Gesicht hatte nicht die übliche rosige Farbe und den lachenden Mund. Die lockigen, zerzausten Haare lagen ihr glatt auf den Schultern. Langsam begann Lilla sich zu sorgen, ob Agiza und Mazzo sie wohl wiedererkennen würden. „Och, das werden sie schon!“, beruhigte sie sich murmelnd.

„Was?“

„Ich ... ich habe nur nachgedacht!“ Lilla fühlte sich plötzlich sehr schlecht. Sie wollte nach Hause! Verdammt noch mal! War das denn sooo schwer zu verstehen? Lilla lief los. Vor den kräftigen Zwergen her. Immer den Langen Weg entlang. Sie rannte und rannte und rannte. Immer weiter und immer schneller! Es war schön zu rennen, wenn man es nicht musste! Lilla fühlte sich so frei, wie schon lange nicht mehr. Hinter sich hörte sie die Rufe einiger Männer. Ganz weit hinten waren sie. Lilla konnte erkennen, dass auch Rofon anfing zu rennen. Immer und immer schneller wurde auch er, bis er sie schließlich fast erreicht hatte. Tolla lief ebenfalls los und Krolle, Rambi und Druschel, Langa und Freddel, Limbi, Pinka, Potzer und Kirtosso folgten ihrem Beispiel.

Bald sah man einen Haufen Kinder den Langen Weg entlangrennen. Und es dauerte nicht lange, bis sie auch einige der Erwachsenen angesteckt hatten. Unter denen war Rofons Mutter Baba, der Lebensmittelladenbesitzer Flummbert, Obst- und Gemüsehändler Jusche, Museumswärterin Fitzky und ganz zum Schluss der strenge Herr Lehrer mit seiner Frau, Lillas Erzieherin. Alle rannten sie hinter Lilla her! Rambi, der schnellste Läufer aus der Grundschule Zwergelolli, hatte Lilla schon eingeholt.

Sie gaben ein lustiges Bild ab. Erst recht, als plötzlich auch noch viele der Reiter von der Maus absprangen und ebenfalls losrannten! Die Maus schien diese Erholungspause sehr zu genießen und blieb hinter den Läufern zurück.

Es war ziemlich unverständlich, warum alle plötzlich rannten, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Einfach so. Aber musste es denn wirklich für alles einen Grund geben? Muss man wirklich immer genau wissen, warum man etwas tut, bevor man es tut? Und musste man sich unbedingt etwas Bestimmtes dabei denken?

Die Bürgerinnen und Bürger Sogittas schienen sich einig zu sein, dass das nicht nötig war. Also rannten alle weiter. Einfach so, den Langen Weg entlang.

Bald ereignete sich noch etwas Sonderbares. Etwas, das alle froh machte und das es auf dem Langen Weg so gut wie nie gab. Es begann zu regnen!

Normale Stadtmenschen finden den Regen vielleicht abscheulich. Ja, das kann gut sein. Sie, diese Stadtmenschen, hatten dann aber wohl noch nie die Erfahrung gemacht, auf dem Langen Weg zu marschieren. Obwohl sie es sich ja bloß zu wünschen brauchten. Denn wer nach Sogitta oder in eines der anderen Dörfer und Wälder will, muss sich das nur mehr als alles andere auf der Welt wünschen. Es bedeutet jedoch sehr viel für einen Wunsch im Herzen eines Menschen, der wichtigste zu sein. An diese Macht zu kommen gelingt nicht jedem.

Lilla jedenfalls fühlte sich im tröpfelnden Regen jedenfalls sehr wohl! Ihre Haare wurden allmählich nasser und nasser und hingen bald wie Waschlappen auf ihren Schultern. Das machte nichts. Die Sonne würde ihre Haare trocknen, sobald der Regen vorüber war.

Lilla wurde allmählich langsamer. Der Regen wurde ihr unheimlich! Noch nie hatte jemand von einem harmlosen Regenschauer auf dem Langen Weg berichtet. Es gab höchstens heftige Unwetter. Lilla bibberte. Das musste es sein. Gleich würden sie von einem Unwetter überrascht werden! Lilla wartete, bis alle sie eingeholt hatten.

Rambi und die anderen Schnelleren kamen zurückgelaufen. „Warum rennt ihr nicht weiter?“, fragte Rambi nach. „Wir werden nicht mehr oft einen Regen genießen können!“

„Wir müssen einen Unterschlupf suchen!“, sagte der Bürgermeister ernst.

Lilla begriff, dass auch er schon die Gefahr bemerkt hatte. Sie beschloss sich aus allem herauszuhalten, so wie es sich in einer miserablen Situation für Kinder gehört. Gehorsam folgte sie dem Rat des Bürgermeisters und drängte sich mit den anderen Zwergenkindern eng zusammen.

„Alle, Erwachsene wie Kinder, müssen dicht beieinanderstehen! Die Kräftigsten und Tapfersten ganz innen. Wie bei den Pinguinen.“

Lilla fand es unfair, dass die Schwächeren außen stehen mussten, während die Kräftigsten von allen anderen geschützt wurden. Sie konnte von Glück reden, sie stand noch relativ weit in der Mitte.

Genau in dem Moment, als sich alle Einwohner Sogittas eingekuschelt hatten, begann das riesige Unwetter! Lilla schloss die Augen. Sie wollte nicht sehen, was passierte, sie brauchte es nur zu spüren und bekam schon Herzklopfen. KRACZ! Ein Baum weiter hinten war laut in sich zusammengebrochen! Lilla erinnerte sich daran, wie die Drachen die Nachbarhütte in Sogitta zum Einsturz gebracht hatten. Das war der Anfang ihrer Reise gewesen. Der Wind schoss ihr um die Ohren, Sand klatschte ihr auf das Gesicht. Es begann zu donnern und zu blitzen. Zum Glück gab es in der Nähe einen See, den Blassen See. Er würde das erste Ziel der Blitze sein. Der Himmel verfärbte sich schwarz. Es wurde noch kälter als zuvor. Hoffentlich war alles bald vorbei! Aber an ein baldiges Ende des Unwetters war nicht zu denken. Eher würde das Ende der Bürger kommen, das Ende der alten Zwerge, die zu klapprig waren, sich bei diesem Sturm auf den Beinen zu halten. Das Ende der kleineren Kinder, Lillas Ende. Doch das Unwetter schien nicht im Traum daran zu denken, sich zurückzuziehen. Ständig wehte der Steppensand in ihre Nase. Lilla hielt sich verzweifelt die Augen zu. Die Regengüsse wurden heftiger als zuvor. Es prasselte auf ihren Kopf, Lilla musste sich zusammenreißen, nicht zu schreien. Weiter außen hingegen schrien kleine Zwergenkinder um die Wette. Es waren ohrenbetäubende Schreie, die sich mit dem Lärm des auf den Boden schlagenden Regens vermischte.

Sie durfte nur nicht einschlafen. Bloß nicht! Ihr schwirrten die Worte des Bürgermeisters im Kopfe herum. „Schlaft bloß nicht ein! Ihr werdet sonst erfrieren!“

Lilla schauderte. Sie meinte, das Seufzen der Bäume zu hören, bevor diese in sich zusammenbrachen. Ihre Mutter hätte sie sofort mit einer Wärmflasche und heißem Tee ins Bett gebracht. Ihre Mutter. Lilla stiegen wieder die Tränen hoch, doch sie hielt sie zurück und hoffte, dass es zu Hause in Sogitta, wo Agiza war, kein Unwetter gab. Was sollte ihre arme Mutter denn tun, um sich zu schützen, sie war doch verletzt!

Noch schien das gewaltige Unwetter keine Pause zu benötigen. Lilla musste die Augen öffnen. Nicht nur einfach öffnen, sie musste sie aufreißen.

In diesem Moment kämpfte sie nicht mit Drachen, sondern mit dem Schlaf! Aber dieser Kampf war nicht weniger schlimm als ein Kampf gegen die Drachen, es war nur einer der anderen Sorte. Der Kampf mit dem Sturm, mit dem Gewitter und dem kräftigen Regen war gemein. Immer musste man befürchten, dass jemand aus der Truppe weggeblasen wurde und irgendwo im Himmel oder auf Erden erfror! Lilla wollte sich nicht vorstellen, wie schrecklich es sein musste, ohne den Schutz der anderen zu stehen. Steppensand brannte in ihren Augen. Doch Lilla konnte nichts machen, außer sich nur noch näher an die dicke Dame vor sich zu quetschen. Wie gern würde Lilla jetzt einen heißen Kakao trinken, einen dieser Sorte, der die Zunge verbrannte, weil er so heiß war.

Der Sturm wollte nicht aufhören. Er schien nur immer noch heftiger zu blasen. Die Einwohner Sogittas wurden zunehmend verzweifelter. Mit so einem Unwetter hatte niemand gerechnet, obwohl alle Zwerge schon im Kindergarten lernten, dass der Lange Weg magisch war.

In Sogitta und Fulmen, den beiden Dörfern, die an den Langen Weg grenzten, war das Wetter eigentlich sonst recht normal: Mal regnete es ein bisschen, mal schien die Sonne. Auf diesem Weg war es jedoch entweder so heiß wie in einer Wüste oder stürmisch. Das Wetter spielte dort verrückt. Man erzählte sich manchmal sogar, dass ein Magnet auf dem Weg diejenigen festhielt, die sich dorthin wagten.

Inzwischen waren Stunden verstrichen. Immer noch war keine Spur von der Sonne zu sehen. Nicht im Geringsten. Weder Wind noch Regen machte den Anschein, jemals aufhören zu wollen. Hoffentlich würde das nicht ewig so weitergehen! Lilla war dem Erfrieren nahe, aber sie hielt durch.

Wieder brach ein Baum weiter hinten in sich zusammen. Lilla meinte, sein Wehklagen hören zu können. Sie zählte die Sekunden, die Minuten. Sie zählte die Bäume, welche sie schreien hörte, und die Regentropfen, die wie Geschosse auf sie herunter sausten. Doch sie hatte weniger Angst als zu Beginn. Lilla spürte, dass das Team der Bürgerinnen und Bürger Sogittas stark war, das alle gemeinsam losgehen und gemeinsam ankommen würden, auch wenn es verdammt schwer war.

„3989, 3990, 3991, 3992“, zählte Lilla, „3993, 3994, 3995.“

Ein anderer versuchte denselben Trick, um sich abzulenken. Rofon! Am anderen Ende der Truppe stand er und zählte: „3996, 3997, 3998, 3999, 4000!“ Dann hörte er auf und verfolgte stattdessen, wie viele Vögel schrien.

Lilla zählte weiter. Sie war inzwischen bei 4026. Die Situation war wirklich sehr brenzlig. Man konnte sie vergleichen mit … Nein! Man konnte sie mit rein gar nichts vergleichen. Bei so etwas müsste man schon dabei sein, aber das will ja keiner, oder?

„4048, 4049 …“

„Maamaa!“ Das war ein kleiner Junge. „Maaamaaa, ich friiiere doch soo!“ Man hörte keine Antwort, bloß ein zwergisches Winseln.

Es war stockdunkel geworden. Und wieder hell und wieder dunkel. Ein Tag war vorüber. Fast keiner wusste mehr, was vorging, als es plötzlich ruhiger wurde. Es dauerte ein wenig, bis alle es begriffen hatten: Es hatte aufgehört zu donnern und zu blitzen! Auch der Regen wurde weniger, immer und immer weniger. Nach dem letzten Tropfen, der auf den Boden plumpste, verschwand die Stille so schnell, wie sie gekommen war. Alle stoben auseinander, sie kreischten und weinten, aber diesmal vor Freude! Sie feierten ein Fest, wie es noch nie eines gegeben hatte, sie tanzten und schlugen Räder. Eltern fielen ihren Kindern in die Arme. Enkelkinder ihren Großeltern! Es war, als hätte es nie ein Unwetter gegeben.

Währenddessen saß abseits von allen anderen ein kleines Zwergenmädchen auf einem spitzen Stein und weinte. Niemand hatte es bislang bemerkt. Es war das arme kleine Ding, das vor einigen Jahren seine Eltern am Fluss verloren hatte. Ihre Eltern und ihr Bruder Ciolt waren mit dem Boot hinausgesegelt, um zu fischen, doch sie kamen nie wieder zurück. Seitdem war das Mädchen alleine. Lange Zeit lebte sie auf der Straße, stahl Essen, um seinen Hunger zu stillen, und hatte zum Anziehen nicht mehr als ein altes Laken der Mutter.

Vor zwei Jahren dann hatte die gute alte Oma Sibba Soppel das Zwergenmädchen bei sich aufgenommen. Vom ersten Tag an waren die beiden unzertrennlich gewesen. Sie gingen zusammen zum Spielplatz, einkaufen und in den Wald. Nur zum See wollte das Mädchen nie. Oma Sibba hatte ihm sogar einen Namen gegeben, einen ganz hübschen Zwergennamen. Seinen eigentlichen Namen wollte das Zwergenmädchen nämlich geheim halten. Sibba gab ihm also den Namen Cyta.

Jetzt saß Cyta auf dem spitzen Stein und weinte. Sie war ein sehr stilles Zwergenkind, aber sie war äußerst zäh und immer heiter. Was sie bloß hatte?

Die Festgemeinschaft bekam von der weinenden Cyta nichts mit. Sie feierte immer noch und war schon ein Stück weitergegangen. Cyta ihrerseits bemerkte ebenfalls nichts von den Feiernden. Sie saß bloß da und weinte. Jetzt stand sie endlich auf. Aber wo wollte sie denn hin? Anstatt den anderen zu folgen, lief sie ein bisschen zurück und kniete sich dann nieder, denn genau an dieser Stelle lag jemand. Wer da vor ihr lag, war Oma Sibba! Cyta streichelte ihr mit ihrer feuchten Hand vorsichtig über das Gesicht, während sie mit der anderen eine Blume fest umklammerte – wohl die einzige Blume, die noch stehen geblieben war. Cyta legte sie auf Oma Sibba. Sie war tot! Oma Sibba war tot! Sie hatte das Unwetter nicht überlebt.

Cyta stand langsam wieder auf und folgte der feiernden Truppe. Bedächtig ging sie vor zum Bürgermeister. Die vielen lachenden Gesichter sangen fröhlich: „Lalala, das Unwetter ist vorbei, hurra! Lalala, ja, das Unwetter ist weg, weg, weg!“ Dazu tanzen sie und drehten sich im Kreis. Alle waren glücklich, bis auf Cyta.

Mit ihrer kleinen Hand tippte sie dem Bürgermeister auf die Schulter. Der Bürgermeister schaute zu ihr herab. Er konnte das kleine Mädchen nicht ausstehen. „Warum weinst du? Geh gefälligst weiter und tanze wie die anderen!“

Cyta blickte ihn weiter an. Keine Wimper zuckte. „Sibba ist tot“, sagte sie mit fester, sicherer Stimme. Sie sagte es, als wäre es das Normalste auf der Welt, doch man sah ihr die Verzweiflung an.

„Mach keine Scherze, sondern freu dich!“

„Das ist kein Scherz“, sagte Cyta ernst. Sie stand steif vor dem Bürgermeister und wartete.

„Kein Scherz sagst du, Kleine? Warte kurz hier. Ich hole drei Kräftige! Wehe, du veräppelst mich!“ Mit diesen Worten entfernte sich der Bürgermeister und kam kurze Zeit darauf mit den Kräftigen zurück. Die meisten Feiernden, auch Lilla und Rofon, hörten auf zu singen und springen.

„Was ist hier los?“ Ein Getuschel ging durch die Reihen. Cyta merkte es nicht, oder vielleicht wollte sie es auch nicht merken. Trübsinnig ging sie voran, hinter sich den Bürgermeister und die Kräftigen. An der Stelle, an der Sibba lag, blieb sie stehen. Nun verging selbst dem Bürgermeister die gute Laune. Er drehte sich um und sagte mit lauter Stimme: „Sibba Soppel ist gestorben!“

Sogittas Bürger und Bürgerinnen schwiegen.

„Wir werden einen Trauertag einlegen“, erklärte der Bürgermeister, „Sibba Soppel war eine unglaublich hilfsbereite alte Dame, wie ihr bestimmt alle wisst. Und ich denke, es ist das Beste, wenn wir sie alle zusammen verabschieden.“ Mit diesen Worten sprach er Cyta zum ersten Mal aus der Seele.

Die Feiernden, die eben noch lustig das Tanzbein geschwungen hatten, halfen nun dabei, ein großes Loch in die Erde zu buddeln. Lilla, Rofon und ein paar andere Kinder standen bei Cyta und versuchten sie zu trösten. Alle dachten darüber nach, bei wem Cyta nun leben sollte, jetzt, wo Oma Sibba gestorben war. Vielleicht würde sie in ein Kinderheim kommen. Es gab eines in Sogitta, in dem jedoch keine Kinder hausten. Es war bloß ein altes Haus in einer Dorfecke, die als sehr gruselig galt. Gleich nebenan war ein Friedhof, und die vereinzelten Bäume, welche hier und da wuchsen, hatten selbst im schönsten Sommer kaum noch Blätter an den Ästen. Nein! Ins kalte, verlotterte Kinderheim durften sie Cyta nicht stecken. Bestimmt würde sich noch eine Lösung finden.

Während die Kinder sich um Cytas Zukunft Gedanken machten, buddelten die Kräftigen immer noch. Es dauerte weitere zwei Stunden, bis das Loch tief und breit genug war. Bald war die Nacht, die eben noch über das gesamte Zwergenreich geherrscht hatte, vorbei. Die Sonne zeigte langsam ihre ersten Strahlen. Doch die Stimmung unter den Zwergen war nicht so fröhlich, wie es sich für den ersten Tag nach einem Unwetter gehörte. Alle trauerten um Sibba.

„Weine nicht! Die Welt steckt voller Überraschungen. Es gibt schöne und weniger schöne. Bitte bleibe lustig und verspielt! Ich mag es nicht, dich so traurig zu sehen. Ich bin doch hier! Hier! Hörst du mich denn nicht?“

Was war denn das? Cyta meinte, Sibbas Stimme gehört zu haben, aber wie sollte das gehen? Sibba war doch tot! Oder etwa nicht ...

„Ich bin tot, Cyta. Aber nicht für dich! Ich bin umgezogen. Ich wohne in deinem Herzen.“

Cyta verstand. „Aber wie kann ich dich sehen?“, dachte sie.

„Cyta, meine Große. Du wirst mich sehen, wann du willst, du musst nur eines tun. An mich denken. Ab heute passe ich von innen auf dich auf.“

Geraume Zeit verstrich, die Männer legten Sibba in das Loch und deckten sie mit einem weichen Tuch aus goldenem Samt zu. Einer nach dem andern warf seinen Sonnenschutz aus Blumen auf die tote Frau, dachte an sie und wünschte ihr etwas. Besonders Cyta und viele der älteren Zwergendamen hockten ewig vor dem Loch, sie schauten, wünschten und weinten. Als alle ihre Wünsche ausgesprochen hatten, wurde das Loch zugeschüttet, wobei ebenfalls alle mithelfen durften. An die Stelle, unter welcher Sibba nun für immer schlafen würde, wollten sie Blumensamen streuen, sodass eines Tages ein wunderschöner Strauß für sie blühen würde. Bald gingen die Zwerge weiter, müde und erschöpft von den Ereignissen der letzten Tage. Rofon und Lilla gingen nebeneinander und sprachen über den Sturm.

„Ich war schon bei fünfhundertsechsundsiebzigtausendeinundsechzig. Dann hab ich aufgehört zu zählen“, berichtete Lilla stolz.

Nur zur Information: Zwerge können, sobald sie sprechen, von Null aus immer weiterzählen.

„Ich hab ganz früh aufgehört zu zählen, ich weiß nicht einmal mehr, wie weit ich gekommen bin. Puuuuh, das war eben doch total kalt, bitterkalt, findest du nicht?“

„Doch, das war es! Boah. So doll hab ich meinem Leben noch nicht gezittert, ich dachte, jeden Moment erfriere ich!“ Kurze Zeit sagte keiner etwas.

„Ich hatte auch Angst vor den Drachen“, flüsterte Rofon Lilla ins rechte Ohr. „Wir hätten uns doch gar nicht vor ihnen schützen können! Für Drachen ist das doch bloß ein kleiner Wind.“

„Quatsch, das stimmt nicht. Mama hat mir erzählt, dass das Einzige, vor dem sie sich ebenso fürchten wie wir, Sturm und Unwetter sind!“

„Nicht wahr!“, quengelte Rofon. „Papa hat mir gesagt, Drachen haben nur Angst vor Müll. So wie Putzfrauen!“

Lilla konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Aber Rofon, das war bestimmt ein Scherz!“

„Nein! Das war es nicht.“

„Na meinetwegen, vielleicht wissen die Zwerge noch gar nicht so genau, wovor Drachen Angst haben. Es war ja auch bis vor einer Woche noch keiner zu Besuch in Sogitta.“ Rofon sah, wie eine dicke Zwergenträne Lillas Wange hinunterlief. Eine dicke, fette Zwergenträne. Lilla leckte die Träne ab. Sie war salzig. Sie dachte an ihre Eltern. Rofon legte ihr seinen Arm um die Schultern. Er wusste, warum sie weinte.

„Alles wird wieder gut! Bestimmt. In drei Monaten sitzen wir alle zusammen im Garten und erinnern uns an das Ganze hier bloß noch.“ Lilla schaute Rofon an.

Ihr Blick brachte ihn zum Verzweifeln! Er mochte es nicht, seine Kindergartenfreundin so bedribbelt sehen zu müssen. Wo war nur die fröhliche Lilla mit den braunen Ringellöckchen geblieben? Einen Moment lang hatte er Angst, dass Lilla von nun an immer so ernst sein würde, doch dann sagte er sich: „Ach was! Bald ist alles vorbei!“

Rofon ahnte ja nicht, wie sehr er sich irrte.

Sogitta

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